02.12.2012 Aufrufe

Christian Voss: Sprache und Politik auf dem Balkan. Zur - Userpage

Christian Voss: Sprache und Politik auf dem Balkan. Zur - Userpage

Christian Voss: Sprache und Politik auf dem Balkan. Zur - Userpage

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Christian</strong> <strong>Voss</strong>:<br />

<strong>Sprache</strong> <strong>und</strong> <strong>Politik</strong> <strong>auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Balkan</strong>.<br />

<strong>Zur</strong> Konstruktion nationalsprachlicher Grenzen bei den Südslaven<br />

Gastvortrag am Osteuropa-Institut, FU Berlin, 24.1.2006<br />

In den nächsten 50 Minuten möchte ich den Beweis antreten, dass die <strong>Sprache</strong>ntwicklung<br />

ebenso wie der Nexus <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Sprache</strong> in Südosteuropa nicht weniger europäisch ist als<br />

im Westen unseres Kontinents. Seit Maria Todorovas Buch „Imagining the <strong>Balkan</strong>s“ 1997,<br />

dessen deutsche Übersetzung im Untertitel „Europas bequemes Vorurteil“ lautet, sind<br />

zahlreiche diskursanalytische Werke erschienen, die die symbolische Geographie zum<br />

finsteren <strong>Balkan</strong> als kulturelle Diskriminierung entlarvt haben. Angesichts der vor der Tür<br />

stehenden EU-Südosterweiterung <strong>und</strong> der Brüsseler Agenda „Westbalkan“, die alle Staaten<br />

zwischen Ljubljana <strong>und</strong> Athen integrieren will, ist es an der Zeit, die Hierarchisierung des<br />

europäischen Ostens in ein zivilisiertes, europakompatibles Ostmitteleuropa (Polen,<br />

Tschechien, Ungarn) <strong>und</strong> einen rückständigen, von Religionskriegen <strong>und</strong> Stammesfehden<br />

gezeichneten <strong>Balkan</strong> offen anzuprangern. Die kulturelle Grenzziehung Europas entlang der<br />

östlichen Verbreitung der Latinität ist ein Holzweg.<br />

Um hier eine Formel des Klassikers der jüngeren Nationalismusforschung Ernest<br />

Gellner <strong>auf</strong>zugreifen: Die Heirat zwischen <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Kultur ist in Osteuropa sehr viel später<br />

<strong>und</strong> problematischer eingetreten als in Spanien, Frankreich oder England. Dennoch ist der<br />

sprchpolitische Mechanismus derselbe geblieben, wie Hobsbawms Formel es resümiert:<br />

„Languages multiply with states, not the other way aro<strong>und</strong>.“<br />

Um die Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts, als der Intellektuellennationalismus seinen Anfang<br />

nahm, besitzt – bis <strong>auf</strong> die Russen im Zarenreich – kein slavisches Volk einen souveränen<br />

Staat, sondern sie sind über Preußen, das russische Zarenreich, die Habsburgermonarchie <strong>und</strong><br />

das Osmanische Reich verteilt. Dies hat dazu geführt, dass die Ideen Herders von den kleinen<br />

slavischen Völkern, allen voran den Tschechen, mit Begeisterung rezipiert worden sind. Das<br />

deutsche Konzept der Kulturnation, deren angeblich homogenes Territorium Staatlichkeit<br />

legitimiert (Gellner nennt es nation-into-state), war gerade für die südosteuropäischen Staaten<br />

Serbien, Griechenland <strong>und</strong> Bulgarien seit <strong>dem</strong> 19. Jh. reizvoll, da sie so „mental maps“ aus<br />

der osmanischen Konkursmasse herausschneiden konnten. Sprachwissenschaft <strong>und</strong><br />

Ethnographie wurden hier in die patriotische Pflicht genommen, denn die Logik bis heute<br />

lautet: „Wenn Deine Sprachform eine Varietät (oder ein Dialekt) von meiner <strong>Sprache</strong> ist, habe<br />

ich Anrecht <strong>auf</strong> Dein Territorium“.<br />

Da die kulturellen Weichen im 19. Jh. gestellt worden sind, muß ich etwas weiter<br />

ausholen. Ich werde nur sehr kurz <strong>auf</strong> Griechenland, Rumänien <strong>und</strong> Bulgarien eingehen, um<br />

dann ausführlicher <strong>auf</strong> den balkanischen Sonderfall Jugoslawien einzugehen, das zum<br />

faszinierendsten <strong>Sprache</strong>xperiment der Slavia, <strong>dem</strong> Serbokroatischen, geführt hat.<br />

Im 19. Jh. erfinden sich die <strong>Balkan</strong>nationen neu. Nationale Vordenker formen die<br />

Ideologie der „nationalen Wiedergeburt“ (anagennisi, văzraždane, preporod, prerodba) aus:<br />

Die Nation schlummere wie Dornröschen, von der bösen Fee in Form der Osmanen in<br />

jahrh<strong>und</strong>ertelangen Schlaf versetzt, <strong>und</strong> müsse nur zum Leben wiedererweckt werden.<br />

Vorteilhaft an dieser Argumentation ist u.a., dass man die völlige Fremdheit des neuen<br />

nationalen Sprachmodells bei der Zielgruppe durch den Dornröschenschlaf erklären kann.<br />

Im rumänischen Fall ging es die Revision eines durch Dominanz des<br />

Kirchenslavischen als Prestigevarietät geprägten Mittelalters, das die sog. Siebenbürger<br />

Renaissance veranlasste, die <strong>Sprache</strong> künstlich zu re-romanisieren. Diese Selbststilisierung als<br />

legitimer Erbe der <strong>Balkan</strong>latinität wurde nach 1918 als Autochthonizitätsargument


instrumentalisiert, um rumänische Staatlichkeit im ungarisch-deutsch besiedelten<br />

Siebenbürgen zu legitimieren.<br />

Der identitäre Geschichtswahn der <strong>Balkan</strong>völker, der sprachlich unmittelbar<br />

abgebildet wurde, lässt sich am griechischen Fall am deutlichsten zeigen. Zugleich macht er<br />

deutlich, dass die Archäomanie nicht in Südosteuropa entwickelt wurde, sondern eine von<br />

außen hereingetragene Vorstellung ist, wenn man bedenkt, dass über Herauslösung aus <strong>dem</strong><br />

Osmanischen Reich <strong>und</strong> das Erlangen staatlicher Souveränität <strong>auf</strong> westeuropäischem<br />

Diplomatenparkett entschieden wurde. Im 19. Jh. waren die Kriterien der EU-Kompatibilität<br />

also nicht ökonomischer Art, sondern eindimensional an nationale Mythik geb<strong>und</strong>en.<br />

Das Territorium des heutigen Griechenlands war im 19. Jh. weitgehend von<br />

ethnischen Gruppen besiedelt, die kein Griechisch sprachen: Arvanitisch (ein albanischer<br />

Dialekt), Aromunisch oder Vlachisch (ein <strong>dem</strong> Rumänischen zuzuordnender Dialekt), <strong>und</strong><br />

slavische Dialekte. In der Zeit der postnapoleonischen Restauration nach 1815, als in<br />

Westeuropa Nationalbewegungen bedingungslos gedeckelt wurden, wäre es absurd gewesen,<br />

als ethnisch gemischter Antragsteller bei den europäischen Großmächten <strong>auf</strong>zutreten. Die<br />

hellenische Karte hingegen stach: Die Aufständler in Griechenland schrieben sich den<br />

europäischen Philhellenismus <strong>auf</strong> die Fahnen <strong>und</strong> erhielten <strong>auf</strong> diese Weise gar Unterstützung<br />

von Lord Byron, der im Kampf gegen die Osmanen in Griechenland starb. Zentraler Beweis<br />

für die ethnische Kontinuität der griechischen Bevölkerung zu Perikles <strong>und</strong> Homer sollte die<br />

<strong>Sprache</strong> sein: Um die „erträumte Nation“ (so eine Münchner Ausstellung Anfang der 1990er<br />

Jahre zu Griechenland im 19. Jh.) zu realisieren, schuf Adamantios Korais die sog.<br />

Katharevoussa, wörtlich die Reinsprache. Dies hat eine Diglossie zur Volkssprache, der sog.<br />

Dimitiki, geschaffen, die erst in den 1970er Jahren beseitigt worden ist. Wie Sie vielleicht<br />

wissen, führt Ferguson in seiner Definition von Diglossie Griechisch neben Arabisch als<br />

Paradebeispiel. Diglossie meint eine spezifische Art von Zweisprachigkeit, in der die<br />

sprachlichen Anwendungsbereiche strikt komplementär getrennt sind <strong>und</strong> wir eine high<br />

variety <strong>und</strong> eine low variety haben. Das von Antike, Kirche <strong>und</strong> <strong>dem</strong> Prestige außerhalb<br />

Griechenlands getragene Sprachfossil der Katharevoussa, das eine fast dreitausend Jahre alte<br />

Orthographie mit sich trägt, ist erst im Liberalisierungsprozeß der sog. Metapolitevsi im<br />

sek<strong>und</strong>ären Schulsystem abgeschafft worden, wobei diese Varietät von der gebildeten Schicht<br />

z.T. bis heute verwendet wird. Im griechischen Kabarett sind es zwei Personengruppen, die<br />

Katharevoussa sprechen <strong>und</strong> dieses Modell letztlich stark diskreditiert haben: einerseits<br />

philhellenische Wehrmachtsangehörige während der deutschen Besatzung 1941-1944, dann<br />

die Obristenjunta unter Papadopoulos 1967-1974, deren Antikeverständnis durch ihr<br />

zentralstes Symbol, Phönix aus der Asche, ausgedrückt wird.<br />

Der bulgarische Fall ist ähnlich gelagert: Da der Basisdialekt der von den beiden<br />

byzantinischen Gelehrten Konstantin-Kyrill <strong>und</strong> Method 862 geschaffenen Kultsprache im<br />

Raum Thessaloniki lag, wird dieses Altkirchenslavische in Bulgarien bis heute als<br />

Altbulgarisch bezeichnet. Die bulgarische Nationalbewegung ist ein typischer<br />

Sprachnationalismus, der <strong>Sprache</strong> zum zentralen Kriterium für ethnonationale Zugehörigkeit<br />

gemacht hat. Den Startschuß zur bulgarischen Wiedergeburt hat ein Mönch <strong>auf</strong> Berg Athos<br />

im Jahr 1762 gegeben, Paisij Chilendarski, der ausrief: „Narode, znaj svoj rod i ezik!“ –<br />

„Volk, kennen Dein Geschlecht <strong>und</strong> Deine <strong>Sprache</strong>!“. Problematisch für den bulgarischen<br />

Nationalismus waren zwei Dinge: Erstens war die urbane Elite im gesamten osmanischen<br />

<strong>Balkan</strong> griechisch orientiert (<strong>und</strong> auch griechischsprachig), zweitens existierte seit <strong>dem</strong> 17.<br />

Jh. für die gesamte christlich-orthodoxe <strong>Balkan</strong>bevölkerung nur griechischsprachiger<br />

Gottesdienst, was gewissermaßen protonationale Loyalität bei der Landbevölkerung<br />

<strong>auf</strong>gebaut hatte. Der bulgarische Nationalismus ist somit extrem stark durch eine<br />

primordialistisches, blutsmäßiges Nationsverständnis geprägt, das Kategorien wie<br />

Selbstzuschreibung ignoriert – dies wirkt bis heute nach in der bulgarischen Position in der<br />

makedonischen Frage. Makedonisch als Standardsprache ist nach 1944 im Rahmen von Titos<br />

2


Jugoslawien kodifiziert <strong>und</strong> implementiert worden. Möglich wurde es, da der bulgarische<br />

Standard einseitig ostbulgarische Dialekte (des Raums Tărnovo) als seine Basis gewählt hat.<br />

Dies war ein verhängnisvoller Fehler, denn so ist erst der Raum geschaffen worden, eine<br />

weitere Standardsprache innerhalb des bulgarisch-makedonischen Dialektkontinuums zu<br />

schaffen. Die Wahl des bulgarischen Basisdialekts ist nicht ohne Widersprüche, liegt doch die<br />

bulgarische Hauptstadt selbst im Westen Bulgariens, <strong>und</strong> gerade angesichts des angestrebten<br />

großbulgarischen Staates, der mit Thrakien <strong>und</strong> Makedonien ein ethnisches Territorium<br />

anvisierte, das doppelt so groß ist wie das heutige Bulgarien, hätte man eine Dialektbasis<br />

erwartet, die stärkere Inklusionswirkung in den westlichen <strong>und</strong> südlichen Gebieten hätte. Die<br />

damalige Entscheidung der 1830-1850er Jahre hatte wohl folgende Gründe: Einerseits wollte<br />

man sich vom Serbischen distanzieren. Die gesamte, in der Regel sukzessiv verl<strong>auf</strong>ene<br />

Sprachkodifizierung der Slavia ist wechselseitig bezogen <strong>und</strong> kann als Kette von sich<br />

abstoßenden Magneten beschrieben werden. Ein weiteres Argument für Tărnovo war der<br />

Hauptstadtstatus dieser Stadt im Mittelalter, so dass hier historische Kontinuität <strong>auf</strong>gebaut<br />

werden sollte. Vor allem aber war die Tatsache ausschlaggebend, dass in Ostbulgarien die<br />

besten Literaten tätig waren, die durch ihre Werke bereits normbildend waren.<br />

1870 war eine bulgarische Nationalkirche eingerichtet worden, der gestattet war, in<br />

der Großregion Makedonien, die noch osmanisch war, zu missionieren. Durch das bulgarische<br />

Schul- <strong>und</strong> Kirchennetz wurde so bulgarische Identität produziert, die mit den Jahrzehnten<br />

allerdings wieder in Vergessenheit geriet. Vor allem die unglaublich höhere Attraktivität von<br />

Titos Jugoslawien hat dazu beigetragen, bei der makedonischen Bevölkerung die neue<br />

makedonische Nationalidentität <strong>und</strong> die dazugehörige <strong>Sprache</strong> populär zu machen – diese<br />

Wandelbarkeit von ethnonationalen Identitäten will man in Sofia bis heute nicht wahrhaben.<br />

In kommunistischer Zeit nach <strong>dem</strong> Bruch zwischen Tito <strong>und</strong> Stalin stand Bulgarien stramm<br />

<strong>auf</strong> Moskauer Seite <strong>und</strong> wurde von den Sowjets immer wieder als Hebel gegen Jugoslawien<br />

eingesetzt. In postkommunistischer Zeit hingegen sind die nationalen Töne in Bulgarien noch<br />

lauter geworden. Die linguistische „Heim ins Reich“-Logik ist bestechend, wenn die bisherige<br />

Delegitimation des makedonischen Standards dahingehend erweitert wird, dass man die<br />

Dialektbasis des Bulgarischen nach Westen verschieben will, um so das Makedonische zu<br />

„schlucken“. Ich zeige Ihnen hier das Titelblatt einer Schrift eines der berühmtesten<br />

bulgarischen Dialektologen, Blagoj Šklifov: Die Schrift zeigt das Graphem hinteres Jer, das<br />

im Bulgarischen das balkanische schwa wiedergibt. Die makedonische Orthographie hat<br />

bewusst <strong>auf</strong> dieses Schriftzeichen verzichtet. Daher wird dieses Graphem, fetischisiert durch<br />

die bulgarische Zarenkrone, hier als blutstropfendes Opfer der jugoslawischen Geschichts-<br />

<strong>und</strong> Sprachverfälscher dargestellt. Ich werde <strong>auf</strong> Makedonien im jugoslawischen Kontext<br />

zurückkommen.<br />

Nun zum Kern meines Vortrags - Jugoslawien, das Serbokroatische <strong>und</strong> seine<br />

Nachfolgesprachen.<br />

Jugoslawien – was man gerne vergisst – heißt „Land der Südslaven“, es ist also ein<br />

supraethnischer programmatischer Begriff, der so nicht zutrifft, da die Bulgaren nicht<br />

mitgemacht haben. Jugoslawien war also von Beginn an die „kleine südslavische Lösung“.<br />

Die parallel hierzu entwickelte Sprachkonzeption heißt Serbokroatisch, obwohl die <strong>Sprache</strong><br />

heute von vier Nationen gesprochen wird, nämlich von Serben, Kroaten, aber auch von<br />

Muslimen/Bosnjaken <strong>und</strong> Montenegrinern. Die Bezeichnung ist jedoch folgerichtig, da es nur<br />

Serben <strong>und</strong> Kroaten sind, die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>auf</strong>einander zugehen <strong>und</strong> hierbei die<br />

sprachliche Konvergenz zum Programm erheben. Völker wie die Makedonen, die<br />

Montenegriner <strong>und</strong> die Bosnjaken wurden zwangseingegliedert.<br />

Wir sprechen im 20. Jh. von zwei jugoslawischen Staaten: Der erste wurde nach <strong>dem</strong><br />

Ersten Weltkrieg 1918 gegründet, er hieß „Königreich der Serben, Kroaten <strong>und</strong> Slovenen“, ab<br />

1929 dann „Jugoslawien“. Der zweite jugoslawische Staat wurde 1944 von Titos Partisanen<br />

3


gegründet <strong>und</strong> dauerte bis 1991. Von 1992 bis 2002 schließlich existierte ein Staat<br />

Jugoslawien, der jedoch nur noch Serbien <strong>und</strong> Montenegro umfasste.<br />

Kroaten <strong>und</strong> Serben haben im 19. Jh. unterschiedliche Motivationen, sich gegenseitig<br />

anzunähern. Während die Kroaten der Habsburger Vormacht entfliehen wollen <strong>und</strong> sich für<br />

die Verteidigung des kroatischen Territoriums einen starken Partner wünschen, der es gegen<br />

italienische <strong>und</strong> ungarische Ansprüche schützt, so war das Ziel der Serben die Einigung aller<br />

Serben in einem Staat. Die Bevölkerungsverschiebungen im Rahmen der Habsburger<br />

Türkenkriege des 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>erts haben die Serben wie kein anderes südslavisches<br />

Volk territorial zerstreut. Vor allem wurden sie als Wehrbauern entlang der Habsburger<br />

Militärgrenze (slav. Krajina) angesiedelt, mit der sich Wien vor Türkenangriffen zu schützen<br />

suchte. Die massive Präsenz von Serben in Kroatien <strong>und</strong> Bosnien führte 1991-1992 zum<br />

Kriegsausbruch, als die drei Ethnien versuchten, ethnisch reine Territorien zu schaffen. Vor<br />

allem durch die Migration der Serben ist das Sprachgebiet der serbokroatischen Dialekte von<br />

einer unentwirrbaren Nichtüberschneidung von Konfessions- <strong>und</strong> Dialektgrenzen<br />

gekennzeichnet.<br />

Die Dialektgliederung betrifft zwei Kriteria: einerseits den konsonantischen Bereich,<br />

was anhand des Frageworts „was?“ gegliedert ist, das als kaj, ča <strong>und</strong> što erscheint. Das<br />

Kajkavische betrifft Nord- <strong>und</strong> Zentralkroatien (inkl. Zagreb), das Čakavische die Adriainseln<br />

<strong>und</strong> den Küstenstreifen von Dubrovnik bis Istrien, das Štokavische wiederum den Hauptteil<br />

des Dialektkontinuums, nämlich ganz Bosnien-Herzegowina, ganz Serbien, ganz Montenegro<br />

<strong>und</strong> den Nord- <strong>und</strong> Südosten Kroatiens. Schon hier sehen wir, dass in der Logik der<br />

Sprachnationalisten (nämlich <strong>dem</strong> Wunsch nach exklusiven Sprachcharakteristika) die<br />

Kroaten mit <strong>dem</strong> Kajkavischen eine exklusiv-kroatische Variante besitzen, die Serben<br />

hingegen nicht.<br />

Es kommt die zweite dialektale Differenzierung hinzu, die das Bild ähnlich<br />

komplettiert: Es geht um die Kontinuanten des urslavischen *ĕ, das in den weniger wichtigen<br />

ikavischen Dialekten zu /i/, in <strong>dem</strong> im Osten gesprochenen Ekavischen zu /e/ (d.h. mleko,<br />

dete, reč, beli), <strong>und</strong> im sog. Ijekavischen kurzsilbig zu /je/, langsilbig zu /ie/ bzw. /ije/ wird<br />

(d.h. mli(j)eko, di(j)ete, ri(j)eč, bi(j)eli).<br />

Das Ekavische wäre also als exklusiv serbischer Zug deutbar, deckt aber nicht exakt<br />

das serbische Siedlungsgebiet ab: Zwar sind alle Ekavischsprecher (vor allem der<br />

prestigeträchtigen Stadtdialekte von Belgrad <strong>und</strong> Novi Sad) Serben, aber nicht alle Serben<br />

sind Ekavischsprecher: Diese Nichtdeckungsgleichheit sprachlich-dialektaler <strong>und</strong> ethnischer<br />

Identität stellt das Kernproblem der serbischen Ideologen der 1990-2000er dar <strong>und</strong> hat in den<br />

1990er Jahren zweifach zum fehlgeschlagenen Versucht geführt, das Ekavische als Norm für<br />

die bosnischen Serben einzuführen. Dies ist etwa so absurd wie der Versuch, von heute <strong>auf</strong><br />

morgen alle Protestanten im Rheinland zu zwingen, den sächsischen Dialekt von Martin<br />

Luther zu sprechen.<br />

Der politischen Zergliederung der Südslaven steht also die sprachliche zur Seite.<br />

Während der kroatische Raum durch starke dialektale Zergliederung geprägt ist, so war für<br />

Serbien im frühen 19. Jh. eine diglossische Heterogenität prägend. Die Serben waren nämlich<br />

nicht nur in den Raum der Militärgrenze gezogen, sondern haben außer<strong>dem</strong> im Jahr 1690 in<br />

einer großen Migrationsbewegung das Kosovo verlassen <strong>und</strong> sind in den Schutz der<br />

Habsburger in die Vojvodina nach Südungarn gezogen, wo sich Russland als geistige<br />

Schutzmacht für sie stark machte. Ergebnis war ein stark kirchenslavisiertes <strong>und</strong> russifiziertes<br />

Sprachgemisch namens Slavenoserbisch, das nur minimale Interferenzen mit <strong>dem</strong><br />

gesprochenen Serbischen <strong>auf</strong>wies. Dieser Tatbestand ist die Ursache, warum im Serbischen<br />

nicht wie im Russischen oder Bulgarischen ein mehr oder weniger weicher<br />

Hybridisierungsvorgang die Diglossie beendet worden ist, sondern der radikalste Weg<br />

4


eingeschlagen wurde. Das Sprachmodell von Vuk Karadžić aus <strong>dem</strong> frühen 19. Jh. nämlich<br />

basierte <strong>auf</strong> den dörflichen Dialekten der Ostherzegowina bzw. Westserbiens <strong>und</strong> war somit<br />

der weitestverbreitete Dialekttyp, der mindestens teilweise von Montenegrinern, Muslimen,<br />

Kroaten <strong>und</strong> Serben gesprochen wurde. Der Slogan von Vuks Sprachmodell lautete „Piši kao<br />

što govoriš“ – „schreib wie Du sprichst“. Dem radikalen Ansatz einer konsequent<br />

phonetischen Orthographie entsprach eine ebenso konsequente Verdrängung sämtlicher<br />

kirchenslavischer Elemente in Wortschatz <strong>und</strong> Morphologie. Hierzu muß man wissen, dass im<br />

19. Jh. zwischen Habsburg <strong>und</strong> <strong>dem</strong> russischen Zarenreich ein Konflikt um<br />

Territorialinteressen entbrannt war, der auch <strong>auf</strong> kulturpolitischer Ebene geführt wurde. Da<br />

die westslavischen <strong>Sprache</strong>n im frühen 19. Jh. bereits weitgehend stabil waren, sollte sich der<br />

Antagonismus zwischen Austroslavismus <strong>und</strong> Panslavismus <strong>auf</strong> die Südslavia konzentrieren.<br />

Und das Sprachmodell von Vuk passte den Habsburgern ins Konzept, um den russischen<br />

Einfluß bei den Serben zu brechen. Der politisch naive Vuk, der eigentlich nichts weiter<br />

vollbracht hatte als den Dialekt seiner Großmutter zu fixieren, wurde vom Wiener<br />

Hofbibliothekar Kopitar in der Literatenszene herumgereicht, die serbischen Heldenlieder<br />

durch Jakob Grimm <strong>und</strong> Goethe in der Begeisterung der literarischen Romantik gefeiert. Vuks<br />

Sprachmodell, das von den Russen ebenso wie <strong>dem</strong> orthodoxen Klerus jahrzehntelang<br />

verteufelt wurde - das in die serbische Kyrillica integrierte lateinische Graphem wurde als<br />

„Stachel des Satans“ gesehen, hat letztlich enorme historische Langzeitwirkung gehabt: Ohne<br />

Vuk wäre der Jugoslawismus <strong>auf</strong> sprachlicher Ebene nicht möglich gewesen. Dieses<br />

einigende Moment hat Vuk in den 1990er Jahren gerade in Serbien zu einer Hassfigur<br />

gemacht, zum Verräter an der serbischen Sache.<br />

Wie hat die sprachliche Einigung nun stattgef<strong>und</strong>en? Von kroatischer Seite waren die<br />

sog. Illyristen die treibende Kraft. Nach<strong>dem</strong> sie bisher versucht hatten, mit Hilfe von<br />

gekünstelten Neologismen <strong>und</strong> Lehnübersetzungen die dialektale Zerklüftung zu überwinden,<br />

beeindruckte sie der etwas rustikale, aber dafür authentische Dialekt von Vuk. Die<br />

pansüdslavische Bewegung des Illyrismus strebte die Vereinigung aller Südslaven in einem<br />

Staat an, so dass Vuks Sprachmodell, das von mehreren Ethnien gesprochen wurde, großen<br />

Eindruck <strong>auf</strong> sie machte.<br />

1850 kam es in Wien zum sog. „Wiener literarischen Abkommen“, einer nicht<br />

bindenden Absichtserklärung einiger Intellektueller aus Belgrad <strong>und</strong> Zagreb, die allgemein als<br />

Zeitikone <strong>und</strong> Geburtsst<strong>und</strong>e des Serbokroatischen gilt. In diesem Text werden zwei wichtige<br />

Entscheidungen festgelegt: Da ein Volk eine <strong>Sprache</strong> haben müsse, entscheidet man sich für<br />

einen real existierenden Dialekt <strong>und</strong> verwirft eine künstliche Dialektmischung. Auserkoren<br />

hierfür wird nun der Dialekt von Vuk, das ijekavische Neuštokavische, da es sich bereits<br />

bewährt habe. Ironischerweise wird dies beschlossen gerade von denjenigen, die diesen<br />

Dialekt nicht als Muttersprache haben: nämlich kajkavischsprechenden Kroaten aus Zagreb<br />

<strong>und</strong> ekavischsprechenden Serben aus Belgrad. Die prototypischen Vertreter des auserkorenen<br />

Dialekttyps, die Muslime Bosniens <strong>und</strong> die Montenegriner, sind nicht beteiligt. Der Text zeigt<br />

deutliche Merkmale eines frühen jugoslawischen Diskurses: Es werden weder „Kroaten“ noch<br />

„Serben“ genannt, sondern es ist nur von der „westlichen <strong>und</strong> östlichen Konfession“ die Rede,<br />

die kein Hindernis für die eine vereinte Nation darstelle: Dies ist in der Formulierung „narod<br />

naš obadva vjerozakona“ verdichtet. Eine Namensgebung für die gemeinsame <strong>Sprache</strong> wird<br />

jedoch umgangen, es ist nur von „unserer <strong>Sprache</strong>“ die Rede.<br />

Im L<strong>auf</strong>e des 19. Jh.s konvergieren also zwei Sprachgruppen, die über Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

hin zu anderen Kulturkreisen gehört haben, was sich allein in der Dualität von lateinischem<br />

<strong>und</strong> kyrillischem Alphabet manifestiert. Das Wiener Abkommen bliebt letztlich eine<br />

Absichtserklärung, so dass es nicht wirklich zu einer Kodifizierung <strong>und</strong> einer illyrischen bzw.<br />

serbokroatischen Sprachnorm kommt. Stattdessen bleiben gerade im Wortschatz Differenzen<br />

bestehen, die <strong>auf</strong> unterschiedliche Diglossiesituationen <strong>und</strong> unterschiedliche<br />

5


Purismuskonzepte zurückzuführen sind: Die Kroaten hatten als high variety das Deutsche,<br />

Ungarische <strong>und</strong> Lateinische, so dass von einer interlingualen Diglossie zu sprechen ist. In<br />

dieser Situation war es nur logisch, dass sich der kroatische Purismus xenophob, d.h. gegen<br />

Fremdwörter richtete, die mit Hilfe einer einfachen Technik, der sog. Lehnübersetzung,<br />

ersetzt wurden. Die Serben hatten das Slavenoserbische als high variety, also eine eng<br />

verwandte slavische <strong>Sprache</strong>, so dass wir hier von intralingualer Diglossie sprechen. Für den<br />

serbischen Purismus waren nicht Fremdwörter das rote Tuch, sondern die stilistisch<br />

hochstehenden Kirchenslavismen <strong>und</strong> Russismen standen im Mittelpunkt.<br />

1918 überstürzen sich die Ereignisse, <strong>und</strong> plötzlich finden sich Slovenen <strong>und</strong> Kroaten<br />

in einem gemeinsamen Staat mit den Serben, in <strong>dem</strong> diese ihre numerische Überlegenheit<br />

gnadenlos ausspielen. Das Missverständnis zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben um die Natur des<br />

gemeinsamen Staates war von Beginn an angelegt: Während die Kroaten ein<br />

gleichberechtigtes Nebeneinander erwarteten, war der erste Jugoslawien für die Serben ein<br />

Anschluß an die bereits bestehende Monarchie Serbien, so dass logischerweise 1921 die erste<br />

Verfassung des gemeinsamen Staates eine getreue Kopie der serbischen Verfassung von<br />

1903? war. Die Kroaten fühlten sich sehr schnell als die „Ossis“ im Staat. Die nationale<br />

Frustration der Kroaten, die mit diffusen Erwartungen den jugoslawischen Staat gewollt<br />

hatten, entlud sich nach 1941, als Hitler Jugoslawien zerschlug <strong>und</strong> den Unabhängigen Staat<br />

Kroatien (NDH) schuf. Dieser faschistische Vasallenstaat Hitlers zielte neben einem gezielten<br />

Genozid an Juden <strong>und</strong> Serben <strong>auf</strong> die Entserbisierung des Kroatischen in der<br />

Zwischenkriegszeit – neben einem strikten Sprachpurismus wurde die etymologische<br />

Schreibung (korijensko pismo) eingeführt, was bei der Bevölkerung enorme Unsicherheit<br />

auslöste. Die kurze Episode der NDZ-Zeit hat dazu geführt, dass in den 1990er Jahren<br />

gewissermaßen Blut an der Sprachpolitik dieser Zeit klebt, andererseits die Tuđman-Partei<br />

HDZ diese Epoche als historischen Referenzpunkt gewählt hat.<br />

Das Serbokroatische als „weich kodifizierte“ <strong>Sprache</strong> hat in seinem weiteren Verl<strong>auf</strong><br />

unterschiedliche Bezeichnungen getragen, die immer mit einer Ideologie korrelierten.<br />

Wenn bisher deutlich geworden ist, dass die <strong>auf</strong> kultureller Ebene früh vollzogene<br />

kroatisch-serbische Konvergenz <strong>auf</strong> politischer Ebene extrem problembeladen war, fragt sich<br />

dennoch, wie aus <strong>dem</strong> Serbokroatischen vier Nachfolgesprachen werden können, nämlich<br />

zusätzlich das Bosnische <strong>und</strong> das Montenegrinische.<br />

Der Schlüssel hierfür liegt in Titos Ethnopolitik. Tito versuchte, die integrativen<br />

Versäumnisse des Ersten Jugoslawien zu kompensieren. Das neue Jugoslawien durfte nicht<br />

nach serbischer Dominanz aussehen, <strong>und</strong> hier hatte Tito einen Pluspunkt: er war Kroate. Tito<br />

hatte nach 1948 die Möglichkeit, ein von der Sowjetunion unabhängiges sozialistisches<br />

Gesellschaftsmodell zu entwerfen, das mit den Schlagworten Blockfreiheit,<br />

Arbeiterselbstverwaltung <strong>und</strong> Reisefreiheit zu umreißen ist. Vor allem war Titos Staat ein<br />

Experimentierfeld der Ethnopolitik. Bereits <strong>auf</strong> Gründungstagungen 1942 <strong>und</strong> 1943 stellten<br />

die kommunistischen Partisanen das Prinzip der „bratstvo i jedinstvo“ („Brüderlichkeit <strong>und</strong><br />

Einigkeit“) <strong>auf</strong>. Dem Zwangsunitarismus des serbischen Königs sollte nun die<br />

gleichberechtigte Anerkennung aller jugoslawischen Völker entgegengestellt werden. Neben<br />

den Montenegrinern wurden erstmals die Makedonen als Nation anerkannt, während die<br />

Muslime Bosniens diesen Status erst 1968 erhielten. Titos Jugoslawien ist als sich immer<br />

weiter föderalisierender Übergang vom Stalinismus zum Nationalismus beschrieben worden.<br />

Die innerjugoslawischen Grenzen, die 1918 abgeschafft worden waren, da es ja nur noch das<br />

„dreinamige Volk“ (der Serben, Kroaten <strong>und</strong> Slovenen) gab, wurden 1945 wieder<br />

eingerichtet. Fatal war dabei, dass sich letztlich das Homeland-Prinzip durchsetzte, d.h. die<br />

sechs konstitutiven jugoslawischen Nationen (narodi) korrelieren mit sechs Republiken. Das<br />

Prinzip war übrigens stark slavozentrisch, denn die Albaner in Kosovo <strong>und</strong> Makedonien, die<br />

6


zahlenmäßig stärker waren als drei der sechs jugoslawischen Völker (Slovenen,<br />

Montenegriner <strong>und</strong> Makedonen) zusammen, erhielten keinen konstitutiven Status, sondern<br />

waren nur eine Völkerschaft – immerhin. Letztlich hat jedoch das Homeland-Prinzip<br />

Jugoslawien zur Explosion gebracht, denn die großen serbischen Minderheiten in Kroatien<br />

(20%) <strong>und</strong> Bosnien (ca. 30%) wollten sich nicht in neue Nationalstaaten eingliedern <strong>und</strong><br />

haben unabhängige Republiken ausgerufen.<br />

Titos <strong>Politik</strong> ab den 1960er Jahren, allen Wünschen nationaler zentrifugaler Kräfte zu<br />

entsprechen, wurde auch sprachpolitisch relevant, als 1971 festgelegt wurde, dass es neben<br />

Kroatisch <strong>und</strong> Serbisch auch einen „bosnisch-herzegowinischen standardsprachlichen<br />

Ausdruck“ <strong>und</strong> eine „montenegrinische Subvariante“ gebe – all dies keine linguistischen<br />

Termini, sondern sprachpolitischer Eiertanz. Werfen wir einen Blick <strong>auf</strong> folgende Tabelle:<br />

Die Ethnisierung im postkommunistischen Europa – <strong>und</strong> dies in abgeschwächtem Maße auch<br />

für die Sowjetunion – ist also keineswegs eine Gegenreaktion <strong>auf</strong> die kommunistische Zeit, in<br />

der angeblich derartige Konflikte „<strong>auf</strong> Eis gelegt wurden“, sondern im Gegenteil: vielfach<br />

sind ethnonationale Kategorien erst von den Kommunisten geschaffen worden, nach der<br />

Logik: „eigentlich hören wir ja nicht zusammen, aber die Großartigkeit unseres<br />

Gesellschaftssystems eint uns alle“. Gerade im Falle der Makedonen <strong>und</strong> der Bosnjaken<br />

liegen neue kollektive Identitäten vor, die von Tito gehätschelt worden waren. (Tabelle<br />

Staaten – Nationen – <strong>Sprache</strong>n).<br />

Wie sieht nun die heutige Sprachsituation in Ex-Jugoslawien aus? Mit <strong>dem</strong> Ende<br />

des jugoslawischen Staates war auch das Schicksal des Serbokroatischen besiegelt. Wie ist es<br />

möglich, vier nach ethnischen Linien gezogene Standardsprachen zu formen, die alle <strong>auf</strong><br />

<strong>dem</strong>selben Dialekt beruhen <strong>und</strong> die somit in höchstem Maße interkomprehensibel sind. Mit<br />

<strong>dem</strong> EU-Beitritt Kroatiens wird sich zeigen, ob – was sehr wahrscheinlich ist – die Kroaten<br />

<strong>auf</strong> <strong>Sprache</strong> als Nationalsymbol bestehen werden oder ob eine pragmatische Lösung gef<strong>und</strong>en<br />

wird. Daß dies möglich ist, belegt etwa die Handhabung der Dolmetschertätigkeit beim<br />

Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, wo Sprecher des neuen kroatischen, serbischen <strong>und</strong><br />

bosnischen Standards im 30-Minuten-Takt rotieren. Die <strong>Sprache</strong> heißt im offiziellen<br />

Gebrauch der <strong>Sprache</strong> BCS – „Bosnian, Croatian, Serbian“ in politisch korrekter<br />

alphabetischer Reihung.<br />

Ich möchte in der verbleibenden Zeit zwei Fragen nachgehen: 1. nach <strong>dem</strong><br />

sprachlichen (primär lexikalischen) Umbau des Kroatischen, Serbischen, Bosnischen <strong>und</strong><br />

Montenegrinischen, 2. nach der sprachtypologischen Fassbarkeit der postjugoslawischen<br />

Divergenz, wobei zu differenzieren ist zwischen Kolloquialisierung, einer die gesamte<br />

postkommunistische Slavia auszeichnenden Entwicklung der 1990er Jahre, <strong>und</strong> gelenkter<br />

Umstandardisierung.<br />

Sprachlicher Umbau in den vier Nachfolgesprachen:<br />

Angesichts der Einigung <strong>auf</strong> einen gemeinsamen Basisdialekt für das Serbokroatische<br />

ist es nur logisch, dass regionale Differenzen vor allem im Wortschatz anzutreffen sind, wo<br />

sich die unterschiedliche kulturelle Überdachung spiegelt. Daher greift der häufig gebrachte<br />

Vergleich des Serbischen-Kroatischen mit den Differenzen im Britischen <strong>und</strong><br />

Amerikanischen Englisch, (z.B. die Dublette „diversion“ vs. „detour“) m.E. zu kurz.<br />

Ebenfalls vergessen wird oft, dass die <strong>Sprache</strong>ntwicklung der 1990er Jahre vom blutigsten<br />

europäischen Krieg seit 1945 begleitet worden ist. Dies hat dazu geführt, dass bei den Ex-<br />

Jugoslawen ein extrem hohes Bewusstsein für die ethnisch markierten kroatisch-serbischen<br />

Synonyme vorhanden ist, was folgender sehr populärer Witz spiegelt:<br />

U postdejtonskom dobu, Hrvat seda u sarajevsku kafanu. Dolazi kelner i on<br />

kaže: Jednu kavicu, molim vas. Kelner: Nema. Hrvat se zamisli pa kaže: A mogu li<br />

7


dobiti jednu kafu? Kelner: Ne može. Hrvat još malo razmisli, pa kaže: A jednu kahvu,<br />

možda? Kelner: Ma, jarane, nema vode.<br />

Aufgr<strong>und</strong> seiner Alltagserfahrung geht der Cafégast in Sarajevo davon aus, dass er<br />

wegen seines Sprachgebrauchs (als Kroate) diskriminiert wird. Er vollführt dann eine<br />

sprachliche Akkommodation <strong>und</strong> passt sich vermeintlich seinem Gegenüber an, was mit einer<br />

deutlich höflicheren Formulierung der Bestellung einhergeht. Nach<strong>dem</strong> er sich sprachlich<br />

Richtung Serbien akkommodiert hat, versucht er es schließlich auch noch in Richtung des<br />

neuen bosnischen Standards (mit kahva). Der Cafégast vermutet hier einen sog. „Schibboleth-<br />

Test“: Dieser Name wird heute metaphorisch verwendet für sprachliche Erkennungszeichen,<br />

anhand derer verfeindete Gruppen in Regionen ethnischer Gemengelage <strong>und</strong> anhaltender<br />

Assimilation meinen, sich ausschließen zu können.<br />

Eine meiner Kernthesen ist die Betonung der longue durée-Phänomene aus<br />

titojugoslawischer Zeit in den 1990er Jahren: Die Sprachsezession war bereits seit den 1970er<br />

Jahren weit vorangeschritten <strong>und</strong> ist von der staatlichen <strong>Politik</strong> mitgetragen worden. Daher<br />

müssen wir bei der Betrachtung des angeblich „neuen Wortschatzes“ des Kroatischen<br />

differenzieren zwischen ererbten, der Sprachtradition angehörenden Archaismen <strong>und</strong><br />

tatsächlichen Neologismen, die bewusst Differenz konstruieren sollen. Die Sprachpolitik in<br />

Kroatien ist deutlich die aktivste in Ex-Jugoslawien, aus der vermeintlichen Bringschuld des<br />

Beweises, nicht serbisch zu sprechen. Das Kroatische hat <strong>auf</strong> seiner reichen Purismustradition<br />

seit <strong>dem</strong> Illyrismus zahlreiche Neologismen geprägt, die heute von der Sprechergemeinschaft<br />

akzeptiert worden sind, z.B.:<br />

verdrängtes Sbkr. „neues“ Kroatisch dt.<br />

faktor čimbenik, činitelj „Faktor“<br />

sekretar tajnik „Sekretär“<br />

kandidat pristupnik „Kandidat“<br />

lingvistika jezikoslovlje „Sprachwissenschaft“<br />

ambasada veleposlanstvo „Botschaft“<br />

hamburger brzogriz („Schnellbiß“) „Hamburger,<br />

Fastfood“<br />

džambodžet mamutnjak („Mammutding“) „Jumbojet“<br />

Wir halten fest, dass die anvisierte Differenz zwischen Serbisch <strong>und</strong> Kroatisch vor<br />

allem im Wortschatz zu finden ist, da sich die Kroaten zu einem wirklich radikalen<br />

sprachpolitischen Schritt, der „Wiedereinführung“ des Kajkavischen oder Čakavischen, nicht<br />

entschließen können – zumal die Sprachpolitiker sehen, dass die breite Masse nicht einmal<br />

bereit ist, gewisse Neologismen in ihren Sprachgebrauch zu übernehmen. Es ist schwer<br />

einzuschätzen, ob bei andauernder kroatischer Purismuspolitik in einigen Jahrzehnten<br />

tatsächlich ein Dolmetscher notwendig ist, damit sich Kroaten <strong>und</strong> Serben verständigen<br />

können. Hoffnungsvoll stimmt hier nur die Tatsache, dass auch breite Teile der kroatischen<br />

Medien die präskriptive Sprachpolitik nicht mittragen.<br />

Blicken wir nun nach Serbien: Wir hatten gesagt, dass aus der Sicht der Kroaten die<br />

Serben „die Ekavischsprecher“ sind. Dies ist zunächst richtig, denn das ekavische Štokavische<br />

finden wir nur in Serbien. Allerdings ist dies zu einfach gesehen: Das westliche Gebiet der<br />

serbischen Republik ist ijekavisch, ebenso wie Montenegro <strong>und</strong> die Gebiete in Bosnien <strong>und</strong><br />

Kroatien, in denen Serben leben. Ekavisch ist vor allem das Gebiet um Belgrad <strong>und</strong> Novi Sad.<br />

Wenn wir bedenken, dass das Kriegsziel der Serben nach 1991 die Vereinigung der Serben in<br />

einem Staat war, dann stand die <strong>Sprache</strong> <strong>dem</strong> entgegen. Um die Einigung symbolisch<br />

vorwegzunehmen, führten die bosnischen Serben 1993 in den von ihnen kontrollierten<br />

Gebieten das ekavische Serbische als Norm ein – dies scheiterte allerdings <strong>und</strong> wurde<br />

zurückgenommen. 1996 gab es jedoch noch einen Gesetzesvorstoß, der den bosnischen<br />

8


Serben die Belgrader Aussprache vorschreiben wollte. In Serbien werden diese Fragen heftig<br />

debattiert: Für viele ist Vuk Karadžić <strong>und</strong> seine Entscheidung, das ijekavische<br />

Neuštokavische als Basis für die neue Schriftsprache zu wählen, ein elendiger Verräter: Man<br />

hätte allen Serben von Beginn an das Ekavische <strong>auf</strong>zwingen müssen, damit wäre die<br />

ethnische Gruppe deutlich von Kroaten, Montenegrinern <strong>und</strong> bosnischen Muslimen<br />

unterscheidbar gewesen. Auch serbische Nationalisten leiden also an der Tatsache, dass ihre<br />

Schriftsprache keine exklusiv ethnische Dialektbasis hat – ändern können sie hieran aber<br />

nichts, wie die gescheiterten Experimente mit der Einführung der Ekavica in der bosnischen<br />

Republika Srpska gezeigt haben!<br />

Die montenegrinische Sprachfrage ist Teil der Ijekavisch-Ekavisch-Diskussion:<br />

Sollte sich eine montenegrinische Sprachvarietät ausbilden, die unweigerlich ijekavisch sein<br />

würde, so würde die serbische Seite in einer Kettenreaktion das Ekavische noch stärker als<br />

„wahres Serbisch“ stilisieren. Andersherum könnte es auch sein, dass im Falle einer klaren<br />

Definition von Serbisch als Ekavisch seitens der Belgrader Linguisten dies die Abspaltung<br />

des Montenegrinischen fördern würde. Es bleibt abzuwarten, welche Seite hier den ersten<br />

Schritt macht. Das montenegrinische Sprachprojekt ist quasi eine one-man-show des<br />

Linguisten Nikčević, der in seinem Buch „Piši kao što zboriš“ („Schreib, wie Du sprichst“)<br />

den Vukschen Imperativ umdeutet <strong>und</strong> durch das Wörtchen zboriti anstellte von govoriti das<br />

Erbe von Karadžić als montenegrinisch einklagt. Das prägnante Merkmal dieser geplanten<br />

montenegrinischen <strong>Sprache</strong>, das es vom Serbischen/Kroatischen/Bosnischen unterscheiden<br />

soll, sind drei neue Grapheme, die palatale Zischlaute als Spezifikum der montenegrinischen<br />

M<strong>und</strong>arten bezeichnen:<br />

kyrillisch: ć s з´<br />

lateinisch: ś з ź z.B:<br />

montenegr. śedi! anstelle von sjedi! („setz Dich“)<br />

montenegr. źenica anstelle von zjenica („Pupille“)<br />

Anders als die beiden anderen Grapheme ist das Schriftzeichen kyrillisch <br />

(lateinisch ) aus <strong>dem</strong> Altkirchenslavischen bekannt, <strong>und</strong> zwar für ein stimmhaftes s mit d-<br />

Vorschlag (als Ergebnis der zweiten Palatalisierung). Bei Nikčević wird dieses Phonem<br />

übergeneralisiert <strong>und</strong> auch <strong>auf</strong> Formen wie bendzin, brondzin, jedzero („Benzin, Bronze,<br />

See“) angewendet. Das montenegrinische <strong>Sprache</strong>xperiment wirkt recht unausgegoren <strong>und</strong> ist<br />

hochgradig von der politischen Entwicklung des Staates Serbien <strong>und</strong> Montenegro abhängig.<br />

Kommen wir zum bosnischen Fall. Das Bosnische wird im Dayton-Vertrag von 1995<br />

als Staatssprache mit<strong>auf</strong>geführt. Hier haben wir den seltenen Fall (übrigens wie in<br />

Makedonien 1944), dass eine <strong>Sprache</strong> als offzielle Amtssprache ausgerufen wird, in der<br />

weder Grammatiken noch Wörterbücher vorliegen. Ein zentrales Werk der bosnischen<br />

Sprachplanung erschien 1994 in Wuppertal: Es ist ein Nachdruck der Gramatika bosanskoga<br />

jezika aus <strong>dem</strong> Jahre 1890: In dieser Zeit der österreichischen Besatzung Bosnien-<br />

Herzegowinas hatten die Habsburger versucht, den serbischen <strong>und</strong> kroatischen Nationalismus<br />

in Bosnien dadurch zu entschärfen, dass man eine bosnische Regionalidentität stärkt. Diese<br />

Grammatik ist also kein Beleg für „bosnjakische (Sprach)Identität“, sondern ist im Auftrag<br />

der österreichisch-ungarischen Behörden entstanden. Selbstverständlich wird der Wert dieser<br />

Grammatik als Zeugnis der regionalen Charakteristika im bosnischen Raum hierdurch in<br />

keiner Weise geschmälert.<br />

Die wichtigsten Merkmale der bosnischen <strong>Sprache</strong> sind folgende:<br />

1. Favorisierung der lateinischen Schrift<br />

2. Der Laut /h/ wird kultiviert: vgl. duhan (bosnisch <strong>und</strong> kroatisch) vs.<br />

duvan (serbisch) „Tabak“; hiermit werden regionale Aussprachegewohnheiten der<br />

9


osnischen Bevölkerung berücksichtigt (z.B. lahko vs. serbisch/kroatisch lako<br />

„leicht“; hudovica vs. serbisch/kroatisch udovica „Witwe“; snaha vs. serbisch snaja<br />

„Schwiegertochter“<br />

3. Man bezieht eine Mittelstellung zwischen Serbisch <strong>und</strong> Kroatisch:<br />

a) In Fällen wie hemija vs. kemija („Chemie“) folgt das Bosnische <strong>dem</strong><br />

Serbischen <strong>und</strong> nicht <strong>dem</strong> Kroatischen.<br />

b) In Fällen wie općina vs. opština („Gemeinde“) folgt das Bosnische <strong>dem</strong><br />

Kroatischen <strong>und</strong> nicht <strong>dem</strong> Serbischen.<br />

4. Auf die Kultivierung des osmanisch-türkischen Erbes im lexikalischen<br />

Bereich sind wir schon oben eingegangen.<br />

Das Bosnische versucht seinerseits, Turzismen als Symbol der osmanischen<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> der eigenen muslimischen Identität zu forcieren: So werden Turzismen<br />

„wiedereingeführt“, die während der langen Türkenherrschaft in alle <strong>Balkan</strong>sprachen<br />

eingedrungen, im L<strong>auf</strong>e des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts dann aber in einem mühsamen Purismusprozeß<br />

eliminiert worden waren:<br />

„neues“ Bosnisch Serbisch/Kroatisch dt.<br />

adet običaj „Brauch“<br />

avaz glas „Stimme“<br />

haber v(ij)est, poruka „Nachricht“<br />

hapsana zatvor „Gefängnis“<br />

hefta ned(j)elja, tjedan „Woche“<br />

Traditionell ist das bosnische Sprachgebiet durch die sog. Variantenneutralität<br />

zwischen serbischem <strong>und</strong> kroatischem Pol des Kontinuums gekennzeichnet; d.h. in Bosnien<br />

sind beide Varianten belegt: Dies zeigt etwa eine Stichprobe aus <strong>dem</strong> Osloer Sprachkorpus<br />

zur bosnischen <strong>Sprache</strong> der 1990er Jahre: Als Bezeichnung für die „Woche“ haben wir ein<br />

typisches Ergebnis: Es sind in der bosnischen Presse vier Lexeme belegt, wobei der<br />

Turzismus (hefta) relativ selten ist (nur 13 Belege), während der neutralste Terminus<br />

(sedmica) am häufigsten belegt ist. Der in Serbien dominierende Begriff (ned(j)elja: 37)<br />

ebenso wie der Kroatismus tjedan (26) sind allerdings auch bekannt <strong>und</strong> werden frequent<br />

verwendet.<br />

Es bleibt die Frage nach der Benennung der neuen <strong>Sprache</strong>: Falls die Sprachplaner nur<br />

die Muslime als Benutzergruppe anvisieren <strong>und</strong> Serben <strong>und</strong> Kroaten Bosniens exkludieren,<br />

wäre die Bezeichnung Bosnjakisch angemessener. Im Falle einer Durchsetzung des<br />

Bosnischen als <strong>Sprache</strong> aller in Bosnien-Herzegowina lebenden Gruppen wäre die<br />

Bezeichnung Bosnisch zutreffend. Da Serben <strong>und</strong> Kroaten der Ausformulierung einer<br />

bosnischen <strong>Sprache</strong> allerdings ablehnend gegenüberstehen, scheint das Bosnische tatsächlich<br />

<strong>auf</strong> eine bosnjakische <strong>Sprache</strong> hinauszul<strong>auf</strong>en, mit der sich nur die Bosnjaken identifizieren.<br />

Abschließend möchte ich ein Textbeispiel zeigen, wie es typisch ist für den<br />

Sprachgebrauch in Bosnien: Weitestgehend identische Texte werden dreifach nebeneinander<br />

abgedruckt, <strong>auf</strong> Kyrillisch als Serbisch <strong>und</strong> zweimal in Latinica als Kroatisch <strong>und</strong> Bosnisch.<br />

Hiermit wird die Gleichberechtigung der drei in Bosnien lebenden Ethnien symbolisiert. Wem<br />

dies absurd vorkommt, sollte nicht vergessen, dass die ideologische Gleichung „eine <strong>Sprache</strong><br />

= eine Nation“ aus Westeuropa, von uns nach Südosteuropa importiert worden ist.<br />

10


Anhang: Der Sprachabstand zwischen Kroatisch <strong>und</strong> Serbisch (Morphosyntax)<br />

Nach<strong>dem</strong> bisher vorrangig von der lexikalischen Opposition West-Ost bzw. Kroatisch-<br />

Serbisch die Rede war, möchte ich versuchen, diese zentrale postjugoslawische Dichotomie<br />

<strong>auf</strong> der Ebene der Variationstypologie nachzuzeichnen, wobei mit der Kolloquialisierung <strong>und</strong><br />

Umstandardisierung zwei entgegengesetzte Parameter angesetzt werden: Handelt es sich bei<br />

der Zergliederung um einen intentionalen Prozeß, um gezielte „Ausbau“-Sprachpolitik, oder<br />

entwickeln sich die <strong>Sprache</strong>n naturgemäß auseinander? Stimmt die Beobachtung von Hinrichs<br />

2004, dass im Serbischen, dessen Dialekte als nordwestliche Peripherie des typologisch<br />

konvergierenden <strong>Balkan</strong>sprachb<strong>und</strong>es gelten, die zunächst nur dialektalen analytischen<br />

<strong>Balkan</strong>ismen immer stärker zur unmarkierten Gebrauchsnorm der Umgangssprache werden<br />

<strong>und</strong> dann Eingang in den Standard finden? Ist damit die Europäizität des Kroatischen<br />

bewiesen, oder liegt die simultane Gegenbewegung seitens kroatischer Sprachpolitiker vor,<br />

die eine Synthetisierung des Sprachgebrauchs betreiben?<br />

Dies soll an einigen Beispielen überprüft werden. Die kurze Liste ist übrigens<br />

exhaustiv <strong>und</strong> zeigt deutlich, wie minimal die Differenzen zwischen Kroatisch <strong>und</strong> Serbisch<br />

<strong>auf</strong> grammatischer Ebene tatsächlich sind – für jedes der Phänomene bildet die<br />

Umgangssprache Schnittmengen.<br />

1. Prädikatsnomen im Nominativ vs. Instrumental<br />

2. Infinitiv<br />

3. Deklination der Zahlwörter<br />

4. Opposition von bestimmter <strong>und</strong> unbestimmter Adjektivdeklination<br />

5. Wortstellung der Klitika<br />

Hier liegen unterschiedlich zu bewertende Prozesse vor:<br />

1. Im titojugoslawischen Serbokroatisch war die Variation zwischen Nominativ <strong>und</strong><br />

Instrumental probabilistischen Tendenzen unterworfen, wobei bei sog. „bare nominals“ –<br />

indefiniten <strong>und</strong> extrem nicht-referentiellen Prädikaten wie in der Aussage „Peter ist Direktor<br />

geworden“ – eher der Instrumental verwendet wurde: vgl. Petar je postao direktor vs. Petar<br />

je postao direktorom. Die Nominativform entspricht der kroatischen Umgangssprache <strong>und</strong><br />

<strong>dem</strong> serbischen Standard. Der forcierte Gebrauch des Instrumentals in der lektorierten<br />

kroatischen Presse der 1990er Jahre kann so als gezielte Sprachlenkung gesehen werden, beim<br />

Ausbau des Kroatischen das Divergenzprinzip zum Serbischen durchzusetzen. Neuerdings<br />

wird die Konstruktionsart in Sätzen mit der Kopula biti „sein“ auch <strong>auf</strong> Adjektive<br />

ausgeweitet: audicija mi je počela postajati sve važnijim. Der gegenläufige Prozeß als<br />

natürlicher Abbau von Kategorien ist im Polnischen des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts vor sich gegangen,<br />

während der Instrumental im Russischen bis heute verbindlich ist.<br />

2. Weiterhin stehen sich der Infinitiv im Kroatischen <strong>und</strong> die da-Konstruktionen des<br />

Serbischen gegenüber. Die Varianz im Satz „ich will arbeiten“ (kroat. hoću raditi <strong>und</strong> serb.<br />

hoću da radim) gilt als das differenzierende Merkmal zwischen Kroatisch <strong>und</strong> Serbisch <strong>auf</strong><br />

morphologischer Ebene, das durch eine zunehmende Instabilität des Infinitivs nach Südosten<br />

des štokavischen Raums abgesichert ist. Diese Differenz ist also kein Konstrukt der 1990er<br />

Jahre, allerdings ist diese Formenverwendung heute entsprechend stark politisch markiert.<br />

Während beim Infinitiv also das Serbische in Bewegung ist, das eine gemeinsame ererbte<br />

Kategorie bereits seit geraumer Zeit abbaut, so stellt die rezente Frequenz des instrumentalen<br />

Prädikativs im Kroatischen die gegenläufige Tendenz dar, nämlich die geplante<br />

Reinstallierung einer archaischen, nun als kroatisch markierten Form.<br />

3. Dasselbe gilt für die kroatisch-serbischen Differenzen bei der Flexion der<br />

Kardinalia. Während kroatische <strong>und</strong> serbische Umgangssprache hier eine klare Tendenz zum<br />

Flexionsabbau <strong>auf</strong>weisen, belegen sprachzensurierte kroatische Texte der 1990er Jahre<br />

verstärkt die archaischen Flexionsformen der Kardinalzahlen 2-4 (nur diese sind überhaupt<br />

11


flektierbar). Die Formulierung u očima ta dva čov(j)eka… („in den Augen dieser beiden<br />

Menschen…“, Kardinalzahl im Nominativ <strong>und</strong> gezählte Form im Genitiv Singular) ist also<br />

kennzeichnend für den kroatischen <strong>und</strong> serbischen umgangssprachlichen Usus, während<br />

flektierte Formen der Kardinalzahl <strong>und</strong> der gezählten Form – z.B. član koalicije četiriju<br />

stranaka „Mitglied der Koalition von vier Parteien“ – das kroatische Prinzip der maximalen<br />

Divergenz nach außen verkörpern.<br />

4. Bis <strong>auf</strong> die beiden Slavinen des <strong>Balkan</strong>sprachb<strong>und</strong>es Bulgarisch <strong>und</strong> Makedonisch<br />

mit <strong>dem</strong> postponierten Artikel ist die Kategorie der Determiniertheit im Slavischen nicht<br />

grammatikalisiert <strong>und</strong> wird nicht am Nomen symbolisiert. Allerdings hat das Serbokroatische<br />

aus <strong>dem</strong> Altkirchenslavischen die Unterscheidung zwischen einer bestimmten (formal<br />

pronominalen) <strong>und</strong> einer unbestimmten (formal nominalen) Adjektivdeklination ererbt, die<br />

heute nur noch im Paradigma der Maskulina Singular auszumachen ist <strong>und</strong> mit der<br />

Vorerwähntheit markiert wird: unbestimmt (imam nov auto „ich habe ein neues Auto“) vs.<br />

bestimmt (novi auto je dobar „das neue Auto ist gut“). Das Serbische <strong>und</strong> Kroatische haben<br />

<strong>auf</strong> umgangssprachlicher Ebene die bestimmte Form weitgehend generalisiert, wobei das<br />

Kroatische abermals konservativer bzw. retardierend erscheint <strong>und</strong> die Opposition noch<br />

besser bewahrt.<br />

5. Eine weitere Differenz zwischen Kroatisch <strong>und</strong> Serbisch betrifft die Wortstellung<br />

der Klitika, <strong>und</strong> zwar zwischen logischer <strong>und</strong> phonetischer Satzposition. Hier besteht im<br />

schriftsprachlichen Bereich des Kroatischen die klare Tendenz der Bevorzugung der<br />

phonetisch basierten Variante, d.h. die Bewahrung des maximal klitischen Charakters,<br />

während serbische Schrift- <strong>und</strong> Umgangssprache der syntaktisch basierten Variante den<br />

Vorzug geben („In diesen Frühlingstagen war er ungewöhnlich nervös“):<br />

sSS/sUS (kUS): Tih proljetnih dana bio je neobično uznemiren.<br />

kSS: Tih je proljetnih dana bio neobično uznemiren.<br />

(s serbisch, k kroatisch, SS Standardsprache, US Umgangssprache)<br />

sSS sUS kSS kUS<br />

1. Infinitiv + - + +/-<br />

da-Periphrase + + - -<br />

2. Prädikativ:<br />

Nominativ + + +/- +<br />

Instrumental - - + +/-<br />

3. Flexion der<br />

Kardinalia +/- - + +/-<br />

4. Opposition<br />

best. vs. unbest. Adj. +/- - + +/-<br />

5. Klitikaposition<br />

phonetisch - - + -<br />

syntaktisch + + - +<br />

Dieser kurze Überblick soll genügen, die Dichotomie Serbisch-Kroatisch nicht als<br />

Gegensatz zweier ontologischer Entitäten zu begreifen, sondern zu relativieren. Die<br />

synthetischen Tempora Aorist <strong>und</strong> Imperfekt sind in beiden <strong>Sprache</strong>n gleichermaßen stark<br />

rezessiv <strong>und</strong> machen das periphrastische Perfekt zum unmarkierten Präteritum. Vielfach<br />

erwächst die rezente Differenz aus einer sprachplanerisch geschaffenen Bruchstelle zwischen<br />

kroatischem Sprachusus obstinater Natur <strong>und</strong> einer neuen Sprachnorm, die mit Hilfe<br />

<strong>auf</strong>wendiger Lektoratmaßnahmen der Massenmedien implementiert wird.<br />

Dies bestätigt auch die neue bosnische Norm, die – bis <strong>auf</strong> das geographisch bedingte<br />

Fehlen der Infinitivperiphrase – den serbischen Sprachzustand spiegelt: Im Bosnischen fehlen<br />

sowohl der instrumentale Prädikativ als auch die Distanzstellung der Klitika. Es handelt sich<br />

12


hierbei nicht um kategoriell Neues, sondern eher um eine Archaisierung der <strong>Sprache</strong>, genauer<br />

um die Rücknahme gewisser neoanalytischer <strong>und</strong> substandard-kolloquialer Tendenzen, die im<br />

Serbischen – auch <strong>auf</strong>gr<strong>und</strong> des Kontakts mit den <strong>Balkan</strong>sprachen – bereits unmarkierte<br />

Gebrauchsnorm sind, die im tito-jugoslawischen Alltag aber auch in den kroatischen Raum<br />

vorgedrungen waren.<br />

13


Folien oder Handout:<br />

Ijekavisch Ekavisch<br />

Dialekte in Kroatien: Kajkavisch - +<br />

Čakavisch + +<br />

Štokavisch + -<br />

Dialekte in Bosnien: Štokavisch + -<br />

Dialekte in Serbien: Štokavisch + + (Osten)<br />

Štokavisch + (Westen) -<br />

Dialekte in Montenegro: Štokavisch + -<br />

Die Sprachsituation um 1800:<br />

Kroatien Serbien<br />

interlinguale Diglossie intralinguale Diglossie<br />

high varieties: Deutsch, Latein, Ungarisch high variety: Slavenoserbisch<br />

low variety: Kroatisch low variety: Serbisch<br />

xenophober Purismus: „ethnographischer“ Purismus:<br />

starke Tendenz zu Calques Eliminierung von Kirchenslavismen, aber<br />

offen für Internationalismen<br />

dt. kroat. serb.<br />

„Brot“ kruh hleb<br />

„Bahnhof“ kolodvor (Calque) stanica (Internationalismus)<br />

„Decke“ deka (dt.) ćebe (Turzismus)<br />

„Fußball“ nogomet (Calque) fudbal (dt./int.)<br />

„Handtuch“ ručnik peškir (turz.)<br />

„Maschine“ stroj mašina (int.)<br />

„Musik“ glazba muzika (int.)<br />

„Nachbar“ susjed komšija (turz.)<br />

„Tausend“ tisuća hiljada (Gräzismus)<br />

„Universität“ sveučilište (Calque) univerzitet (int.)<br />

„Luft“ zrak vazduh<br />

„Richtung“ smjer pravac<br />

14


Periode: Sprachbezeichungen: korrelierende Ideologie:<br />

Kroatien vor 1850 „Illyrisch“ kroatischer Pansüdslavismus<br />

1850 Wiener Abkommen „naš jezik“ („unsere <strong>Sprache</strong>“) Unitarismus<br />

Vorschlag 1861 „Jugoslawisch“ Unitarismus<br />

1867 „Serbo-Kroatisch“ Unitarismus<br />

1918-1941 „Serbo-Kroatisch“/<br />

“Serbisch <strong>und</strong> Kroatisch“ serbischer Zentralismus<br />

1941-1944 „Kroatische Literatursprache“ etymologische Orthographie<br />

nach 1954 (Novi Sad) „Kroato-Serbisch“ Zweivariantenmodell<br />

Verfassung 1974 „Standardsprachidiom“ Föderalisierung<br />

1971: „bosn.-herzegow. standard-<br />

sprachl. Ausdruck<br />

+ montenegrinische Subvariante“<br />

nach 1991 „Bosnisch, Kroatisch, Serbisch“ Auflösung Jugoslawiens<br />

19. Jh.: 1. <strong>und</strong> 2. Jugoslawien: nach 1991:<br />

Ausbau Umbau Abstand<br />

Serbisch Serbisch<br />

Serbokroatisch Kroatisch<br />

Kroatisch 1918-1941: monozentrisch Bosnisch<br />

1945-1991: plurizentrisch (Montenegrinisch)<br />

Erstes Jugoslawien Zweites Jugoslawien Post-Jugoslawien<br />

1918-1941: 1945-1991: nach 1991/1992:<br />

UNITARISMUS FÖDERALISIERUNG „NATIONAL-<br />

STAATEN“<br />

Staaten: 1 1 5<br />

Nationen: 1 (als „drei Stämme“: 6 (+ Makedonier, Montenegriner, 6<br />

(laut Verfassung) Serben, Kroaten, Slovenen) ab 1968 + „Muslime“)<br />

<strong>Sprache</strong>n: 1 (Serbokroatisch; 3 (+ Slovenisch; + Makedonisch) 5 (+ Bosnisch) bzw.<br />

„<strong>und</strong> slovenische Dialekte“) 6 (+ Montenegrinisch)<br />

15

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!