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Klassik CDs<br />
›absolute‹ Musik schreiben wollte. Dass er<br />
dabei Schuberts Innigkeit (im »Molto più<br />
lento« des »Scherzo op. 20«) genauso zu<br />
Rate zog wie Schumanns Innehalten (im<br />
»nocturne op. 48 nr. 1«) oder Beethoven<br />
als urheber metaphyischer Trillerketten<br />
– das macht Tiberghien tiefenentspannt<br />
und zugleich tief versunken weniger hörbar<br />
als vielmehr erlebbar. Diese Chopin-<br />
Werke meinte man zu kennen. Was für<br />
ein Irrtum! Guido Fischer<br />
Paganini<br />
24 CaPRICen<br />
Fischer<br />
Decca/Universal 478 2274<br />
(80 Min., aufgen. 9/2008 &<br />
4/2009)<br />
Im Booklettext zur ihrer aufnahme von<br />
Paganinis »24 Capricen« erinnert sich Ju-<br />
lia Fischer an die erste Begegnung mit<br />
diesem spieltechnischen Teufelszeug.<br />
acht Jahre war sie gerade mal alt, als sie<br />
Thomas Zehetmair damit hörte – und<br />
staunte. Zwanzig Jahre später nun ist Fischers<br />
Staunen dem Mut gewichen, sich<br />
endlich selber dieses Hochamts der geigerischen<br />
Äquilibristik anzunehmen. aus<br />
der Zehetmair-Verehrerin ist somit eine<br />
Kollegin geworden. Wobei sie im Vergleich<br />
zu der 2009 veröffentlichten gesamteinspielung<br />
des österreichers dann<br />
doch einen anderen Weg eingeschlagen<br />
hat. Hatte Zehetmair die 24 Stücke<br />
zu einem existenziell unter die Haut gehenden<br />
Zyklus verschweißt, kommt Fischers<br />
Konzept und Spiel eher sachlicher<br />
daher. Was diesem arg geschundenen Katalog<br />
an fingerbrechenden Höchstschwierigkeiten<br />
durchaus gut tut.<br />
Ihre stupende Technik, ihre Souveränität<br />
im Fulminanten wie im Luziden<br />
ist selbstverständlich kaum zu toppen.<br />
und auch Paganinis unerreichte Kunst,<br />
auf knappstem Raum die transzendentale<br />
Virtuosität aus dem Fluss der Musik<br />
zu entwickeln, macht Fischer schon aufreizend<br />
lässig begreiflich. In den gefährlichen<br />
Drahtseilhöhen scheint sie sich so<br />
einfach tiefenentspannt wohl zu fühlen.<br />
und auf dem irdischen Boden hat sie sich<br />
erst recht vom dämonischen Hexenmei-<br />
6 <strong>Rondo</strong>plus 1/2011<br />
ster Paganini emanzipiert, als den ihn ja<br />
schon ein Heine erlebte. Ihr objektivierter<br />
Zugriff im Sinne eines Versuchs, die Ca-<br />
pricen aus dem romantischen Reich der<br />
Magie zu führen und fast als ›absolute Mu-<br />
sik‹ zu rehabilitieren, ist daher ein wohl-<br />
tuender gegenentwurf zu all den Blend-<br />
werk-artisten. aber bei aller Modernität<br />
dieser gesamteinspielung lechzt es einen<br />
zwischendurch trotzdem nach dem, was<br />
zum musikalische Leben eben auch ge-<br />
hört: der nervenkitzel. Guido Fischer<br />
Brio<br />
SOL y Luna<br />
Dorian/Naxos Dsl-92118<br />
(52 Min., aufgen. 3/2010)<br />
eigentlich wollte ich nur kurz in diese<br />
CD reinhören, um zu wissen, wo sie sti-<br />
listisch einzuordnen ist. ein Countertenor<br />
wird da auf der Rückseite genannt, Block-<br />
flöte, gitarre und Viola da gamba sind be-<br />
teiligt, aber auch Rebec und Percussion,<br />
mehr verrät das Äußere nicht. So legte<br />
ich »Sol y luna« ein – und war schon nach<br />
zehn Sekunden gefangen. gefangen von<br />
einer Stimme, der man einfach verfallen<br />
muss: warm und sinnlich, sehnend und<br />
überbordend lebensfroh zugleich, von berührender<br />
Reinheit und Schönheit, ungeheuer<br />
farben- und stimmungsreich.<br />
Kurzum, eine durch und durch charismatische<br />
Stimme, wie man sie in dieser Qualität<br />
nur ganz selten zu hören bekommt.<br />
José Lemos heißt ihr Besitzer, und er ist<br />
eines der Mitglieder des ensembles Brio,<br />
das sich einer zeitgemäßen Vermittlung<br />
sephardischer Musik verschrieben hat.<br />
Sehr raffinierte, abwechslungsreiche und<br />
unmittelbar ansprechende arrangements<br />
(man kann durchaus von Rattenfänger-<br />
Qualitäten sprechen) erwarten den Hörer.<br />
und davon wünsche ich diesem album<br />
sehr sehr viele. es handelt sich hier<br />
keineswegs um eine CD mit ›klassischer‹<br />
Musik, darauf sei explizit hingewiesen.<br />
aber ich bin sicher, dass jeder Liebhaber<br />
schöner und ausdrucksstarker Stimmen<br />
von José Lemos hingerissen sein wird, unabhängig<br />
von der eigenen musikalischen<br />
ausrichtung. Michael Blümke<br />
Wolf<br />
ITaLIenISCHeS LIeDeR-<br />
BuCH<br />
Prégardien, Kleiter, Dumno<br />
Challenge Classics/sunnyMoon<br />
CC 72378<br />
(75 Min., aufgen. 7/2009)<br />
Hugo Wolfs »Italienisches Liederbuch«<br />
nach Texten von Paul Heyse – eine He-<br />
rausforderung für jeden Sänger, stellen<br />
doch diese komplexen, kompakten Lied-<br />
miniaturen als Kaleidoskop unterschied-<br />
lichster Stimmungsnuancen höchste an-<br />
forderungen an gestaltungskraft und<br />
stimmtechnische Souveränität. Chri-<br />
stoph Prégardien ist ein Routinier auf die-<br />
sem gebiet, er hat in seiner langen Kar-<br />
riere weite Teile des Kunstliedrepertoires<br />
sowohl selbst interpretierend wie auch<br />
unterrichtend gründlichst durchdrun-<br />
gen. und doch wird der Liedgesang bei<br />
ihm niemals zur Routine im negativen<br />
Sinn: Irgendwie gelingt es ihm stets aufs<br />
neue, sich im besten Sinne ›naiv‹ den Lie-<br />
dern zu nähern, sie so darzubieten, als<br />
seien sie ihm zum ersten Mal begegnet<br />
und riefen in ihm die unverstellte Freude<br />
des neuentdeckens wach. Solchermaßen<br />
führt er den Hörer durch die melodischen<br />
und harmonischen Labyrinthe Hugo<br />
Wolfs, nimmt ihn quasi mit zu einer<br />
entdeckungsreise durch dessen verwinkelte<br />
Partituren. Dass dabei sein deklamatorischer<br />
eifer gelegentlich ein wenig<br />
übers Ziel hinausschießt, wenn er in Fischer-Dieskau-Manier<br />
manche nebensilben<br />
mit akzenten überfrachtet oder<br />
über kurze Strecken ein wenig ins überdeutliche<br />
›Dozieren‹ gleitet, verzeiht man<br />
ihm; denn immer wieder schließen sich<br />
lyrische Passagen an, in denen er seiner<br />
Stimme wieder freieren Lauf lässt.<br />
Prégardiens begabte nichte Julia Kleiter<br />
ist ihm eine gute Partnerin in diesem<br />
Zyklus: auch ihr stehen genügend Farben<br />
zu gebote, um das weite Spektrum<br />
von der groteske (»Wie lange schon war<br />
immer mein Verlangen«) bis zum zartlyrischen<br />
Zauber (»auch kleine Dinge können<br />
uns entzücken«) überzeugend auszugestalten,<br />
ohne dabei jemals im Ringen<br />
um ausdruck übertreiben zu müssen.<br />
Mit anderen Worten: Die junge Sängerin<br />
agiert aus einer in sich stimmigen, ge-<br />
schlossenen interpretatorischen Haltung<br />
heraus, sie erweist sich als reife, wand-<br />
lungsfähige Künstlerpersönlichkeit. So-<br />
mit kann dieses »Italienische Liederbuch«<br />
neben den älteren und ›klassischen‹ ein-<br />
spielungen dieses Zyklus’ ohne Weiteres<br />
bestehen. Michael Wersin<br />
Pergolesi<br />
STaBaT MaTeR,<br />
SaLVe RegIna C-MOLL<br />
Prohaska, Fink, Akademie für<br />
Alte Musik Berlin, Forck<br />
harmonia mundi HMC 902072<br />
(60 Min., aufgen. 12/2009)<br />
Wer zum Pergolesi-Jahr ausgerech-<br />
net mit einer aufnahme des »Stabat<br />
Mater« aufmerksamkeit erregen will,<br />
muss sich seine Sache schon sehr genau<br />
überlegen. und das haben die Interpreten<br />
dieser einspielung denn auch getan:<br />
Zum einen ist das Werk nicht bloß mit<br />
dem üblichen »Salve Regina« in c-moll<br />
kombiniert, sondern auch mit einem<br />
Instrumentalstück, welches das Werk<br />
wirkungsvoll in einen größeren, nicht<br />
nur geistlichen Zusammenhang komponierter<br />
Frauenklagen stellt: es handelt<br />
sich um Locatellis Konzert »Il pianto<br />
d‹arianna«, das auf ein beliebtes Opernsujet<br />
der Zeit zurückgeht. Mit seinen instrumentalen<br />
Rezitativen, und den von<br />
der akademie für alte Musik äußerst<br />
farbenreich und präzise herausgearbeiteten<br />
Stimmungsumschwüngen wirkt<br />
das Konzert wie ein Spiegel der Oper,<br />
ohne selbst Oper zu sein – und genau<br />
dies lässt sich auch von der Interpretation<br />
des »Stabat Mater« sagen. es ist zum<br />
einen die Kunst der plastischen einzelwortausdeutung,<br />
die auch vor kontrolliertem<br />
Vibratoeinsatz (etwa für das<br />
Wort ›tremens‹) nicht zurückschreckt,<br />
mit der anna Prohaska und Bernarda<br />
Fink die Brücke vom Schöpfer der »Serva<br />
padrona« zum Kirchenkomponisten Pergolesi<br />
schlagen. Zugleich halten sie das<br />
ganze Stück eine dramatische Spannung<br />
durch, die nicht nur das Mitleiden mit<br />
der lebhaft imaginierten gottesmutter<br />
betrifft, sondern sogar aus Fugeneinsätzen<br />
ein Frage- und antwortspiel macht.