Extract (PDF) - Peter Lang
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1 Einleitung<br />
Übersetzen und Dolmetschen spielen seit Menschengedenken im Kontakt<br />
zwischen verschiedenen Kulturen eine wichtige Rolle. Diese Rolle<br />
wird auch in der Literatur 1 sowie den modernen Unterhaltungsmedien<br />
thematisiert, wobei gerade das Fernsehen bisweilen interessante Einblicke<br />
liefert: In einer Folge der von der ARD produzierten TV-Krimireihe<br />
„Tatort“ mit dem Titel Eine Leiche zu viel (D 2004) müssen sich der ermittelnde<br />
Kommissar, der über keinerlei Fremdsprachenkenntnisse verfügt,<br />
und seine mehrsprachige Assistentin bei der Suche nach den Hintergründen,<br />
die zur Ermordung einer Französin geführt haben, mit dem<br />
französischen Ehemann der Toten auseinandersetzen. Da dieser wiederum<br />
kaum deutsch spricht, werden seine französischen Äußerungen<br />
beim ersten Kontakt spontan von der Assistentin gedolmetscht. An dieser<br />
Stelle haben die Drehbuchautoren auf eine Synchronisation der zum<br />
Teil äußerst vulgären Äußerungen verzichtet, die Sprachmittlung erfolgt<br />
ausschließlich über die Assistentin. Bei der Suche nach Indizien stoßen<br />
die Ermittler später auf einen Brief des Ehemanns an das Mordopfer<br />
und es kommt zu folgender Szene:<br />
Kommissar: „Können Sie mal vorlesen?“<br />
Assistentin: „Ma petite!“<br />
Kommissar (ungeduldig): „Auf Deutsch bitte!“<br />
Assistentin: „Meine Kleine. Ich hoffe, du bist mir nicht<br />
böse…“<br />
(Tatort SWR:2004, 62:45)<br />
Während die Assistentin nahezu fließend mit der beim Lesen üblichen<br />
Intonation den Zieltext auf Deutsch vorträgt, schwenkt die Kamera von<br />
ihrem konzentrierten Gesicht mehrfach auf das französische Schriftbild<br />
des Briefes, um die Verbindung zwischen Originaltext und Übersetzung<br />
zu unterstreichen.<br />
Interessant ist, dass die Assistentin bei der Verdolmetschung mit der<br />
Wiedergabe der Aussage in der Zielsprache zögert und offensichtlich mit<br />
Formulierungsschwierigkeiten zu kämpfen hat, bei der Stegreifübersetzung<br />
des Briefes aber weder spürbares Zögern im Vortrag noch Nach-<br />
1 Vgl. die umfassende Darstellung vom „Dolmetscher als literarische Figur“ bei<br />
Andres 2008.<br />
1
denken vor der Formulierung zu beobachten sind. Die Assistentin ‚liest‘<br />
den Text einfach auf Deutsch vor und suggeriert dem Zuschauer, dass<br />
die Übersetzung einer schriftlichen Textvorlage im Gegensatz zum<br />
Dolmetschen auch für Laien allenfalls geringfügige Probleme bereitet.<br />
Auch wenn diese Szene dem Bereich der Fiktion zuzuordnen ist, unterstreicht<br />
sie die Bedeutung, die die Sprachmittlung in einer zunehmend<br />
global vernetzten Welt für die mündliche und schriftliche Kommunikation<br />
auf verschiedenen Ebenen (Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft<br />
und Kultur, aber auch im juristischen Bereich) hat, und lässt vermuten,<br />
das Stegreifübersetzen gehöre zur Alltagskompetenz all derjenigen,<br />
die eine Fremdsprache beherrschen. Da scheinbar keine besonderen<br />
Fertigkeiten für die mündliche Wiedergabe einer schriftlichen Textvorlage<br />
in einer anderen Sprache erforderlich sind, besetzt das Stegreifübersetzen<br />
nur eine Randposition in der Hierarchie der Translationsformen.<br />
Während es am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft<br />
der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, an dem die Verfasserin<br />
acht Jahre lang für den Bereich Stegreifübersetzen im Fach Französisch<br />
zuständig war, nach wie vor zu den im Rahmen des Studiengangs<br />
Übersetzen vermittelten Kompetenzen gehört, ist es an verschiedenen<br />
anderen Ausbildungsinstituten für Übersetzer und Dolmetscher in einzelnen<br />
Sprachen nicht (mehr) im Studienplan enthalten 2. Der Reaktion<br />
der Studierenden (angehende ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen)<br />
in den ersten Unterrichtsstunden lässt sich allerdings entnehmen, dass<br />
ihnen diese Form der Translation aufgrund mangelnder Vermittlung im<br />
Unterricht oder schlechter Erfahrungen im Prüfungskontext Respekt<br />
einflößt, ja sogar Unbehagen bereitet.<br />
Wie das Stiefkind im Märchen wird auch das Stegreifübersetzen trotz<br />
seiner Relevanz für die Berufspraxis von Übersetzern und Dolmetschern<br />
zu untergeordneten Tätigkeiten verpflichtet oder mit Missachtung gestraft.<br />
Denn es liegen zwar zahlreiche Arbeiten aus vielen verschiedenen<br />
2 Unterrichtet und geprüft wird das Stegreifübersetzen aus der B-Sprache in die A-<br />
Sprache neben dem FTSK auch an der FH Köln und dem SDI München. Am<br />
UIBK der Universität Innsbruck wird im Bachelorstudiengang das Stegreifübersetzen<br />
aus der A-Sprache in die B-Sprache vermittelt. Obwohl in der Diplomprüfung<br />
z.T. eine Stegreifleistung verlangt wird, werden in den Bachelor- und<br />
Masterstudiengänge an den Universitäten Saarbrücken, Heidelberg, Hildesheim<br />
und Wien keine Veranstaltungen zum Stegreifübersetzen angeboten.<br />
2
Ländern 3 vor, die sich im weiteren Sinne mit dem Stegreifübersetzen befassen,<br />
aber es lässt sich daraus keine allgemein verbindliche Definition<br />
für diese Variante der Translation ableiten, ja schlimmer noch: Unser<br />
Stiefkind hat – zumindest in der Translationswissenschaft – nicht einmal<br />
einen allgemein anerkannten Namen, sondern wird auch Vom-Blatt-<br />
Übersetzen, Spontanübersetzen sowie Vom-Blatt-Dolmetschen genannt,<br />
wobei jeweils andere Wesensmerkmale fokussiert werden. Dass eine<br />
Form der Translation gleichzeitig als Übersetzen und Dolmetschen bezeichnet<br />
wird, könnte als Beleg dafür interpretiert werden, dass es sich um eine<br />
Hybridform handelt, deren Zugehörigkeit zum Übersetzen oder<br />
Dolmetschen ungeklärt ist. Liegt eine direkte Verwandtschaftsbeziehung<br />
oder eine indirekte Verwandtschaftsbeziehung wie in einer Patchworkfamilie<br />
vor oder ist das Stegreifübersetzen eine eigenständige Form der<br />
Translation, also ein Adoptivkind?<br />
Das vorliegende Buch bemüht sich um Antworten auf diese Fragen, um<br />
das Stegreifübersetzen vom Makel des Stiefkinddaseins zu befreien, systematisch<br />
die Translationshybride Stegreifübersetzen in ihren kommunikationstheoretischen<br />
und prozeduralen Besonderheiten zu beschreiben<br />
sowie anhand empirischer Daten zu ermitteln, welche spezifischen<br />
Schwierigkeiten das Stegreifübersetzen aufweist und welche Kompetenzen<br />
zur Lösung dieser Anforderungen vorhanden sein bzw. vermittelt<br />
werden müssen.<br />
Da bis auf die Dissertation von Ámparo Jiménez Ivars (1999) keine umfassende<br />
systematische Auseinandersetzung mit dem Stegreifübersetzen<br />
veröffentlicht wurde, sind die Ergebnisse einschlägiger Arbeiten in den<br />
verschiedenen Bereichen nach Themen geordnet in die einzelnen Abschnitte<br />
integriert. In Kapitel 2 wird auf Grundlage der Arbeiten, die sich<br />
theoretisch und praktisch mit dem Stegreifübersetzen beschäftigen, eine<br />
Definition des Stegreifübersetzens vorgeschlagen, für die auch die verschiedenen<br />
Einsatzmöglichkeiten und Subkategorien dieser ‚großen Unbekannten‘<br />
in der Translation berücksichtigt werden. Die Kapitel 3 und 4<br />
3 Neben Beiträgen aus Deutschland (Pöchhacker 1994; Kalina 2004) sowie dem<br />
französischsprachigen (Curvers et al. 1986; Thiéry 1989; Gile 1995) und englischsprachigen<br />
Raum (Pratt 1990; Viaggio 1995) finden sich auch Arbeiten aus<br />
Italien (Viezzi 1990; Ballardini 1998) der Türkei (Erzoglu 2005), Spanien<br />
(Jiménez Ivars 1999; 2008) aus Kanada (Déjean Le Féal 1981; Lambert 1991 und<br />
2004; Agrifoglio 2004) und ganz aktuell aus Dänemark (Gorm/Hansen 2007), in<br />
denen das Stegreifübersetzen behandelt wird.<br />
3
eleuchten die Verwandtschaftsverhältnisse des Stegreifübersetzens zum<br />
Übersetzen und Dolmetschen aus prozesstheoretischer und kognitionslinguistischer<br />
Perspektive. Im 5. Kapitel wird mit Bezug auf empirische<br />
Arbeiten zum Thema Stegreifübersetzen der Aufbau, die Durchführung<br />
und die Auswertung einer eigenen Versuchsreihe beschrieben, in der anhand<br />
definierter Kategorien die Stegreifleistung in der Sprachrichtung<br />
Französisch-Deutsch von Übersetzern und Dolmetschern verglichen<br />
und der Simultanverdolmetschung des Textes systematisch gegenübergestellt<br />
werden. Im Rahmen dieser empirischen Untersuchung wird nicht<br />
nur die Frage nach der Zuordnung des Stegreifübersetzens zum Übersetzen<br />
oder Dolmetschen beantwortet, sondern es werden auch spezifische<br />
Schwierigkeiten herausgearbeitet, mit denen Übersetzer und/oder<br />
Dolmetscher bei der Anfertigung einer Stegreifübersetzung zu kämpfen<br />
haben. Die Ergebnisse der Versuchsreihe werden im 6. Kapitel in einem<br />
Stegreifkompetenzmodell synthetisiert, auf dessen Grundlagen der im 7.<br />
Kapitel unter Berücksichtigung der in der Literatur beschriebenen translationsdidaktischen<br />
Ansätze erstellte Leitfaden zur Vermittlung entsprechender<br />
Kompetenzen aufbaut.<br />
Abschließend noch zwei Anmerkungen zu der in der vorliegenden Arbeit<br />
verwendeten Terminologie:<br />
Auf sprachlicher Ebene wird zwischen dem Stegreifübersetzen und der<br />
Stegreifübersetzung unterschieden. Unter Stegreifübersetzen ist die Translationshandlung<br />
in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu verstehen,<br />
während mit dem Begriff Stegreifübersetzung das Produkt gemeint ist. Beschreibungsgegenstand<br />
ist der Stegreifprozess und der Kontext, in dem<br />
er stattfindet, während das beim Stegreifübersetzen erzeugte Produkt vor<br />
allem als Lieferant von Daten herangezogen wird, die Rückschlüsse auf<br />
den Prozess erlauben.<br />
Der besseren Lesbarkeit halber wird in der vorliegenden Arbeit bei allgemeinen<br />
Aussagen über Translatoren das generische Maskulinum verwendet.<br />
Bei der Auswertung der Daten aus der Versuchsreihe im Kapitel<br />
5 wird dagegen auf die feminine Form zurückgegriffen, da hier ausschließlich<br />
angehende Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen beteiligt<br />
waren.<br />
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