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Das<br />
Klassik<br />
& Jazz<br />
Magazin<br />
InHaLT<br />
Lorbeer und Zitronen <strong>Rondo</strong>plus 2<br />
CD-Rezensionen Klassik <strong>Rondo</strong>plus 5<br />
Klassik-Olymp <strong>Rondo</strong>plus 5<br />
<strong>Haste</strong> <strong>Töne</strong>¿ <strong>Rondo</strong>plus 7<br />
DIe ROnDO-CD #43<br />
www.rondomagazin.de<br />
1|11 · 20. Jahrgang<br />
<strong>Rondo</strong>plus<br />
1 PLáCIDO DOMIngO – The album<br />
Collection<br />
»Sein robuster, unverwechselbar timbrierter<br />
Tenor war und ist weich im ansatz und dennoch von hel-<br />
discher ausdauer, Schallkraft und Durchschlagsenergie.«<br />
(Robert Fraunholzer)<br />
2 THOMaS HaMPSOn – Mahler: Des Knaben<br />
Wunderhorn<br />
»In Mahlers Liedern ist die Welt mit all ihren ab-<br />
gründen, aber auch Schönheiten, sozusagen in <strong>Töne</strong> einge-<br />
fangen – auf geradezu existenzielle und existenzialistisch-<br />
philosophische Weise.« (Thomas Hampson)<br />
3 Ray CHen, nOReen POLeRa – Virtuoso<br />
»Funkelnd und leicht schwingen sich die Linien<br />
in Bachs berühmter »Chaconne« auf seiner Debüt-CD<br />
von einem Kontrapunkt zum nächsten.« (Robert<br />
Fraunholzer)<br />
Die Extraseiten für Abonnenten<br />
Retro-Diskothek <strong>Rondo</strong>plus 9<br />
DVD-Rezensionen <strong>Rondo</strong>plus 10<br />
Musik der Welt <strong>Rondo</strong>plus 12<br />
CD-Rezensionen Jazz <strong>Rondo</strong>plus 14<br />
4 Hagen QuaRTeTT – Hagen Quartett 30<br />
»auch nach drei Jahrzehnten auf dem Podium<br />
gibt es bei den vier Musikern von Routine keine<br />
Spur.« (Jörg Königsdorf)<br />
5 neManJa RaDuLOVIC – Sonatas for vio-<br />
lin and piano<br />
auf seiner neuesten CD hat sich der Shootingstar<br />
des geigen-nachwuchses an die anspruchsvollen Violinso-<br />
naten von Beethoven gewagt – mit beeindruckender Tech-<br />
nik und musikalischer Reife.<br />
6 DIVeRSe, ORCHeSTRa OF THe ROyaL<br />
OPeRa HOuSe, gIuLInI – Verdi: Don Carlo<br />
»einer der seltenen glücksfälle einer einspie -<br />
lung, bei der einfach alles stimmt, ist Carlo Maria giu-<br />
linis fünfaktiger »Don Carlo« aus dem Jahr 1970.« (Michael<br />
Blümke)<br />
7 JuLIane BanSe – Per amore<br />
ausgewählte Opern-arien von Mozart bis<br />
Tschaikowsky, von der vielseitigen Sopranis tin<br />
mit gewohnter musikalischer ernsthaftigkeit interpretiert.<br />
8 HILaRy HaHn – Higdon & Tschaikowsky<br />
»Wenn ich Higdon spiele und mich danach mit<br />
Tschaikowsky beschäftige, habe ich eine ganz<br />
andere Perspektive auf seine Musik. Diese Form der ausei-<br />
nandersetzung macht meinen Beruf für mich erst interes-<br />
sant.« (Hilary Hahn)<br />
9 DOROTHee OBeRLIngeR, enSeMBLe<br />
1700 – French Baroque<br />
Sie gilt als Flötenstar der alten Musik-Szene. Zu<br />
Recht, wie diese mitreißende einspielung von französischer<br />
Kammermusik des Barock zeigt.<br />
Meilensteine des Jazz <strong>Rondo</strong>plus 14<br />
neue Bücher <strong>Rondo</strong>plus 15<br />
10 nILS MönKeMeyeR, KaMMeRaKaDe-<br />
MIe POTSDaM – Folia<br />
»Bereits seine vierte Platte innerhalb von zwei<br />
Jahren legt nils Mönkemeyer mit »Folia« vor und beweist<br />
damit einmal mehr, dass die Bratsche immer weiter aus ih-<br />
rem Schattendasein tritt.« (Christoph Braun)<br />
11 SIMOne DInneRSTeIn – a strange beauty<br />
»eine höchst individuelle Stimme im Dickicht<br />
der Bach-Interpretationen.« (New York Times)<br />
12 RIaS KaMMeRCHOR, RaDeMann –<br />
J. L. Bach: Trauermusik<br />
»Die Trauermusik ist ein Meisterwerk. Wie das<br />
zwischen großer einfachheit volkstümlichen Charakters und<br />
extremer Moderne hin- und hergeht, ist zum Teil sehr wagemutig.«<br />
(Hans-Christoph Rademann)<br />
13 THe eRIC WHITaCRe SIngeRS – Light<br />
& gold<br />
»Die Partygesänge für a-cappella-Chor sind die<br />
unbeschwerteste, dabei funktionsfähigste Moderne seit langem.«<br />
(Robert Fraunholzer)<br />
14 DaVe BRuBeCK QuaRTeT – gone with<br />
the wind<br />
»ein unprätentiöses Programm aus Standards<br />
und Traditionals, das die Musiker in einer Sternstunde locker,<br />
leicht, unbeschwert und mit viel einfallsreichtum aus<br />
dem Ärmel schüttelten.« (Marcus Woelfle)<br />
15 COLIn VaLLOn TRIO – Rruga<br />
»Mit Mut zum Klangexperiment, großer Ruhe<br />
und gleichzeitig inwendig brodelnder Intensität<br />
baut sich das Trio aus vorgefundenen elementen seine<br />
eigene Musik zusammen.« (Josef Engels)
lorbeer und<br />
Zitronen<br />
Was ROnDO-Kritikern im Jahr 2010 gefallen und missfallen hat<br />
KLaSSIK<br />
Platte des Jahres<br />
MiCHAEl<br />
BlüMKE<br />
Zweimal Mozart: René Jacobs, dem auch mit<br />
seiner »Zauberflöte« erneut eine Referenzein-<br />
spielung gelungen ist, und David Fray, der<br />
nach einem Bach für die einsame Insel und<br />
einem eher enttäuschenden Schubert mit<br />
den Mozart-Klavierkonzerten nr. 22 & 25<br />
wieder einen Volltreffer gelandet hat.<br />
Künstler des Jahres<br />
Simone Kermes, keine präsentiert das hochvirtuose<br />
Barock-Repertoire mit so viel Schmackes.<br />
(Kann auch keine sonst.) und der<br />
Counter aller Counter Philippe Jaroussky.<br />
überraschung des Jahres<br />
nicholas angelich, für mich bisher immer<br />
ein schrecklicher Langweiler, legt eine hinreißende<br />
aufnahme von Brahms‹ zweitem<br />
Klavierkonzert vor.<br />
Muss das sein?<br />
nachdem wir schon auf CD gefühlte 500<br />
komplette Beethoven-, Brahms- und Bruckner-Zyklen<br />
über uns ergehen lassen mussten,<br />
bläst die Industrie jetzt via DVD auch<br />
noch verstärkt zum angriff auf unsere armen<br />
augen. als ob abgenudeltes Repertoire<br />
aufregender würde, wenn man den Dirigenten<br />
dabei schwitzen sieht.<br />
überbewertet<br />
eine kleine auswahl in streng alphabetischer<br />
Reihenfolge: Daniel Barenboim, annette<br />
Dasch, Julia Fischer, edita gruberová, Lang<br />
Lang, Marc Minkowski, Christian Thielemann<br />
– und ein nur knapp die 100%-Marke verfehlender<br />
Prozentsatz der ohne unterlass aus<br />
dem Reagenzglas gezauberten geigen- und<br />
Klavieryoungsters jedweden geschlechts.<br />
Unterbewertet<br />
Joseph Haydn – daran hat auch das gedenkjahr<br />
2009 kaum etwas geändert.<br />
und die arbeit/energie/Leidenschaft/Hinga be<br />
der vielen in dieser Branche Tätigen, die nicht<br />
im Dauerrampenlicht der Medien stehen.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Viele Referenzaufnahmen, die wir gerne in<br />
den »Klassik-Olymp« heben würden, sind aus<br />
2 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
dem Katalog gestrichen und nicht mehr erhältlich.<br />
Meine heimliche liebe<br />
nach wie vor und immer wieder: der italienische<br />
Liedermacher gianmaria Testa. und natürlich<br />
Joseph Haydn, nach wie vor und immer<br />
wieder. (Die schönste Haydn-CD 2010: seine<br />
Orgelkonzerte, gespielt von Ton Koopman.)<br />
CHRisToPH<br />
BRAUN<br />
Platte des Jahres<br />
Der Beethoven des artemis-Quartetts / die<br />
»Missa solemnis« mit guttenberg-Vater, gar<br />
nicht gelgeglättet. und Jonathan notts »auferstehungssinfonie«<br />
– ein überwältigender<br />
Mahler, in jeder Hinsicht.<br />
Künstler des Jahres<br />
John eliot gardiner und René Jacobs. Was<br />
die zwei ›alten‹ anpacken (Brahms-Sinfonien<br />
bzw. »Zauberflöte«), wird nach wie vor<br />
zu Marksteinen.<br />
überraschung des Jahres<br />
earl Wilds verjazzte gershwin-arrangements<br />
mit Xiayin Wang, der wahrlich wilden<br />
Schönen aus Shanghai. / Cameron Carpenters<br />
Orgelspiel: Das lüftet kräftig die<br />
Talare der letzten 1.000 Jahre.<br />
Muss das sein?<br />
gottschalk jetzt auch noch in der »echo«-<br />
Marketingmaschine / die allgegenwärtigen<br />
arrangements (fehlt nur noch die »Matthäus-Passion«<br />
für acht Saxophone und<br />
Schlagzeug) / der rotgewandete Blickfang<br />
(alice Sara Ott) verdrängt den ›Hörfang‹<br />
(Thomas Hengelbrock): wenn Marketing<br />
wichtiger ist als Qualität (bei Tschaikowskys<br />
b-Moll-Schlachtross).<br />
überbewertet<br />
Mindestens jede zweite Chopin-Platte dieses<br />
Jahres. Larmoyante Langeweile für senti-<br />
mentale Bildungsbürger.<br />
Unterbewertet<br />
norringtons Mahler-neunte: offenbar (noch)<br />
zu ungewohnt-unsentimental, dabei in der<br />
Tradition Bruno Walters, also Mahlers selbst.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Thielemanns Beethoven aus Wien: ein affront<br />
sondergleichen gegen ›seine‹ Münchener<br />
Philharmoniker. und der Münchener<br />
Kaiser applaudiert auch noch. Ob Thielemanns<br />
künftige Dresdner wissen, was auf<br />
sie zukommt?<br />
Meine heimliche liebe<br />
Singer Purs »Letztes glück«. Labsal für jede<br />
Sangesseele, nicht nur deutsche.<br />
olivER<br />
BUslAU<br />
Platte des Jahres<br />
Mahlers Zweite unter Paavo Järvi mit dem<br />
Frankfurter Radio-Sinfonieorchester. eine<br />
klanglich sehr brillante Weiterführung der<br />
einst von eliahu Inbal maßgeblich gesetzten<br />
Mahler-Tradition dieses Orchesters.<br />
Künstler des Jahres<br />
Ich schwanke zwischen Christina Pluhar<br />
und gabriela Montero. Beide Damen bringen<br />
mit wirklichem Können und weniger<br />
mit Marketingstrategien Schwung in die<br />
Klassik.<br />
überraschung des Jahres<br />
Dass sich jemand so unangepasstes wie<br />
Wolfgang Joop nach eigener aussage früher<br />
von der zur Schau gestellten abendgardero be<br />
davon abhalten ließ, die Oper zu mögen<br />
(s. ROnDO 6/2010) – jetzt aber doch dazu<br />
findet.<br />
Muss das sein?<br />
Wir haben jetzt für die nächsten 300 Jahre<br />
genug aufnahmen mit Kastratenarien im<br />
Schrank. Mir ist es egal, ob die ausführenden<br />
des Soloparts rote, blonde oder schwarze<br />
Haare haben. Oder ob sie netzstrümpfe oder<br />
Socken tragen.<br />
überbewertet<br />
Der gedanke, als verpoppter ›Crossover‹ verkleidete<br />
Klassik (die ich durchaus gerne<br />
höre) könne Menschen zu dem genre insgesamt<br />
hinführen. Das sind einfach zwei<br />
Paar Schuhe.<br />
Unterbewertet<br />
Trotz einer gewissen Wiederentdeckungswelle:<br />
Romantische Bach-Bearbeitungen,<br />
etwa von Busoni.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Ich hätte nicht gedacht, dass der Tod von<br />
anne liese Rothenberger im Mai 2010 einen<br />
so geringen anlass für Wiederveröffent-<br />
lichungen bieten würde.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Bachs »goldberg-Variationen« mit andreas<br />
Staier: Wunderbar artikuliert, mit großem<br />
Cembaloklang.<br />
GUiDo<br />
FisCHER<br />
Platte des Jahres<br />
Isabelle Fausts einspielung von Bachs Sonaten<br />
und Partiten – auf ihrer »Dornröschen«-Stradivari<br />
schließt sie den hellwach<br />
arbei tenden Kopf mit ihrem empfindsam<br />
pulsierenden Herzen kurz.<br />
Künstler des Jahres<br />
Pierre Boulez – mit seinen 85 Jahren ist er<br />
nicht nur ein unermüdlich arbeitender Botschafter<br />
der Moderne. er ist noch so jung,<br />
um für sich etwa den Polen Karol Szymanowski<br />
zu entdecken.<br />
überraschung des Jahres<br />
Die junge rumänische Cembalistin alina Rota-<br />
ru. Ob streng Kontrapunktisches, ob Volks-<br />
liedhaftes – Rotaru inszeniert auf »Fortune<br />
my Foe« einfach prachtvoll die Tastenkunst<br />
des niederländers Jan Pieterszoon Sweelinck.<br />
Muss das sein?<br />
Die Klavierkonzert-evergreens von Tschaikowsky<br />
und Rachmaninoff kann man eigentlich<br />
nicht mehr hören. nikolai Tokarev<br />
und Leif Ove andsnes sorgen jedoch für sensationell<br />
hintergründige Wechselbäder aus<br />
Melancholie und ekstase.<br />
überbewertet<br />
Das akkordeon in der Klassik? Teodoro anzellotti<br />
zeigt, dass man an der Quetschkommode<br />
selbst die komplexe Mehrstimmigkeit<br />
in Bachs »goldberg-Variationen« unter<br />
Hochspannung setzen kann.<br />
Unterbewertet<br />
Der österreichische Komponist Thomas Lar-
cher, der bestehende musikalische Konfliktpotentiale<br />
in subkutan hochdramatische<br />
und disparate Klangwelten verwandelt. Wie<br />
in seinem, an Mozart angelehnten Klavierkonzert<br />
»Böse Zellen«.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Obwohl landauf, landab Schumanns 200.<br />
geburtstag gefeiert wurde – auf CD bot nur<br />
Pianist Tzimon Barto mit Christoph eschenbach<br />
und dem nDR-Sinfonieorchester neue<br />
einblicke ins Spätwerk Schumanns.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Die Mezzosopranistin Magdalena Kožená<br />
mit der betörend schönen Barockleidens arie<br />
»Torna il sereno zefiro« von Sigismondo<br />
D’India.<br />
RoBERT<br />
FRAUNHolZER<br />
Platte des Jahres<br />
Schostakowitschs »Präludien und Fugen op.<br />
87«, bahnbrechend neu aufgeschlüsselt von<br />
alexander Melnikov.<br />
Künstler des Jahres<br />
Simone Kermes, die schärfste Sopran-Rivalin<br />
von Cecilia Bartoli. Wo Bartoli virtuoser<br />
gluckert, kann Kermes besser fauchen (»Colori<br />
d’amore«).<br />
überraschung des Jahres<br />
Cameron Carpenter, der wohl beste Organist,<br />
der jemals im Fummel aufgetreten ist. Die<br />
Prinzessin an der Königin der Instrumente.<br />
Muss das sein?<br />
Die tragischen Comeback-Versuche von Rolando<br />
Villazón. So leid es mir tut: unbelehrbar<br />
hat er den eigenen Sturz riskiert. einmal<br />
übersungen, immer übersungen.<br />
überbewertet<br />
Der »echo« Klassik mitsamt der schrecklichen<br />
gala, mit der sich die Branche ruiniert.<br />
Unterbewertet<br />
Martin grubinger. Chance des ersten albums<br />
leider verschenkt. Wieder versuchen!<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Dass viele der in diesem Jahr verstorbenen<br />
Musiker nicht einmal mehr eine Meldung<br />
wert waren, z. B. Maureen Forrester, yvonne<br />
Loriod, Blanche Thebom, Shirley Verrett,<br />
Hugues Cuenod, Benno Kusche und giuseppe<br />
Taddei.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Sämtliche elefantenherden, die je von Hans<br />
Knappertsbusch in Trab gesetzt wurden.<br />
Bes tes Beispiel: die gesammelten alten auf-<br />
nahmen mit den Berliner Philharmoni-<br />
kern.<br />
JöRG<br />
KöNiGsDoRF<br />
Platte des Jahres<br />
René Jacobs’ »Zauberflöte« ist Märchenhörspiel,<br />
Freimaurerweihespiel und große Oper<br />
in einem. und der aufregendste Mozart seit<br />
langem.<br />
Künstler des Jahres<br />
John eliot gardiner. Ob Brahms, Bach oder<br />
Bizet – wenn Sir John zum Taktstock greift,<br />
herrscht keinen Takt lang Routine. auch<br />
nach über dreißig Jahren nicht.<br />
überraschung des Jahres<br />
Das erscheinen von Vittorio grigolo auf der<br />
internationalen Opernszene. Dabei hatten<br />
wir schon geglaubt, der italienische Tenor<br />
sei eine ausgestorbene art.<br />
Muss das sein?<br />
Immer wieder dieses gequake um die vermeintlichen<br />
exzesse des Regietheaters. Sollen<br />
die Leute sich doch lieber über schlechte<br />
Dirigenten und langweiliges Rumstehtheater<br />
aufregen.<br />
überbewertet<br />
Der technische Fortschritt. Oder warum<br />
klingen viele LPs aus den Fünfzigern so viel<br />
besser als brandneue Studioproduktionen?<br />
Unterbewertet<br />
Immer wieder: das deutsche Stadttheater.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Die Juryentscheidungen bei großen Wettbewerben<br />
– zuletzt beim Warschauer Chopin-<br />
Wettbewerb. Warum ist es nur so schwierig,<br />
die Besten zu finden?<br />
Meine heimliche liebe<br />
gustav Leonhardt. Der große Philosoph des<br />
Cembalospiels – und mit über achtzig besser<br />
denn je.<br />
CARsTEN<br />
NiEMANN<br />
Platte des Jahres<br />
Kristian Bezuidenhout: Mozart Sonatas<br />
Vol. 1 – gut für Mozart und fantastisch für<br />
das Image des Hammerklaviers.<br />
Künstler des Jahres<br />
Stellvertretend für all die herrlichen Musiker,<br />
die bei kleinen Labeln ihr Ding machen: Der<br />
Lautenspieler und gitarrist Rosario Conte mit<br />
seinem besonnenen album »une larme«.<br />
überraschung des Jahres<br />
Die Wiederentdeckung der Barockopern<br />
»Die lybische Talestris« von Heinichen in Bad<br />
Lauchstädt und von graupners »Dido« beim<br />
Zeitfenster-Festival in Berlin. auf CD mit<br />
diesen geistreichen Meisterwerken!<br />
Muss das sein?<br />
natasa Mirkovic-De Ro und der Drehleierspieler<br />
Matthias Loibner nehmen Schubert<br />
allzu wörtlich und machen aus der »Winterreise«<br />
einen Zyklus wahrhaft schauerlicher<br />
Lieder.<br />
überbewertet<br />
Die alte Musik. Von mir! aber es passiert<br />
gerade so unheimlich viel ...<br />
Unterbewertet<br />
Die europäische Kammeropernszene, wie<br />
die erste ausgabe des OpenOp-Festivals für<br />
anderes Musiktheater in Berlin sehr eindringlich<br />
zeigte.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
albrecht Mayers Oberlippenbärtchen.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Die Oboistin Pauline Oostenrijk, die meine<br />
sorgsam gepflegte Vivaldi-allergie leider kuriert<br />
hat.<br />
JüRGEN<br />
oTTEN<br />
Platte des Jahres<br />
Das artemis Quartett mit Beethovens<br />
Streichquartetten op. 18/1 und op. 127.<br />
Künstler des Jahres<br />
Ingo Metzmacher für seine bewundernswert<br />
klaren Dirigate zeitgenössischer Musikwerke<br />
von nono bis Rihm.<br />
überraschung des Jahres<br />
andreas Homokis leichthändig-meisterliche<br />
»Meistersinger«-Inszenierung an der Komischen<br />
Oper Berlin.<br />
Muss das sein?<br />
Müssen kleine Opernkompagnien wie beispielsweise<br />
die Berliner Kammeroper wegen<br />
schlapper 200.000 euro an nunmehr fehlender<br />
Basisförderung zerstört werden?<br />
nein. Müssen sie nicht. Werden sie aber.<br />
überbewertet<br />
Das kühl-uninspirierte Spiel der geigerin Julia<br />
Fischer, und natürlich die PR-Pianisten<br />
Lang Lang, Helène grimaud und Martin<br />
Stadtfeld.<br />
Unterbewertet<br />
Das deutsche Stadttheater, das nach wie vor<br />
Wesentliches für das Blühen einer Kulturlandschaft<br />
beiträgt.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Dass die öffentlich-rechtlichen Sender am sel-<br />
ben Tag zur selben Zeit ein Silvester konzert<br />
übertragen, hier Dresden und dort Berlin.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Ist und bleibt stets und immerdar die glei-<br />
che: Martha argerich.<br />
MiCHAEl<br />
WERsiN<br />
Platte des Jahres<br />
Wirklich tief beeindruckt hat mich Rinaldo<br />
alessandrinis aufnahme geistlicher Vokalwerke<br />
von alessandro Melani: auch nach<br />
langjähriger erfahrung mit großen Mengen<br />
von Repertoire aus dieser Zeit habe ich in<br />
diesen Stücken ganz neue Varianten des barocken<br />
textlich-musikalischen ausdrucksrepertoires<br />
entdeckt.<br />
Künstler des Jahres<br />
In memoriam: am 3. Dezember verstarb 108jährig<br />
der Tenor Hugues Cuénod, den ich vor<br />
einigen Jahren noch für ROnDO interviewen<br />
konnte. Cuénods Wirken, das erstaunlich<br />
lange währte (er sang, bis er weit über 80<br />
war), umfasste buchstäblich ein ganzes Jahrhundert.<br />
Schon ende der 20er Jahre ging er<br />
mit noël Coward auf amerika-Tournee.<br />
überraschung des Jahres<br />
Mit ihrer neuen CD »Il canto delle dame« hat<br />
María Cristina Kiehr ende 2010 überzeugend<br />
bewiesen, dass sie wieder richtig gut singen<br />
kann – eine große Freude, zumal Sänger erfahrungsgemäß<br />
nur selten solche massiven<br />
Krisen überwinden.<br />
Muss das sein?<br />
Man mache sich nichts vor: Viele Indizien<br />
sprechen dafür, dass das Interesse der Bevölkerung<br />
an klassischer Musik weiter schrumpft.<br />
Wir schreiben tapfer dagegen an, aber ohne<br />
tatkräftige unterstützung z. B. durch das erziehungspersonal<br />
in Schulen und Kindergärten<br />
haben wir nur sehr begrenzte Chancen.<br />
Wann wird in puncto Kulturbewusstsein<br />
endlich umgedacht?<br />
überbewertet<br />
Der Rummel um einige große namen – und<br />
in einigen Fällen war wirklich nichts mehr<br />
außer dem namen noch groß – verstellte<br />
auch letztes Jahr immer wieder den Blick auf<br />
eine Vielzahl von großartigen Künstlern, bei<br />
denen Können, Wollen und auch Wissen<br />
über die tiefere Dimension ihres Tuns sich<br />
tatsächlich im Lot befinden.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Die Stadt augsburg hat ernsthaft erwogen,<br />
aus Kostengründen ihre Stadtbibliothek zu<br />
schließen. unmengen bedeutender historischer<br />
Dokumente (darunter auch noten-autographe)<br />
hätten die Stadt verlassen müssen.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Schuberts späte Klaviersonaten, differenziert,<br />
umsichtig und wahrhaft liebevoll in4<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 3
terpretiert von Radu Lupu: Hier ist das Prädikat<br />
›kongenial‹ wirklich am Platze.<br />
JaZZ & WeLTMuSIK<br />
JosEF<br />
ENGEls<br />
Platte des Jahres<br />
[em]: Live. Die Leidenschaft, Finesse und gewitztheit,<br />
mit dem das Trio um Pianist Michael<br />
Wollny bei diesem Konzertmitschnitt<br />
brilliert, lässt sich eigentlich nur noch mit<br />
der Spielfreude der deutschen Mannschaft<br />
in Südafrika vergleichen.<br />
Künstler des Jahres<br />
Vijay Iyer hätte diesen Titel schon viel früher<br />
verdient gehabt. Über den ungemein<br />
klugen, scharfsinnig den Stand des aktuellen<br />
Jazz sezierenden uS-Pianist redet man jetzt<br />
auch in europa. Besser spät als nie.<br />
überraschung des Jahres<br />
Die hiesige Plattenindustrie hat den Jazz als<br />
Hoffnungsträger entdeckt und richtet ihm<br />
zu ehren zum ersten Mal eine eigene »echo«-<br />
Verleihung aus. Vielleicht, weil Jazz-Fans die<br />
letzten aufrechten sind, die sich keine Musik<br />
illegal aus dem netz besorgen?<br />
Muss das sein?<br />
Da schreibt Wynton Marsalis in seinem neu en<br />
Buch so amüsant, anrührend persönlich und<br />
für jeden verständlich über Jazz – und macht<br />
sich mit seinen vernichtenden urteilen über<br />
Miles Davis, e-Bässe und europa wieder al-<br />
les kaputt. Der Thilo Sarrazin des Jazz.<br />
überbewertet<br />
Wäre wirklich schön, wenn der Jazz in der<br />
allgemeinen Wahrnehmung mal überwertet<br />
werden würde. Daran ändert auch »X Factor«<br />
nichts.<br />
Unterbewertet<br />
Die gefahr, dass der Sparzwang der Kommunen<br />
die deutsche Jazzfestival-Landschaft<br />
veröden lässt. JazzBaltica und Moers, die sich<br />
dennoch tapfer halten, können einen Blues<br />
davon singen.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Pat Methenys Orchestrion-Konzert in der<br />
Berliner Philharmonie. eine hübsch bizarre<br />
Mischung aus Jahrmarktsattraktion, Frankfurter<br />
Musikmesse, Marcel-Duchamp-ausstellung,<br />
nerd-Oper und Rockkonzert.<br />
4 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
Meine heimliche liebe<br />
Prince: 20Ten. Schlimm! So langsam fange ich<br />
an, mich mit den 80er Jahren zu versöhnen.<br />
THoMAs<br />
FiTTERliNG<br />
Platte des Jahres<br />
Kaum einer hat kontinuierlich eine bessere<br />
›working band‹ als Charles Lloyd, und die aktuelle<br />
ausgabe seines Quartetts ist eine der<br />
besten. auf »Mirrors« lässt er mit einer tiefen<br />
Verbeugung vor der Tradition und Thelonious<br />
Monk, dem Lehrer seines großen<br />
Vorbilds Coltrane, die blaue Blume sonnendurchfluteter<br />
mystischer Spiritualität zu tief<br />
berührender Pracht erblühen.<br />
Künstler des Jahres<br />
Bei aller euphorie über die hiesigen enormen<br />
Klavierbegabungen bleibt doch die kluge<br />
Musik feiner Herzensbildung, wie sie Vijay<br />
Iyer etwa auf seinem Solo-album auf act gestaltet,<br />
eine Klasse für sich und rückt die<br />
Maßstäbe zurecht.<br />
überraschung des Jahres<br />
Die Sängerin Maria Markesini ist ein naturereignis.<br />
authentisch verbindet sich in ihrer Musik<br />
wissende erfahrung und scheue neugier.<br />
Was sonst die Schar der Sängerinnen spaltet,<br />
der gegensatz von Singen und Säuseln, ist<br />
bei ihr in frischer natürlichkeit aufgehoben.<br />
Muss das sein?<br />
Da gibt es schon einmal einen »echo« Jazz,<br />
und dann findet die Fernsehübertragung<br />
doch reichlich zurechtgestutzt versteckt im<br />
Dritten Programm statt.<br />
überbewertet<br />
noch immer verführen säuselnd die nordischen<br />
Sirenen – und Cassandra Wilson<br />
fällt blass von ihrem »Silver Pony«.<br />
Unterbewertet<br />
Wie kann ein derart begnadeter Pianist vom<br />
breiten Publikum so nachhaltig vernachlässigt<br />
werden wie der 72-jährige amerikaner<br />
Steve Kuhn, der zur urbesetzung des klassischen<br />
John-Coltrane-Quartetts gehörte?<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Da begeht der vielleicht größte lebende Jazzmusiker<br />
seinen 80. geburtstag mit einem<br />
Konzert mit illustren gästen, darunter der<br />
nicht minder bedeutende, 2010 ebenfalls seinen<br />
80. geburtstag feiernde Ornette Coleman,<br />
und es gibt keine zumindest keine<br />
zeitnahe Fernsehdokumentation dieses ereignisses.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Wie der Trompeter und Flügelhornist Thomas<br />
Siffling im Duo mit dem Pianisten Daniel<br />
Prandl deutsches Liedgut als Schatz tiefgründigen<br />
thematischen Materials entdeckt und<br />
es eindringlichen melodisch-harmonischen<br />
explorationen in bester Balladentradition<br />
unterzieht, ist berührend und meisterlich.<br />
WERNER<br />
sTiEFElE<br />
Platte des Jahres<br />
Hubert nuss: »The Book of Colours«, weil<br />
das Trio mit wunderbar schwebenden Stimmungen<br />
arbeitet.<br />
Künstler des Jahres<br />
Der Posaunist nils Wogram, weil er einerseits<br />
gerne neuland betritt und andererseits<br />
fest in der Tradition verwurzelt ist.<br />
überraschung des Jahres<br />
Die junge Stuttgarter Band Risikogesellschaft<br />
präsentiert auf dem gleichnamigen<br />
Debütalbum eine ansonsten nur in new<br />
york vermutete Mixtur aus feinen Tongeweben<br />
und brachialen Momenten.<br />
Muss das sein?<br />
Die permanente Verwässerung des Begriffs<br />
Jazz, indem Singer/Songwriter oder Weltmusiker<br />
zu Jazzmusikern gepolt werden,<br />
weil sie Kontrabass und/oder Saxophon in<br />
der Band haben.<br />
überbewertet<br />
Herbie Hancock hat mit »The Imagine Project«<br />
ein ordentliches all-Star-Pop-album<br />
vorgelegt. alles makellos – aber alben wie<br />
dieses gibt es zu Hunderten. Der Hype war<br />
übertrieben.<br />
Unterbewertet<br />
Der Pianist und arrangeur Kenny Werner.<br />
Mit der abschiedsplatte »no Beginning no<br />
end« für seine verstorbene Tochter schuf er<br />
ein ungewöhnliches Orchesterwerk.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Dass es so still um Steve Coleman wurde.<br />
aber glücklicherweise hat sich der Meister<br />
der vertrackten Rhythmen und arrangements<br />
mit »Harvesting Semblances and affinities«<br />
auf einem Winzlabel zurückgemeldet.<br />
Meine heimliche liebe<br />
Die spielerisch leichten Bearbeitungen von<br />
Michael-Jackson-Hits auf »Songs from neverland«<br />
durch Joo Kraus und das Tales In<br />
Tones Trio.<br />
MARCUs A.<br />
WoElFlE<br />
Platte des Jahres<br />
Sol Sajn – Jiddische Musik in Deutschland<br />
und ihre einflüsse (1953–2009). umfassen-<br />
der, kenntnisreicher und liebevoller kann man<br />
so eine Dokumentation kaum gestalten.<br />
Künstler des Jahres<br />
Mein letzter gruß geht an den am 28. Dezember<br />
89-jährig verstorbenen Dr. Billy Taylor,<br />
der nicht nur ein großer Pianist aus einer<br />
längst vergangenen Ära, sondern auch als<br />
Pädagoge, Rundfunkmoderator und Fernsehpersönlichkeit<br />
ein liebenswürdiger, unermüdlicher<br />
Diener, Ritter und anwalt des<br />
Jazz war.<br />
überraschung des Jahres<br />
Wie frisch und neuartig, so ganz und gar unverstaubt<br />
traditionellen Jazz zeigen die vier ausgeschlafenen<br />
jungen Könner der gruppe<br />
echoes of Swing auf »Message from Mars«. Daneben<br />
klingt manch Zeitgeistiges vorgestrig.<br />
Muss das sein?<br />
Dass Leser glauben, die meistbeworbenen<br />
alben seien die besten. Dass Käufer sich an<br />
Charts orientieren.<br />
Wenn verdiente Musiker sterben, die nicht<br />
bei einem großen Label veröffentlichten<br />
oder die altersbedingt inaktiv waren, dann<br />
spiegelt die Kürze bzw. eher das nichtvorhandensein<br />
von nachrufen wider, was in einer<br />
Medienlandschaft, die nur auf das setzt,<br />
was ihr als ›letzter Schrei‹ aufs auge gedrückt<br />
wird, unpromotete künstlerische Leistungen<br />
Wert sind: nichts.<br />
überbewertet<br />
Vielleicht unsere Meinungen hier? Keinem<br />
Rezensenten ist physisch, psychisch, organisatorisch<br />
möglich, auch nur ein Viertel aller<br />
neuheiten zu hören, die in sein Fach<br />
schlagen. Wenn wir die Hälfte allein jener<br />
alben hören können, die uns zugeschickt<br />
werden, sind wir ein ausbund an Fleiß.<br />
Merkwürdig ist nur, daß sich jeder von uns<br />
trotzdem guten gewissens alljährlich an solchen<br />
umfragen beteiligt.<br />
Unterbewertet<br />
Das Können von amateuren, ›local musicians‹<br />
(die z. B. aus privaten gründen nur in<br />
der Provinz aktiv sind), aber auch von Pädagogen,<br />
die selbst nicht im Scheinwerferlicht<br />
stehen und keine alben (mehr) einspielen,<br />
wird prinzipiell unterschätzt.<br />
Merkwürdigkeit des Jahres<br />
Dass sich bislang auch noch meine älteren<br />
CDs noch abspielen lassen. Sicherheitshalber<br />
horte ich weiterhin LPs.<br />
Meine heimliche liebe<br />
unverfälschte Tonaufnahmen aus der Schellack-Ära<br />
- echte Schnappschüsse aus dem<br />
Leben, an denen im nachhinein nicht an jedem<br />
Ton manipuliert wurde.
Klassik CDs<br />
Mahler<br />
SInFOnIe nR. 2<br />
Merbeth, Fink, Niederländischer<br />
Rundfunkchor, Royal Concertgebouw<br />
orkest Amsterdam,<br />
Jansons<br />
(2 sACDs, 87 Min., & DvD-Mitschnitt,<br />
aufgen. 12/2009)<br />
RCo live/Codaex RCo 10002<br />
Mahler<br />
SInFOnIe nR. 2<br />
schwanewilms, Braun,<br />
Bamberger symphoniker &<br />
Chor, Nott<br />
(2 sACDs, 84 Min., aufgen. 2010)<br />
Tudor/Naxos TUD 7158<br />
Man möchte sie eigentlich nicht mitei-<br />
nander vergleichen, diese beiden außer-<br />
gewöhnlichen ereignisse des zu ende ge-<br />
gangenen Mahler-Jubeljahres. Wenn zwei<br />
ausgewiesene Mahler-experten am Werk<br />
sind, die sich ebenso akribisch wie hinge-<br />
bungsvoll, ja bedingungslos auf den extre-<br />
men ausdruckskosmos des einzigartigen<br />
Fin-de-siècle-genies einlassen; wenn di-<br />
ese jeweils wunderbar kompakte, souve-<br />
räne Orchester und Chöre leiten und man<br />
allenfalls darüber streiten mag, ob im »ur-<br />
licht« Bernarda Fink im Vergleich zu Li-<br />
oba Braun doch etwas zu viel Vibrato-<br />
ausdrucksschwere auflegt: Dann sollte<br />
man sich getrost beide aufnahmen in den<br />
Schrank stellen.<br />
Meisterwerk<br />
sehr gut<br />
gut<br />
passabel<br />
dürftig<br />
Sowohl Mariss Jansons amsterda-<br />
mer wie auch Jonathan notts Bamber-<br />
ger »auferstehungs«-Sinfonie zählen<br />
jedenfalls zu den überwältigendsten<br />
– und den bisherigen Referenzen von<br />
Stokowski, Solti und Klemperer tontechnisch<br />
weit überlegenen – Vergegenwärtigungen<br />
dieses gigantischen chorsinfonischen<br />
Werkes. Mit ihm knüpfte<br />
Mahler bekanntlich nicht nur an Bee-<br />
thovens neunte, sondern auch an seine<br />
eigene erste an: Deren jugendlich-unge-<br />
stümen »Titan«-Helden trägt er in der er-<br />
sten abteilung (»Totenfeier«) zu grabe<br />
und vermenschlicht ihn sozusagen im<br />
Folgenden – mit der existentiellsten al-<br />
ler Fragen: »Warum hast du gelebt? Wa-<br />
rum hast du gelitten? Ist das alles nur ein<br />
großer, furchtbarer Spaß?« Im Finalsatz,<br />
seinem größten überhaupt, gibt Mahler<br />
mit Klopstocks auferstehungs-Ode und<br />
eigenen Versen eine der erschütterndsten<br />
antworten der Musikgeschichte.<br />
Hierbei setzt Jansons (noch) mehr als<br />
nott auf das Hymnisch-getragene. auch<br />
das Lyrische hat beim Letten (noch) mehr<br />
entfaltungsraum als beim engländer (betörend<br />
in amsterdam vor allem, wie das<br />
von Mahler »in ruhig fließender Bewegung«<br />
vorgegebene Scherzo singen und<br />
atmen darf). nott wiederum ›punktet‹ mit<br />
einer Vehemenz, die in der Mahler-Diskographie<br />
allenfalls noch von Solti an den<br />
Tag gelegt wurde. Immer wieder hämmert<br />
er dem Hörer Mahlers Todesfurcht,<br />
die das ganze Opus durchzieht, brachial<br />
ins Bewusstsein: so wild (und präzise!)<br />
hat – pars pro toto – noch keiner zu Beginn<br />
die rollenden und grollenden Bässe<br />
auffahren lassen. und die Pauken don-<br />
nern, dass man glaubt, neben ihnen zu<br />
sitzen – auch, wie gesagt, dank einer fa-<br />
belhaften Tontechnik. So wird Mahler<br />
auch zu Hause zum nachhaltigen erleb-<br />
nis. Christoph Braun<br />
Jansons<br />
nott<br />
Chopin<br />
13 MaZuRKaS, SCHeRZO<br />
OP. 20 u. a.<br />
Tiberghien<br />
harmonia mundi HMC 902073<br />
(70 Min., aufgen. 1/2010)<br />
Jeweils ein kleines Mazurken-Bündel im<br />
Wechsel mit einem Scherzo, einem nocturne<br />
oder mit der großen »Polonaise-<br />
Fantaisie op. 61« – und schon hat man<br />
einen ordentlichen einblick in Chopins<br />
›Traumreich der Poesie‹ (Heine) bekommen.<br />
Jedes Stück ist natürlich bereits tau-<br />
Giuseppe verdi<br />
DOn CaRLO<br />
sendfach gespielt worden. und von jedem<br />
Stück gibt es dementsprechend mindestens<br />
ein halbes Dutzend Referenzaufnahmen.<br />
Wenn aber nun der 35-jährige<br />
Franzose Cédric Tiberghien sich dennoch<br />
nicht von so einem evergreen-album abhalten<br />
ließ, dann nur aus einem einzigen<br />
grund: er wollte, ja, er musste Chopin<br />
spielen. genau so und nichts anderes. Das<br />
hat Tiberghien aber nirgendwo in einem<br />
Marketing-Info oder im Booklet seiner<br />
Chopin-CD behauptet. Diese unbedingte<br />
Hin- und Zuwendung ist in jeder Minute<br />
seiner aufnahme dokumentiert.<br />
Selbstverständlich hält sich Tiberghien<br />
an alle Basistugenden, die Chopin so fordert.<br />
arabeske Leichtigkeit und konzentrierter<br />
ernst nebst einer Prise Schwerblütigkeit<br />
hier und lieblich Salonhaftem dort.<br />
Doch das ist eben nur die grundausstattung,<br />
mit der Tiberghien wie kein Zweiter<br />
seiner generation umzugehen weiß. Mit<br />
einer schon fast unheimlich wirkenden<br />
Subtilität macht er die Dreidimensionalität<br />
dieser Stücke durch und durch überdeutlich,<br />
ohne sich jemals kopflastig wie<br />
etwa ein Mikhail Pletnev oder apollinisch<br />
ritterlich wie Maurizio Pollini zu geben.<br />
und auf einmal erkennt und spürt man,<br />
dass Chopin nie etwas mit assoziativen<br />
Charakterstücken am Hut hatte, sondern<br />
Montserrat Caballé, shirley verrett, Plácido Domingo, sherrill Milnes, Ruggero Raimondi,<br />
Ambrosian opera Chorus, orchestra of the Royal opera House, Carlo Maria Giulini<br />
EMi 966 8502 (209 Min., aufgen. 8/1970)<br />
es gibt wohl nur wenige aufnahmen, die nicht nur in der allgemeinen Wahrnehmung, sondern<br />
auch von den beteiligten Künstlern noch Jahrzehnte danach als mustergültig eingeschätzt wer-<br />
den. einer dieser seltenen glücksfälle einer einspielung, bei der einfach alles stimmt, ist Carlo Ma-<br />
ria giulinis fünfaktiger »Don Carlo« aus dem Jahr 1970. Der Maestro, der sich zu diesem Zeitpunkt<br />
bereits mehr oder weniger aus dem Operngeschäft zurückgezogen hatte, weil er der dort üblichen<br />
Intrigen überdrüssig war, scharte eine gruppe von jungen Sängern – alle in ihren Dreißigern – um<br />
sich, die er zu einem (man kann es nicht anders sagen) exquisiten ensemble verschmolz. Montserrat<br />
Caballé hält das endergebnis denn auch nicht wegen ihrer eigenen Leistung, sondern wegen des ausgezeichneten gesamtstandards<br />
für außergewöhnlich. Ähnlich äußert sich auch Plácido Domingo. Das ist umso bemerkenswerter, als alle<br />
fünf Hauptdarsteller hier in der Form ihres Lebens singen, für jeden ist es, wenn nicht die beste aufnahme, so zumindest<br />
eine aus dem Top-Trio.<br />
Die Caballé verbindet die Schönheit ihrer Stimme mit einer bei ihr keinesfalls selbstverständlichen gestalterischen Prägnanz<br />
und Intensität. Shirley Verrett ist eine vor Sinnlichkeit bebende, energiegeladene eboli mit fulminanter Höhe. Sherrill<br />
Milnes, der sonst gerne auch mal den kraftmeiernden Vokalcowboy gibt, ist nirgends differenzierter und betörender zu hören<br />
als hier. Ruggero Raimondi, wiewohl Jüngster im ensemble, lässt es als Filippo nicht an vokaler und interpretatorischer<br />
autorität mangeln. und auch Domingo in der Titelpartie sorgt für pure Wonne beim Hörer. Kurzum: fünf durchweg phantastische<br />
Sänger, die sich zu einem phänomenalen, wirklich einmaligen ensemble steigern. Michael Blümke<br />
sie finden einen Ausschnitt auf der beiliegenden<br />
RoNDo CD #43 Titel xx<br />
Klassik-Olymp #70<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 5
Klassik CDs<br />
›absolute‹ Musik schreiben wollte. Dass er<br />
dabei Schuberts Innigkeit (im »Molto più<br />
lento« des »Scherzo op. 20«) genauso zu<br />
Rate zog wie Schumanns Innehalten (im<br />
»nocturne op. 48 nr. 1«) oder Beethoven<br />
als urheber metaphyischer Trillerketten<br />
– das macht Tiberghien tiefenentspannt<br />
und zugleich tief versunken weniger hörbar<br />
als vielmehr erlebbar. Diese Chopin-<br />
Werke meinte man zu kennen. Was für<br />
ein Irrtum! Guido Fischer<br />
Paganini<br />
24 CaPRICen<br />
Fischer<br />
Decca/Universal 478 2274<br />
(80 Min., aufgen. 9/2008 &<br />
4/2009)<br />
Im Booklettext zur ihrer aufnahme von<br />
Paganinis »24 Capricen« erinnert sich Ju-<br />
lia Fischer an die erste Begegnung mit<br />
diesem spieltechnischen Teufelszeug.<br />
acht Jahre war sie gerade mal alt, als sie<br />
Thomas Zehetmair damit hörte – und<br />
staunte. Zwanzig Jahre später nun ist Fischers<br />
Staunen dem Mut gewichen, sich<br />
endlich selber dieses Hochamts der geigerischen<br />
Äquilibristik anzunehmen. aus<br />
der Zehetmair-Verehrerin ist somit eine<br />
Kollegin geworden. Wobei sie im Vergleich<br />
zu der 2009 veröffentlichten gesamteinspielung<br />
des österreichers dann<br />
doch einen anderen Weg eingeschlagen<br />
hat. Hatte Zehetmair die 24 Stücke<br />
zu einem existenziell unter die Haut gehenden<br />
Zyklus verschweißt, kommt Fischers<br />
Konzept und Spiel eher sachlicher<br />
daher. Was diesem arg geschundenen Katalog<br />
an fingerbrechenden Höchstschwierigkeiten<br />
durchaus gut tut.<br />
Ihre stupende Technik, ihre Souveränität<br />
im Fulminanten wie im Luziden<br />
ist selbstverständlich kaum zu toppen.<br />
und auch Paganinis unerreichte Kunst,<br />
auf knappstem Raum die transzendentale<br />
Virtuosität aus dem Fluss der Musik<br />
zu entwickeln, macht Fischer schon aufreizend<br />
lässig begreiflich. In den gefährlichen<br />
Drahtseilhöhen scheint sie sich so<br />
einfach tiefenentspannt wohl zu fühlen.<br />
und auf dem irdischen Boden hat sie sich<br />
erst recht vom dämonischen Hexenmei-<br />
6 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
ster Paganini emanzipiert, als den ihn ja<br />
schon ein Heine erlebte. Ihr objektivierter<br />
Zugriff im Sinne eines Versuchs, die Ca-<br />
pricen aus dem romantischen Reich der<br />
Magie zu führen und fast als ›absolute Mu-<br />
sik‹ zu rehabilitieren, ist daher ein wohl-<br />
tuender gegenentwurf zu all den Blend-<br />
werk-artisten. aber bei aller Modernität<br />
dieser gesamteinspielung lechzt es einen<br />
zwischendurch trotzdem nach dem, was<br />
zum musikalische Leben eben auch ge-<br />
hört: der nervenkitzel. Guido Fischer<br />
Brio<br />
SOL y Luna<br />
Dorian/Naxos Dsl-92118<br />
(52 Min., aufgen. 3/2010)<br />
eigentlich wollte ich nur kurz in diese<br />
CD reinhören, um zu wissen, wo sie sti-<br />
listisch einzuordnen ist. ein Countertenor<br />
wird da auf der Rückseite genannt, Block-<br />
flöte, gitarre und Viola da gamba sind be-<br />
teiligt, aber auch Rebec und Percussion,<br />
mehr verrät das Äußere nicht. So legte<br />
ich »Sol y luna« ein – und war schon nach<br />
zehn Sekunden gefangen. gefangen von<br />
einer Stimme, der man einfach verfallen<br />
muss: warm und sinnlich, sehnend und<br />
überbordend lebensfroh zugleich, von berührender<br />
Reinheit und Schönheit, ungeheuer<br />
farben- und stimmungsreich.<br />
Kurzum, eine durch und durch charismatische<br />
Stimme, wie man sie in dieser Qualität<br />
nur ganz selten zu hören bekommt.<br />
José Lemos heißt ihr Besitzer, und er ist<br />
eines der Mitglieder des ensembles Brio,<br />
das sich einer zeitgemäßen Vermittlung<br />
sephardischer Musik verschrieben hat.<br />
Sehr raffinierte, abwechslungsreiche und<br />
unmittelbar ansprechende arrangements<br />
(man kann durchaus von Rattenfänger-<br />
Qualitäten sprechen) erwarten den Hörer.<br />
und davon wünsche ich diesem album<br />
sehr sehr viele. es handelt sich hier<br />
keineswegs um eine CD mit ›klassischer‹<br />
Musik, darauf sei explizit hingewiesen.<br />
aber ich bin sicher, dass jeder Liebhaber<br />
schöner und ausdrucksstarker Stimmen<br />
von José Lemos hingerissen sein wird, unabhängig<br />
von der eigenen musikalischen<br />
ausrichtung. Michael Blümke<br />
Wolf<br />
ITaLIenISCHeS LIeDeR-<br />
BuCH<br />
Prégardien, Kleiter, Dumno<br />
Challenge Classics/sunnyMoon<br />
CC 72378<br />
(75 Min., aufgen. 7/2009)<br />
Hugo Wolfs »Italienisches Liederbuch«<br />
nach Texten von Paul Heyse – eine He-<br />
rausforderung für jeden Sänger, stellen<br />
doch diese komplexen, kompakten Lied-<br />
miniaturen als Kaleidoskop unterschied-<br />
lichster Stimmungsnuancen höchste an-<br />
forderungen an gestaltungskraft und<br />
stimmtechnische Souveränität. Chri-<br />
stoph Prégardien ist ein Routinier auf die-<br />
sem gebiet, er hat in seiner langen Kar-<br />
riere weite Teile des Kunstliedrepertoires<br />
sowohl selbst interpretierend wie auch<br />
unterrichtend gründlichst durchdrun-<br />
gen. und doch wird der Liedgesang bei<br />
ihm niemals zur Routine im negativen<br />
Sinn: Irgendwie gelingt es ihm stets aufs<br />
neue, sich im besten Sinne ›naiv‹ den Lie-<br />
dern zu nähern, sie so darzubieten, als<br />
seien sie ihm zum ersten Mal begegnet<br />
und riefen in ihm die unverstellte Freude<br />
des neuentdeckens wach. Solchermaßen<br />
führt er den Hörer durch die melodischen<br />
und harmonischen Labyrinthe Hugo<br />
Wolfs, nimmt ihn quasi mit zu einer<br />
entdeckungsreise durch dessen verwinkelte<br />
Partituren. Dass dabei sein deklamatorischer<br />
eifer gelegentlich ein wenig<br />
übers Ziel hinausschießt, wenn er in Fischer-Dieskau-Manier<br />
manche nebensilben<br />
mit akzenten überfrachtet oder<br />
über kurze Strecken ein wenig ins überdeutliche<br />
›Dozieren‹ gleitet, verzeiht man<br />
ihm; denn immer wieder schließen sich<br />
lyrische Passagen an, in denen er seiner<br />
Stimme wieder freieren Lauf lässt.<br />
Prégardiens begabte nichte Julia Kleiter<br />
ist ihm eine gute Partnerin in diesem<br />
Zyklus: auch ihr stehen genügend Farben<br />
zu gebote, um das weite Spektrum<br />
von der groteske (»Wie lange schon war<br />
immer mein Verlangen«) bis zum zartlyrischen<br />
Zauber (»auch kleine Dinge können<br />
uns entzücken«) überzeugend auszugestalten,<br />
ohne dabei jemals im Ringen<br />
um ausdruck übertreiben zu müssen.<br />
Mit anderen Worten: Die junge Sängerin<br />
agiert aus einer in sich stimmigen, ge-<br />
schlossenen interpretatorischen Haltung<br />
heraus, sie erweist sich als reife, wand-<br />
lungsfähige Künstlerpersönlichkeit. So-<br />
mit kann dieses »Italienische Liederbuch«<br />
neben den älteren und ›klassischen‹ ein-<br />
spielungen dieses Zyklus’ ohne Weiteres<br />
bestehen. Michael Wersin<br />
Pergolesi<br />
STaBaT MaTeR,<br />
SaLVe RegIna C-MOLL<br />
Prohaska, Fink, Akademie für<br />
Alte Musik Berlin, Forck<br />
harmonia mundi HMC 902072<br />
(60 Min., aufgen. 12/2009)<br />
Wer zum Pergolesi-Jahr ausgerech-<br />
net mit einer aufnahme des »Stabat<br />
Mater« aufmerksamkeit erregen will,<br />
muss sich seine Sache schon sehr genau<br />
überlegen. und das haben die Interpreten<br />
dieser einspielung denn auch getan:<br />
Zum einen ist das Werk nicht bloß mit<br />
dem üblichen »Salve Regina« in c-moll<br />
kombiniert, sondern auch mit einem<br />
Instrumentalstück, welches das Werk<br />
wirkungsvoll in einen größeren, nicht<br />
nur geistlichen Zusammenhang komponierter<br />
Frauenklagen stellt: es handelt<br />
sich um Locatellis Konzert »Il pianto<br />
d‹arianna«, das auf ein beliebtes Opernsujet<br />
der Zeit zurückgeht. Mit seinen instrumentalen<br />
Rezitativen, und den von<br />
der akademie für alte Musik äußerst<br />
farbenreich und präzise herausgearbeiteten<br />
Stimmungsumschwüngen wirkt<br />
das Konzert wie ein Spiegel der Oper,<br />
ohne selbst Oper zu sein – und genau<br />
dies lässt sich auch von der Interpretation<br />
des »Stabat Mater« sagen. es ist zum<br />
einen die Kunst der plastischen einzelwortausdeutung,<br />
die auch vor kontrolliertem<br />
Vibratoeinsatz (etwa für das<br />
Wort ›tremens‹) nicht zurückschreckt,<br />
mit der anna Prohaska und Bernarda<br />
Fink die Brücke vom Schöpfer der »Serva<br />
padrona« zum Kirchenkomponisten Pergolesi<br />
schlagen. Zugleich halten sie das<br />
ganze Stück eine dramatische Spannung<br />
durch, die nicht nur das Mitleiden mit<br />
der lebhaft imaginierten gottesmutter<br />
betrifft, sondern sogar aus Fugeneinsätzen<br />
ein Frage- und antwortspiel macht.
<strong>Haste</strong> <strong>Töne</strong>¿<br />
Raoul Mörchen stellt neuerscheinungen mit<br />
zeitgenössischer Musik vor.<br />
Schon wieder fangen diese Spalten an mit einem,<br />
der eigentlich nicht hierher gehört, weil seine Musik<br />
nicht neu ist. auch diese ist es nicht. und war<br />
es nie. Dmitri schostakowitsch schrieb seine »24<br />
Präludien und Fugen« 1950, zwei Jahre nachdem<br />
er von Stalins Handlangern fast kaltgestellt worden<br />
war. an ästhetische Innovation war da nicht<br />
zu denken. Sie war auch gar nicht nötig angesichts<br />
der aufgabenstellung. Denn natürlich ist dieser Zyklus eine Hommage<br />
ans »Wohltemperierte Klavier«. Bach bot Schostakowitsch Halt in<br />
dieser Zeit. Vor allem in den Fugen konnte er sich an handwerklichen<br />
Problemen abarbeiten, ohne wieder als Formalist abgestraft zu werden.<br />
Bach, der war auch unter Stalin wohlgelitten. aufnahmen von Schostakowitschs<br />
Werk gibt es einige mittlerweile, diese hier aus dem Sommer<br />
1975 verdient besondere aufmerksamkeit: Der australische Pianist Roger<br />
Woodward ist eines der großen Klaviergenies unserer Zeit – ein klar und<br />
frei formulierender Künstler mit einem phänomenalen Sinn für die jeweils<br />
eigenen gesetze, die in jedem Werk walten. Morton Feldman nannte Roger<br />
Woodward schlicht seinen Lieblingspianisten, Schostakowitsch hätte<br />
sich seinem urteil nach dieser aufnahme vielleicht angeschlossenen. eine<br />
tolle Wiederveröffentlichung. (Celestial Harmonies/naxos 143022)<br />
unerhört ist auch die Musik von saed Haddad<br />
nicht: Sie klingt exotisch und doch nicht fremd.<br />
Haddad ist ein grenzgänger: In Jordanien als<br />
Christ geboren, dort wie auch in Israel und england<br />
ausgebildet, seit einigen Jahren in Deutschland<br />
beheimatet, sagt Haddad von sich selbst, er<br />
sei immer ein anderer. Die Musik des 38-Jährigen<br />
ist ein wohlüberlegter Balanceakt zwischen<br />
arabischer Tradition und europäischer Moderne, zumindest war sie es einmal.<br />
Frühe arbeiten zeigen arabisches Timbre in der Melodik mit eingesprengten<br />
fremdartigen Tonhöhen, einen fast improvisatorischen Fluss,<br />
dann wiederum Brechungen, Stauchungen, schmerzhafte Reibungen –<br />
gespielt auf europäischen Instrumenten. east meets West – ein schöner<br />
gedanke. gleichzeitig ein schönes Klischee. Saed Haddad wollte es offenbar<br />
nicht dazu kommen lassen, als politisch korrekter ›Mittler‹ zweier<br />
Welten Karriere zu machen. Durch das kleine Porträt, das der Deutsche<br />
Musikrat von Haddad veröffentlicht, geht ein Riss: Seit 2007 hat Haddad<br />
seine Verbindung zur arabischen Kultur radikal gekappt. Die seitdem<br />
komponierten Werke stehen klanglich fest auf dem Boden der westeuropäischen<br />
avantgarde. Doch ob mit Blick auf den nahen Osten oder nicht<br />
– Haddads Musik hat Hand und Fuß, anfang und ende, ist voller abwechslung<br />
und gleichwohl einsichtig in dem, was sie tut. Wie weit Haddad mit<br />
dieser Musik kommt, ist schwer zu sagen. Man sollte ihr jetzt erst mal zuhören,<br />
das hat sie allemal verdient. (Wergo/note 1 WeR 65782)<br />
Während Saed Haddad also das Projekt einer<br />
musikalischen Ost-West-achse aufgegeben hat,<br />
trägt es seine Kollegin Konstantia Gourzi in<br />
Regionen, die sich dem nähern, was man gemeinhin<br />
Weltmusik nennt. Jazz-Klavier, europäische<br />
avantgarde, Instrumente und Melo-<br />
dien des osma nischen Reiches, byzantinischer<br />
Psalmgesang – gourzi vermischt, was ihr gefällt.<br />
Was sie serviert, ist dann allerdings eher ein Salat als ein Longdrink:<br />
Die Zutaten bleiben unterscheidbar und bewahren viel von ihrer<br />
ursprünglichen Identität. »aus allem eins und aus einem alles« zitiert<br />
die in München lehrende Komponistin, Pianistin und Dirigentin ihren<br />
weisen Landsmann Heraklit und komponiert dementsprechend. Zu -<br />
mindest die vorliegende auswahl von Vokal- und Instrumentalwerken<br />
der letzten Jahre ist tief durchdrungen von einer Sehnsucht nach harmonischer<br />
Reinhaltigkeit und einer Überwindung kultureller Differen-<br />
zen. Dieser ansatz und seine technische ausführung mögen dem einen<br />
oder anderen skeptischen Zeitgenossen vielleicht arg naiv vorkommen.<br />
gourzis mediterranes gruppenbild aber ist zu sonnig und freundlich,<br />
als dass man allzu streng darüber urteilen möchte. (neos/Codaex<br />
neOS 11035)<br />
Zum Schluss dann doch noch was für ganz<br />
Harte. Selten spitzt sich die Musikgeschichte<br />
so zu wie in den frühen 1950er Jahren. getrieben<br />
vom Wunsch nach einer Musik ohne Beigeschmack<br />
und erinnerung, entwirft Pierre Boulez<br />
in Frankreich die Idee einer lückenlos durchorganisierten<br />
Partitur, während sein Brieffreund<br />
John Cage in new york ein sehr ähnliches Ziel<br />
ansteuert, indem er das glatte gegenteil tut. Die unterschiedlichen ansätze<br />
führen zum Bruch der Freundschaft, obwohl die ergebnisse klanglich<br />
sehr nah beieinander liegen. Pi-Hsien Chen, pianistische Wunderwaffe<br />
der neuen Musik seit vier Jahrzehnten, versöhnt beide Seiten wieder. Verstärkt<br />
durch den Kollegen Ian Pace verzahnt sie die zwei Teile der kaltglitzernden<br />
»Structures« von Boulez mit »Music for Piano« von Cage.<br />
Radikal auch das aufnahmeverfahren der Cage-Stücke: Beide Pianisten<br />
spielten Passagen daraus getrennt voneinander ein, der Tonmeister legte<br />
sie anschließend nach eigenen Kriterien übereinander. Traditionalisten<br />
schütteln darüber vermutlich heute den Kopf wie damals. Dabei schreiben<br />
beide, Boulez wie Cage, die geschichte nicht um, sondern fort: Sie<br />
führt von Beethovens Motivvariationen über Brahms’ ›entwickelnde Variationen‹<br />
und Schönbergs Zwölftontechnik zu Verfahren, die alles Variation<br />
werden lassen. Die alte Trennung von Thema und Veränderung ist<br />
endgültig überwunden. Wer Ohren und nerven hat, der höre. (hat hut/<br />
harmonia mundi HaT CD 175)<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 7
Klassik CDs<br />
Kongenial im ausdruck und noch fokus-<br />
sierter in der Tongebung ist die akade-<br />
mie für alte Musik, der sogar das Kunst-<br />
stück gelingt, Pergolesis archaisierende<br />
Vorhaltfiguren wie eine Vorahnung von<br />
glucks Ouvertüren klingen zu lassen.<br />
Melani<br />
MOTeTTen<br />
8 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
Carsten Niemann<br />
Concerto italiano,<br />
Alessandrini<br />
naïve/indigo 950742<br />
(67 Min., aufgen. 10/2006)<br />
er gehört zu den weitgehend Verges-<br />
senen: alessandro Melani (1639-1703)<br />
spielte in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-<br />
hunderts in Rom als Kapellmeister an<br />
Santa Maria Maggiore und San Luigi dei<br />
Francesi eine nicht unbedeutende Rolle.<br />
auch als Komponist von Opern und<br />
weltlichen Kantaten trat er gelegentlich<br />
in erscheinung. Die Zahl seiner überlieferten<br />
Werke ist vergleichsweise klein,<br />
vieles davon schlummerte zudem bis<br />
vor Kurzem in archiven, war also nicht<br />
für die Wiederaufführung erschlossen.<br />
Dies galt auch für die hier präsentierten<br />
Motetten: erst durch das Zusammenwirken<br />
von Musikwissenschaftlern und<br />
Musikern wurde das Repertoire wieder<br />
zum Leben erweckt, und das ist wirklich<br />
dankenswert, wie der Hörer dieser<br />
CD schnell bemerkt.<br />
er taucht nämlich ein in ein warmes,<br />
äußerst intensiv seine Wirkung entfaltendes<br />
Klangbad, zu dessen Hauptmerkmalen<br />
eine Vielzahl von ungemein kraftvollen<br />
Vorhaltsdissonanz-Bildungen<br />
gehört: Ketten von Quart-, Septim- und<br />
nonvorhalten, oftmals übereinandergeschichtet<br />
und mittels Durchgangsbewegungen<br />
in ihrem Spannungsgehalt noch<br />
maßgeblich verstärkt, präsentieren sich<br />
als ein wahres Kaleidoskop barocker<br />
satztechnischer Möglichkeiten der musikalischen<br />
umsetzung unterschiedlicher<br />
affekte des Textes. Kein Zweifel: Hier war<br />
ein Meister am Werk.<br />
Rinaldo alessandrini wählte für<br />
seine einspielung zudem keineswegs<br />
stimmliche Leichtgewichte; seine soli-<br />
stische Sängerbesetzung profiliert sich<br />
im gegenteil dadurch, dass hier wirk-<br />
lich aus dem Vollen geschöpft wird.<br />
ein gestandener Bassist wie Sergio Fo-<br />
resti liefert ein wahrhaft scharf kontu-<br />
riertes, klangsattes Fundament, und auf<br />
dieser Basis geben sich die Kolleginnen<br />
und Kollegen bis in die Diskantlage hinauf<br />
ähnlich volltönend und emotionsgeladen.<br />
Dass dieser ansatz nicht immer<br />
vor Hypertrophien bewahrt und<br />
im Falle schnellerer notenwerte auch<br />
einmal die stimmliche Flexibilität ein<br />
wenig in den Hintergrund drängt, sei<br />
nebenher vermerkt. großartig ist jedoch<br />
das Miteinander dieser außergewöhnlichen<br />
Kompositionen und einer<br />
ihnen absolut angemessenen Darbie -<br />
tung, in der sich wiederum beachtliches<br />
Können und rückhaltloses engagement<br />
zu einer mitreißenden gesamtleistung<br />
vereinen. Michael Wersin<br />
Bach<br />
a STRange BeauTy<br />
Dinnerstein,<br />
Kammerorchester<br />
staatskapelle Berlin<br />
sony 88697 727282<br />
(62 Min., aufgen. 6/2010)<br />
Selbsterfahrungstrip mit Bach: die vor-<br />
mals unbekannte amerikanische Piani-<br />
stin Simone Dinnerstein, Schülerin u. a.<br />
von Peter Serkin, hat mit einer ganz persönlichen,<br />
von tiefem spirituellen erleben<br />
geprägten Interpretation der »goldberg-<br />
Variationen« die Herzen des Publikums<br />
im Sturm genommen und wurde über<br />
nacht zu einer Berühmtheit. So etwas,<br />
möchte man sofort dazwischenrufen,<br />
geht vermutlich nur in amerika, wo die<br />
gründliche Selbstoffenbarung im künstlerischen<br />
Tun, highly emotional bis zur<br />
Tränenseligkeit, nicht selten mehr zählt<br />
als objektive Kriterien, z. B. stilistische.<br />
Daher gilt ja vermutlich auch die Kanadierin<br />
angela Hewitt in den Staaten als<br />
Bach-Spezialistin. Simone Dinnerstein<br />
geht mit ihrer Bach-Performance allerdings<br />
deutlich weiter (in rückwärtiger<br />
Richtung) als Hewitt: Sie interpretiert<br />
Bach-Choralbearbeitungen in Transkrip-<br />
tionen von Busoni, Kempff und Hess,<br />
die ja für sich genommen schon Doku-<br />
mente eines weitgehend versunkenen<br />
Bach-Bildes sind, tendenziell noch sub-<br />
jektivistischer, als sie vermutlich gedacht<br />
waren. Pedal-nebelschwaden, manieri-<br />
stisch verwaschener anschlagshabitus<br />
und hypertrophe dynamische effekte ge-<br />
nerieren einen emotional aufgemotzten<br />
Betroffenheits-Bach der schwersterträg-<br />
lichen Sorte. In den beiden Klavierkon-<br />
zerten des Programms gibt sich Dinner-<br />
stein immerhin deutlich nüchterner. und<br />
dennoch: Vergleicht man etwa beim Fi-<br />
nalsatz des d-Moll-Konzerts die vorlie-<br />
gende Darbietung mit derjenigen von<br />
andrás Schiff und den Berliner Philhar-<br />
monikern (zu sehen auf youTube), dann<br />
fällt unmittelbar auf, wie klebrig Dinner-<br />
stein über weite Strecken agiert, wie oft<br />
es unnötigerweise mulmt und grum-<br />
melt, wo eigentlich Spritzigkeit und Klar-<br />
heit möglich wären. Inwieweit hierfür<br />
auch technische Probleme verantwort-<br />
lich sein könnten, sei an dieser Stelle<br />
nur als Frage formuliert. Fazit: Selbstver-<br />
ständlich kann Frau Dinnerstein ihren<br />
Bach spielen, wie sie mag. Wenn sie aber<br />
zusätzlich im Beiheft-Interview gemein-<br />
sam mit einem willigen Stichwortgeber<br />
vom Londoner guardian proklamiert,<br />
Bach aus den fetischartigen Fängen ei-<br />
ner historisch orientierten Interpretati-<br />
onsweise retten und ihm dadurch seine<br />
eigentliche expressivität zurückgeben zu<br />
können, dann sind doch ein paar dicke<br />
Fragezeichen anzubringen.<br />
Michael Wersin<br />
sie finden einen Ausschnitt<br />
auf der beiliegenden<br />
RoNDo CD #43 Titel 11<br />
Beethoven<br />
SInFOnIen nR. 4 & 6<br />
Budapest Festival orchestra,<br />
Fischer<br />
Channel Classics/harmonia<br />
mundi CCs 30710<br />
(sACD, 78 Min., aufgen. 2/2010)<br />
nicht, dass der Plattenmarkt unbedingt<br />
auf diese einspielungen von Beethoven-<br />
Sinfonien gewartet hätte. auch die (be-<br />
gründete) Hoffnung auf spektakulär<br />
neues, die man bei bestimmten namen<br />
wie norrington, Hengelbrock oder Daus-<br />
gaard quasi automatisch hegt, konnte<br />
man bislang Iván Fischer nicht unbedingt<br />
zusprechen. Warum seine (neueren)<br />
aufnahmen bei Channel Classics,<br />
und insbesondere diese Vierte und Sechste<br />
Beethovens, dennoch lohnen, liegt<br />
an der außergewöhnlichen Sorgfalt, mit<br />
der sich der bald 61-jährige ungar in bestem<br />
einvernehmen mit seinem von ihm<br />
1983 gegründeten Budapester Festival-Orchester<br />
um die Partituren kümmert. Das<br />
gestisch-Sprechende kommt da, wie beispielhaft<br />
am gewitzt-übermütigen Finale<br />
der Vierten zu hören ist, auf natürliche<br />
art zum Vorschein.<br />
Wie filigran hier Haupt- und nebenstimmen<br />
miteinander kommunizieren,<br />
wie luzide Mittel- und außenstimmen<br />
hervortreten, das hält den Hörer wach.<br />
und zwar ohne bemüht ›neue‹ ausrufungszeichen.<br />
Da genießt man auch die<br />
langsamen Tempi der »Pastorale«, offenbaren<br />
sie doch (natur-)Stimmungen und<br />
Farben, die sonst oft verschenkt werden.<br />
natürlich profitieren auch die Budapester<br />
Musiker inzwischen von der historischen<br />
aufführungspraxis und der entsprechenden<br />
Schulung ihres Leiters (u. a.<br />
bei Harnoncourt): In der Vierten musizieren<br />
sie mit naturhörnern und -trompeten,<br />
in der Sechsten in gemischter Sitzordnung<br />
mit Bläsersolisten inmitten der<br />
Streicher, wobei der Schlusssatz sogar<br />
mit einer Solovioline anhebt. ein wunderbar<br />
duftiges, filigranes Klangbild resultiert<br />
daraus, das in der Tat jenen ruhevollen<br />
»Dank an die gottheit ... nach dem<br />
Sturm« vermittelt, den Beethoven nicht<br />
nur als naturschauspiel verstanden wissen<br />
wollte. eine im besten Sinne traditionelle,<br />
unaufgeregte, denkbar feinfühlige<br />
Klassiker-exegese.<br />
Christoph Braun<br />
Diverse<br />
IL CanTO DeLLe DaMe<br />
Kiehr, Concerto soave,<br />
Aymes<br />
Ambronay/harmonia mundi<br />
AMY 025<br />
(64 Min., aufgen. 5/2010)<br />
entspannt wie schon lange nicht mehr<br />
hören wir die aus argentinien stammende<br />
Sopranistin María Cristina Kiehr<br />
auf dieser auch in puncto Repertoire<br />
sehr reizvollen CD: So gründlich abwesend<br />
sind die in einigen aufnahmen der<br />
letzten Jahre mehr oder weniger stark
Die Retro-Diskothek<br />
»Das neue ist selten das gute«, meinte Schopenhauer, »weil das gute nur kurze Zeit<br />
das neue ist.« aus der Fülle der Wieder veröffentlichungen auf CD stellt Michael Wersin<br />
in seiner »Retro-Diskothek« die besten der guten alten Scheiben vor.<br />
Die Retro-Rubrik beginnt<br />
das neue Jahr mit<br />
einigen grüßen zurück<br />
in das soeben zu ende<br />
gegangene: Robert<br />
Schumanns 200. geburtstag<br />
wurde da u. a.<br />
gefeiert, und Sir adrian<br />
Boults grandiose einspielung von Schumanns<br />
vier Sinfonien darf in diesem Zusammenhang<br />
nicht unerwähnt bleiben. Sie entstand im Schumann-Jubiläumsjahr<br />
1956; Sir adrian dirigierte<br />
das London Symphony Orchestra. Der 1889 geborene<br />
blickte zu diesem Zeitpunkt nicht nur<br />
zurück auf eine bereits über 40 Jahre währende<br />
Karriere als Orchesterleiter, sondern profitierte<br />
speziell in Sachen Schumann auch noch vom<br />
direkten austausch mit einigen wichtigen Persönlichkeiten<br />
des Schülerkreises von Clara Schumann,<br />
die er als junger Mann in London getroffen<br />
hatte. adrian Boults klangvoller, edler, schlichtweg<br />
souveräner Schumann wird ergänzt durch<br />
einen bunten Strauß von acht quirligen Berlioz-<br />
Ouvertüren, die dem faszinierend inspirierten Dirigenten<br />
nicht weniger gut glückten.<br />
london Philharmonic orchestra/sir Adrian Boult –<br />
The 1956 Nixa-Westminster stereo Recordings vol. 2.<br />
First Hand Records/harmonia mundi FRH 07<br />
ein anderer großer englischer<br />
Pultstar erfuhr<br />
ende 2010 eine klingende<br />
ehrung durch<br />
sein langjähriges<br />
Schallplattenlabel eMI:<br />
Sir John Barbirollis vierzigster<br />
Todestag fiel auf<br />
den 29. Juli 2010. Der von italienischen einwanderern<br />
abstammende Barbirolli war zunächst Cellist<br />
in verschiedenen englischen Orchestern und<br />
Kammermusikformationen, begann dann aber<br />
eine steile Karriere als Dirigent, die ihn u. a. nach<br />
Covent garden und zum new york Philharmonic<br />
Symphony Orchestra führte. ab 1943 widmete er<br />
sich dem damals in Dekadenz befindlichen Hallé<br />
Orchestra und formte es zu einem der führenden<br />
englischen Klangkörper; mit ihm und den anderen<br />
großen britischen Orchestern produzierte er<br />
zahllose Schallplatten, von denen viele bis heute<br />
den Rang von Referenzeinspielungen haben. einige<br />
davon, wie beispielsweise elgars Cellokonzert<br />
mit Jacqueline du Pré oder Berlioz‘ »nuits<br />
d’été« mit Janet Baker, finden sich in der vorliegenden<br />
10-CD-Jubiläumsbox.<br />
sir John Barbirolli – The Great EMi Recordings. EMi<br />
457 767-2<br />
ein eher trauriger anlass<br />
war am 9. September<br />
das gedenken<br />
an den Tod Jussi Björlings<br />
im Jahre 1960:<br />
Der schwer alkoholabhängige<br />
schwedische<br />
Tenor wurde nur 49<br />
Jahre alt. Seine tragische Suchtkrankheit breitet<br />
einen melancholischen Schleier über die vielen<br />
Impressionen aus seinem einzigartig aufregenden,<br />
erfolgreichen Leben, die uns Biographen<br />
und Zeitzeugen vermittelt haben. Zwischen 1945<br />
und 1959 war Björling ensemblemitglied der new<br />
yorker Met, und in dieser Zeit konnte man ihn oft<br />
in den damals so beliebten Rundfunksendungen<br />
mit Live-Musik hören. »Voice of Firestone«, »Ford<br />
Sunday evening Hour« oder »Bell Telephone<br />
Broadcast« hießen diese Radio-events, für die sich<br />
große Stars in den Studios einfanden und einen<br />
bunten Mix aus ›echten‹ klassischen Titeln und<br />
leichtgewichtigeren nummern (»Jeanie with the<br />
Light Brown Hair« etc.) in den Äther schickten.<br />
Björlings ungemein phonogene Stimme war stets<br />
gern gehört, und wenn wir heute diese herzerwärmenden<br />
Dokumente genießen, dann verstehen<br />
wir sofort wieder, warum. ein Muss für alle<br />
Björling-Fans!<br />
Jussi Björling – Broadcast Concerts 1937-1960. West<br />
Hill Radio Archives/Note 1 WHRA 6036<br />
Fast genau 30 Jahre<br />
nach Jussi Björling, am<br />
19. Oktober 1990, verstarb<br />
in new york der<br />
Komponist und Dirigent<br />
Leonard Bernstein,<br />
eine der wichtigsten<br />
musikalischen<br />
Identifikations- und Integrationsfiguren für das<br />
amerika des 20. Jahrhunderts: neben seinen<br />
Leistungen auf dem rein klassischen Sektor war er<br />
nämlich erfolgreicher und ambitionierter grenzgänger<br />
in Richtung unterhaltungsmusik. auf Basis<br />
des Broadway-Show-Repertoires der frühen<br />
Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts schuf<br />
er ein neues, ganz und gar amerikanisches Musiktheater,<br />
das sowohl bei den Mitwirkenden als<br />
auch beim Publikum ein sehr breites Spektrum an<br />
Kräften zusammenzuführen vermochte. Die fünf<br />
in dieser Box vereinigten Werke, darunter »West<br />
Side Story«, »Candide« und »On the Town«, jeweils<br />
vertreten durch erstklassige Belegaufnahmen, demonstrieren<br />
dies in eindrucksvoller Weise. Wir<br />
hören Kiri Te Kanawa und José Carreras als Tony<br />
und Maria, wir erleben den unvergessenen Jerry<br />
Hadley als Candide neben nicolai gedda und<br />
Christa Ludwig, wir erinnern uns an die großartige<br />
Federica von Stade in der Rolle der Claire<br />
(»On the Town«). am Pult stand zumeist Leonard<br />
Bernstein selbst; für »On the Town« und »a White<br />
House Cantata«, produziert erst nach des Komponisten<br />
Tod, fanden sich mit Michael Tilson Thomas<br />
und Kent nagano würdige nachfolger.<br />
leonard Bernstein – Theatre Works. Deutsche Grammophon/Universal<br />
477 8853<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 9
Klassik CDs<br />
vorhandenen technischen Mängel (Fe-<br />
stigkeit der Zunge, ›Knödel‹), dass man<br />
dem vorliegenden Programm beinahe<br />
den Stellenwert eines Comebacks ge-<br />
ben möchte.<br />
Kiehr und ihr langjähriger musika-<br />
lischer Partner Jean-Marc aymes ha-<br />
ben eine Folge frühbarocker Monodien<br />
(aufgeteilt in Kirchen- und Kammer-<br />
Concerti) zusammengestellt, die fast<br />
ausschließlich von Frauen komponiert<br />
wurden; und es ist nicht nur die mittlerweile<br />
recht bekannte Barbara Strozzi<br />
repräsentiert, sondern auch Francesca<br />
Caccini (die Tochter giulio Caccinis)<br />
sowie die beiden nonnen Caterina assandra<br />
und Isabella Leonarda. Rein instrumentale<br />
Stücke ergänzen das Programm;<br />
auch zu einigen gesungenen<br />
Stücken treten ein oder zwei Violinen<br />
als konzertierende Partner der Vokalpartie<br />
hinzu.<br />
»Konzentration und Versenkung«<br />
könnte als Motto über diesen ungemein<br />
ruhigen, fast friedvollen Darbietungen<br />
stehen. ausdruck wird kaum jemals<br />
durch exaltation, größere dynamische<br />
effekte oder Vibrato erzeugt – hierin<br />
liegt ein fundamentaler unterschied zu<br />
Magdalena Koženás etwa zeitgleich erschienenem<br />
Frühbarock-Rezital –, sondern<br />
durch verinnerlichte bzw. ins Innere<br />
zielende Intensität. Kiehr führt ihre<br />
Stimme stets sehr gerade, und sie achtet<br />
minutiös auf eine korrekte bzw. sinnvoll<br />
abgestufte gewichtung von betonten<br />
und unbetonten Silben – Tugenden, die<br />
eigentlich mit der historisierenden aufführungspraxis<br />
seit deren anfängen untrennbar<br />
verbunden zu sein scheinen, die<br />
aber in den letzten Jahren zugunsten einer<br />
erweiterung der ausdruckspalette<br />
etwas in Vergessenheit gerieten. Vor<br />
diesem Hintergrund ist María Cristina<br />
Kiehrs gesang nicht etwa puristisch,<br />
aber doch sehr rein im positiven Sinne.<br />
er gibt dadurch den Blick frei auf die Musik<br />
als solche, auf ihre melodischen und<br />
harmonischen Wendungen. Der Hörer<br />
wird durchaus gefesselt, aber nicht gebeutelt:<br />
eine legitime und vor allem überzeugende<br />
art, diese Musik umzusetzen.<br />
Wie es wirklich war, können wir niemals<br />
genau wissen. Michael Wersin<br />
10 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
Enescu<br />
KLaVIeRSOnaTe nR. 1,<br />
SuITe nR. 2<br />
varga<br />
Naxos 8.572120<br />
(66 Min., aufgen. 9/2008)<br />
Klaviermusik von george enescu?! Da<br />
fällt es nicht schwer, die Repertoire-<br />
lücke einzugestehen (Luiza Borac, die<br />
bislang einzige CD-Interpretin, möge<br />
das verzeihen). umso begrüßenswerter<br />
(einmal mehr) die Veröffentlichungspolitik<br />
von naxos. Offenbart sie doch,<br />
dass der 1881 geborene, vorwiegend in<br />
Paris arbeitende, dort 1955 verstorbene<br />
Rumäne mehr zu bieten hatte als ›nur‹<br />
seine Weltkarriere als geiger, den aufbau<br />
des heimatlichen Konzertlebens und<br />
seine relativ bekannten, weil volkstümlich<br />
grundierten Orchesterrhapsodien<br />
und Violinsonaten. In seiner einspielung<br />
der ersten Klaviersonate von 1924,<br />
der zweiten Suite von 1903 und zwei der<br />
sieben »Pièces impromptus« aus den Jahren<br />
1913-16 erschließt uns der 30-jährige<br />
Matei Varga eine ganz eigene Klangwelt.<br />
auch wenn die pentatonisch-impressionistischen<br />
andante-Passagen der ersten<br />
Sonate anleihen an Debussy und<br />
Ravel aufweisen, die rhythmischen Presto-Widerborstigkeiten<br />
an Bartók erinnern<br />
und die atonalen Themenvorgaben<br />
von Schönberg inspiriert scheinen: Den<br />
Versuch, enescu in Schubladen zu stecken,<br />
sollte man lassen – sein Personalstil<br />
ist wirklich einer. Jedenfalls seit den<br />
reifen Jahren des Mittdreißigers, der in<br />
den beiden hier eingespielten Impromptus,<br />
einem Choral und einem »Carillon<br />
nocturne«, den fernen Klang eben dieser<br />
nächtlichen glocken so atmosphärisch<br />
dicht und eigenwillig einfängt. (und man<br />
denkt unwillkürlich: Messiaen muss das<br />
gekannt haben ...). Die zweite Klaviersuite<br />
des 22-Jährigen kommt äußerlich als<br />
(tonale) Retrospektive barocker Tanzsätze<br />
zwar traditioneller daher, entfaltet<br />
jedoch auch eine ganz eigene Klangmagie<br />
zwischen extrovertierter Brillanz und<br />
subtiler Innenschau. Zumindest wenn sie<br />
so poetisch durchdacht präsentiert wird<br />
wie von enescus Landsmann Varga.<br />
Christoph Braun<br />
DVDs<br />
Puccini<br />
TOSCa<br />
verrett, Pavarotti, MacNeil,<br />
The Metropolitan opera<br />
orchestra and Chorus,<br />
Conlon, Gobbi<br />
Decca/Universal 074 3410<br />
(DvD, 127 Min. oper +<br />
27 Min. Bonusmaterial,<br />
aufgen. 12/1978)<br />
Puccini<br />
TOSCa<br />
Cedolins, Álvarez, Raimondi,<br />
orchestra e Coro dell’Arena<br />
di verona, oren, Ana<br />
Arthaus/Naxos 107 195<br />
(DvD, 119 Min., aufgen. 2006)<br />
Puccini<br />
TOSCa<br />
Mattila, Álvarez, Gagnidze,<br />
The Metropolitan opera<br />
orchestra and Chorus,<br />
Colaneri, Bondy<br />
virgin/EMi 50999 6419739 5<br />
(DvD, 137 Min., aufgen.<br />
10/2009)<br />
gleich drei »Tosca«-Produktionen auf<br />
DVD sind in den letzten Wochen erschie-<br />
nen. und verdeutlichen einmal mehr,<br />
dass gerade bei den Mitschnitten von<br />
Opernaufführungen oft ohne Sinn und<br />
Verstand veröffentlicht wird. Der Markt<br />
wird mit neuheiten überschwemmt,<br />
ohne dass es eine künstlerische Rechtfertigung<br />
dafür gäbe. Die liegt im Fall<br />
der ältesten der drei Produktionen vom<br />
Dezember 1978 einzig und allein bei Luciano<br />
Pavarotti at his very best. Der Tenor<br />
singt hier zum niederknien schön,<br />
aber das könnte man eigentlich auch auf<br />
einer CD genießen, da sein Spiel wie üblich<br />
nicht über arme-ausbreiten-undwieder-zurück-zum-Körper-Führenhinausgeht.<br />
Seine Partnerin in dieser durch<br />
und durch traditionellen MeT-aufführung<br />
ist Shirley Verrett, die im ständigen<br />
Kampf mit der Partie steht, und diesen<br />
nur selten gewinnt. Warum diese phantastische<br />
Mezzosopranistin an einem bestimmten<br />
Punkt ihrer Karriere meinte,<br />
unbedingt auch Sopranpartien in angriff<br />
nehmen zu müssen, bleibt ihr geheimnis.<br />
einen gefallen hat sie sich und ihrem<br />
Publikum damit nicht getan. natürlich<br />
verfügte sie immer über eine gute und sichere<br />
Höhe, aber es ist ein unterschied,<br />
ob sie damit als Mezzo fulminante Spitzentöne<br />
setzen kann oder als Sopran<br />
in einer auf Dauer unbequemen Tessitura<br />
singen muss und sich dazu noch<br />
ihres sinnlichen Timbres beraubt. Cornell<br />
Macneil ist ein durchaus beeindruckender<br />
Scarpia, auch wenn seine beste<br />
Zeit hier schon hinter ihm liegt. Die Bildqualität<br />
der DVD ist miserabel, und auch<br />
der Ton lässt zu wünschen übrig.<br />
aus der arena di Verona stammt der<br />
nächste Mitschnitt, Puccinis Oper gehört<br />
dort zu den meistgespielten Werken,<br />
obwohl die räumlichen gegebenheiten<br />
nicht gerade ideal sind für ein<br />
Kammerspiel wie »Tosca«. auch hier ist<br />
es wieder der Tenor, der rundherum beglückt.<br />
Marcelo álvarez war im Sommer<br />
2006 in berückender vokaler Verfassung:<br />
Die Stimme verfügt über Schmelz, heldische<br />
Kraft, lyrische geschmeidigkeit,<br />
sauberes Piano und sichere Höhe. als<br />
Floria Tosca steht ihm Fiorenza Cedolins<br />
zur Seite, mit großem Vibrato und<br />
eher uninteressanter allerweltsstimme<br />
kommt sie zwar mit der Partie weitgehend<br />
zurecht, doch eine fesselnde Titelheldin<br />
hört sich anders an. Zumal Signora<br />
Cedolins sich gelegentlich sehr in<br />
der Rolle eines ordinären Fischweibs zu<br />
gefallen scheint. Für Ruggero Raimondi<br />
gilt Ähnliches wie für seinen Kollegen an<br />
der MeT, die Stimme ist nicht mehr die,<br />
die sie einmal war, dafür punktet er mit<br />
darstellerischer Präsenz. etwas ungünstig<br />
eingefangen sind die gesangsstimmen,<br />
die Mikrophone standen wohl am<br />
oberen ende des Orchestergrabens, wodurch<br />
sich eine gewisse klangliche Distanz<br />
ergibt. Dafür ist das Bild gestochen<br />
scharf.<br />
Womit wir wieder zurück zur MeT<br />
kommen, dort hatte die inzwischen auch<br />
in München gelandete Koproduktion im<br />
Herbst 2009 Premiere. Hier erlebt man<br />
die einzige der drei Versionen, die einen<br />
auch als Drama packt und mitreißt, was<br />
der exzellenten Personenregie von Luc<br />
Bondy zu verdanken ist. und einer Interpretin<br />
der Titelrolle, die sie wirklich –<br />
wie es sich gehört – in den Mittelpunkt<br />
des geschehens und Interesses rückt.<br />
Karita Mattila ist die mit abstand souveränste<br />
der drei Sopranistinnen (wenn<br />
auch nicht über alle Kritik erhaben): Wie<br />
sie Stimme und Spiel zu einer wahrlich<br />
aufregenden Interpretation zusammen-
fügt, ist schon sehens- und hörenswert.<br />
Ich frage mich allerdings, welcher Frauen-<br />
hasser ihr die schwarze Perücke und das<br />
schlechte Makeup verpasst hat.<br />
an Marcelo álvarez‹ Stimme sind die<br />
drei Jahre zwischen Verona und new<br />
york leider nicht spurlos vorüber gegangen.<br />
Zwar ist die gesamtleistung immer<br />
noch mehr als respektabel, aber der argentinier<br />
muss jetzt viel mehr Kraft aufwenden,<br />
wodurch es an geschmeidigkeit<br />
und eleganz fehlt, und den Piano-Bereich<br />
weitgehend ausklammern, nur vom Mezzoforte<br />
an spricht die Stimme sicher an,<br />
ein untrügliches Zeichen für vokale Blessuren.<br />
george gagnidze als Scarpia<br />
schließlich kann als einziger der drei Baritone<br />
stimmlich aus dem Vollen schöpfen,<br />
was er hier und da auch ein wenig exzessiv<br />
tut, und trägt seinen Teil dazu bei,<br />
dass man hier einen spannenden Opernabend<br />
mit einem hochkarätigen Hauptdarsteller-Terzett<br />
in sehr guter Bild- und<br />
Tonqualität genießen kann.<br />
Michael Blümke<br />
Verrett/Decca<br />
Cedolins/arthaus<br />
Mattila/Virgin<br />
strauss<br />
eLeKTRa<br />
Watson, Uhl, Henschel, u. a.,<br />
Münchner Philharmoniker,<br />
Thielemann, Wernicke<br />
(DvD, 111 Min. + 15 Min.<br />
Making-of, aufgen. 1-2/2010)<br />
opus Arte/Naxos oA 1046 D<br />
eigentlich hatte sie ihr Debüt in der Titel-<br />
rolle erst 2012 in Wien geplant, doch dann<br />
ist Linda Watson kurzfristig in die aus<br />
München entliehene »elektra«-Produktion<br />
von Herbert Wernicke in Baden-Baden<br />
eingesprungen. und man kann nicht<br />
anders, als der Sängerin größten Respekt<br />
zu zollen: Sie ist eine wirklich beeindruckende<br />
und durchweg überzeugende Interpretin,<br />
die diese Mörderpartie souverän<br />
meistert. Die Stimme ist groß und<br />
bis zum ende durchschlagskräftig, wird<br />
aber stets dynamisch gut abgestuft; nur an<br />
der Textverständlichkeit sollte Linda Watson<br />
noch arbeiten. Ihre Landsmännin Jane<br />
Henschel bietet als Klytämnestra den rich-<br />
tigen gegenpol zu ihr, um die auseinan-<br />
dersetzung zwischen Mutter und Toch-<br />
ter packend über die fast leere Bühne zu<br />
bringen. Da hat es Manuela uhl als Chrysothemis<br />
trotz sehr guter vokaler Leistung<br />
darstellerisch schwer, neben diesen beiden<br />
Larger-than-life-Partnerinnen zu bestehen.<br />
albert Dohmen ist ein stimmlich<br />
zwar sicherer, aber fast zu reifer, nicht<br />
ausreichend geschmeidiger Orest, für<br />
die Minipartie des aegisth wurde René<br />
Kollo verpflichtet. am Pult der hervorragend<br />
spielenden Münchner Philharmoniker<br />
sorgt Christian Thielemann für<br />
eine exzellente, immer auch auf die Sänger<br />
Rücksicht nehmende umsetzung<br />
der Partitur. Hätten die Tontechniker die<br />
gesangsstimmen gleichmäßiger eingefangen<br />
– das Opernglück wäre perfekt.<br />
Michael Blümke<br />
Arnold schönberg<br />
guRReLIeDeR<br />
Deborah voigt, Mihoko Fujimura,<br />
stig Andersen, NDR Chor,<br />
MDR Rundfunkchor, Chor des<br />
BR, symphonieorchester<br />
des Bayerischen Rundfunks,<br />
Mariss Jansons<br />
BR Klassik/Naxos 900110<br />
(117 Min., aufgen. 10/2009)<br />
Sie fordern schon einen gewaltigen perso-<br />
nellen aufwand, diese gurrelieder: Drei<br />
Rundfunkchöre ließ Mariss Jansons im<br />
Münchner gasteig zusammenkommen,<br />
um von ihnen ganz am ende des zwei-<br />
stündigen Werkes für knapp sechs Minu-<br />
ten in ekstatischem Tutti die Sonne be-<br />
singen zu lassen – und dann hat ihm die<br />
Tontechnik das ganze so eingefangen und<br />
abgemischt, dass der gewaltige Schlussef-<br />
fekt auf der DVD gar nicht so tiefenscharf<br />
und majestätisch herüberkommt, wie<br />
man es eigentlich erwarten würde (und<br />
als Konzertbesucher im Saal zweifellos<br />
auch erlebt hat). Der acht Jahre zuvor am<br />
selben Ort entstandene Live-Mitschnitt<br />
der »gurrelieder« unter James Levine hat<br />
da deutlich mehr zu bieten – obwohl Le-<br />
vine sich mit dem Philharmonischen<br />
Chor München als vokalem Klangkörper<br />
begnügte.<br />
Der Vergleich der beiden »gurrelieder«-<br />
Versionen aus München fällt auch in an-<br />
deren Punkten ungünstig für den vorlie-<br />
genden Mitschnitt aus: Levine hatte z. B.<br />
mit Ben Heppner einen deutlich mitrei-<br />
ßenderen Tenorsolisten. Sein Legato, sei-<br />
nen lyrischen Schmelz bei aller Dramatik,<br />
sein körperhaft gerundetes Timbre kann<br />
Stig andersen nicht erreichen. und selbst<br />
Deborah Voigt, in beiden Versionen die<br />
Sopransolistin, kommt unter Levine we-<br />
niger spitz herüber als bei Jansons. Wie<br />
gesagt, die Tontechnik hat das nicht allzu<br />
beglückende endergebnis sicher mitzu-<br />
verantworten, aber was hilft‹s? allein<br />
die schönen Bilder, entstanden unter der<br />
kompetenten Regie von Brian Large, vermögen<br />
den gesamteindruck nicht maßgeblich<br />
zu verbessern: Obwohl Mariss<br />
Jansons seinem BR-Symphonieorchester,<br />
zu dessen 60. geburtstag dieses ereignis<br />
stattfand, ein beachtlich differenziertes<br />
Farbenspiel bei großer Präzision zu entlocken<br />
verstand, wird man Levines Version<br />
vorziehen – wenn man nicht gleich<br />
zu Riccardo Chaillys Studioproduktion<br />
von 1985 greift: Susan Dunn und Siegfried<br />
Jerusalem, beide damals auf dem Höhepunkt<br />
ihres Könnens, sind als Hauptprotagonisten<br />
des ersten Teils nicht zu übertreffen.<br />
Michael Wersin<br />
Brahms<br />
eIn DeuTSCHeS ReQuIeM<br />
schäfer, Gerhaher, Chor des<br />
Bayerischen Rundfunks, Münchner<br />
Philharmoniker, Thielemann<br />
C-Major/Naxos 703308<br />
(DvD, 83 Min., aufgen. 4/2007)<br />
an langsame Tempi sind die Münchner<br />
Philharmoniker gewöhnt: Sie zelebrierten<br />
unter dem späten Celibidache wichtige<br />
Teile des sinfonischen Repertoires teilweise<br />
im Zeitlupen-Feeling. Celi mochte<br />
zu Lebzeiten keine Mitschnitte seiner<br />
Konzerte zur Veröffentlichung genehmigen;<br />
das Wissen um die Schwierigkeit des<br />
authentischen Konservierens seines speziellen<br />
Zeitgefühls beim Musizieren könnte<br />
ein wichtiger grund dafür gewesen sein.<br />
Vor diesem Hintergrund möchte der Rezensent<br />
nicht ausschließen, dass das live<br />
mitgeschnittene Brahms-Requiem auf dieser<br />
DVD in der Münchner Philharmonie<br />
an jenem abend im april 2007 eine großartige<br />
Wirkung entfaltet hat. Im nacherleben<br />
mittels eines Ton- und Bildträgers jedoch<br />
steht es streckenweise förmlich auf<br />
der Stelle. De facto fand der Rezensent unter<br />
den zehn einspielungen des Werks in<br />
seinen CD-Regalen keine einzige, in der<br />
der vierte Satz (»Wie lieblich sind deine<br />
Wohnungen«) die Sechs-Minuten-grenze<br />
überschreitet; Thielemann musiziert das<br />
kurze Stück in 6:39. ergebnis ist, das jene<br />
Sehnsucht nach den Wohnungen des<br />
Herrn Zebaoth, von denen im Psalmtext<br />
die Rede ist, fast den Beigeschmack der<br />
agonie erhält. und im anschließenden<br />
Sopransolo »Ihr habt nun Traurigkeit«,<br />
das nur Rudolf Kempe 1955 mit elisabeth<br />
grümmer annähernd so langsam musizierte,<br />
muss Thielemanns Solistin Christine<br />
Schäfer unverhältnismäßig oft, teilweise<br />
nach einzelnen Worten, nachatmen.<br />
Sie meistert das atemproblem souverän,<br />
behält bei frontal auf sie gerichteter Kamera<br />
einen kühlen Kopf – aber die Musik<br />
rührt sich nicht vom Fleck. Ist es verwerflich,<br />
etwa bei »Sehet mich an …« ein wenig<br />
anzuziehen, wie das viele Dirigenten<br />
tun, und damit den gestus der an dieser<br />
Stelle noch intensivierten anrede zu unterstreichen?<br />
Diesen grundsätzlichen Kritikpunkten<br />
steht die Perfektion der Darbietung<br />
gegenüber; freilich musizieren Chor<br />
und Orchester unter Thielemanns minutiös<br />
genauer Leitung höchst vollkommen.<br />
aber wie mühsam ist das Zuhören,<br />
wenn selbst hochdramatische Passagen<br />
(»Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist<br />
dein Sieg«) seltsam buchstabiert daherkommen,<br />
wenn sich selbst in den finalen<br />
Fugen (»Die erlöseten des Herrn …«)<br />
die Spannung niemals über ein gelösteres<br />
Tempo entlädt? Thielemann formt und<br />
gestaltet unablässig auf Detailebene, teils<br />
mit weit aufgerissenen augen zwingt er<br />
das riesige ensemble zu einer mitunter<br />
lähmenden Langsamkeit, die den vielen<br />
aufblühenden, aufjubelnden oder aufbegehrenden<br />
Passagen nicht gerecht wird.<br />
Michael Wersin<br />
Weitere Rezensionen finden sie auf<br />
www.rondomagazin.de<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 11
Musik der Welt<br />
spaniens wilde Ecke<br />
+ Keltisches aus Spaniens nordwesten + Dudelsackmusik kommt<br />
nicht immer aus Schottland + Die Drehleier als Symbol politischer<br />
Opposition + Das Land der Träume + Der Jakobsweg macht galicien<br />
populär + Der griff nach den Sternen<br />
niemand würde großbritannien auf schottische<br />
Dudelsackmusik reduzieren oder Deutschland<br />
auf bayerische Blaskapellen. Wenn aber von spanischer<br />
Musik die Rede ist, wird von Flamenco,<br />
gitarren und Kastagnetten gesprochen. Dabei<br />
fügt sich ein großteil iberischer Klänge nicht<br />
in das Klischee, stammen sie nun von den bläserlastigen<br />
katalanischen Sardana-Orchestern<br />
oder asturischen ›Pipe-and-Drum-Bands‹, den<br />
›bandas‹, die jeder Hörer ohne mit der Wimper<br />
zu zucken in Schottland ansiedeln würde.<br />
In der nordwestlichsten ecke, nördlich von<br />
Portugal, durch hohe gebirge vom Rest Spaniens<br />
getrennt, liegt des Landes grünes Tor zum<br />
atlantischen Ozean: galicien. erinnert schon<br />
die liebliche, doch viel Regen und Wind ausgesetzte<br />
Landschaft klimatisch und landschaftlich<br />
etwas an Irland oder die Bretagne, so finden sich<br />
entsprechende Parallelen auch in der galicischen<br />
Musik, in deren Instrumentarium seit dem Mittelalter<br />
Dudelsack, Harfe, Drehleier und Perkussionsinstrumente<br />
auffallen. Die Ähnlichkeiten<br />
werden auf die gemeinsamen keltischen Wurzeln<br />
zurückgeführt; sicherlich haben aber auch<br />
spätere einflüsse und damit zusammenhängende<br />
anbindung an eine boomende Celtic Folk-Szene<br />
die ursprüngliche galicische Musik nachhaltig zu<br />
einer größeren stilistischen nähe zu Irland und<br />
Schottland verändert. nord- und südeuropäische<br />
elemente erscheinen in der Musik dieses Landstriches<br />
in heiterer Balance.<br />
12 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
Das Revival der galicischen Musik in den 70er<br />
Jahren, am sichtbarsten durch die starke Besinnung<br />
auf die Dudelsack-Tradition und die Wiederbelebung<br />
der fast schon ausgestorbenen Drehleier,<br />
ging einher mit politischer Opposition. Der<br />
1975 verstorbene Diktator Franco, wiewohl galicier,<br />
hatte die Verwendung der dem Portugiesischen<br />
nahestehenden galicischen Sprache verbieten<br />
lassen, weil dies seiner Vorstellung eines<br />
zentralistischen nationalstaates entgegenstand.<br />
erst seit 1982 ist galicisch wieder amtssprache.<br />
Das Recht auf eine eigene kulturelle Identität<br />
war also keine Selbstverständlichkeit, als Fuxan<br />
os Ventos 1972 ursprünglich als Schülerchor gegründet<br />
wurde. Die gruppe, deren name etwa<br />
soviel bedeutet wie »Lass die Winde vorüberzie-<br />
Santiago de Compostela ist mit seinen knapp<br />
100.000 Einwohnern die Hauptstadt Galiciens<br />
hen«, hatte maßgeblichen anteil an der emanzipation<br />
des Volkes. Bis ende der 80er Jahre allgegenwärtig,<br />
war sie fast zwei Jahrzehnte praktisch<br />
von den Bühnen verschwunden, bis es 2008 mit<br />
zwei Konzerten in Santiago zu einem lange ersehnten<br />
Comeback kam, deren Zusammenschnitt<br />
beim Label Boa unter dem Titel »Terra<br />
de Soños« (Boa 10002038) auf einem Doppelalbum<br />
aus einer CD und einer DVD erschien. Obwohl<br />
die CD mit 20 Musiknummern schon lang<br />
ist, bereitet die aus 28 Stücken bestehende DVD<br />
den größeren genuss, zumal es im vielfältigen<br />
Programm keine Spannungsbrüche gibt.<br />
Die tiefen emotionen aller Beteiligten (auch<br />
des Publikums) unterstreichen so auch optisch<br />
die Bedeutung des ereignisses, das über das rein<br />
Musikalische hinausgeht. Das im Programmtitel<br />
angesprochene »Land der Träume« ist ja kein<br />
Märchenland, es ist ein gewissermaßen auch<br />
ersungenes Traumland, das von der Diktatur befreite<br />
Land. »ein Volk, das singt, lebt« und »ein<br />
Volk mit eigenen Liedern hat eine Zukunft« lauten<br />
die Botschaften der Musiker auch in den Interviews<br />
des beigefügten Making of-Videos. Leider<br />
gibt es keine untertitel in einer gängigeren<br />
Sprache und auch das opulente 75-seitige Booklet<br />
scheint nur für galicier gedacht zu sein.<br />
andererseits: auch ohne Verständnis der Texte<br />
berührt das Konzert der insgesamt 27 Künstler,<br />
von denen neun das aus gesangssolisten bestehende<br />
Vokalensemble bilden, die sich in immer<br />
wieder neuen Konstellationen mit zahlreichen<br />
gaststars (Xabier Diaz, uxía, guadi galego und<br />
Mercedes Peon) sowie einem abwechslungsreich<br />
eingesetzten Instrumentalapparat mit Streichquartett,<br />
Holzbläsern, akkordeon und den genannten<br />
nationalinstrumenten Dudelsack, Harfe,<br />
Perkussion und Drehleier zusammenfinden. Das<br />
zwischen galicischer Folklore und neuem Folk<br />
vermittelnde Repertoire – darunter Stücke wie<br />
Nach fast 20 Jahren landeten Fuxan os Ventos (r.) ein äußerst erfolgreiches Comeback, die Sängerin Uxia<br />
(l.) ist mit ihrer gewaltigen Stimme schon lange eine Ikone der galicischen Musik<br />
»a Carolina« und »Sementeira«, die in ihrer Heimat<br />
längst schon zu Hymnen geworden sind – erklingt<br />
in (allein schon wegen des Klangcharakters<br />
der Instrumente oft pastoralen) arrangements<br />
von Xosé Lois Romero, in denen ebenso für jaz-
zige ausflüge des Oboisten Platz ist wie für innigen<br />
Chorgesang oder Tanzeinlagen.<br />
galicien würde von uns Deutschen meist<br />
heute noch mit dem polnisch-ukrainischen<br />
galizien verwechselt, wäre nicht der Jakobsweg<br />
zur Hauptstadt Santiago de<br />
Compostela in den letzten Jahren<br />
zum Synonym für Pilgerfahrt<br />
schlechthin geworden. 2010 hat<br />
sich die Zahl der Pilger gegenüber<br />
2009 fast verdoppelt, gegenüber<br />
1970 verviertausendfacht.<br />
aus anlass des Heiligen Compostelanischen<br />
Jahres 2010 ver-<br />
öffentlichte Boa unter dem Titel<br />
»Cantigas do Camiño« (Boa<br />
10002042) auch eine thematisch<br />
auf den Jakobsweg zugeschnittene anthologie,<br />
die die stilistische Spannweite heutigen galicischen<br />
Singens und Musizieren vor augen führt.<br />
13 der berühmtesten Formationen sind mit von<br />
der Partie, bieten gregorianisches ebenso wie keltischen<br />
Folkrock, darunter Milladoiro, die heute<br />
noch aktive Pionierband der 70er Jahre, die Sän-<br />
Bestenliste 1/2011<br />
ORCHESTERMUSIK<br />
• gustav Mahler, Sinfonie nr. 9,<br />
WDR Sinfonieorchester Köln,<br />
Jukka-Pekka Saraste, Hänssler Profil<br />
PH 100358 (naxos)<br />
• Peter Tschaikowsky, Sinfonie nr. 6,<br />
Romeo & Julia, CBSO, andris nelsons,<br />
Orfeo C832101a<br />
KONZERTE<br />
• Sergej Rachmaninoff, Klavierkonzerte<br />
nr. 3 & 4, Leif Ove andsnes,<br />
London Symphony Orchestra,<br />
antonio Pappano, eMI 6405162<br />
KAMMERMUSIK<br />
• Leoš Janáček, Streichquartette,<br />
Mandelring-Quartett, audite 92545<br />
(edel)<br />
• Jean Sibelius & arnold Schönberg,<br />
Streichquartette op. 56 & op. 7,<br />
Tetzlaff Quartett, avi Music<br />
8553202 (harmonia mundi)<br />
KLAVIERMUSIK<br />
• Johann Sebastian Bach, Original<br />
works and transcriptions, evgeni<br />
Koroliov & Ljupka Hadzigeorgieva,<br />
The Koroliov Series Vol. XII,<br />
TaCeT 192<br />
• Marc-andré Hamelin, 12 Études in<br />
all the minor keys, Marc-andré<br />
Hamelin, Hyperion 67789 (Codaex)<br />
ORGEL- UND CEMBALOMUSIK<br />
• Thierry escaich, Live-Improvisations,<br />
aeolus ae-10691 (note 1)<br />
gerin uxia, diesmal im brasilianischen Stil, und<br />
das 40-köpfige, aus Harfen, Drehleiern, Dudelsäcken,<br />
Fiedeln, Flöten und Perkussion bestehende<br />
SonDeSeu, sozusagen das ins gigantische erhobene<br />
Typische.<br />
Die Gruppe Berrogüetto (l.) mit ihrem Sänger Xabier Diaz (r.) verbindet traditionelle<br />
Folkmusik höchst erfolgreich mit aktuellen Strömungen<br />
Immer wieder im gesamtklang der siebenköpfigen<br />
Weltmusikformation Berrogüetto präsente<br />
traditionelle Instrumente wie Drehleier, Harfe,<br />
gaita (Dudelsack), geige oder akkordeon erzeugen<br />
einen so ur-galicischen Sound, dass die<br />
im übrigen mit Keyboards, Schlagzeug und Saxophon<br />
bestückte Formation es sich erlauben<br />
• Johann Jacob Froberger, Capriccio,<br />
Bob van asperen, arp Schnitger,<br />
Froberger edition Vol. 7, aeolus<br />
ae-10701 (note 1)<br />
OPER<br />
• antonio Vivaldi, ercole sul Termodonte,<br />
europa galante, Fabio<br />
Biondi, 2 CDs Virgin Classics,<br />
6945450 (eMI)<br />
• Wolfgang amadeus Mozart, Die<br />
Zauberflöte, Marlis Petersen, Daniel<br />
Behle u. a., RIaS Kammerchor,<br />
akademie für alte Musik Berlin,<br />
René Jacobs, 3 CDs harmonia mundi<br />
HMC 902068.70<br />
CHORWERKE (MIT UND OHNE<br />
ORCHESTER)<br />
• Puer natus est, Stile antico, harmonia<br />
mundi HMu 807517<br />
ALTE MUSIK (VOKAL/ INSTRU-<br />
MENTAL)<br />
• Johann Sebastian Bach, Cellosuiten<br />
BWV 1007-1012, Dmitry Badiarov,<br />
2 CDs Ramée RaM1003 (note 1)<br />
• Claudio Monteverdi & Marco Marazzoli,<br />
Combattimenti, Le Poème<br />
Harmonique, Vincent Dumstre,<br />
alpha 172 (note 1)<br />
KLASSISCHES LIED UND VOKAL-<br />
RECITAL<br />
• Caldara in Vienna, Philippe Jaroussky,<br />
Concerto Köln, emmanuelle<br />
Haim, Virgin 192727 (eMI)<br />
• Colori d’amore, Simone Kermes,<br />
Le Musiche nove, Claudio Osele,<br />
Sony 88697723192<br />
HISTORISCHE AUFNAHMEN<br />
KLASSIK<br />
• genie und Rebell – Friedrich gulda<br />
spielt Mozart/Beethoven/Chopin/<br />
Debussy/Strauss, Friedrich gulda,<br />
10 CDs Membran Music 233021<br />
ZEITGENÖSSISCHE MUSIK<br />
• georg Katzer: Streichquartette nr. 1,<br />
3 & 4, Sonar Quartett, neOS 11020<br />
(Codaex)<br />
• Pierluigi Billone: Mani. Percussion<br />
Solos, adam Weissmann, ein<br />
klang_records 044,<br />
www.einklangrecords.com<br />
FILMMUSIK<br />
• Harry Potter and the Deathly<br />
Hallows, Part 1, alexandre Desplat,<br />
London Symphony, Watertower<br />
88697794712 (Sony)<br />
• angelo Badalamenti: Music for Film<br />
and Television, Dirk Brossé, Brussels<br />
Philharmonic, Varèse Sarabande<br />
/ Colosseum (alive)<br />
WORT UND KABARETT<br />
• Marcel Proust, auf der Suche nach<br />
der verlorenen Zeit (Teil 1-7), Sprecher:<br />
Peter Matic, 17 CDs Der Hörverlag<br />
9 783867 176828<br />
FOLK UND FOLKLORE<br />
• alborada do Brasil, Carlos nunez,<br />
Sony Music 886975676828<br />
• Lost Causes, Daniel Kahn & The<br />
Painted Bird, Oriente, RIenCD 77<br />
ETHNISCHE TRADITIONELLE<br />
MUSIK<br />
• Mali Timbuktu, Benkadi fòli serie I.,<br />
Traditionelle Musik Vol. 5,<br />
www.brandes-kraatz.de<br />
• The art of the Koto. Complete<br />
edition, nanae yoshimura, 4 CDs<br />
Celestial Harmonies 19918-2,<br />
013711991826<br />
JAZZ<br />
• Message from Mars, echoes of<br />
Swing, Bernd Lhotzky, Oliver<br />
Mewes, Colin T. Dawson, Chris<br />
Hopkins, echoes of Swing Productions,<br />
eOSP 4506 2<br />
kann, sich weit von ihren Wurzeln zu entfernen,<br />
ohne dass dies groß auffiele. Die östliche Bouzouki<br />
und die nordische nyckelharpa, eine schon<br />
mal rockig gestrichene Bratsche fügen sich nahtlos<br />
ein. In ihrem auf Discmedi vorgelegten »Kosmogoniás«<br />
(Discmedi BM 002), wie die<br />
Vorgänger ein Konzeptalbum (allerdings<br />
mit Sänger Xabier Diaz an Stelle<br />
der früheren Frontfrau guadi galego)<br />
führt die Reise gar in die Höhen des Firmaments,<br />
wie die DVD mit ihren experimentalfilmen<br />
zeigt. Wer davon nichts<br />
weiß und die Sprache nicht versteht,<br />
merkt es der durchaus bodenständigen<br />
Musik nicht an, dass hier (von philosophischen<br />
und wissenschaftlichen Betrachtungen<br />
angeregt) dem Verhältnis<br />
von Mensch und Kosmos nachgespürt und<br />
nach den Sternen gegriffen wird. In diesem Kosmos<br />
trüben nur selten Dissonanzen den satten<br />
Wohlklang; in eher ausgeglichener als ausgelassener<br />
Heiterkeit spinnen sich schwebende Melodien<br />
tänzelnd fort: die Harmonie der Sphären,<br />
aus galicischer Warte. Marcus A. Woelfle<br />
• Continuum, Jazz ’n’ Spirit , Dirk Piezunka,<br />
Martin Flindt, Jens Piezunka,<br />
audiomax 9121662-6 (Codaex)<br />
• apex, Rudresh Mahanthappa and<br />
Bunky green, PI35, aLIVe/ Ratta<br />
• For the Love of Ornette, Jamaaladeen<br />
Tacuma, Jazzwerkstatt JW 090<br />
BLUES UND<br />
BLUESVERWANDTES<br />
• Passport to the Blues, Duke Robillard,<br />
Dixie Frog, DFgCD 8694<br />
(Fenn Music)<br />
KINDER UND JUGEND<br />
• nuzum Hundewinter, gelesen von<br />
Sascha Icks, Silberfisch 978-3-86742-<br />
054-9<br />
• Mikael engström, Ihr kriegt mich<br />
nicht!, Jona Mues, Sascha Icks u. v. a,<br />
Der audio Verlag 978-3-86231-004-3<br />
GRENZGÄNGE<br />
• Ballads & Barricades, Das Kapital<br />
Plays Hanns eisler, Wizmar WIZ<br />
9025<br />
DVD-VIDEO PRODUKTIONEN<br />
• Ludwig van Beethoven, The Symphonies<br />
& The Beethoven Project<br />
Music Documentary, Die Deutsche<br />
Kammerphilharmonie Bremen,<br />
Paavo Järvi, 4 DVDs Sony Classical<br />
88697787579<br />
• a Surprise in Texas, directed by<br />
Peter Rosen, euroarts 2058168<br />
(naxos)<br />
• Dauner forever! – Wolfgang<br />
Dauner, Jazzmusiker und Komponist,<br />
Wolfgang Dauner, Flo Dauner<br />
u. a., Jean Christophe Blavier,<br />
Moving angel Film Production<br />
0013964080506<br />
• ny export: Opus Jazz, Jerome<br />
Robbins/Robert Prince, Belair<br />
BaC 060 (harmonia mundi)<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 13
Jazz CDs<br />
state of Monc<br />
PHanTOM SPeaKeR<br />
our Distribution/soulfood<br />
sToMo 045<br />
(68 Min. & DvD, aufgen.<br />
12/2008)<br />
nach dem ganzen Rechtsruck-gedöns<br />
ist es jetzt auch endlich mal wieder Zeit<br />
für gute nachrichten aus den niederlanden.<br />
Dort haben sich verschiedene Bands<br />
14 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
– darunter die an dieser Stelle schon einmal<br />
hochgelobte Truppe Monsieur Dubois<br />
– zum so genannten »Dutch nu Jazz<br />
Movement« zusammengeschlossen. Was<br />
eigentlich etwas verwirrend ist, weil der<br />
Begriff »nu Jazz«, nun ja, nicht mehr<br />
wirklich den besten Klang hat.<br />
aber was soll’s. Wenn man so leidenschaftlich<br />
und intelligent zwischen<br />
dem Jazz der frühen 70er und der DJ-<br />
Kultur der späten 90er vermittelt, wie<br />
es das Septett State of Monc tut, ist es<br />
letztendlich egal, wie man diese Mischung<br />
nennt. Das von Trompeter artur<br />
Flink und dem Laptop-Spezialisten<br />
Hielke Praagman angeführte Kollektiv,<br />
dem zusätzlich zwei Saxophonisten, ein<br />
Keyboarder, ein e-Bassist und ein Drummer<br />
angehören, liefert eine höchst unter-<br />
Meilensteine des Jazz #67<br />
Dave Brubeck Quartet<br />
gOne WITH THe WInD & JaZZ IMPReSSIOnS OF euRaSIa<br />
Poll Winners Records/harmonia mundi PWR 27216<br />
(79 Min., aufgen. 8/1958 & 4/1959)<br />
haltsame Zusammenfassung des handgemachten<br />
Club-Jazz der vergangenen<br />
Jahre. Man gewahrt anleihen an TripHop<br />
und Dub, hört die nordische Melancholie<br />
eines nils Petter Molvaer (»Camelz«)<br />
und das Crossover-Drängen eines<br />
erik Truffaz’ (»Running«) – sowie die ekstase<br />
des Raves.<br />
In der zweiten Hälfte der aufnahme<br />
zeigt State of Monc nämlich, dass man<br />
mehr kann, als durchaus reizvolle, dunkel<br />
vibrierende Soundgewebe zu entwerfen.<br />
»The Hitman« lässt Hardbop-gebläse<br />
und Intellektuellen-Techno aufeinanderprallen,<br />
»Soyuz One« nimmt sich aus wie<br />
ein Fatboy-Slim-Remix von »We Want<br />
Miles«, »Bean’s Shadows« schließlich<br />
klingt wie Weather Report fürs 21. Jahrhundert.<br />
und die beiliegende DVD be-<br />
Die kommerzielle Breitenwirkung seines Meilensteins »Time out« hat auch ihre Kehrseite. Das mit<br />
Hits gespickte album hat etliche weitere alben Dave Brubecks jener Zeit aus dem Bewusstsein<br />
vieler Musikfreunde verdrängt. »gone with the Wind«, kaum drei Monate zuvor, ebenfalls mit<br />
Paul Desmond (as), gene Wright (b) und Joe Morello (d), eingespielt und seinerzeit vom Down<br />
Beat mit den begehrten fünf Sternen ausgezeichnet, ist ein Juwel. Das Konzeptalbum versammelt<br />
Stücke, die man mit dem uS-amerikanischen Süden assoziiert und nicht zum gewöhnlichen Re-<br />
pertoire gehörten. Sie wurden vom Quartett erstmals im Studio gespielt – ein unprätentiöses Pro-<br />
gramm aus Standards und Traditionals, das die Musiker in einer Sternstunde locker, leicht, unbe-<br />
schwert und mit viel einfallsreichtum aus dem Ärmel schüttelten. Paul Desmond gelingt in »georgia« ein ätherisches Solo von<br />
fast jenseitiger Schönheit; nach den ersten 16 Takten seines Chorus macht er eine bedächtige Pause und setzt nach einer etwa<br />
siebensekündigen(!) Pause mit einem ganz schlichten Motiv so behutsam und zärtlich ein, dass man feuchte augen bekommt.<br />
(Suchen Sie mal in heutigen Jazz-Veröffentlichungen nach Improvisatoren, die so lange ›sprechende Pausen‹ setzen können!).<br />
In Desmonds erstem Solo in »The Lonesome Road« folgt jeder Ton dem anderen in so frappierender Schlüssigkeit und das in<br />
einer solch anrührenden Innigkeit des ausdrucks, dass allein dieser geniale augenblick den Kauf des albums lohnt.<br />
ambitionierter als »gone with the Wind« ist das als Bonus-album beigegebene »Jazz Impressions of eurasia«. es entstand<br />
im Jahr 1958, in dem eine Tournee das Quartett durch 14 Länder führte. Die unterschiedlichen Tourneestationen animierten<br />
die Brubecksche Feder zu einer abwechslungsreichen Kollektion kompositorischer Kleinodien, die von der Verbeugung vor<br />
Bach in »Brandenburg gate« zum Wüstentrip im Ohrwurm »nomad« reicht. Dave Brubeck hat hier in seinen ansprechenden<br />
(wenn auch nicht von echter Folklore inspirierten) Kompositionen vielleicht die stärkeren solistischen Momente. »nomad« ist<br />
ein hochmelodischer Ohrwurm. Da kann er sich erlauben, ein ›melodiefreies‹ Solo einzig aus einer Folge rhythmisch gegen<br />
den Strich gebürsteter dissonanter akkorde zu bauen. Solche augenblicke haben Kollegen mit allzu konventioneller Messlatte<br />
dazu verführt, Brubeck zu unterstellen, er swinge nicht. gerade der ehrgeiz, der hinter diesem album steckt, scheint<br />
mir allerdings daran schuld, dass bestimmte Höhen, die nur durch eine entspannte Drauflos-Haltung wie bei »gone with the<br />
Wind« entstehen, gelegentlich verfehlt werden. So hat Desmonds geniale ›Stehgreifkomposition‹ in »The Lonesome Road«<br />
mehr vom geiste Bachs als »Brandenburg gate«, wo es ›gezwungenermaßen‹ etwas neobarock zugehen muss. Stellenweise<br />
klingt es denn auch wie ein ableger von »all the Things you are«, wobei Desmond schon mal eine orientalisierende Wendung<br />
einfällt, weil es gerade in der Luft liegt. gerade das exotische Flair mehrerer Stücke fordert die vier Herren heraus: Während<br />
Paul Desmond in »The golden Horn« klingt wie die Cool-Jazz-ausgabe eines Schlangenbeschwörers, wird im meditativen<br />
»Calcutta Blues« modal improvisiert. Wie so vieles, was Brubeck als einer der ersten ausprobierte, war das damals noch<br />
keineswegs Musikeralltag. Marcus A. Woelfle<br />
sie finden einen Ausschnitt auf der beiliegenden<br />
RoNDo CD #43 Titel 14<br />
weist, dass das wirklich alles live aufge-<br />
nommen wurde. Respekt. Josef Engels<br />
Bob Degen<br />
JaKe ReMeMBeReD<br />
Enja/Edel 1095672 EJM<br />
(55 Min., aufgen. 1/2010)<br />
Selten ist ein derart begnadeter Pianist<br />
vom breiten Publikum so nachhaltig ver-<br />
nachlässigt worden wie der bald 67-jäh-<br />
rige amerikaner Bob Degen. Dabei ist<br />
dieser ›musicians‹ musician‹ ein Pionier<br />
der neuen Innerlichkeit. Seine abgründige<br />
Lakonik formulierte er bereits, als Marc<br />
Copland noch Saxophon spielte und Brad<br />
Mehldau noch mit seinen etüden-Haus-<br />
aufgaben beschäftigt war.<br />
Bob Degen gilt als Meister feinsinniger<br />
Interplays; vier der dreizehn Titel, die bis<br />
auf eine Kollektivkomposition alle aus der<br />
Feder Degens stammen, sind denn auch<br />
reine Duette. Die restlichen Titel erklingen<br />
im klassischen Klaviertrio, bei vieren<br />
ist es zum Quartett erweitert. Trotz<br />
der unterschiedlichen Besetzungen und<br />
der variierenden Stilistik vom Blues bis<br />
zur freien Improvisation entsteht nie der<br />
eindruck eines demohaften Musterkatalogs,<br />
vielmehr gehorcht alles dem ausdruck<br />
eines übergreifenden Formwillens<br />
– und das paradoxerweise bei einem interaktiven<br />
ansatz größter Offenheit. Degens<br />
besonderes Harmonieverständnis erweist<br />
sich da als integrative Kraft; mag in seinen<br />
akkorden auch immer wieder Bill evans<br />
aufscheinen, seine Fortschreitungen sind<br />
nicht eindimensional zwingend, sondern<br />
haben etwas magisch Schwebendes, erscheinen<br />
in der Richtung offen, suggerieren<br />
in Verbindung mit tiefgründig<br />
lakonischer Melodik eine warmherzig<br />
weise unaufgeregtheit. Schieferdecker<br />
und Perfido erweisen sich als kongeniale<br />
Partner, und der Trompeter Valentin<br />
garvie – sonst im ensemble Modern<br />
der neuen Musik verpflichtet – ist eine<br />
wahre entdeckung; mit der Taschentrompete<br />
formuliert er ein quasi sprechendes,<br />
lineares Pendant zu Degens mehrdimensionalem<br />
ansatz. Dieses album ist ein<br />
Meisterwerk. Thomas Fitterling
Thibault Falk Quartet<br />
SuR Le FIL<br />
Unit Records/Alive 1479273<br />
(74 Min., aufgen. 3/2010)<br />
Treffen sich ein Franzose, ein ameri-<br />
kaner, ein Däne und ein Pole in Berlin.<br />
Klingt wie der anfang eines Witzes, ist<br />
aber eine sehr seriöse angelegenheit – ob-<br />
wohl man natürlich trotzdem etwas zu la-<br />
chen hat bei dem multinationalen Quar-<br />
tett um Pianist Thibault Falk.<br />
es passt, dass die Band von sich sagt,<br />
dass ihre gemeinsame Verständigungs-<br />
grundlage Deutsch mit verschiedenen<br />
akzenten sei. Denn auch ihre Musik, die<br />
man oberflächlich betrachtet freundlich-<br />
gewitzten zeitgenössischen Jazz nennen<br />
kann, zeichnet sich durch einen ganz eigenen<br />
Zungenschlag aus. Ohnehin muss<br />
man es ja mittlerweile fast schon mu-<br />
Bücher<br />
tig finden, wenn ein Pianist ausnahmsweise<br />
mal nicht im modischen Trioformat<br />
agiert, sondern freiwillig ein anderes<br />
Format wählt.<br />
Lustigerweise klingt Thibault Falks<br />
Quartett mit Josh yellon an Tenor- und<br />
Sopransax, andreas Lang am Bass und<br />
Marcin Lonak am Schlagzeug kompakter,<br />
leichter und kammermusikalischer als so<br />
manches Power-Piano-Trio. Mit einer gewissen<br />
eleganz und noblesse durchwandelt<br />
die gruppe verschiedene stilistische<br />
Terrains – mal hört man lateinamerikanische<br />
anklänge (»Moi aussi«), mal trifft<br />
französischer Revolutionsmarsch auf<br />
new Orleanser Karneval (»Mon petit napoléon«),<br />
mal wird man mit einer Bebopetüde<br />
konfrontiert (»Cri de notes«).<br />
gemeinsam ist den Stücken die Liebe<br />
zum subtilen rhythmischen Vexierspiel,<br />
was besonders deutlich in der nummer<br />
»Crooked River« wird. und bei »ufo an<br />
der Spree« schließlich verbeugt sich das<br />
Quartett nicht nur im Titel vor dem typisch<br />
humoristischen Berliner Jazz-<br />
Sound der gegenwart. aber, wie gesagt<br />
– mit einem eigenen akzent.<br />
Josef Engels<br />
Neuerscheinungen<br />
Hans Heinz stuckenschmidt<br />
DeR DeuTSCHe IM KOnZeRTSaaL<br />
Jeder großkritiker hat so seine kleine eigenart.<br />
So weigerte sich H. H. Stuckenschmidt bis zu<br />
seinem Tod 1988 stets, unter seinem vollen namen<br />
Hans Heinz Stuckenschmidt zu publizieren.<br />
Doch dies blieb die einzige Marotte. In seinen<br />
zahllosen artikeln u.<br />
a. für die FaZ setzte<br />
er auf eine sprachliche<br />
Klarheit und<br />
Verständlichkeit, um<br />
dem Leser ein musikalisches<br />
Phänomen<br />
so nahe wie möglich<br />
zu bringen. Fachchinesisch<br />
und gedankenschwereTiefensinnigkeit<br />
– das war<br />
ihm zuwider. Dennoch gehörten zu seinen engen<br />
gesprächspartnern nicht nur schon früh<br />
Schönberg und Busoni, sondern auch adorno.<br />
Stuckenschmidts Korrespondenz mit ihnen fin-<br />
Renaud García-Fons<br />
MÉDITeRRanÉeS<br />
Enja/Edel 1095632 EJM<br />
(65 Min., aufgen. 2010?)<br />
Was den amerikanern der Blues ist, sind<br />
die verschiedenen regionalen Volksmu-<br />
siken für eine gruppe europäischer Mu-<br />
sikerinnen und Musiker: ausgangspunkt<br />
für Kompositionen und Improvisati-<br />
onen. In den 1980ern erfanden sie eine<br />
›imaginäre Folklore‹, die nicht real vorhandene<br />
Volkslieder als ausgangsbasis<br />
hat, sondern mit regional typischen Instrumenten<br />
eine in Haltung und grundgedanken<br />
dem Jazz verwandte Musik aus<br />
neu erfundenen Themen schafft. genau<br />
so arbeitet auch der Kontrabassist Renaud<br />
garcía-Fons, wobei er, basierend auf<br />
der iberisch-andalusischen Tradition, diese<br />
um einflüsse des Jazz und gedan-<br />
det sich nun ebenfalls in der höchst lesenswerten<br />
Materialsammlung, die ein ereignis- wie ertragreiches<br />
Journalistenleben dokumentiert (allein<br />
die Liste mit all seinen Veröffentlichungen zwischen<br />
1919 und 1988 umfasst im anhang 70(!)<br />
Seiten). anhand von Briefen, Vorträgen und Verteidigungsreden<br />
von Komponisten, die ins Fadenkreuz<br />
der nazis geraten waren, lernt man so<br />
einen einzigartigen wie sympathischen Jahrhundertohrenzeugen<br />
kennen. gf<br />
Wolke, 288 s. 27,00 €<br />
Anthony Baines<br />
LeXIKOn DeR<br />
MuSIKInSTRuMenTe<br />
Wer weiß schon, was ein Trummscheit ist, oder<br />
eine Cister, oder die Ondes Martenot? Sie möchten<br />
sich über japanische gagaku-Musik, über das<br />
indonesische gamelan-Orchester oder einfach<br />
nur über die geschichte, die hinter ihrem häuslichen<br />
Klavier steht, informieren? nichts leichter<br />
als das: Das »Lexikon der Musikinstrumente«<br />
ken aus der neuen Musik ergänzt. Sein<br />
album »Méditerranées« kreist um elemente<br />
aus dem gesamten Mittelmeerraum;<br />
sie bringt unter anderem in »aljamiado«<br />
marokkanische Rhythmen und<br />
Flamenco zusammen, und »Fortaleza«<br />
ist ein massiv stampfender Flamenco für<br />
Kontrabass-Playback und Percussion. In<br />
»Las Ramblas« begegnen sich spanische<br />
und türkische elemente, und »Romsarom«<br />
versetzt in italienische Trattorias.<br />
Mit dem von der Bouzouki geprägten<br />
»Iraklio« geht es nach griechenland, und<br />
das Kontrabass-Solo »Bosphore« lässt<br />
orientalisches Flair aufkommen, wobei<br />
garcía-Fons hier den Klang des Oud imitiert.<br />
auf dieser Klangreise setzt er neben<br />
Kontrabass, gitarre, Laute, akkordeon,<br />
Flöten und Klarinette auch Zither, Bouzouki<br />
und arabische Percussionsinstrumente<br />
ein. es ist ein Vergnügen, sich mit<br />
diesen – fast so impulsstark wie ein Popalbum<br />
abgemischten – aufnahmen auf<br />
eine Reise in die heiße, flirrende Sommerluft<br />
von Spanien über die Türkei,<br />
griechenland, den arabischen Ländern<br />
und nordafrika zu begeben.<br />
Werner stiefele<br />
bietet ebenso instruktive wie allgemein verständliche<br />
und unterhaltsame artikel zu diesen Themen<br />
und vielen mehr. In alphabetischer anordnung<br />
erfährt man alles<br />
Wissenswerte über die<br />
gesamte Breite und Vielfalt<br />
der europäischen wie<br />
außereuropäischen Musikinstrumente<br />
und ihre<br />
geschichte. Obendrein<br />
ist das Werk reich bebildert<br />
und bietet zahlreiche<br />
notenbeispiele.<br />
1992 als »Oxford Companion<br />
to Musical Instruments« bei der renommierten<br />
Oxford university Press veröffentlicht,<br />
erschien das »Lexikon der Musikinstrumente«<br />
1995 erstmalig auf Deutsch in der bearbeiteten<br />
Übersetzung von Dr. Martin elste. autor und<br />
Übersetzer/Bearbeiter sind schon von ihren<br />
beruflichen Voraussetzungen ein ideales Paar:<br />
Baines war jahrelang Leiter der Bates Collection,<br />
der Instrumentensammlung der universität Ox-<br />
1/2011 <strong>Rondo</strong>plus 15
ford, elste ist neben vielfältigen musikschriftstellerischen<br />
aktivitäten seit 1982 wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter des Berliner Musikinstrumenten-<br />
Museums. Für die gegenwärtige Sonderausgabe<br />
ist das Werk einer gründlichen Revision unterzogen<br />
worden – es präsentiert also den neuesten<br />
Stand des Wissens über Musikinstrumente<br />
von den anfängen der Menschheit bis zum heutigen<br />
Tag. dh<br />
Metzler, 412 s., 19,95 €<br />
Tim Blanning<br />
TRIuMPH DeR MuSIK. VOn BaCH<br />
BIS BOnO<br />
Von Bach, Händel, Haydn, Mozart und Beethoven<br />
zieht der renommierte britische Historiker<br />
Tim Blanning eine Entwicklungslinie<br />
bis hin zu Brian May mit der E-Gitarre auf<br />
dem Dach des Buckingham Palastes. Dieses<br />
multimedial vermarktete Konzert zu Ehren<br />
der Queen und ihres<br />
Goldenen Thronjubiläums<br />
2002 ist für<br />
Blanning »der Höhepunkt<br />
von dreihundert<br />
Jahren Entwicklung«<br />
der Musik, ob<br />
man diese Musik nun<br />
mag oder nicht. Musik,<br />
so stellt er nüchtern<br />
fest, ist heute<br />
demokratische Massenmusik.<br />
Und er<br />
macht deutlich, wie die Musik sich eine zentrale<br />
Stellung im gesellschaftlichen Gefüge<br />
menschlichen Lebens und Erlebens eroberte:<br />
Die Entwicklung der Öffentlichkeit und die<br />
Transformation der Räume, die Säkularisierung<br />
der Musik, die Romantikrevolution, die<br />
Technikentwicklung und der Aufbruch der Jugendkultur<br />
im zwanzigsten Jahrhundert, all<br />
das hat die Musik in ihre heutige Position gerückt.<br />
Faszinierend, wie es Blanning in seinem<br />
Parforceritt durch alle Gattungen und Genres<br />
von Musik gelingt, darzustellen, dass die Musik<br />
»dazu beigetragen hat, diese Welt zu verwandeln.«<br />
dds<br />
Bertelsmann, Edition Elke Heidenreich, 445 s.,<br />
24,95 €<br />
Carsten Jung<br />
HISTORISCHe THeaTeR<br />
Schatzkästlein sind sie alle, das Münchner Cuvilliés-Theater,<br />
das Markgräfliche Opernhaus<br />
in Bayreuth und das Potsdamer Schlosstheater.<br />
Aber wer kennt das Passauer Fürstbischöfliche<br />
Opernhaus, das Hanau-Wilhelmsbader<br />
Comoedienhaus oder das Theater in Putbus?<br />
Carsten Jung, Generalsekretär der Gesellschaft<br />
für Historische Theater, porträtiert die vielfältige<br />
Landschaft der historischen Theater des<br />
16 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
Barock, des Biedermeier, des Klassizismus wie<br />
des Art Déco auf nur 160 Seiten beispielhaft<br />
als Kunst- und Gesellschaftsgeschichte Europas.<br />
30 von 250 Theatern in Deutschland, Österreich<br />
und der Schweiz werden ausführlich<br />
beleuchtet, die gesamte europäische Theatervielfalt<br />
würde den<br />
Rahmen des kleinen<br />
Kunstführers sprengen.<br />
Man erfährt viel<br />
Wissenswertes (beispielsweise,<br />
dass<br />
nur zwei Theater in<br />
Deutschland noch<br />
eine originale Bühnentechnik<br />
aus dem<br />
18. Jahrhundert besitzen,<br />
die Häuser in<br />
Gotha und in Ludwigsburg nämlich) und blättert<br />
mit Vergnügen in diesem schönen Buch,<br />
denn hervorragende Photographien zeigen die<br />
Erbauer und ihre Theater in prächtigen Innen-<br />
wie Außenaufnahmen. Kluge Texte informieren<br />
über Entstehungsgeschichte, Zweck und<br />
Zustand der Häuser sowie Adressen und Öffnungszeiten.<br />
dds<br />
Deutscher Kunstverlag. 160 s., 12,80 €<br />
Christian Broecking<br />
SOnny ROLLInS, IMPROVISaTIOn<br />
unD PROTeST – InTeRVIeWS<br />
Nicht erst in seinem Interview-Buch zu dem<br />
80-jährigen Ornette Coleman hat sich Christian<br />
Broecking als einfühlsamer Interviewer<br />
ausgewiesen, der sich besonders für sozioökonomische<br />
Bedingtheiten in der afro-amerikanischen<br />
Jazz-Community interessiert.<br />
Darin hatte er das Verfahren der quasi konzentrischen<br />
Interviews mit dem eigentlichen<br />
Musiker im Fokus und seinen wichtigen Wegbegleitern<br />
verfeinert. Sein neuer Band wendet<br />
dieses Verfahren auf Sonny Rollins an, den<br />
Tenorsaxophonisten,<br />
der von der Kritik immer<br />
wieder als der<br />
größte lebende Vertreter<br />
seines Instruments<br />
apostrophiert<br />
wird. Bei der Lektüre<br />
der Rollins-Interviews<br />
wird deutlich,<br />
wie sehr sich die Sozialisation<br />
von Rollins<br />
von der Colemans unterscheidet,<br />
und doch<br />
wurden beide von der noch lange anhaltenden<br />
Rassentrennung bzw. Segregation geprägt. Sie<br />
ist zentrales Thema des Bandes. Er beleuchtet<br />
Rollins Vorreiterrolle bei der Politisierung des<br />
Jazz, wie sie dann radikaler von Charlie Mingus<br />
und Max Roach betrieben wurde. Roach<br />
kommt ausführlich zu Wort und macht die<br />
Aufhebung(!) der Segregation für den Niedergang<br />
der schwarzen Community und die<br />
Entfremdung der Schwarzen von ihrer Kultur<br />
verantwortlich. Weitere Interviewpartner<br />
sind die Musiker Jim Hall, Abbey Lincoln,<br />
Roy Haynes, David S. Ware, Roy Hargrove<br />
und schließlich der einflussreiche, weiße Kritiker<br />
Gary Giddins, der das aktuelle Jazzbusiness<br />
kritisch analysiert. Beeindruckend ist, wie<br />
sorgsam, ehrlich und auch ausführlich Rollins<br />
in den fünf Gesprächen auf die gestellten Fragen<br />
eingeht. Primär Musikalisches kommt in<br />
dem Band nur am Rande vor; manches – wie<br />
die Drogenproblematik im Jazz – wurde sicher<br />
bewusst ausgeklammert. Wie immer<br />
bei Broecking sind die Äußerungen in ein geschliffenes,<br />
jargonfremdes Deutsch übertragen<br />
worden. tf<br />
Broecking, 140 s., 19,90 €<br />
Wolfgang schorlau<br />
DaS BRennenDe KLaVIeR<br />
Der Musiker Wolfgang Dauner<br />
Als Krimiautor machte sich Wolfgang Schorlau<br />
einen Namen. Dass er mit Sprache umgehen<br />
kann, merkt man der ersten Hälfte der Biographie<br />
des Musikers Wolfgang Dauner an:<br />
Sie liest sich weitaus flüssiger als die meisten<br />
Werke über Musiker. Mit genau dem richtigen<br />
Maß an Details schildert Schorlau die Jugend<br />
des Stuttgarters, der im Dritten Reich aufwuchs<br />
und im Wirtschaftswunder-Deutschland<br />
nach einer Lehre als Maschinenschlosser<br />
Profi-Musiker wurde – allesamt Informationen,<br />
die auf intensiven Gesprächen mit Dauner<br />
fußen. Hippie-Jahre, musikalische Experimente,<br />
Happenings:<br />
Auch hier herrscht<br />
der angenehme, informative<br />
Plauderton vor.<br />
Eine erste Schwäche ist<br />
das seitenlange Wortprotokoll<br />
eines Gesprächs<br />
am Tisch des<br />
deutschen Botschafters<br />
in Singapur – es wäre<br />
ebenso wie das später<br />
folgende Libretto zu<br />
Dauners wichtigem<br />
Werk »Der Urschrei des Musikers« von 1976,<br />
Besetzungslisten, das Libretto der Oper »Die<br />
verwachsene Froschhaut« und anderes besser<br />
in einem Anhang zum Buch aufgehoben gewesen.<br />
Andererseits wäre es interessant gewesen,<br />
wie Dauner den Spagat zwischen Jazz und<br />
kommerziellen Filmmusiken angeht und seine<br />
schwindende Präsenz im Jazzbereich sieht. So<br />
wurde die Chance vergeben, einen der wichtigsten<br />
deutschen Jazzmusiker, der am 30. Dezember<br />
2010 seinen 75. Geburtstag feierte, umfassend<br />
zu würdigen. ws<br />
Edition Nautilus, 224 s., 19,90 €