open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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OPEN POEMS<br />
OPEN WRITING<br />
<strong>09</strong>/<strong>10</strong><br />
TEXTE AUS DEN LITERATURWERKSTÄTTEN DES<br />
OPEN MIKE
OPEN POEMS<br />
OPEN WRITING<br />
<strong>09</strong>/<strong>10</strong>
Rebecca Ciesielski<br />
Max Czollek<br />
Alexander Makowka<br />
Tristan Marquardt<br />
Darian Meier<br />
Friederike Scheffler<br />
Lea Schneider<br />
Grußwort<br />
5<br />
OPEN POEMS<br />
Worte von Ulf Stolterfoht<br />
9<br />
11<br />
11<br />
12<br />
13<br />
15<br />
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38<br />
38<br />
Illegales Klangmaterial und<br />
In dieser Gegend wird Strom …<br />
Wirklichkeitsbalkone mit Abzieh-<br />
Phantome, die Phantome würfeln,<br />
dem jahr zweitausendundneun<br />
übereck.1.2.<strong>10</strong>.<br />
rezeptoren finale<br />
lenzmond<br />
das ist der elektrosmog<br />
Vokalise<br />
Dasitzen und nur bedingt<br />
Stummszene<br />
Verhängnis<br />
Stürmisches Moment<br />
das tut nicht weh.<br />
mit ge teil tes fahr rad …<br />
setz löcher in die luft<br />
die so- nach ti gall …<br />
Lebensgeflüster<br />
Parkerlebnis<br />
kleine Reise, Reise<br />
Sinn<br />
Zurück<br />
merkn<br />
vor dem morgen<br />
im museum<br />
gegen die stille : innen im zimmer<br />
Fluchtlinien<br />
Zugfahrt mit Marion P.<br />
Erinnerungskonserve<br />
Inneren Bereichen
Lea Schneider<br />
Janina de Castellano<br />
Nicolas Geibel<br />
Katharina Hartwell<br />
Eva Kissel<br />
Erika Kojima<br />
Lisa Schetter<br />
Clio Alyssa Voß<br />
Johannes Walden<br />
37<br />
37<br />
38<br />
38<br />
OPEN WRITING<br />
Worte von Markus Orths<br />
49<br />
51<br />
52<br />
55<br />
57<br />
65<br />
73<br />
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77<br />
79<br />
82<br />
90<br />
99<br />
<strong>10</strong>0<br />
<strong>10</strong>5<br />
<strong>10</strong>6<br />
<strong>10</strong>8<br />
<strong>10</strong>8<br />
Impressum<br />
112<br />
Fluchtlinien<br />
Zugfahrt mit Marion P.<br />
Erinnerungskonserve<br />
Inneren Bereichen<br />
U7<br />
C.<br />
Das Schamhafte wehrt sich wie<br />
der Teufel dagegen,geliebt<br />
zu werden<br />
Die Postkartenmalerin<br />
Schwund<br />
Die Hand an die Stirn eines<br />
Fiebernden<br />
Wenn Kastanien retten<br />
Gardinen<br />
Die Nacht um Verzeihung bitten<br />
Weihnacht<br />
Adam<br />
Spuren im Schnee<br />
Richtung<br />
Bettina Müller<br />
Der Aufstieg<br />
Die Brücke<br />
Über eine Frau<br />
Nur, um es gesagt zu haben<br />
Die Himbeere
Am Anfang sind ein Tisch, einige Seiten Papier, ein paar Stifte, eine Gruppe junger<br />
Schreibsüchtiger und ein erfahrener Autor, der sein Wissen an eine jüngere Generation<br />
weitergeben möchte – das sind die Schreibwerkstätten <strong>open</strong> <strong>poems</strong> und <strong>open</strong> <strong>writing</strong>,<br />
die seit 2006 einmal jährlich gemeinsam von der Literaturwerkstatt Berlin, dem Literaturhaus<br />
Frankfurt und der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong> veranstaltet werden. „Erzwungen werden<br />
kann nichts“, so Markus Orths, <strong>open</strong> mike-Preisträger und Leiter von <strong>open</strong> <strong>writing</strong>. „Man<br />
kann lediglich einen Rahmen der Freiheit bieten, eine Zeit. Man kann die Entstehung<br />
von Texten begleiten: bei den einen mehr, bei den anderen weniger, bei dritten vielleicht<br />
gar nicht. Es schreibt jeder auf seine Weise“.<br />
Unser Dank gilt Markus Orths, dem Leiter von <strong>open</strong> <strong>writing</strong> im Literaturhaus Frankfurt,<br />
und Ulf Stolterfoht, dem Leiter von <strong>open</strong> <strong>poems</strong> in der Literaturwerkstatt Berlin. Beide<br />
haben über einen Zeitraum von sechs Monaten junge Menschen intensiv bei ihrem<br />
Schreibprozess begleitet. Sie haben Texte gemeinsam geschrieben, sich gegenseitig<br />
vorgelesen, diskutiert, kritisiert und dabei auch die Entdeckung gemacht, dass dieser<br />
Austausch für beide Seiten beflügelnd ist.<br />
Der vorliegende Band dokumentiert die in den Werkstätten geschriebenen Texte. Wir<br />
wünschen allen jungen Autoren viel Tatkraft und Erfolg, und uns, dass diese Anthologie<br />
den einen oder anderen Leser motiviert, sich selbst einmal schreibend auszuprobieren.<br />
Viel Spaß beim Lesen wünschen<br />
THOMAS WOHLFAHRT<br />
LITERATURWERKSTATT BERLIN<br />
MARIA GAZZETTI<br />
LITERATURHAUS FRANKFURT<br />
KARIN HEYL<br />
CRESPO FOUNDATION<br />
5
OPEN POEMS<br />
MIT ULF STOLTERFOHT
Rebecca Ciesielski<br />
<strong>10</strong><br />
Max Czollek<br />
14<br />
Alexander Makowka<br />
18<br />
Tristan Marquardt<br />
24<br />
Darian Meier<br />
28<br />
Friederike Scheffler<br />
32<br />
Lea Schneider<br />
36<br />
Linus Westheuser<br />
40
„Ich weiß nicht, was ein Gedicht ist.“ Oskar Pastior<br />
Und wir, nachdem wir uns über ein halbes Jahr lang in der Literaturwerkstatt Berlin getroffen<br />
haben, wir wissen es natürlich auch nicht – Gott sei Dank! Trotzdem haben wir, alle zusammen,<br />
einiges gelernt über Gedichte – wenn auch womöglich ganz Verschiedenes.<br />
Verschiedenes deshalb, weil die Teilnehmer der Werkstatt, schon aus Altersgründen, ganz<br />
unterschiedliche Absichten mit dem Schreiben von Gedichten verbanden und es manchmal<br />
gar nicht so einfach war, diese unterschiedlichen Ansätze als gleichberechtigt gelten zu lassen<br />
– und da nehme ich mich selbst nicht aus! Wo es für die jüngeren Teilnehmer ungewohnt war,<br />
auf rein formale oder strukturelle Forderungen reagieren zu müssen, ohne sich in die Häfen<br />
der Inhaltlichkeit, des selbst Erlebten oder Empfundenen zurückziehen zu dürfen, so war es<br />
für mich (und einige andere, wie ich glaube) eine überraschende Einsicht, daß es so etwas<br />
wie ein reines, also absichtsloses, regelgeleitetes Schreiben nicht gibt, daß Gedichte immer<br />
„auf etwas hin“ geschrieben sind. Was wir also gelernt haben: daß vieles Platz hat unter dem<br />
Begriff „Gedicht“. Und daß Toleranz ganz wesentlich eine intellektuelle Leistung darstellt.<br />
Wir hatten aber auch die beste Voraussetzung, die es gibt für die Arbeit mit Gedichten: ziemlich<br />
viel Zeit, um uns gegenseitig vorzulesen und zuzuhören. Natürlich wurde auch kritisiert, wurden<br />
Vorschläge gemacht, wurden Texte bewertet und gegeneinander abgewogen, das Wesentliche<br />
scheint mir aber diese Atmosphäre einer gemeinsamen Konzentriertheit zu sein, das<br />
Gefühl, an der selben Sache zu arbeiten, und sei es mit ganz unterschiedlichen Mitteln.<br />
Vielleicht auch das Gefühl, daß das, was man da im stillen Kämmerlein produziert, einen<br />
wirklichen Wert darstellt, gerade in seiner Unverwertbarkeit. Einigen der Teilnehmer waren<br />
unsere Termine dann auch viel zu wenig - sie trafen sich darüber hinaus in anderen Runden<br />
und Zirkeln (und auf Bühnen!), drei oder vier Abende Lyrik pro Woche!<br />
An einem Mittwoch im März hatten wir uns nicht wie üblich am Spätnachmittag getroffen,<br />
sondern schon zum gemeinsamen Frühstück. Dann haben wir uns mit Gedichten beschäftigt,<br />
dann haben wir Kaffee getrunken und Kekse gegessen und wieder über Gedichte<br />
gesprochen, dann hat jeder sein Lieblingsgedicht vorgelesen und was dazu gesagt, dann<br />
sind wir weitergezogen in die benachbarte Gaststätte Malzcafé, haben ein Bier getrunken<br />
und noch ein bißchen über Gedichte gesprochen und womöglich noch ein Bier getrunken, und<br />
dann haben wir uns eine gute Nacht gewünscht. Was war das für ein schöner Tag!<br />
Den Teilnehmern vielen Dank für ihre Offenheit und ihr Engagement, der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong><br />
und der Literaturwerkstatt Berlin, ganz besonders aber Jutta Büchter, allen Dank dafür, daß<br />
sich das beschriebene Glück ereignen konnte – und hoffentlich weiterhin ereignen kann!<br />
ULF STOLTERFOHT<br />
9
REBECCA CIESIELSKI<br />
Illegales Klangmaterial und<br />
In dieser Gegend wird Strom gespart und Straßenschilder<br />
wieder weggestellt.<br />
Wirklichkeitsbalkone mit Abzieh-<br />
Phantome, die Phantome würfeln,<br />
<strong>10</strong>
Illegales Klangmaterial und<br />
Postrock Gitarrenriffs. 5 Uhr 36, der<br />
Biorhythmus im Stand-byme-Modus.<br />
Unumgängliche Staubgoldbeschallung und<br />
verschwiegene Zungenkompositionen beyond<br />
the dancefloor. Es stahl, was es war und<br />
aus manchem Lied kehrten sie<br />
einzeln<br />
-.<br />
In dieser Gegend wird Strom gespart und Straßenschilder<br />
wieder weggestellt.<br />
Hier hängen Abwege noch<br />
klar umrissen unter liegenden Achterschleifen, deren<br />
Schatten sich selbst umkreisen und niemand will wissen,<br />
wo er nicht mehr hinkommt, mit bescheidenen Ängsten (und<br />
wenigen Fragen<br />
bis zur nächstgrößeren Stadt) draußen im Fenster die graustarre<br />
Katze vor Jahren<br />
eingeschlafen wie einiges an diesem Umweg<br />
der Bundesstraße, an dem die Menschen genügsam sind, nur<br />
teilweise etwas still-<br />
gelegt hinter den Pupillen.<br />
11
Wirklichkeitsbalkone mit Abziehbildern<br />
fleischfressender Orchideenblüten. Da waren schwach<br />
erleuchtete Gitterfenster, Shadowplays,<br />
stummgeborener Teilsilhouetten, Grauzonen, die<br />
einander kannten.<br />
Unsauber verputzte Wimpernfassaden (kristallgrau, schwarzgerahmt,<br />
paarweise festgenagelt)<br />
neben leergeräumten Wortleinspielwänden. Da waren<br />
Sondermodelle zahnlosgebliebener Muttersprachen<br />
auf krähenfüßige Lippen kopiert und<br />
es hingen letzte<br />
Fragen an Halswirbeln, denn Wirbelstürme<br />
fingen erst uns,<br />
dann einander.<br />
Doch nur<br />
hier waren deine Porzellanhände mit penibel abgezählten<br />
Fingerkuppen, die<br />
lauwarme Sonnen<br />
falteten, um sie auf höheren Dächern<br />
aufzubahren.<br />
12
Phantome, die Phantome würfeln,<br />
es sind<br />
Prinz en<br />
In zest<br />
Innen-<br />
Ansichtskartenständer, ausgelöschte Mehrzweck-<br />
Flügel ,<br />
Mundwinkel-<br />
Messer.<br />
In der Waagschale detonierte Kolibrifedern unter<br />
abgestürzten spirituellen Neubauten und<br />
Empathie als Wirtschaftsmakel- Buddha<br />
traf ich im höchsten Level.<br />
Ich rannte vorüber,<br />
er winkte mir nach und<br />
wartete ab.<br />
Ferngläserene Zwecksvertiefungen grundlegender<br />
Fragwürdigkeiten zwischen<br />
tiefer gelegten Gedankenlinien<br />
engmaschiger Alltagstabellen mit<br />
Zwangstaufen, Unterwerfungsritualen,<br />
Einzelstimmrecht. Ja,<br />
auch Eva ist<br />
kahl und zahnlos geworden.<br />
13
MAX CZOLLEK<br />
dem jahr zweitausendundneun<br />
übereck.1.2.<strong>10</strong>.<br />
rezeptoren finale<br />
lenzmond<br />
das ist der elektrosmog<br />
14
dem jahr zweitausendundneun widme<br />
ich einen endreim das ist meine reise<br />
und ich reise allein dieses mal die<br />
zünder finden brandsätze zünden<br />
so ist es gut und fragt nicht so brecht<br />
was ist der überfall auf eine bank<br />
wenn alles patjomkin und dörfer<br />
ich suche wörter die sind auch bloß<br />
fassade<br />
da sprüh ich gefühl drauf<br />
das ist jetzt erlaubt das ist kunst<br />
am bau das ist indie jahre gekommen<br />
totgewohnt nach der überproduktion<br />
alter wunder vor der sprengung<br />
taugen trümmer noch immer<br />
als spielplatz für stadtpiraten<br />
zum endlich zufrieden sein<br />
einfach weiter machen<br />
übereck.1.2.<strong>10</strong>.<br />
du wirst angezählt du weißt schon<br />
nicht mehr wie die biere stehn<br />
der barmann listet striche wir<br />
habens ja die rechnung kommt<br />
zum schluß: mach dir keine sorgen<br />
(die lagern woanders – subkutan<br />
wobei die couch so nah der gedanke<br />
den prosecco melodisch zu gurgeln wo<br />
alles sprache und das einzig wahre du<br />
einen falschen artikel trägt als schmuck<br />
das könig weil wir alle so kohlensäure<br />
und viel zu bunte ikonen mit heiligen<br />
schein)<br />
15
das kalte bier hier die kehle runter<br />
fehlt nicht viel und ‘wir’<br />
bloß ein buntes geschieße<br />
aktive botenstoffe: rezeptoren<br />
finale auf allen ebenen<br />
kleinhirn möchte großhirn sein<br />
frontallappen moralsynapsen<br />
das ist der große regen gewaltige<br />
schwemme urlaute<br />
erlaubter urlaub im gurkenglas<br />
(pack die badehose ein)<br />
das kalte bier hier der archimedische<br />
punkt darum die gegend kippt mit<br />
jedem schluck ein pendelschlag zeit<br />
ansage und irgendeinen maßstab<br />
muss mensch schließlich haben<br />
- dieser geht durch den magen<br />
und das ist immer noch besser<br />
als einfach nur vorbei<br />
lenzmond<br />
kaum ist er angekommen<br />
da klebt der schon an den<br />
schleimhäuten der erinnerung<br />
dieser kriegsgott des frühlings<br />
wie der wohl meinen pathos<br />
zertreten wird denke ich und sitze<br />
zwischen westen und osten eine<br />
gerade linie dort wo jedes haus<br />
fassade jeder mensch staffage<br />
für den schneidenden wind<br />
die krokusse im park<br />
wie taschenmesser<br />
16
das ist der elektrosmog<br />
einer alten schreibmaschine<br />
die ich als haut<br />
meinem laptop<br />
übergestülpt habe -<br />
das tippt sich so<br />
authentischer:<br />
sie schreibt e. allan<br />
poe/sie weiß nicht<br />
wie die straßenbahn<br />
quietscht das datum<br />
der bauarbeiten ist<br />
ihr unbekannt nur<br />
wo der rabe kräht<br />
sein niemalsmehr<br />
auf dem knorrigen<br />
baum da schreibt<br />
sie so etwas wie tiefe<br />
das gefühl der nacht<br />
und die liebe<br />
in flaschen<br />
ist immer noch<br />
die gleiche<br />
17
ALEXANDER MAKOWKA<br />
Vokalise<br />
Dasitzen und nur bedingt<br />
Stummszene<br />
Verhängnis<br />
Stürmisches Moment<br />
18
Vokalise<br />
Armes ich, o du<br />
abendlich ob Dunst<br />
satzverstimmt wozu?<br />
Als denn ihro Kunst<br />
hakte, ich noch tu<br />
alles in Lobus<br />
Sprachregion und<br />
mache mich vom Punkt<br />
Armes ich doch nun<br />
spalte dich vor Lust<br />
kannst es itzt wohl tun<br />
Schalen sind robust<br />
Kannst es itzt wohl ruhn<br />
lassen im Ohrsprung<br />
Schalen sind konfus<br />
aber in Ordnung<br />
Dasitzen und nur bedingt<br />
den Dingen nachhängen<br />
die in bewegteren Stunden<br />
einen Geist bedrängen –<br />
Dem steten Lauf der Zeiger<br />
nichts entgegen, nicht mal<br />
schweigend von und wegen<br />
setzen wollen<br />
auf die eilige Karte<br />
die als ständigen Trumpf<br />
streng Verwahrte<br />
gegen einen schwelen Sumpf<br />
gemächlicher Triebsamkeit –<br />
Möglich erst in freier Zeit<br />
19
Stummszene<br />
Wenn geflügelte worte und<br />
fliegende Fäuste zu<br />
lange regierten visagen<br />
tuschierten den letzten rest<br />
ausdruck mitunter<br />
wegpolierten verlangte der<br />
lauf der geschichte<br />
einstweilen nach erden- der<br />
stille und ruhe kehrte ein<br />
jene zeit ohne regen mit<br />
blicken zur seite verwegen<br />
ob doch jemand wagt es zu<br />
reden nur diesmal ist<br />
ungesagtes in der schwebe<br />
im raum trägt die handlung<br />
fort auf leisen schwingen um<br />
an fernem Ort sie dereinst<br />
aus erstarrung aufzutaun<br />
20
Verhängnis<br />
Gehend stehend denkend mensch kann<br />
das der erste frühling sein der dort von<br />
grauen winter wassern steinern blaue<br />
platte freit<br />
die war des tages all so blank dass wär<br />
ein jemand lauen auf triebs weit genug<br />
nach oben hin tendiert hätt sich den<br />
kopf gestoßen bandagiert so wie es<br />
eigentlich in farbenfroheren<br />
geschichten praktiziert<br />
doch noch bevor des abends nun zu<br />
sagen an der zeit gewesen wär ein<br />
nephograph bescheiden hat<br />
beschrieben dass die winter wasser<br />
wiederum zurückgekehrt worauf auch<br />
kälte in der straße neuen einzug hält<br />
hierauf dreht ein jemand kurzen fußes<br />
bei mit neigung direkt dort ans<br />
häusereck von wo er besser seinem<br />
atem folgen kann voll grimm gefallen<br />
scheint zu finden dran denn jedenfalls<br />
gemeint er ständig dieser dunst sei<br />
endlos inspirierend indes atmet er und<br />
atmet stundenweise mehr die straße<br />
diesig<br />
dies verhängt die schrubbfrisch<br />
glänzend klinke welche binnen sonnes<br />
einfall noch im auge sich versenkte<br />
bringt all jene in bedrängnis die da<br />
frühlings haft gepredigt blumenkübel<br />
am balkonbrett installiert sogar im<br />
spätlicht und die andern unterwegs mit<br />
kurzen Ärmeln schauzutragen wie und<br />
wo sie sich erwärmen vor dem spiegel<br />
all zu nämlich beim behaglichen<br />
vergöttern ihrer muskeln jedem spötter<br />
eins zu wischen als die lichter der<br />
laternen in der straße sanft verlöschen<br />
denn so weit hat der dunst sein kreisen<br />
zwischenzeitlich aus gebreitet neben<br />
quellen der gewalt auch jene die der<br />
angst anheimgefallen und reales in<br />
geduckter haltung meiden wie den<br />
jemand noch vom häusereck am ende<br />
schon verschluckt
Stürmisches Moment<br />
So kommt es, dass von An- und für sich Fechtungen<br />
die ehemalig ausgetragen wie gewollt,<br />
vom Blechdach aus die Rede schwillt<br />
im Hagel über mir, wohl ihrer Kunst zuwider,<br />
wegzudenken, was nie anders können wird.<br />
Denn zwischentropfenweise kann es sein,<br />
dass viel schon ist, was unser beider<br />
letzte Krümmung dieser Welt als vorschriftsmäßig<br />
streng vermieden hielt, wonach wir beide<br />
gleich genötigt Standorttauschs entgegenschielen.<br />
Doch spüre ich die Schwierigkeit, die sie vom<br />
Blechdach aus als Sitzplatz sich in immer<br />
ärger schimmernden Kaskaden in den Kopf<br />
einhämmern lässt und nicht bedenkt, wie<br />
unterhalb das Hämmern in den Ohren brennt.<br />
22
TRISTAN MARQUARDT<br />
das tut nicht weh.<br />
mit ge teil tes fahr rad ist tan dem, ge teil-<br />
setz löcher in die luft<br />
die so- nach ti gall wä re so nicht<br />
24
das tut nicht weh. das tut mir nicht leid. und das verletzt (auch)<br />
kein sprach-gesetz. es war verweis-verschleiß, der die wunde<br />
auf-brach. ja, wir nannten uns (du und ich) und kannten<br />
kunst genug. wir lasen beide, liebten mittel, die zum<br />
zwecke der gewohntheit (zeitweise) über-<br />
schritten waren. ja, wir litten beide unter Benn und Böll. und ja:<br />
weil je ein teil unsrer bekannten (die genannten) schon verwechselt<br />
hat. wer und wann er (auch) der nazi war – das<br />
gedicht wars nicht. ‘cuse me, ‘cuse me fragte jemand<br />
‘you speak any language? möglich, wirklich nicht.<br />
25<br />
für linus<br />
mit ge teil tes fahr rad ist tan dem, ge teil-<br />
tes fahr rad ist hal bes rad, sind ein fach<br />
zwei rä der, ist je ein rad. SCHWIERIG<br />
ist die auf tei lung der rest be-<br />
stand tei le: ven til kap pen<br />
bei spiels wei se, sitz hal-<br />
te rung und lenk rad<br />
las sen sich kaum<br />
mehr als sprach-<br />
lichtei- len.
1<br />
setz löcher in die luft<br />
und komm dem drang zu<br />
sinken nach bei all dem<br />
bilden<br />
wir uns ein wir wiesen<br />
gründe viel nach vorn<br />
(und viel nach hinten)<br />
setzen sinken ungefragt<br />
auf einen stuhl aus rokoko<br />
auf etwas jugend-stil<br />
und jugend-sprache<br />
werden sesshaft<br />
in den pics und<br />
speichern sie<br />
extern<br />
2<br />
setz etwas jugend-stil in<br />
jugend-sprache, komm<br />
dem drang zu rokoko<br />
bei<br />
all dem setzen wir uns<br />
ein und sinken, bilden<br />
löcher nach, sie<br />
werden pics, wir<br />
sesshaft in den<br />
wiesen, sinken<br />
viel und ungefragt<br />
auf einen stuhl aus luft,<br />
auf gründe, die extern<br />
und nach und nach viel<br />
hinten speichern vorn<br />
26
die so- nach ti gall wä re so nicht<br />
in die ge schich te ein ge drun gen,<br />
hät te die so- ly rik nicht (ü ber<br />
jah re) so die- fi xiert ver si fiziert.<br />
GEHT DOCH NICHT. die rech nung kam, wir<br />
zahl ten das preis geld. (die lee re.) hier<br />
und: te le vi sio nen, die dort zwitschern,<br />
nachts zum schlaf. im traum sang die sosee<br />
le so be seelt, als wär sie die.<br />
27
DARIAN MEIER<br />
Lebensgeflüster<br />
Parkerlebnis<br />
kleine Reise, Reise<br />
Sinn<br />
Zurück<br />
28
Lebensgeflüster<br />
Alles vollgepisste Straßen.<br />
Welche? Niemandsgassen.<br />
Die Schönheit der Stadt.<br />
Es stinkt nach Scheiße.<br />
Wo? Jederorts.<br />
Die Kultur des daseins.<br />
Ey, hast’e mal ‘ne Kippe?<br />
Wieso? Gesundheitsreform.<br />
Der Körper verlangt.<br />
Man, gib’ma’ die Pulle her!<br />
Warum? Leerefüllend.<br />
Es gibt nichts anderes.<br />
Parkerlebnis<br />
Ich verfolge sie mit meinem Blick,<br />
doch sie bemerkt mich nicht.<br />
Ich kenne die Kirschblüte.<br />
Oh ja, ich habe sie studiert.<br />
Sie welkt zu keiner Zeit<br />
und ist sehr oft hier<br />
Meine Anwesenheit – so unscheinbar<br />
wird sie jemals nach mir sehen (?)<br />
29
kleine Reise, Reise<br />
Stein um Stein mauer ich<br />
Mein Teil, denn es ist<br />
hässlich, du bist einfach<br />
die schönste Stadt der Welt.<br />
Ich habe keine Lust !<br />
Sinn<br />
Ich sehe dem nach,<br />
was mein Auge entzückt wahrnimmt.<br />
Ich höre dem nach,<br />
was mein Ohr melodisch vernimmt.<br />
Ich rieche dem nach,<br />
was meine Nase reizend aufnimmt.<br />
Doch ich fühle dem nach,<br />
was mein Herz für immer vermisst.<br />
30
Zurück<br />
Tief in deinen Augen<br />
dort liegt der Schmerz<br />
An den Platz wo ich einst war<br />
zerbrach ich dein Herz<br />
Nun sammele ich die Scherben auf<br />
und halte sie in meiner Hand<br />
Ich versuche sie zu verbinden<br />
doch sie zerfallen zu Sand<br />
Dennoch halte ich mich an ihn fest<br />
und hoffe du kannst mir vergeben<br />
Bitte komm’ zurück zu mir<br />
Ich kann nicht ohne dich leben<br />
31
FRIEDERIKE SCHEFFLER<br />
merkn<br />
vor dem morgen<br />
im museum<br />
gegen die stille : innen im zimmer<br />
32
merkn ramadan spielt zimtrein punk<br />
melkt zierpapier nimmt an nur dank<br />
merkt anran leid kumpirman spitzen<br />
trimmd pr naren in pamukkale sitzen<br />
er tanzt an der ampel spunk mimikri<br />
resamplt nen mainzer kantdupkrimi<br />
sammelt nutzen kein raprind im park<br />
nimmt keen indiraz perlnpumastark<br />
knustert dir reimpampe mal anz kinn<br />
rum maeklt keiner zapimpt dran sinn<br />
vor dem morgen<br />
was haben wir nicht<br />
angestellt uns zu betrinken<br />
am müden kanal am haven<br />
noch einmal zu singen<br />
den ganzen weiten weg<br />
bis zu dir hier her<br />
noch einmal die strophe<br />
wenn du sonst nichts weißt<br />
sag hamburg berlin<br />
nur vergiss diesen pathos<br />
wer will schon<br />
dass die nacht verraucht<br />
die haustür auftaucht<br />
du verschwindest<br />
den ganzen weiten weg<br />
bis zu dir hier her<br />
33
im museum sprich nicht<br />
von der angst unsrer worte<br />
von unserem fall was bleibt<br />
wir zittern ordnen uns<br />
wechselnd epochen zu<br />
summn melodien<br />
zwischen die jahre<br />
die randbemerkung<br />
gekonnt verbissen<br />
spieln wir zwischen vitrinen<br />
verstecken wir halten uns<br />
gegen geschichte am leben<br />
gegen die stille : innen im zimmer<br />
in nacht vier ließ nach<br />
was liebe sie nannten<br />
rannten die körper<br />
im voneinander : fort<br />
übten sie abstand wieder<br />
zu finden die zeichen zu lesen<br />
mit nichts als den zehen<br />
gegen die stille : innen im zimmer<br />
34
LEA SCHNEIDER<br />
Fluchtlinien<br />
Zugfahrt mit Marion P.<br />
Erinnerungskonserve<br />
Inneren Bereichen<br />
36
Unsere Fluchtlinien kreuzten sich in einem Punkt<br />
innerhalber Projektion ausgelegt<br />
auf kleinstmessbare Zeiträume,<br />
zwischen deren Wänden wir kaum blieben:<br />
Geometrie dieser Art ist temporär aufgebaut.<br />
(Unser Warten deshalb eine flüchtige Kontralogik<br />
systemimmanenter Möglichkeit.<br />
Mit mehr Zeit im Mai hätten wir den Versuch gemacht<br />
eine Flasche zu öffnen gegen Abend.<br />
Aber dann genauso:)<br />
In der Unendlichkeit treffen sich nur Parallelen.<br />
Zugfahrt mit Marion P.<br />
Ich durchquere ein Märchenland<br />
in dem man Heine liest<br />
je näher ich dem Osten komme<br />
finde ich Schneereste<br />
das Ruhrgebiet liegt jetzt schon<br />
hinter mir, glänzt noch<br />
Ich werde Landschaft sein<br />
meine Linien zwischen den Farben<br />
gerade und glattgefressen von Schafen<br />
neben jeweiligen Supermärkten<br />
Und da hebt sich keine Hand<br />
mehr aus dieser seltsamen Spanne<br />
einer Woche und eines halben Lebens<br />
kurzes Winken von Rotkäppchen<br />
und später kann ich das dann vielleicht anders lesen<br />
37
Erinnerungskonserve<br />
für Fabian<br />
Lass uns warten bis die Straßen frei sind und die Plakate<br />
abgerissen<br />
Eine uninspirierte Sammlung Nadelwälder wischt über den<br />
Rückspiegel<br />
und kurz vorm Einschlafen<br />
Trägst du Sand in vergangene Hotelzimmer<br />
hinter den Ameisenstraßen am Nachmittag<br />
die wir genommen haben zum ersten Meer<br />
Gegen Abend weniger Fettgeruch und Möwen<br />
unterhalb des Balkons dafür die Andeutung<br />
von Waffenstillstand und Kronkorken<br />
Draußen grub jemand mit einem Silberlöffel danach<br />
wir wussten das schon damals weil wir gedankenlos<br />
ein Zimmer teilten in dem es zu warm war für Schlaf.<br />
Wir dringen vor zu den Inneren Bereichen der Stadt<br />
ein Gesicht mit aufgemaltem Fenster leuchtet<br />
so sehen wir die Nacht im Umkreis von zwei Kilometern<br />
die Staumeldungen<br />
Von entfernten Inseln bleiben unverstanden<br />
spielen wir nur Gedanken auf dem Weg nach da<br />
so hängen Teppiche von den Balkonen<br />
im Sekundenaufprall<br />
Eines Tropfens auf der nassen Wolle am Geländer<br />
ziehen wir Fäden sind schon fast da<br />
so zerfasert die Nacht vor uns Panzerglas<br />
Soll man das ins Gesicht kleben fragt einer<br />
In zivilisierten Bereichen wie diesen spielt immer ein<br />
Radio weiter<br />
38
LINUS WESTHEUSER<br />
gymnopédie no 3<br />
ein sommer heißt nichts wahrheit<br />
der tag entsteht auf der linie als speed painting<br />
müllrose<br />
ich bin verliebt in die großen vögel<br />
40
gymnopédie no 3<br />
satie hört man<br />
bei lauter stärke in den grund:<br />
wie hinten türen sich öffnen und schliessen<br />
ab im rauschen die schritte die den<br />
kaffee machen gehen (wieder öffnen)<br />
die augen: gerieben hundert mal<br />
tausend dienstag ist ein missverständnis<br />
das leben wird in der kneipe freibier<br />
übermorgen und die ecken<br />
so still die zeche und so klein<br />
der wirbelstaub im atem die<br />
drähte zehrend in armen und beinen<br />
zu spüren immer im gang zu spüren<br />
den kaffee machen gehen<br />
alt umher die geister aus tassen und<br />
ecken voll übergängen lent et grave<br />
die blätter zu staub wie<br />
für immer birnenblau geboren<br />
für am fenster nur und kurz<br />
hören die töne die einer anschlägt<br />
in anbetracht eines rauschens<br />
den geistern<br />
ohne eile und gebeugt<br />
durch die tür ist noch<br />
offen die fehlbarkeit der Uhren<br />
41
ein sommer heißt nichts wahrheit<br />
ist gelingensding (gedankenlos) wie<br />
austritt aus dem landeskörper<br />
rückversichert kaum sturz raus<br />
zu disteln bloß und matten<br />
farben einer fermentierten<br />
frage am abend (die platten)<br />
bauten der städte (die platten)<br />
tiere auf dem weg dem<br />
einzigen hinaus in<br />
wahrheit heißt weiter so<br />
durchfragen von fall zu<br />
fall<br />
der tag entsteht auf der linie als speed painting<br />
übung am gesicht mit fremden<br />
applikationen und schmerzen in den fingern<br />
vom tagelangen erschaffen einer sprache<br />
durch zeigen und zwitschern<br />
jetzt ist ein guter teil immer schon<br />
geschafft mit nichts als copypaste<br />
hauptsache irgendwas zusammen und wir<br />
fahren runter zum park im kopf: x<br />
singvögel über feldern aus<br />
strobo klickklick dann<br />
replay passanten it was so much fun<br />
why didn’t you do it?<br />
it was so much fun<br />
why<br />
UND DAS WARTEN HÄLT AN<br />
dass was ins auge geht mal so richtig oder<br />
kein anschluss mehr erreicht und<br />
ob da einer die miene verzieht hinterm<br />
geschlossenen fenster<br />
42
müllrose<br />
wo ich bin röselt sich müll<br />
wie hautblumen tausendfach<br />
im halmöd<br />
gestreut grob sommerlich<br />
dass mir die augen sporen<br />
vor mohn- vor kornblumenreminiszenzen<br />
wo ich bin bricht liberacion<br />
im dicken glas das licht<br />
de cuba hier kein wort nur<br />
mild der ausschlag<br />
der mark brandenburg<br />
ich bin verliebt in die großen vögel<br />
besonders wenn es warm ist in der nacht gehen sie ein und<br />
aus bei mir<br />
ich liege mit den geschlossenen augen an ihren krallen ich<br />
saufe die architektur<br />
was bin ich geworden dass ich hier bin ohne stöße in der<br />
luft und verliebt?<br />
jede wand ist ein schirm für bilder in meinem park<br />
steht ein vergoldeter hirsch auf kunstrasen sein fell ist<br />
bedeckt<br />
mit der scheisse der vögel was bin ich geworden?<br />
meine fühler gehen ins erdreich ich<br />
versuche nur betrunken mich gerade zu denken<br />
ich suche das stampfen im boden<br />
ich liege in meinem bett ein schirm sind die wände ich<br />
schreibe<br />
F U C K an jede einzelne in der stadt fällt der schnee<br />
dann die streu<br />
43
dann räumen sie den schnee dann saugen sie die streu die<br />
straßen<br />
sind leer und warm und überall kreisen die vögel<br />
sie nisten wie haufen von trockenen kraken an den häusern<br />
es geht<br />
ein wind so sanft und böse dass einem die gedanken schlingern<br />
was bin ich geworden ich will mich gerade denken aber<br />
es wuchert mir überm kopf die sonne gibt sich hin in quadraten<br />
aus obst die<br />
flecken kleben in der ganzen stadt ich will sie lieben die<br />
stadt aber<br />
ich liebe die großen vögel und wie es wuchert aus den<br />
leeren häusern<br />
das licht ist eine trockene krake auf den leuten im bus und<br />
ich liege im bett und ich warte auf den tag ich warte auf<br />
die nacht<br />
ich halte mein fenster weit offen an allen tagen<br />
denn ich bin verliebt in die großen vögel<br />
immer nachts sind sie bei mir<br />
44
OPEN WRITING<br />
MIT MARKUS ORTHS
Janina de Castellano<br />
50<br />
Nicolas Geibel<br />
56<br />
Katharina Hartwell<br />
64<br />
Eva Kissel<br />
72<br />
Erika Kojima<br />
82<br />
Lisa Schetter<br />
90<br />
Clio Alyssa Voß<br />
98<br />
Johannes Walden<br />
<strong>10</strong>4
Wer schreiben möchte, muss in sich einen Drang spüren, der ihn nicht loslässt und immer<br />
wieder neu an den Schreibtisch treibt. Einen inneren Zwang, ein Schreibenmüssen, ein<br />
Nichtanderskönnen. Die bekannte Phrase „Kunst kommt nicht von Können, sondern von<br />
Müssen“ ist völlig zutreffend. Diesen Drang, dieses unbedingte Müssen, das unabdingbar<br />
zum Schreiben dazugehört, kann man weder lernen noch lehrend vermitteln. Er ist da, der<br />
Drang, oder eben nicht.<br />
Die Kurse <strong>open</strong> <strong>writing</strong> sind demnach keine Schriftstellerschmiede, in der neue Schriftsteller<br />
sozusagen am Fließband hergestellt werden. Die Kurse sind vielmehr ein Feld, auf dem sich<br />
junge Leute ausprobieren können und bilden einen wichtigen Rahmen, um etwas über sich<br />
selbst und seine Position zum Schreiben herauszufinden. In den Werkstätten kann man den<br />
Drang, schreiben zu müssen, nicht injizieren, aber jeder kann für sich herausfinden, ob dieser<br />
Drang da ist und wenn ja, wie stark; und man kann ein Talent fürs Schreiben nicht züchten,<br />
aber austesten, wie groß es ist.<br />
Lernen und lehren kann man etwas anderes: Um schreiben zu können, muss man lesen<br />
können, das Geschriebene begutachten, verbessern, verändern. Dies war Hauptteil unserer<br />
Schreibwerkstatt: die Arbeit am Text. Dazu ist es wichtig, analysieren zu können, was genau<br />
bei einem Text gelingt und was nicht. Ist ein Text zäh und langweilig, mag es daran liegen,<br />
dass er zu sehr berichtet und zu wenig szenisch darstellt; um das zu erkennen, muss man<br />
aber erst den Unterschied zwischen „telling“ und „showing“ kennen, zwischen Bericht und<br />
Erzählung. Ist eine Figur eindimensional und blass, mag es an der Figurenzeichnung liegen;<br />
um das zu erkennen, muss man aber erst wissen, welche Möglichkeiten der<br />
Charakterisierung es überhaupt gibt. Stimmt der Ton nicht, mag es an einer falschen<br />
Perspektive liegen; um das zu erkennen, muss man aber erst die Chancen und Gefahren<br />
einer jeden Perspektive kennen und abwägen können.<br />
Wir haben somit einen Fokus auf die Theorie des Schreibens gelegt, auf das literaturwissenschaftliche<br />
Handwerkszeug, wir haben viel über die Texte der Teilnehmer gesprochen, wir<br />
haben in Übungen im Seminar selber Texte verfasst, wir haben einige heftige<br />
Grundsatzdiskussionen geführt, über Aufgaben und Möglichkeiten der Literatur, über die Art<br />
und Weise von Kritik, über Sinn und Unsinn von Bewertungen.<br />
Mein Ansatz war immer der, den Schülern Lust und Freude am Schreiben zu vermitteln, da<br />
ich selber immer mit Lust und Freude schreibe. Und auch diese drei Jahre der Vermittlung<br />
haben mir viel Freude bereitet. Ich danke ganz herzlich der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong>, Frau Ulrike<br />
<strong>Crespo</strong> und Frau Karin Heyl, besonders Katrin Krampe für die Unterstützung der<br />
Organisation und Franziska Lindner für die Betreuung im Literaturhaus.<br />
MARKUS ORTHS<br />
49
JANINA DE CASTELLANO<br />
U7<br />
C.<br />
Das Schamhafte wehrt sich wie der Teufel dagegen,<br />
geliebt zu werden<br />
50
U7<br />
Ihr Menschen in der U Bahn seid hässliche Geister, die den<br />
Glauben an sich selbst verloren haben.<br />
Ab und an tanzt ein geistig Behinderter oder ein Betrunkener<br />
vorbei, an dem ihr gekonnt vorüberschielt.<br />
Ich will euch nicht sehen, Gespenster der Morgenstunden.<br />
Vier grünblaue Wände. Ich starre von einer zur Nächsten.<br />
Auf keinen Fall möchte ich in den Augen eines dieser Menschen<br />
hängen bleiben.<br />
Dicker Mann, Ende Dreißig, schwirrt mit indiskretem Blick<br />
beständig in mein Sichtfeld.<br />
Als ob ich es nicht merkte. Am liebsten würde ich mich<br />
zu ihm drehen und ihm so lange unverfroren in die Augen<br />
starren, bis er sein eigenes Spiegelbild darin erkennt. Dann<br />
wäre es ihm nicht länger möglich, sich auf mir auszuruhen.<br />
Auf der Bank gegenüber kauert eine zittrige Gestalt. Die<br />
Augen glasig, verwaschenes Blau, fixieren einen Punkt unweit<br />
von mir. Eine alte Frau, nicht älter als Siebzig. Sie zieht<br />
unablässig ihre roséfarbenen Lippen in ihre zahnlose Mundhöhle,<br />
um sie dann, wie zu einem Kuss gespitzt, wieder an<br />
der Außenwelt teilhaben zu lassen. Ich sinne nach, ob sie<br />
schön war, bevor Alter und Zweifel ihre glatte Haut in schlaffes<br />
Leder verwandelt haben. Merkt man es selbst gar nicht,<br />
dass man immer magerer wird und die Augen sich in ihre Höhlen<br />
zurückziehen, dass man sich zu einem untoten Schatten des<br />
lebendigen Menschen entwickelt, der man einmal war?<br />
Wenn der Dicke nicht hier mit mir eingesperrt wäre, würde<br />
er seine Brille putzen und Stromrechnungen bezahlen. Jetzt<br />
aber befindet er sich, im Grunde verängstigt bis aufs Blut,<br />
auf dem Weg zur Arbeit. Er ahnt nicht, welche Macht ihm<br />
gerade zuteil wird. Seine reine Präsenz, gepaart mit seinen<br />
unverschämten Glotzaugen, verursacht einen stechenden Schmerz<br />
in meinem Solar Plexus. Ich wünschte, ihm einige Schritte<br />
voraus gewesen zu sein.<br />
Eine russische Frau mit rot geschminkten Lippen, einem<br />
Pelzmantel und einer Lederhandtasche quetscht sich neben mir<br />
auf den Sitz. Ich stelle mir vor, wie ich sie ohne Vorwarnung<br />
mit dem Blut der Tiere übergieße, aus denen ihr Mantel<br />
besteht. Ihre Mundwinkel haben sich entsprechend eindeutig<br />
51
entschieden, Richtung Erde zu weisen. Ihr misstrauischer<br />
Blick aus braunen, faltigen Augen geht ins Leere. Ihr Kopf<br />
ist auffallend in den Nacken gelegt, sie drückt sich mit<br />
ihrem gesamten Gewicht in den roten Ledersitz und bemerkt<br />
dabei offenbar nicht, dass sie auf meiner Tasche sitzt.<br />
Die Restpassagiere bestehen aus einer ungeschminkten Frau<br />
mit Brille, die ganz und gar in einen Science-Fiction-Roman<br />
vertieft ist, einem Anzugträger, der seine Selbstbestätigung<br />
wie ein Gebet über die Tastatur seines Mobiltelefons<br />
wichst und ein paar hysterisch schnatternden und<br />
kreischenden Mädchen auf dem Weg zur Schule. Ihr synthetisches<br />
Parfum dringt, ohne dass ich es will, aggressiv in<br />
meine Nase.<br />
Lange seid ihr nicht mehr meine Brüder und Schwestern.<br />
Wir erkennen uns nicht. Wir sind uns gleichgültig, im besten<br />
Fall sind wir uns im Weg, wir begegnen uns im Egomodus. Dann<br />
gibt es kleine, erregende Kämpfe, in denen man die Lebendigkeit<br />
in euren toten Augen aufflammen sieht. Sonst seid ihr<br />
kalt und steif. Noch am nächsten Tag steht ihr da und wartet<br />
auf die nächste U-Bahn.<br />
Ich sehe mein Innerstes, ich schaue in das tiefste Loch in<br />
mir. Darin sehe ich keinen. Außer mich selbst.<br />
C.<br />
Stolz verkündete er am Telefon, seine Brieffreundin sei<br />
jetzt da, er habe keine Zeit sich zu treffen. Wir würden<br />
unsere Briefe lesen und hätten uns viel zu sagen.<br />
Er könne ohne Tabletten weder einschlafen noch aufwachen.<br />
Seine Hosen passten seither nicht mehr, berichtete er in<br />
einem vorhergegangenen Brief.<br />
Es waren die letzten Tage im Dezember, abends am Bahnhof<br />
nach 6 Stunden Fahrt. Ein richtiger Mensch, eigentlich ein<br />
verschüchterter Riesenjunge, mit abstehenden Ohren und<br />
tätowiertem Gesicht, ragte 1,90m vor mir in die Höhe. Sein<br />
52
echtes Auge floh leicht nach außen. Er trug Rollkragen,<br />
Mütze und schwarze Jeans.<br />
An seiner Wand hing mein Bild. Vergrößert und gerahmt. Er<br />
war gerührt, als ich mit Selbstverständlichkeit meine<br />
schneenassen Schuhe auszog, bevor ich seinen Wohnbereich<br />
betrat. Andere zollten ihm nicht diese Art von Respekt,<br />
sagte er in einem Anflug von Bitterkeit.<br />
Der Eingangsbereich der Wohnung war eine Elektro- und<br />
Physik-Werkstatt erster Klasse. Mehrere hundert kleine Plastikschubladen,<br />
liebevoll etikettiert und in Schönschrift<br />
beschrieben: Muttern, Dübel, Lötkolben … Dutzende Werkzeuge,<br />
sauber aufgeräumt, alle hatten ihren Platz. Eine kleine,<br />
stumme Familie.<br />
Am ersten Abend gab es Nudeln mit scharfer Soße. Beschämt<br />
erklärte er, dass sie wohl deutlich zu scharf geworden sei.<br />
Ich konnte ihn insoweit beruhigen, dass er sich nach einigem<br />
Hadern zu mir setzte, und ebenso anfing zu essen.<br />
Ein Terrarium mit „Mausen“, wie er sie im Schwäbischen<br />
nannte, stand auf einem Regal in Augenhöhe. Sie hatten gerade<br />
Babys bekommen, die sehr klein, rosa und zerbrechlich waren.<br />
Nur wenn man Glück hatte, bekam man sie zu Gesicht. Sie bewegten<br />
sich kriechend fort und rissen ihre kleinen Mäulchen<br />
auf, wenn das Muttertier in ihrer Nähe das Nest ausstopfte.<br />
Einige Zeit nach meinem Besuch gestand er mir, dass er einige<br />
von ihnen als Schlangenfutter weggegeben habe.<br />
Er war im Besitz einer alten Kaffeemühle. Mit Engelsgeduld<br />
und meisterhafter Präzision, erklärte er mir, wie sie<br />
funktioniert. Noch nie zuvor war ich in der Lage, einen<br />
technischen Vorgang nach nur einer Erklärung fehlerfrei auszuführen.<br />
Meine Art, mich für die Gastfreundschaft und seine<br />
bloße Existenz zu bedanken, bestand für die drei Tage meiner<br />
Anwesenheit darin, ihm Kaffee zu kochen. Ich war so glücklich,<br />
dass ich es damals nicht merken konnte.<br />
Bad und Schlafzimmer waren gleichermaßen tapeziert mit<br />
schwarzen Müllsäcken, Fenster gab es keine. Genau einmal<br />
schlief ich in seinem Arm. Unschuldig. In der letzten Nacht<br />
vor meiner Abreise. Er hatte zuvor mehrfach erwähnt, dass<br />
er zu alt für mich sei.<br />
53
Bei einem spanischen Abendessen, zu dem er mich leider<br />
nicht einladen konnte, da es diesen Monat knapp sei finanziell,<br />
erzählte er mir Anekdoten aus seinem früheren Leben.<br />
Der Pfarrer habe es damals beim Konfirmandenunterricht auf<br />
ihn abgesehen. Als er einmal zu spät zur Kirche kam, da er<br />
mit dem Fahrrad gestürzt war und sich das Knie verletzt<br />
hatte, holte der Pfarrer aus und trat an ebenjener Stelle<br />
derart zu, dass es den Jungen umwarf. Aufgelöst humpelte er<br />
nach Hause und berichtete seinen Eltern von dem Vorfall. Die<br />
Konfirmandengruppe aber schwieg.<br />
Seine Eltern würden ihn noch heute manchmal mit dem Namen<br />
seines älteren Bruders ansprechen, der Möbel aus Kirschbaumholz<br />
im Wohnzimmer stehen habe.<br />
In der Schule wurde er Bananengesicht genannt. Er versuchte<br />
die Gunst der Mädchen auf sich zu lenken, indem er<br />
sie so fest kniff, dass sie blaue Flecken davontrugen und sie<br />
anspie, im Glauben, sie würden davon schwanger.<br />
An Silvester stiegen wir auf den höchsten Berg der<br />
Alptraumstadt. Wir waren zu hoch geklettert, hatten das<br />
Feuerwerk unter uns. Schweigend saßen wir in der Schwefelwolke.<br />
Hand in Hand, laut lachend rutschten und stolperten<br />
wir die verschneiten Hänge hinab, als es vorüber war.<br />
Mit jeder Stunde, in der mein Abschied näher rückte, zog<br />
er sich wieder mehr in sich zurück. Er wirkte reservierter,<br />
ernster. Glücksmomente schwanden, und ich fühlte mich machtlos,<br />
und doch wusste ich, dass es nur so und nicht anders sein<br />
konnte.<br />
Ich küsste ihn auf seine vernarbte Wange und stieg,<br />
bewusst ohne mich umzudrehen, in den Wagen meiner Mitfahrgelegenheit.<br />
Zuvor hatte er noch pflichtbewusst beim Einladen<br />
des Gepäcks geholfen. Aus dem Radio erklang wenig später ein<br />
bekanntes Lied, das mich nie zuvor berührt hat: „Du bist<br />
schön. Du bist schön, das ist wahr.“<br />
Im Sommer, zwei Jahre nach unserer Begegnung, verabschiedete<br />
ich mich von ihm in einem kurzen Brief.<br />
Er hat den Umriss seiner Hand auf das Papier seiner Antwort<br />
gezeichnet. Schrieb …<br />
54
„Ich bin so geistig dünn geworden, bin nicht mehr, was ich war.<br />
Diese zerrende Welt nimmt mir mein Ich.<br />
Veränderung ist Leben, kein Schönes.<br />
Will nicht klagen, mach es doch.“<br />
Und zuletzt:<br />
„…sur l’autre rive je t’attendrai.“<br />
(Am anderen Ufer warte ich auf dich.)<br />
Das Schamhafte wehrt sich wie der Teufel dagegen,<br />
geliebt zu werden<br />
Voller Angst starrte sie in den Spiegel. Sie wollte nichts<br />
mit dem weißen Wesen zu tun haben, das zurück in ihre Augen<br />
starrte. Nie. Der raue Stock der Kindheit schimmerte durch<br />
sie hindurch wie eine glitschige Ader, durch die nichts als<br />
Schande floss. Der brennende Wunsch sich zu bedecken, oder<br />
auf der Stelle entzwei zu reißen. Sie wollte nichts mehr,<br />
als ihre Eingeweide auf die Spiegelfläche platschen zu<br />
sehen. Nicht etwa in einer dramatische Explosion. Eher so,<br />
wie ein Kotelett von der Arbeitsfläche auf den Boden fallen<br />
würde. Ein rotziges, dumpfes Platsch. Das würde den Eingeweiden,<br />
da sie zu ihr gehörten, gerecht werden.<br />
Wenn man sie finden würde, wäre sie ein schleimiger<br />
Haufen auf Linoleum, nur die Augen und Zähne würden auf eine<br />
frühere Existenz als Mensch verweisen. Man würde sie aufkehren<br />
müssen und in die Notaufnahme fahren, so tun, als<br />
wollte man etwas reparieren. Hier und da näht und tackert<br />
man ein wenig, auch für die Angehörigen. Dann würden die<br />
Ärzte mit gespielter Überraschung die Schultern hochziehen,<br />
auf die absurde Skulptur deuten und erklären, dass sie ihr<br />
Bestes gegeben hätten. Und man würde ihnen glauben, ein<br />
Formular ausfüllen lassen und sie selbst noch mal einpacken,<br />
vielleicht tiefgefrieren, bis ihre Familie über die<br />
Finanzierung ihrer Bestattung und den Verbleib ihres bescheidenen<br />
Besitzes entschieden hätten. Stattdessen schminkte<br />
sie sich, zog sich mit Bedacht an und ging zur Arbeit.<br />
55
NICOLAS GEIBEL<br />
Die Postkartenmalerin<br />
56
Der Platz an sich wirkte nicht besonders. Er war mittelgroß<br />
und mit grauem Kopfstein gepflastert. Ein Platz, wie<br />
er oft anzutreffen ist in diesen Breitengraden, im Zentrum<br />
einer der vielen schmucken Städtchen, die sich entlang der<br />
Küste ziehen. Genauer betrachtet unterschied er sich jedoch,<br />
abgesehen natürlich von den umgebenden Gebäuden, entscheidend<br />
von seinen Verwandten. Alle Seiten fielen gleichmäßig<br />
zur Mitte hin ab, wodurch sein Mittelpunkt auch der tiefste<br />
Punkt war. Das Pflaster wand sich spiralförmig zu diesem Punkt<br />
hin. Nun geriet jeder Neuling und auch so mancher Stadtbewohner,<br />
trotz des gewohnten Charakters des sich bietenden<br />
Anblicks, in diesen Strudel und blieb, gefangen von der brachliegenden<br />
Größe, an dessen Endpunkt stehen. Der Grund des<br />
Verweilens, der städtische Dom, manifestierte sich am östlichen<br />
Rand des Platzes. Verbindet man schon allein mit dem<br />
Wort „Dom“ oder seinem Pendant „Kathedrale“ eine gewisse<br />
Größe und empfindet bei dessen Klang einen fahlen Abdruck<br />
von Ehrfurcht, so wurden selbst diese Worte, die mit so viel<br />
Glanz, Größe, Glorie und Gottesfurcht verbunden werden, diesem<br />
Monument nicht gerecht.<br />
Den Dom angemessen zu beschreiben, gestaltet sich äußert<br />
schwierig und erscheint unmöglich, ist doch die menschliche<br />
Sprache ein viel zu einfaches und grobes Werkzeug. Man (ich,<br />
ich kann in diesem Fall ausschließlich für mich sprechen)<br />
kann nur sagen, dass der Betrachter bis in sein innerstes<br />
Selbst berührt wurde. Die gegossenen Mauern streckten sich<br />
Richtung Himmel, und es schien, als würden sie ihn leicht<br />
streifen, so wie eine Mutter, die das Gesicht ihres Neugeborenen<br />
das erste Mal berührt. Die Türme zwirbelten sich in<br />
die Höhe, kühn die eigene Zerbrechlichkeit missachtend. Die<br />
Kuppel, das Haupt des Domes, stand rund und golden und saugte<br />
das Licht der Sonne in sich hinein, um es auf die weißen<br />
Wände zu werfen. Sie schimmerten sachte. Man wandte das nasse<br />
Gesicht ab und erkannte, dass Gott den Menschen wohl doch<br />
nach seinem Abbild geschaffen hatte, damit dieser ihm ein<br />
solches Haus bauen konnte. Wenn die Sonne morgens aufging,<br />
stand sie für einen Moment direkt hinter der Kuppel des<br />
Doms. Das Licht des steigenden Sterns umstrahlte dann den<br />
von menschlichen Händen geschaffenen Halbmond und umgab ihn<br />
mit einem hellen Schein, welcher den Dom, für diesen kurzen<br />
Moment zumindest, unsrer irdischen Welt entrückte und ein<br />
Stück gen Himmel trug. War der Dom sonst auch ein erhabener<br />
Anblick, so war er in diesen Momenten wahrhaft göttlich.<br />
57
Sie hatte es sich zur Aufgabe gewählt, eben diese Entrücktheit,<br />
dieses kühne Vordringen auf transzendenten Boden, auf<br />
ihr bescheidenes Medium zu bannen. Sie ging dieser Aufgabe<br />
schon lange nach. Sie saß auf dem Platz und malte kleine<br />
Miniaturen des Domes auf Postkarten. Aus Notwendigkeit verkaufte<br />
sie diese an die Touristen, die, immer noch gefesselt<br />
und berührt, ein kleines Andenken wünschten, um ihren Angehörigen<br />
etwas mitbringen zu können, damit der sicherlich<br />
bildhafte Bericht eine gewisse Handfestigkeit erlangte. Oder<br />
sie wünschten sich ein lebhafteres Bild als die bloße Erinnerung.<br />
Nicht allen erging es so. Manches schlichte Gemüt<br />
erblickte den Dom, betrachtete ihn, bejahte seine Größe,<br />
schätzte seine Maße, fragte sich, wie viel Material und Zeit<br />
der Bau wohl beansprucht hatte, beschloss, dass er beeindruckend<br />
war, wendete ihm den Rücken zu und vergaß ihn augenblicklich.<br />
Daraufhin übersah er die Frau, die in der Mitte<br />
des Platzes, mit leicht nördlicher Tendenz, auf einem Schemel<br />
saß und unermüdlich malte. Krähenfüße umrissen scharf ihre<br />
Augen, und die Farben hatten sich tief in ihre Finger eingebrannt.<br />
Täglich stand sie weit vor Sonnenaufgang auf, um<br />
pünktlich auf dem Platz zu sein. Immer war die Zeit zu knapp,<br />
sie rannte unermüdlich gegen sie an, malte mit fliegenden<br />
Händen, verlor letzten Endes doch. Sie konnte das Motiv nie<br />
so darstellen, dass es ihrem Auge gerecht wurde, wenn sie<br />
es überhaupt in seiner ganzen Form gemalt hatte. Mit der<br />
Zeit jedoch konnte sie langsam Fortschritte in ihrer Kunst<br />
erkennen, zunächst kaum erahnbar, später immer deutlicher.<br />
So hoffte sie, dass sie am Ende doch erfolgreich sein würde<br />
und stand nach jedem Scheitern erneut wieder in aller Frühe<br />
auf, um auf den Platz zu gehen, zu ihrem Dom. Das Licht der<br />
Sonne wandelte sich zwar auch über den Tag hinweg, jedoch<br />
so gemächlich, dass es innerhalb von Minuten kaum merklich<br />
war. Dadurch war es ihr gelungen, den Dom zu jeder anderen<br />
Tageszeit zu malen. Sie erschuf täglich Repliken ihrer<br />
Bilder. Sie saß im morgendlichen Zwielicht auf dem hölzernen<br />
Schemel, auf dem sie immer saß. Die Sitzfläche glänzte,<br />
das häufige Herüberfahren mehr oder weniger rauen Stoffes<br />
hatte das einstmals raue Holz poliert. Vor ihr stand ihre<br />
alte Staffelei, ein windschiefes Ding mit verschieden langen<br />
Beinen, das auf der leichten Schräge des Pflasters immer<br />
ein wenig wackelte. Sie griff in die Leinentasche links<br />
neben ihrem Schemel und holte ein weißes Papierrechteck heraus,<br />
das sie auf die Staffelei stellte. Dann entnahm sie<br />
demselben Beutel eine Reihe von Farbtuben und Pinseln und<br />
58
eine alte Mischpalette, die wohl aus Holz bestand, aber deren<br />
ursprüngliche Beschaffenheit unter dutzenden Farbschichten<br />
verborgen war. Sie drückte die Farben aus den Tuben, um sie<br />
mit einem Pinsel zu verrühren, bis sie eine neue Farbe ergaben,<br />
die gänzlich anders schien als die Töne, aus denen sie<br />
entstand. Allmählich entwickelte sich ein Spektrum verschiedener<br />
Farben. Sie war zuversichtlich, dass die neue<br />
Goldmischung, die sie innerhalb der letzten Wochen entwikkelt<br />
hatte, dem Heiligenschein der Kuppel gleichen und wenn<br />
nicht, ein Schritt in die richtige Richtung sein würde. Das<br />
Rot der aufgehenden Sonne war schwer zu treffen, wies es<br />
doch jeden Tag andere Schattierungen auf, je nach Wetter.<br />
Die Marmorwände waren nicht nur schlicht weiß, wie der Laie<br />
vielleicht vermutet, sondern wiesen eine Vielzahl an Nuancen<br />
auf. Während am Fuße des Domes ein fast bräunliches Elfenbein<br />
herrschte, verlief sich dieses nach oben hin. Es wurde<br />
mehr und mehr mit Weiß verdünnt, aus Elfenbein wurde klares<br />
Weiß, und an den oberen Kanten, dort, wo die Wände und Türme<br />
dem Himmel am nächsten waren, schien der Marmor fast transparent.<br />
Als die Sonne nun langsam stieg und den Platz in ein<br />
diesiges gräuliches Rot hüllte, tauchte sie den Pinsel<br />
zuerst in den elfenbeinernen Ton. Sie hatte die Tage zuvor<br />
versucht, mit dem weißlichen Teil in der Mitte des Rumpfes<br />
zu beginnen und war damit nicht recht vorangekommen. Als die<br />
Sonne hinter dem Dom verschwand und der goldene Strahlenkranz<br />
um die Kuppel erbebte, begann sie zu malen. Der Pinsel<br />
huschte über die lächerliche Leinwand, setzte hier einen<br />
Tupfer Gold, zog da eine kurze Linie Mattweiß und wirklich,<br />
es schien, als würde sich aus diesen so wahllos verstreut<br />
anmutenden Akzenten das Bild herausarbeiten, das der Dom ihr<br />
bot. Doch die Sonne tauchte bereits über der Kuppel auf,<br />
schob sich träge über deren Rand, als würde sie an ihr haften<br />
und erstrahlte hell und kalt am Morgenhimmel. Große<br />
Teile der Kuppel fehlten, die Wände waren durchbrochen von<br />
nackten Stellen und der Sockel wies einen kleinen Fehler am<br />
unteren rechten Rand auf, weil ihr der Pinsel wegen einer<br />
unsauberen Handbewegung minimal weggerutscht war. Der<br />
Strahlenkranz aber war vollendet dargestellt. So wie sich<br />
ein Schmetterlingssammler über ein seltenes Exemplar freut,<br />
so freute sie sich über diesen Fortschritt. Ihr war es gelungen,<br />
zumindest ein Fragment des Moments festzuhalten. Der<br />
Strahlenkranz schien wie ein Nachtfalter aus mystischen<br />
Gegenden mit gefährlich und exotisch klingenden Namen, beide<br />
Teil eines größeren Ganzen und beide in ihrer bruchstück-<br />
59
haften Natur doch vollkommen. Und so wie der Sammler wusste,<br />
dass es noch ein langer, vielleicht unmöglicher Weg zur<br />
vollkommenen Sammlung war, so wusste auch sie, dass sie nur<br />
einen kleinen Schritt nach vorne gemacht hatte. Aber wie die<br />
einzelnen Schritte eines Balletttänzers war auch dieser von<br />
ausgesuchter Wichtigkeit und Anmut. Sie nahm das Rechteck von<br />
der Staffelei, betrachtete es noch einmal und verstaute es<br />
dann vorsichtig in ihrem Leinenbeutel.<br />
Den Rest des Tages war es lächerlich einfacher den Dom zu<br />
malen. Es entstanden an diesem Tag, wie an vielen anderen<br />
zuvor, wundervoll pittoreske Ansichten, ob nun im diesigen<br />
Weiß der ersten Morgenstunden, im grellen harten Licht des<br />
Mittags oder im zarten Rosé der frühen Abendstunden, das<br />
langsam ins Purpur abglitt, um letztendlich in ein samtenes<br />
Nachtblau überzugehen. Als sie mit dem letzten Abendlicht<br />
ihre Staffelei zusammenklappte, sich die Tasche mit ihren<br />
Utensilien über die Schulter hängte und mit Staffelei und<br />
Schemel in den Händen den Platz verließ, war sie glücklich.<br />
Sie lebte, oder besser schlief, in einem gesichtslosen<br />
älteren Wohnungskomplex unweit des Platzes, doch außerhalb<br />
des Stadtkerns, ließ doch die Stadtverwaltung solche Bausünden<br />
dort berechtigterweise nicht zu. Das Haus war ein grauer<br />
Niemand, mit hoher schnörkelloser Fassade, rau verputzt,<br />
über die sich in kongruenten Reihen kleine Fenster zogen.<br />
Sie hatte ihren Heimweg nicht wahrgenommen, weder die paar<br />
Stadtbewohner, die ihre wohlbekannte Gestalt erkannten und<br />
entweder sanft lächelnd und höflich nickend, einen Gruß auf<br />
den Lippen oder heftig den Kopf über ihren seligen Blick<br />
schüttelnd an ihr vorübergingen, noch die Häuser und Gärten,<br />
die den vertrauten Weg säumten. Sie schloss die Tür auf und<br />
betrat das Haus. Sie ging die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf,<br />
öffnete sie und blickte sich verwundert um. Ein Mensch<br />
stand auf dem Treppenabsatz.<br />
„Wissen sie, trotz der Tatsache, dass ich die meiste Zeit<br />
alleine bin, halte ich mich für sehr umgänglich“, sagte er<br />
zu ihr. Er stand breitbeinig, mit leicht vornüber gebeugtem<br />
Oberkörper da. Er stand vor ihr, mit seiner großen dunklen<br />
Gestalt das ganze Treppenhaus einnehmend, das abendliche<br />
Zwielicht warf lange Schatten. Er blickte ihr fest in die<br />
Augen. „Ich habe einfach viel mehr Zeit als die meisten Leute.<br />
Die zugegeben recht raren Kontakte die ich zu meinen<br />
Mitmenschen pflege, kann ich dafür umso intensiver auskosten<br />
und überlegter empfinden.“ (Er schien wirklich wenig<br />
Umgang zu pflegen. Sie hatte ihn bis dahin vielleicht drei-<br />
60
mal im Treppenhaus gesehen. Man begegnete sich kurz im Aufoder<br />
Abgehen, grüßte sich flüchtig, eher pflichtbewusst,<br />
denn man wohnte ja im selben Haus und da gehörte es sich so,<br />
und sie würde nicht behaupten, dass hier eine Bekanntschaft<br />
vorlag. Hätte sie jemand gefragt, hätte sie ihn wohl nicht<br />
beschreiben können. Auch jetzt erschien er ihr neblig, die<br />
Schatten zerstoben fein seine Konturen. Jedenfalls hatte sie<br />
ihn außerhalb des Treppenhauses nur ein einziges Mal auf dem<br />
Platz gesehen oder sie dachte zumindest, dass er es gewesen<br />
sein könnte. Der Moment war sehr flüchtig gewesen, eine große<br />
dunkle Gestalt hatte sie aus ihrer Konzentration gerissen,<br />
weil sie schnurstracks und forschen Schrittes durchs Bild<br />
gelaufen war.) Sie war etwas befremdet von seinem vertraulichen<br />
Ton und fühlte sich sehr klein im Vergleich zu ihm.<br />
„Ich gehe mit großer Aufmerksamkeit an ein mögliches<br />
Zusammentreffen heran. Nehmen wir beispielsweise den Besuch<br />
im Supermarkt. Ab und an gehe ich dorthin, jeder Mensch muss<br />
essen und trinken. Wenn ich dann am Band stehe, meine Waren<br />
vor mir, langsam voranrückend, blicke ich die Kassiererin<br />
an. Ich betrachtete die Bewegungen ihrer Hände, wie sie die<br />
Konservendosen hält, die sie über das Band führt, ob ihre<br />
Finger zittern, die Neigung ihres Kopfes. Ich betrachte sie<br />
und male mir aus, wie sie so ist. Ist sie scheu?, frage ich<br />
mich. Ist sie schwach? Und wenn ich dann vor ihr stehe, mein<br />
Blick haftet unentwegt an ihr, dann habe ich jede Nuance<br />
ihres Wesens ausgelotet. Dann kenne ich sie. Ich neige dann<br />
meinerseits den Kopf. Dann lächelt sie ein kleines Lächeln,<br />
und ich lächle zurück. Dann bezahle ich und gehe. Denn ich<br />
weiß alles, was wert zu wissen ist.“ Die Tür ihrer Wohnung<br />
stand weit offen, und sie stellte in plötzlicher wilder<br />
Angst ihren Fuß auf die Schwelle, doch schien ihr, als wäre<br />
diese hoch wie der geliebte Dom, und ihr Knie sackte sachte<br />
ein. Er stand hoch und schwarz in ihrem Rücken. Seine<br />
Züge waren erstarrt und glänzten kalt. Als er nun zu sprechen<br />
fortfuhr, schien es, als würden seine Gesichtsmuskeln<br />
kurz spröde. „Was bleibt mir, dem Gottverleugner, als die<br />
Stirn auf den kalten Stein zu pressen und den Mammon an seiner<br />
Statt in den Himmel zu heben? Ich lege meine Hände auf<br />
den Boden und strecke meine Arme ganz aus, und ich schreie<br />
meines Gottes Namen immer und immer wieder. Wachse drohend,<br />
brenne, stecke alle an. Ich liege wie die Pest in der Luft,<br />
dringe in alle Ritzen, jeden Spalt hinaufkriechend, bis ihr<br />
alle von mir getränkt seid und jeder Tänzer, starr vor<br />
Staub, die Füße still hält. Und du, die du mir die Stirn<br />
61
stellen willst, du, mein Geschöpf, die ich in meinem immerwährenden<br />
Gebet mit eiserner Hand auf den Boden presse. Du<br />
denkst, du stellst mir Mauern aus Glas, hinter denen du deinen<br />
Tanz tanzen kannst?“<br />
Und er zerbrach ihren Spiegel in silbrige Forellenschuppen<br />
und spiegelte sich tausend- und abertausendfach und<br />
atmete den Namen seines Gottes, während durch die weit geöffnete<br />
Tür zerrissene Skizzen auf sie herableuchteten, alle<br />
dasselbe Motiv zeigend, einen Dom im Licht des ewigen Sterns.<br />
62
KATHARINA HARTWELL<br />
Schwund<br />
64
Tobi ruft kurz nach Mitternacht an. „Jetzt ist der<br />
Staubsauger weg“, sagt er. Und: „Du findest das wohl normal.“<br />
„Nein“, sage ich. „Überhaupt nicht.“<br />
„Ich fahr da nächstes Wochenende hin“, sagt er. „Du kannst<br />
mitkommen oder nicht. Deine Sache. Ich schau mir das jetzt<br />
selbst an.“<br />
Er legt auf, bevor ich Zeit habe zu antworten, weil er<br />
weiß, dass ich ihn nicht allein fahren lasse.<br />
„Krieg dich wieder ein“, sagt Tobi und rast über eine<br />
gelbe Ampel. „Ist doch besser, wenn sie nicht wissen, dass<br />
wir kommen, sonst kochen die bloß was. Rouladen oder so.“<br />
„Wie denn, ohne Töpfe?“, frage ich.<br />
Er lacht nicht, ich lache auch nicht. „Hör mal, Sonntag<br />
hauen wir wieder ab“, sage ich. „Wie besprochen.“<br />
„Wie es eben so läuft“, sagt Tobi. „Was meinst du, wie<br />
lang so eine Ermittlung dauert?“<br />
„Ermittlung?“ frage ich und halte mich an meinem Gurt fest.<br />
Die Eltern freuen sich riesig. Lässt sich annehmen.<br />
„Huch“, sagt der Vater. „Ach“, sagt die Mutter. Und: „Wenn<br />
ich das gewusst hätte, hätte ich was gekocht.“<br />
„Zu dumm“, sagt Tobi und schiebt sich geschäftig an ihr<br />
vorbei.<br />
Ich trotte hinter ihm in die Küche. Mir ist unklar, wie<br />
es Tobi gelingt, immer so geschäftig auszusehen, auch wenn<br />
er gar nichts zu tun hat.<br />
„Jetzt kümmern wir uns“, sagt er, setzt seine<br />
Sonnenbrille ab und legt sie auf die Küchenablage. Fast<br />
würde ich auf ihn hereinfallen, habe aber zufällig denselben<br />
Film wie er gesehen, über den unsympathischen Ermittler,<br />
den am Anfang keiner mag, am Schluss aber doch alle, weil<br />
er jedes Rätsel löst und so beeindruckend kompetent ist.<br />
„Gut, dass du da bist“, sagt die Mutter, beeindruckt von<br />
Tobis Kompetenz.<br />
„Danke“, sage ich.<br />
„Jetzt geht das schon wieder los“, sagt der Vater.<br />
„Am besten“, sagt Tobi „wir legen eine Inventarliste an.“<br />
Die Mutter bekommt leuchtende Augen angesichts so viel fachmännischer<br />
Tatkraft. „Genau“, sagt sie, „das machen wir!“<br />
Der Vater sieht weniger überzeugt aus, ich stelle mich –<br />
mal wieder, wie immer, dir kann man’s auch nie recht machen<br />
– quer. „Was sollen wir denn mit einer Inventarliste?“ frage<br />
65
ich. „Der Staubsauger ist weg, die zwei blauen Schüsseln,<br />
Papas graues Sakko und das Telefonbuch. Das wissen wir so,<br />
da brauchen wir keine Liste für.“<br />
Tobi verschränkt die Arme. „Wenn du die Sache schon wieder<br />
so negativ angehst.“<br />
„Ich schlage bloß vor, dass wir erst mal den Staubsauger<br />
suchen. Ich geh auf den Dachboden, Tobi, du schaust im<br />
Keller nach.“<br />
Wir finden den Staubsauger nicht. Nicht im Keller, nicht<br />
auf dem Dachboden. Nicht in der Abstellkammer, wo er ursprünglich<br />
verwahrt wurde. Stattdessen stellen wir fest,<br />
dass das Teeservice der Oma, die Waschmaschine und alle<br />
übrigen Telefonbücher ebenfalls verschwunden sind. Zumindest<br />
was diese angeht, sind wir froh. Wir haben noch nie verstanden,<br />
wieso der Vater seit den siebziger Jahren alle Telefonbücher<br />
aufhebt.<br />
Es wäre falsch zu sagen, nichts habe sich im Haus verändert.<br />
Möbel sind nicht verrückt oder entfernt worden, die<br />
Tapeten wurden nicht gestrichen und auch nichts Wesentliches<br />
renoviert oder erneuert. Trotzdem. Anzeichen ihrer Krankheiten,<br />
ihres Alters, ihres Älterwerdens finden sich überall.<br />
Medikamente im Wohnzimmer, Schachteln und Tuben und<br />
Dosen und Zeitpläne, der Inhalator der Mutter, die Einstiegshilfe<br />
an der Badewanne, Tees und Schlafmittel und<br />
Franzbranntwein und Salben. Dieses soll beleben und jenes<br />
beruhigen. Dieses fördert die Durchblutung und jenes lindert<br />
die Atembeschwerden.<br />
Und die Eltern?<br />
Die Eltern sind immer noch sie selbst, nur sind sie weniger<br />
von sich, als hätten sie sich halbiert oder seien geviertelt<br />
worden. Sie sind verwaschen und geschrumpft und<br />
nicht mehr ganz glaubwürdig. Der Vater erinnert noch an den<br />
Vater, wird aber mit jedem Tag mehr zum fleckigen Gespenst.<br />
Nachts geistert er durchs Haus, dann muss ihn die Mutter<br />
wieder einsammeln, im Wohnzimmer, im Flur. „Hast du geträumt?“,<br />
fragt sie oft, auch tagsüber, wenn er im Fernsehsessel<br />
einnickt. Dann schüttelt er heftig den Kopf, als läge<br />
ihm nichts ferner, als hätte er nie, in seinem ganzen Leben<br />
nicht, geträumt.<br />
Nachmittags, als die Eltern ihr Mittagschläfchen halten,<br />
klopfe ich an Tobis Tür. Er sitzt auf dem Boden, staubt<br />
66
seine Mineralien ab, umwickelt sie mit Tempos und packt sie<br />
in seinen Rucksack. „Was wird das denn?“, frage ich, und er<br />
schreckt hoch. „Nur so zur Sicherheit“, sagt er.<br />
Wenn man Tobi ließe, würde auch er Telefonbücher sammeln.<br />
„Wegen dem Staubsauger“, sage ich, „denkst du, was ich<br />
denke?“<br />
„Was denkst du?“, fragt er.<br />
„Carl“, sage ich.<br />
Er wiegt den Kopf, wirft mir einen nicht unbeeindruckten<br />
Blick zu und sagt: „Stimmt, zutrauen würd ich’s ihm.“<br />
Wir mögen Carl nicht. Wir trauen Carl nicht. Wir verstehen<br />
ihn nicht. Mit den Eltern redet er Hochdeutsch, aber wenn<br />
wir den Raum betreten, fängt er sofort an zu schwäbeln. Er<br />
will nicht verstanden werden, nicht von Tobi und mir. Seit<br />
zwei Jahren ist Carl der Untermieter der Eltern.<br />
„Du meinst, der Carl …“, sagt Tobi.<br />
„Wer sonst kommt ohne Schwierigkeiten ins Haus? Wer sonst<br />
könnte eine Waschmaschine klauen, ohne dass es irgendwem<br />
auffällt?“<br />
Einen Moment ist Tobi überzeugt, sind wir beide aufgeregt,<br />
weil wir die Lösung des Rätsels gefunden haben. Dann<br />
sagt Tobi: „Aber was will der mit den Sachen? Mit Papas Sakko.<br />
Oder mit den Telefonbüchern. Was will der denn damit? Wenn<br />
der was klauen will, warum klaut er dann nicht das Silber<br />
oder Mamas Schmuck?“<br />
Ratlos betrachten wir Tobis Mineraliensammlung. Im Haus ist<br />
es mucksmäuschenstill.<br />
Abends will die Mutter uns etwas Gutes kochen. Wir essen<br />
versalzene Suppe und angebrannte Frikadellen und zerkochte<br />
Kartoffeln. Wir essen schweigend mit Plastikgabeln von<br />
Partypapptellern. Abends passiert so wenig im Haus meiner<br />
Eltern, dass die Zeit stoppt. Das war schon immer so.<br />
Während die Eltern mindestens eine Dreiviertelstunde Tagesschau<br />
gucken, stecken wir im Minutenmatsch fest. So klebrig,<br />
so schwer hat sich schon lange kein Abend mehr angefühlt.<br />
Um die Eltern nicht von der neusten Kaltwetterfront abzulenken,<br />
spielen wir in Tobis Zimmer Halma. Ich gewinne vier<br />
Partien hintereinander, und Tobi hat keine Lust mehr. Er<br />
schlägt vor, dass wir uns mit alten Freunden, mit Schulfreunden<br />
auf ein Bier treffen, und ich erinnere ihn, dass<br />
alle weggezogen sind, und wir außerdem nie Freunde hatten,<br />
nur Feinde. „Stimmt“, sagt Tobi resigniert, und wir spielen<br />
noch eine Partie Halma.<br />
67
Am nächsten Morgen habe ich Rückenschmerzen, weil ich<br />
nicht in meinem Bett, sondern auf Tobis Couch geschlafen<br />
habe. „Selbst Schuld“, sagt Tobi. Er versteht nicht, warum ich<br />
nicht in meinem Zimmer habe schlafen wollen.<br />
„Weil es gruselig ist, darum“, sage ich.<br />
„Ist doch alles genau wie früher, die haben doch nichts<br />
verändert“, sagt Tobi.<br />
Und da liegt das Problem. Das Haus wird zum Museum. Und<br />
Museen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Vergangenheit und<br />
Erinnerung konservieren, nicht dadurch, dass dort jemand<br />
lebt. Wäre der Tod ein Gebäude, dann sicher ein Museum.<br />
Beim Frühstück stellen wir fest, dass keine Butter im Haus<br />
ist. „Jetzt auch noch die Butter!“, stöhne ich, aber die<br />
Mutter stellt klar, nein, die Butter sei nicht verschwunden,<br />
sie hätte bloß vergessen, welche zu besorgen, und den Vater<br />
mit seinem schlechten Bein habe sie heute Morgen nicht in<br />
die Stadt schicken wollen.<br />
„Wieso denn in die Stadt, er kann doch zum Supermarkt<br />
gehen“, sage ich.<br />
„Der ist weg“, behauptet die Mutter.<br />
Tobi und ich spähen aus dem Fenster Richtung Supermarkt.<br />
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hätte uns auch ein verschwundener<br />
Supermarkt nicht weiter überrascht.<br />
„Da ist er doch“, sagt Tobi zaghaft. Seine fachmännische<br />
Tatkraft ist verschwunden.<br />
Wir erfahren: Der Vater setzt keinen Fuß mehr in den Supermarkt,<br />
seit der Besitzer gewechselt hat. Alles ist fremd,<br />
der Supermarkt hat einen neuen Namen, das Sortiment ist ein<br />
anderes und viel kleiner, und das Personal hat komplett<br />
gewechselt. Der Vater findet sich dort nicht mehr zurecht.<br />
Abends lädt Tobi uns zum Italiener ein. Während wir zum<br />
Restaurant fahren, parken, bestellen, essen, bezahlen, wundere<br />
ich mich über die Eltern. Ihr Fahrstil erschreckt mich,<br />
und dass sie die Verkehrsregeln vergessen zu haben scheinen,<br />
dass die kurzsichtige Mutter unbebrillt fährt, weil die<br />
Brille verschwunden ist, dass sie die Karte im Restaurant<br />
nicht verstehen und den Kellner verdächtigen, sie über den<br />
Tisch zu ziehen. Weil, das flüstern sie sich beunruhigt zu,<br />
es sich um einen neuen, ihnen gänzlich unbekannten Kellner<br />
handelt. „Der Alfredo sieht aber anders aus“, bemerkt der<br />
Vater.<br />
68
Als wir wieder zuhause sind, schnappe ich Tobi und schubse<br />
ihn in den begehbaren Kleiderschrank der Mutter. „Seit wann<br />
können die kein Auto mehr fahren?“, flüstere ich. „Seit wann<br />
können die nicht mehr bestellen, seit wann geht Papa nicht<br />
mehr in den Supermarkt. Was ist hier los?“<br />
Tobi zuckt die Achseln und hört gar nicht zu. „Flipp jetzt<br />
nicht aus“, sagt er, „aber die Badewanne ist weg.“<br />
Ich renne ins Badezimmer, ich untersuche die schmutzigen<br />
Kacheln, ich flippe aus, ich drohe, die Polizei zu rufen, ich<br />
rufe die Polizei. Die Polizei weiß nicht weiter. „Und was<br />
ist sonst noch verschwunden?“, fragt der ratlose Polizist.<br />
Stolz produziert Tobi seine Liste. Ein Hauch fachmännischer<br />
Taktkraft funkelt in seinen Augen.<br />
„Komisch“, sagt der Polizist. „Telefonbücher?“<br />
Wir schütteln ratlos die Köpfe. Beiläufig erwähnt Tobi<br />
Carl, und der Polizist verspricht, „der Sache auf den Grund<br />
zu gehen.“<br />
Tobi hält Plastikgabel und Messer in den Fäusten und sagt:<br />
„Darüber haben wir schon hundert Mal gesprochen. Nicht schon<br />
wieder.“<br />
„Ich würde das nur mal gern gedanklich durchspielen“,<br />
sage ich.<br />
„Wir ziehen nicht aus“, sagt die Mutter. „Da gibt es nichts<br />
durchzuspielen, wir bleiben hier.“<br />
Nicht zum ersten Mal erwähne ich: Das Haus ist zu groß,<br />
die Heizkosten sind unbezahlbar, weder Tobi noch ich wohnen<br />
in der Nähe, der Vater wird schon bald die Treppe nicht mehr<br />
laufen können. „Und jetzt auch noch das“, sage ich.<br />
Tobi schaut mich misstrauisch an, so als verdächtige er<br />
mich, in das Verschwinden von Waschmaschine, Telefonbüchern<br />
und Schüsseln involviert gewesen zu sein, nur um noch ein<br />
Argument mehr auf meiner Seite zu haben.<br />
„Hast du was damit zu tun?“, fragt er.<br />
„Jetzt reicht’s aber!“, sage ich.<br />
Die Mutter hebt beschwichtigend die Hände. „Wir verstehen<br />
ja. Wir sehen das ja ein. Aber wir können hier nicht weg.<br />
Wenn ich mir vorstelle, dass hier jemand Fremdes wohnt.“<br />
Ich schüttele den Kopf, als sei ich mir meiner Sache<br />
sicher, tatsächlich bin ich mir gar nicht sicher. Ich will<br />
nach Hause, nur weiß ich nicht, wo das sein soll.<br />
„Also wegen dem Fernseher“, sagt die Mutter. „Eben war er<br />
noch da.“<br />
69
Diese Nacht schlafe ich in meinem eigenen Zimmer. Gegen<br />
drei wache ich auf. Ich schrecke hoch, weiß nicht, was mich<br />
geweckt hat, weiß es doch: Ein Tosen, ein Heulen. Ein Sturm<br />
muss aufgezogen sein, auch wenn sie im Wetterbericht nicht<br />
einmal Unruhen angekündigt haben. Es donnert nicht, es<br />
blitzt nicht, aber die Jalousien klappern, die Wasserflasche<br />
wackelt auf dem Tisch, der Boden zittert leicht. Ich schließe<br />
die Augen, versuche, wieder einzuschlafen, aber das Lärmen,<br />
das Stürmen nimmt mit jeder Minute zu. Ich stehe auf, laufe<br />
zum Fenster und schaue nach draußen. Die Nacht ist schwarz und<br />
unergründlich und, soweit ich durch die leicht geöffneten<br />
Jalousien sehen kann, ruhig.<br />
„Hörst du das?“, fragt Tobi. Ich habe nicht gemerkt, dass<br />
er ins Zimmer gekommen ist.<br />
„Bloß ein Sturm“, sage ich und glaube mir fast selbst.<br />
„Mach das Fenster auf“, flüstert Tobi.<br />
Ich öffne das Fenster und atme Nachtluft. Es ist windstill.<br />
Tobi tritt neben mich ans offene Fenster. Wir starren<br />
nach draußen.<br />
„Das ist hier drinnen“, sagt er. „Der Sturm ist im Haus.“<br />
„Du spinnst doch“, sage ich, als ein Windstoß die Wasserflasche<br />
und ein paar Bücher vom Tisch fegt. Ich spähe ins<br />
Dunkel, warte auf den dumpfen Schlag, mit dem die Gegenstände<br />
auf dem Boden auftreffen sollten. Es bleibt still.<br />
„Geh die Eltern wecken“, sage ich zu Tobi.<br />
Ich renne ins Arbeitszimmer, um nach den Fotoalben zu<br />
suchen. Menschen retten bei einem Brand angeblich immer ihre<br />
Fotos, irgendetwas werden sie sich dabei denken. Ich gehe<br />
durch die Schränke der Eltern und muss kein schlechtes<br />
Gewissen haben, weil ich in ihren Privatsachen wühle. Es ist<br />
kaum noch etwas da. Ich finde ein einziges Fotoalbum, aber<br />
als ich es aus dem obersten Regalbrett ziehe, fällt es mir<br />
aus der Hand und unter den Schreibtisch des Vaters. Ich bücke<br />
mich, taste in der Dunkelheit. Es ist nicht da, nicht zu<br />
finden und ich kapituliere.<br />
Tobi und die Eltern warten am Treppenabsatz.<br />
„Raus hier, was macht ihr noch hier?“, frage ich. Tobi<br />
zuckt die Achseln, mehr Gespenst als Mensch, hier oben für<br />
diesen Augenblick ganz der Vater.<br />
Wir bugsieren den Vater die Treppe hinunter. Wegen des<br />
schlechten Beins ist er unwahrscheinlich langsam. Die Treppe<br />
ist schmal, und die Wände zittern, Bilder fallen zu Boden,<br />
einige zerspringen, man kann das Glas splittern hören, andere<br />
70
machen kein Geräusch mehr. Ich konzentriere mich auf den<br />
Vater und jede einzelne Stufe, aber aus den Augenwinkeln<br />
sehe ich die Risse. Das Haus scheint von beiden Seiten zusammengeschoben,<br />
zusammengedrückt zu werden. Auf der untersten<br />
Stufe stolpert der Vater, und ich werfe mich vor ihn.<br />
Ich bin sicher, dass auch er verschwinden würde, wie die<br />
Bücher, wie die Alben. Tobi reißt die Haustür auf, greift die<br />
Mutter am Arm und zieht sie nach draußen. „Ich brauch den<br />
Mantel. Die Nachbarn!“, ruft sie, aber Tobi zieht weiter.<br />
Mit winzigen Schritten nähert sich der Vater der Haustür.<br />
Auf den letzten Metern schiebe ich ihn. Hinter uns knackst<br />
und kracht es. Das sind die Balken, das ist die Treppe, jede<br />
einzelne Stufe kann man hören, wie bei einer Tonleiter. Die<br />
Musik ihres Verschwindens frisst sich durch das Holz.<br />
Die Mutter wartet vor dem Nachbarhaus, Tobi und ich<br />
schleifen und ziehen, schieben und tragen den Vater das<br />
Treppchen vor der Haustür hinunter. Als wir ihn loslassen,<br />
höre ich ein Geräusch, so laut, dass ich es im ersten Moment<br />
nicht als Geräusch erkenne. Wie eine Explosion, ein Knall,<br />
ein akustischer Unfall sprengt es alles, was meinem Gehörgang<br />
vertraut ist. Ich presse die Hände auf die Ohren, gehe<br />
in die Knie und schließe die Augen, weil ich die Mutter nicht<br />
länger sehen will. Nach dem Geräusch, das kein Geräusch ist,<br />
pfeift es im Kopf. Es piept und fiept, als habe man während<br />
eines Konzerts zu lange neben den Lautsprechern gestanden. Ich<br />
lasse die Hände sinken. Ich drehe mich nicht um, schaue bloß<br />
die Mutter an, die Mutter und Tobi und wie sie starren,<br />
obwohl es doch nichts, rein gar nichts mehr zu sehen gibt.<br />
71
EVA KISSEL<br />
Die Hand an die Stirn eines Fiebernden<br />
Wenn Kastanien retten<br />
Gardinen<br />
Die Nacht um Verzeihung bitten<br />
Weihnacht<br />
Adam<br />
72
Die Hand an die Stirn eines Fiebernden<br />
Da könnte man ihr Kinderauge ein einzig Mal nicht übergehen,<br />
zum ersten Mal könnt’ ihrem Traum geglaubt.<br />
Elen liegt meistens wach im Fieber, sie wälzt sich durch<br />
die Nacht, indem sie selbige sich um den Körper wickelt mit<br />
dieser Dreherei. So schwer ist diese Bettdecke doch nicht,<br />
oder ist es die Dunkelheit, die ihre Masse in meinen schwachen<br />
Körper schiebt? Und nassen Körper, der scheinbar nichts<br />
als schwitzen kann und glühen. Das denkt sie sich und wird<br />
so plötzlich nur noch ein Stück Fleisch, das einen Blutkreis<br />
trägt. Elen spürt auch den Schädel richtig, wie er mit seiner<br />
hohlen Existenz den Kopf rund hält.<br />
Ein Jemand hat den Hausarzt hergerufen, sie hat es nicht<br />
bemerkt, doch nun steht er auf einmal vor ihr. Ganz ohne<br />
weißen Kittel, das Stethoskop nicht um den Hals, nur lose in<br />
der Hand, erscheint die Frage nach Elens Befinden schon fast<br />
ein bisschen übermütig. Sie würde gerne sagen: Es pocht und<br />
wabert, summt in sich zusammen, gibt sich dem Rausch der<br />
Ohren hin.<br />
Doch fraglich, ob er das verstünde, so sagt sie nur: Es<br />
sticht ein bisschen in dem linken Zeh. ‚Ein Stechen in dem<br />
linken Zeh‘, das steht wohl eher in dem dicken, abgewetzten<br />
Buche, das er da mit sich trägt. Doch schlägt er es nicht<br />
nach, er weiß es scheinbar so: „Das Fieber ist sehr hoch und<br />
ausgeprägt ist das Delirium. Sie ist im Wahn.“<br />
Elen meint, dass Doktoren nur viel zu kurze Sätze sagen<br />
und immer so, als seien die Patienten nicht dabei. Nun gut,<br />
versucht er bloß der Mutter zu erklären, die noch die Schürze<br />
mit dem Fettfleck trägt, so schnell war wohl der Doktor.<br />
Und überhaupt. Vielleicht will Elen ja im Wahn sein. Sie<br />
findet diesen Wahn nämlich auch gut. Obwohl sie gar nicht<br />
genau weiß, was er bedeutet. Der Wahn, der macht, dass man<br />
den Tag als Nacht durchschläft und letztere dafür ein bisschen<br />
wacher hält. Der macht, dass man ein bisschen seichter<br />
in dem Leben klemmt und ach, welch Träume er erst schenkt!<br />
Ein Traum, der nicht vom Schlaf bedingt, man braucht nur<br />
Müdigkeit, bestehend aus der Tiefe eines Schachts, sackt man<br />
in ihn hinein. In seine Farben, die so gefasst sind. Alles<br />
ist möglich dort. Er ist sogar betont und Elen würde diesem<br />
Traume all anderm vorziehen. Auch wenn es manchmal schlimm<br />
ist, man rennt, kommt nicht vom Fleck und kann nur Stille<br />
schreien.<br />
73
Elen freut sich, wenn dieser oder jener Traum ihr etwas mit<br />
ins Wache gibt, wenn kleine Narben, blaue Flecken von ihr<br />
entdeckt. Sie weiß, dass sie sich nachts im Traume stieß,<br />
vielleicht an Wasser oder auch an Luft. Die Dinge haben dort<br />
nichts Irdisches.<br />
Im Traum könnte die Mutter niemals die Tochter bitten,<br />
sofort die Stube reinzufegen, die Stube braucht dies nicht.<br />
Genauso wie die Mutter keine Worte braucht, sie weiß, dass<br />
Worte nur Konstrukte sind. Dass Elen, dürft sie frei entscheiden,<br />
die Stube nicht Stube genannt, doch Besen und den<br />
Besen Stube. So hätte ein Befehl der Mutter keinen Sinn, da<br />
Elen mit der Stube Besen fegen sollt, was unmöglich erscheint.<br />
Im Traum, da wissen alle, was die Wahrheit ist. Dass<br />
diese nämlich nicht besteht, dass, wenn die Augen zu sind,<br />
der Raum um alles stirbt und lediglich der Weg vom Sinn zum<br />
Hirn die Welt bestimmt. Und da ein jeder dieses weiß, fällt<br />
Falsch und Richtig aus, gibt’s keine Katze, keine Maus. Die<br />
Sinngebung verwest und alles nichtet ab.<br />
Wenn Elen ihren Wahn noch so sehr mag, so mag sie doch<br />
den Atem ihrer Mutter auch, der auf dem alten Canapé noch<br />
heftiger sich aus ihr stößt. Sie mag der Mutter Kälte in der<br />
Hand, die sich auf Elens Stirne legt. Sie mag den Weg von<br />
Mutters Arm zur Stirn am liebsten, denn niemand könnte diesen<br />
Weg, der nichts als still Gebärde ist, ihr nehmen.<br />
Wenn Kastanien retten<br />
Neben Elen in der Kirchbank sitzt die Großmutter, die<br />
schnauft. Die Großmutter, die immer ihr die Socken strickt<br />
und die das Leben so durchschmatzt. Sie hat doch immer ein<br />
Geräusch an sich. Gar zweimal singt sie falsch, doch eigentlich<br />
hat Elen nie an ihre hellen Töne glauben können.<br />
Die Daumendreherei während der Predigt lässt dann das Licht<br />
noch greller gegens bunte Kirchenfenster prallen, sodass man<br />
gar nicht mehr herauszuschauen fähig ist, das Licht bricht<br />
sich noch aus den Strahlen sonst.<br />
Dann lauscht sie wieder nur der kalten Fülle leerer<br />
Kirchen, die eigentlich vollsungen werden müsste, um weiterhin<br />
zu existieren, um nicht vor leisem, immerwährend Seufzen<br />
zu erblassen.<br />
74
Das Schönste jedoch sind die Glocken, weil sie sich immer<br />
fragt, wo sie gegossen wurden, dass sie so ungreifbare Klänge<br />
von sich geben und sie möcht auch gegossen werden dort. Ihr<br />
Klang gibt Elen immer ein Stück Schlaf im Mutterschoß, sie<br />
schmiegt sich immer ein.<br />
Und Elen denkt an Welten ohne Glocken, ohne was, das den<br />
Sonntag jede Woche ruft, und das die Straßen leer hallt<br />
immer wieder mit seinem schwachen Jammern. Wie man in Klänge<br />
einwurzelt, das wird Elen bewusst, als sie nicht mehr vom<br />
Glockenschlage lassen kann, auch in Gedanken nicht. Schnell<br />
fragt sie sich, was wohl die Oma im Gedanke hat, wahrscheinlich<br />
den Großvater, wie er zuhause keltert, den Saft stark<br />
aus der Traube presst.<br />
Elen ist nicht ganz sicher, vielleicht gedenkt sie auch<br />
der alten Zeit, auf jeden Fall sieht Elen die Kastanie auf<br />
dem Boden liegen nun und kann nicht ab, sie aufzuheben und<br />
sich an ihrem tiefen Braun ein bisschen zu vergehen, sie<br />
knetet es durch ihre warme Hand und stumpft es so ein wenig<br />
ab. Der Pfarrer verspricht sich grade da, als Elen die<br />
Kastanie fallen lässt und dumpf verschlägt der Knall des<br />
Pfarrers falsches Wort. Nun schauen alle um, die Großmutter<br />
wird rot im Kopf und schaut beschämt zurück. Elen schließt<br />
schlichtweg die Augen, als Kind hat das ja auch geklappt,<br />
dann war man einfach nicht mehr da für den Moment.<br />
Gardinen<br />
Elen hatte gerade den allerletzten Ton fertig gesummt,<br />
als sie beschloss, die Welt ein bisschen mehr zu meiden. Sie<br />
war schlichtweg zu überfüllt. Drum stieß Elen die Fenster<br />
auf und ging. Gewiss würd sie die Kacheln auf dem Boden missen<br />
und auch die Mutter würd ihr fehlen. „Dir hängt da Blut<br />
im Ohr“, das war das Erste, was die Fremde zu ihr sagte.<br />
Nämlich beim Klettern aus dem Fenster verfing sich das Geäst<br />
in ihr, das einzig, das versuchte, sie zu halten. Es riss auch<br />
ein paar Haare ab und allgemein bekannt ist wohl, wie Haare<br />
binden. Doch Elen ging. Sie ging in alles über. Die Mutter<br />
sucht sie heute noch, wehn die Gardinen rüber.<br />
75
Die Nacht um Verzeihung bitten<br />
Sie wollte die Augen in Reinschrift schreiben.<br />
Die dumme Lisa hatte das mal machen müssen. Sie hatte der<br />
Lehrerin eine Arbeit gegeben, die man nicht hatte lesen können.<br />
Die Lehrerin gab sie mit den Worten zurück: „Schreib das<br />
ins Reine, Lisa. Man kann ja nichts lesen.“<br />
Elen konnte ihn nicht lesen, nichts konnte sie an ihm entziffern.<br />
Sie sah ihn an und sah Verworrenes an, Zerstobenes,<br />
sah etwas an, das es nicht gab. Sie wusste keine Farben für<br />
die Augen, solch Hände hatte sie noch nie gesehen. Die Form<br />
des Kopfes ließ nichts zu, der Mund gab Worte, die nicht<br />
wuchsen, auch wenn sie Elen täglich goss.<br />
Alles, was Elen je von ihm bekam, jedwed Geräusch, jeglich<br />
Geruch und all Geschriebenes, Gesagtes, das sie sorgsam sich<br />
ersucht, geerntet, es war so überaus gewichtig, dass sie es<br />
fallen lassen musste, gerade dort, wo sie es aufgehoben.<br />
Nicht einen Tag gelang es ihr, ihn mitzunehmen an der Hand,<br />
nicht einen einzig Augenblick. Sie streifte bloß an ihm vorüber<br />
so wie man Haare aus Gesichtern streift.<br />
Da nahm sie sich vor, seine Augen in Reinschrift zu schreiben.<br />
Doch als sie sich beim letzten Pigment dann vertat, da<br />
knüllte sie alles zusammen und warf es zum Brennholz.<br />
Und wusste erst dann, wie überaus wichtig Verworrenes war<br />
und Zerstobenes. Wie bedeutsam, die Hand nie zu greifen, auf<br />
dass die Luft genug Raum zum Umhüllen, Umspielen auch hat.<br />
Wie nötig, die Augen – zumindest die Augen – aus Zeiten der<br />
Farblosigkeit nicht zu wecken, wie unbedingt sinnvoll, das,<br />
was man bekommt, in den Tagen zu lassen, in die es geboren,<br />
nichts mit sich zu schleifen wie der Mond den Schatten der<br />
Erde.<br />
Und da nahm sie sich vor, um Verzeihung zu bitten. Ihn und<br />
die Nacht und alle, die dies schon immer gewusst.<br />
76
Weihnacht<br />
Elen will dieses Jahr gern größer als der Christbaum sein.<br />
Sie will die Silberspitze auf ihn setzen können, ohne dazu<br />
die Leiter aus dem Schuppen herzutragen. Drum holt sie ein<br />
paar Mark aus ihrer Büchse und läuft zur Kellerstraße zum<br />
Verkauf. Mit dem Gesparten in der Hand springt sie dem<br />
Baumverkäufer fast in die Arme, so aufgeregt ist sie. Bisher<br />
nämlich gab’s immerzu nur Tannengrün zum Tischgedeck, wenn<br />
nicht sogar nur Reisig. Da freut sie sich besonders, als ihr<br />
der Baumverkäufer einen Apfel schenkt, um an den Baum zu<br />
hängen, da ja zuhause gar kein Baumschmuck aufzufinden ist.<br />
Nur leider merkt Elen auf dem Nachhauseweg, dass ihr der<br />
Magen heftig grummelt, so steckt sie sich den Apfel in den<br />
Mund und schluckt ihn fast mit einem Male runter. Jetzt hat<br />
sie gar nichts mehr, bloß noch eine Idee: Der Bauer Franz<br />
hat doch bestimmt noch Stroh im Stall, ein wenig wird sie<br />
da wohl haben dürfen. Tatsächlich schenkt er ihr etwas,<br />
sogar sehr viel, die Tüte quillt schon über.<br />
Zuhaus beginnt Elen sogleich, Strohsterne herzustellen,<br />
auch wenn sie etwas schief und lose sind. Mit Stroh binden,<br />
das hat wohl keiner jemals gut gekonnt. Das Abendläuten rückt<br />
einen schon zum Tag hinaus, als Elen stolz ihr Werk betrachtet.<br />
Der Baum ist gänzlich strohern, die bunten Kerzen fast<br />
schon zu alt, um ihren Kampf dem Dunkel anzusagen. Dennoch<br />
fehlt eine Spitze, die Spitze, die den Baum erst kaufen<br />
ließ. Elen vergaß, dass es sie gar nicht gibt, schon gar<br />
nicht silbern. Das einzig Silberne, das sie besitzt, ist<br />
eine Silberdistel, obwohl ihr nicht mal diese eigentlich<br />
gehört. Elen weiß nur, dass sie auf einer Wiese in die Lüfte<br />
ragt und ihre Blicke oft schon band.<br />
Es ist schon gar so spät, dass Elen aus der Türe schleichen<br />
muss, die Mutter hätt’ niemals sie in die Dunkelheit<br />
entlassen. Die Kälte ist sehr tief, vielleicht tiefer denn<br />
je, denn Elen hatte nicht Gelegenheit gehabt, sich Stiefel<br />
anzuziehen und den Mantel. Die Haussocken halten den Schnee<br />
nicht warm, obwohl Elen sich sicher war, dass Omas Selbstgestricktes<br />
sogar die Winterkälte schmelzen ließe. Ein Glück,<br />
ist diese Blume nah am Haus. Elen tut das Pflücken fast ein<br />
bisschen leid, die Blume hat sich bestimmt gut in die Wiese<br />
eingelebt und würde sich vielleicht mit einem Tannenbaum<br />
nicht allzu gut vertragen. Aber es liegt ihr ob, dem Christbaum<br />
eine Spitze auch zu schenken und als der Baum die<br />
Distel trägt, zwar noch ein bisschen unsicher, verlegen, da<br />
77
kann Elen nicht anders als zu strahlen und zweimal in die<br />
Hände laut zu klatschen, sodass die Mutter kommt und sie die<br />
Freude teilen. Sie streicht Elen über ihr braunes Haar, die<br />
Strähne, die sich wortlos löst, hängt Elen zwar ins Auge,<br />
doch wird sie nicht von ihr bemerkt, sie sieht nichts als<br />
den schwachen Glanz der Kerzen.<br />
Am übernächsten Tage steht Elen vor dem grünen Baum und<br />
denkt, wär doch ein Baumsterben dies Jahr gewesen. Es hätte<br />
keine kleine, keine große Tanne überlebt, dann hätt’ ihr<br />
schöner Baum auch nicht dies schrecklich Fest ertragen müssen.<br />
Nicht zusehen müssen, wie alle sich verweinen, wenn sie<br />
den Weihnachtsgruß demjenigen, dem sie die Hand fest schütteln,<br />
ins Gesichte küssen. Wie diese Hand nicht losgelassen<br />
werden will, weil jeder weiß, dass sie im nächsten Jahr<br />
schlaff neben ihrem Körper hängen könnte, tief in der Erden<br />
Grund. Weil jeder weiter leben will und doch nicht immer kann.<br />
Da nützt auch jeder Ratschlag nichts. Nämlich bei Uromas<br />
Beerdigung da ward in Elens Ohr geflüstert: Wenn du den Mund<br />
aufmachst, dann haben es die Tränen etwas schwerer. Doch<br />
hatte Elen ihren Mund auf, oh ja, sehr wohl, und dennoch<br />
liefen die Tränen wangenwärts. Vielleicht war es gar nicht<br />
so schlimm, sie mochte den Geschmack von Salz in ihrem Mund,<br />
der alle Zähren aufzufangen hatte. Sie mochte dieses<br />
Abperlen an Haut.<br />
Gewiss war auch, dass dieser Baum mit anzusehen hatte,<br />
wie klein Sofie sich ihren Milchzahn aus dem Munde stieß.<br />
Sie hatte vorgehabt, den Weihnachtssang mit ihrer Flöte zu<br />
begleiten, doch jetzt klang dieses Weihnachtslied so schief,<br />
dass irgendwann der Text vergessen wurde und nach und nach<br />
das Singen sich verlor. Der vierjährige Hans war mit dem Kaufladen<br />
so sehr beschäftigt, dass er vor Freude in die Hose<br />
machte. Über die Puppa dann konnt Sofie sich nur wenig freuen,<br />
da diese einer Hexe glich und Sofie Hexen für gewöhnlich<br />
mied. Tante bekam noch einen Christstollen von Mutter,<br />
die Mutter einen von der Tante. Elen vergab übrige Strohsterne,<br />
wobei die Hälfte leider im Geben schon zerfiel. Der<br />
Großpapa hatte bereits am Tag vor der Bescherung die Kognakflasche<br />
hinter dem Canapé entdeckt und sie am nächsten<br />
Mittag trinken müssen. Kein Wunder, dass er auf klein Sofies<br />
Vorschlag, einmal in ihre Flöte reinzupusten, nicht reagierte.<br />
Und nun steht Elen vor dem Baum und wünscht sich alles<br />
Menschliche aus ihm heraus, auf dass er nichts verstünde,<br />
von dem, was er da sah, auf dass er nicht an dieser Menschenarmut<br />
litte.<br />
78
Adam<br />
Elen kennt einen Jungen, den sie nicht mögen will. Sie will<br />
ihn nicht mögen, weil man ihn Adam nennt. Elen will keinen<br />
mögen, der Adam heißt, der in seinem Namen so viel an<br />
Wohlklang staut, dass andre Wörter drunter leiden müssen.<br />
Elen hat es schon ausprobiert. Sie nahm ein Blatt und schrieb<br />
„Schwalbe“ darauf mit sorgfältiger Schrift. Sie sagte es<br />
laut auf, vielleicht dreimal. Es war kein schlechtes Wort,<br />
sie würde sagen Note zwei. Doch als sie das Wort Adam dann<br />
daneben schrieb, verlor das Schwalbenwort, was Wörter nur<br />
verlieren können. Sie sagte Schwalbe Adam Schwalbe Adam,<br />
doch dann hörte sie auf, damit der Name dem einst schönen<br />
Vogel nicht noch mehr seines Klangs entriss, damit der Vogel<br />
nicht noch durchsichtiger, noch nesthockiger wurde.<br />
Manchmal scheint Adam diese Empfindlichkeit, die sein Name<br />
hervorbringt, auch zu spüren, wenn er am Ende eines Briefes<br />
schreibt, mit liebem Gruß A., um seinem Brief nicht alles zu<br />
entnehmen, was er davor ihm gab.<br />
Und noch etwas: Elen will keinen Menschen gerne mögen,<br />
den sie nie fragen könnte, ob sie an seine Schläfe einmal<br />
langen dürfe, und das konnte sie viele Leute fragen. Ein<br />
jeder, Vater, Mutter würde sagen: In Ordnung, wenn du meinst.<br />
Alle würden kurz stutzen, die Geste über sich ergehen lassen<br />
und dann im nächsten Augenblick das eben grad Geschehene<br />
vergessen.<br />
Doch nicht so Adam. Das sanfte Streifen an der Schläfe,<br />
auch noch so leicht nur und vergänglich, würde für ihn zur<br />
Narbe werden, die sich nicht schließt. Ihm würde dieser kaum<br />
vorhandene Druck nicht gehen, er würd sein Herz im Kopfe<br />
immer schlagen hören und auch des Herzes Echo. Er könnte die<br />
Gebärde nicht ertragen und nur aus diesem einen Grund: Adam<br />
wäre der Einzige, der diese ernst nähme, der sie verehrte,<br />
pflegte und versorgte. Doch Elen weiß, dass das nicht möglich<br />
ist, dass man Momente, Weilen nie unterschätzen sollte.<br />
Man sollte sie vergehen lassen, denn dazu sind sie da,<br />
daraus bestehen sie. Und da ist es schon wieder. Adam nimmt<br />
einer Sache ihren Wert. Er nimmt, wenn er Elens Geste behalten<br />
will, dem Augenblick den Glanz. Und das steht ihm nicht<br />
zu. Das steht niemandem zu.<br />
Es ist ganz einfach so, dass Elen niemanden mögen will,<br />
der manchmal einen Teebeutel im Haare hängen hat, weil es<br />
gut riecht. Der gerne wissen will, wie schwer sein Kopf ist<br />
79
und diesen deshalb mal in der einen mal in der andern seiner<br />
Hände schaukelt, wie Marktschreier Melonen. Der Socken<br />
trägt, die mehr aus Loch bestehen als aus Gestricktem. Der<br />
mit den Beinen schlenkert, wenn er ein bisschen ungeduldig<br />
ist, oder etwas, das er gern möchte, nicht bekommt. Der in<br />
der Schule sich immer auf die gleiche Weise meldet: Er legt<br />
den Zeigefinger auf den Daumen, sodass er ein Luft-O<br />
erformt. Mit dieser Hand geht er über die andere und zieht<br />
zuerst das Handgelenk, dann den Handrücken und dann die<br />
Spitze des zweiten Fingers an unsichtbaren Fäden hoch, die<br />
er, wenn er die Antwort dann gegeben, noch niemals je vergaß,<br />
mit seiner Scherenhand entzweizuschneiden, sodass die Hand,<br />
mit der er sich gemeldet, ganz schlapp zu Tische fällt.<br />
An Adam pfeift der Wind sich tot, in Adam fließt das Blut<br />
sich wund, durch Adam welkt der Schnee.<br />
80
ERIKA KOJIMA<br />
Spuren im Schnee<br />
82
Wenn ich um mich schaue, sehe ich Fußspuren. Verschiedene.<br />
Sie kommen von irgendwo her, überkreuzen sich, führen in die<br />
Ferne und verschwinden am Horizont. Doch deine Fußspuren im<br />
Schnee hören plötzlich neben mir auf.<br />
Eine schwarze Masse und du mitten drin in Weiß. Nur die<br />
Rosen unterscheiden dich vom Schnee. Du hast, seit ich dich<br />
kenne, immer nur schwarze Sachen getragen. Wie einen Mantel,<br />
der dich vor der Außenwelt schützt. Vielleicht musste das<br />
so sein, sonst hätten sie, hätten wir dich zerbrochen. Ich<br />
nehme eine Hand voll Erde und bewerfe dich, nehme zwei Hände<br />
voll bunter Blüten und lasse sie auf dich hinabsegeln.<br />
***<br />
Der Gürtel liegt kühl um meinen Hals. Ich spüre das<br />
Pulsieren meiner Halsschlagader. Nur ein Sprung, und ich bin<br />
vielleicht bei dir. Im Wald ist es schon dunkel und etwas<br />
kühl. Wenn ich hier so auf dem Ast sitze und die Beine baumeln<br />
lasse, frage ich mich, was dein letzter Gedanke war,<br />
dein letztes Bild vom Leben. Ich schließe meine Augen und<br />
sehe dein Lächeln, am Abend, bevor es passiert ist, höre<br />
deine Stimme, und es scheint, als wärst du gar nicht so weit<br />
entfernt. Alle sagen, du seiest ganz weit weg, sind traurig,<br />
aber ich habe mich dir in der letzten Zeit noch nie so<br />
nah gefühlt.<br />
Die Erinnerungen an dich werden plötzlich von tiefen<br />
Tönen durchbrochen. Wie eine Strömung ziehen sie mich in einen<br />
Sog von Klängen. Die Töne werden zu Tonflächen, die den Wald<br />
umhüllen. Ich schaue um mich und sehe in einiger Entfernung<br />
ein winziges Orange tanzen. Etwas in mir regt sich. Neugier?<br />
Ein Antrieb, den ich seit langem nicht mehr gespürt habe.<br />
Ich löse den Gürtel von meinem Hals, klettere den Ast hinunter<br />
und laufe barfuß in Richtung der Klänge. Nach einer<br />
Weile bleibe ich vor einer Kapelle stehen, mitten im Wald.<br />
Durch ein schmales Fenster sehe ich flackerndes Licht. Es<br />
ist keine Musik, die sich zuordnen lässt. Eher eine Aneinanderreihung<br />
von Tongeflechten, die sich manchmal auflösen,<br />
dann wieder Klumpen bilden, die tief im Magen sitzen. Mir<br />
scheint es strukturlos, aber irgendetwas hält das Ganze zusammen,<br />
ich sehe nur nicht, was. Abrupt hört das Stück auf<br />
und endet mit einem durchdringenden Ton. Er hallt nach,<br />
sitzt immer noch tief in mir und zieht mich nach unten. Die<br />
83
Tür springt auf, eine kleine Gestalt springt undynamisch<br />
etwas steif und lallend hinaus. Ich stehe immer noch versteinert<br />
an meinen Platz vorm Fenster, ohne mich verstecken zu<br />
können. Nach ein paar Atemzügen macht es nicht den Anschein,<br />
dass der Junge wieder zurückkommt, und so schleiche ich mich<br />
vorsichtig hinein. Eine Kerze beleuchtet den ganzen Raum,<br />
in dem nur ein Klavier und ein paar Stühle stehen. Ein<br />
Notenheft. Die Seiten sind bemalt, dunkle Farben und spitze<br />
Formen, unregelmäßig und asymmetrisch. Am Anfang sind die<br />
Farben warm und fröhlich, am Ende dunkelblau, lila und<br />
schwarz. Vorn, hinter der Bezeichnung „Name“, steht in kindlich<br />
schiefer Handschrift „TIM“. Ein Geräusch lässt mich<br />
aufschrecken, ich laufe nach draußen, renne, bis ich vor<br />
meiner Haustür stehe. Erst jetzt spüre ich die Taubheit meiner<br />
Füße, mit denen ich durch den Schnee gelaufen bin. Erschöpft<br />
lasse ich mich in mein Bett fallen und schlafe ein.<br />
Der nächste Tag vergeht schnell, ich bekomme von den<br />
Seminaren wenig mit, da ich mich ständig frage, wer dieser<br />
Junge war, der die tief dringenden Klänge erzeugte. Als es<br />
dunkel wird, gehe ich zur Kapelle zurück. Ich warte so<br />
lange, bis der Junge wieder auftaucht, er kommt vom Waldrand.<br />
Gerade als er seine Hand zum Türgriff bewegt, rutscht<br />
mir sein Name aus dem Mund. Mein leises „Hallo Tim“ bringt<br />
ihn zum Erstarren. Er duckt sich ein wenig und schaut sich<br />
um. Ein bisschen lauter versuche ich es noch einmal: „Hallo<br />
Tim, ich bin hier, ich …“, ein lautes Kreischen unterbricht<br />
meinen Satz. Der Junge hält sich seine Ohren mit beiden<br />
Händen fest zu und legt seine Ellbogen schützend an seinen<br />
Kopf. Er geht in die Hocke und macht sich klein und brabbelt<br />
etwas Unverständliches vor sich hin, er wird immer lauter,<br />
als ob er alles um sich her übertönen wollte. Ich laufe<br />
zu ihm hin, sein Körper zittert. Ich lege eine Hand auf<br />
seine Schulter und sage: „Ist schon gut, ich tue dir nichts.<br />
Du brauchst keine Angst zu haben.“ Doch er wird immer unruhiger<br />
und fängt an, sich selbst zu zwicken. Sein Kopf wird<br />
rot, die Augen treten hervor. Er schaut mich an, die Zähne<br />
zusammengebissen, er kneift sich immer noch in den Arm und<br />
sagt: „Alles ist gut, alles ist gut.“ Seine Zwickstelle fängt<br />
an zu bluten, und ich rufe: „Nein, nicht!“ In diesen Moment<br />
explodiert er. Er schreit und tobt und nimmt meinen Arm,<br />
greift unter meine Jacke und den Pulli hindurch und kneift<br />
mich in mein Handgelenk. Seine Nägel bohren sich hinein. Ich<br />
schreie „Aufhören! Lass das!“ Man muss uns gehört haben.<br />
84
Eine Frau kommt auf uns zugeeilt und löst auf wundersame<br />
Weise Tims Griff und dreht ihn zu sich, so dass sie sich<br />
direkt in die Augen schauen, dann lässt sie ihn sofort los.<br />
Sie singt: „Spiderschwein, Spiderschwein, er macht das, was<br />
ein Spiderschwein kann“, und der Junge fängt langsam an, mit<br />
seinen Armen den Takt mitzuschwingen. Bei der zweiten Strophe<br />
summt er leise mit, bei der dritten stimmt er ins Singen ein.<br />
Die Frau sagt: „Jetzt geh zu Dirk und frag ihn, ob er Lust<br />
hat, mit dir das A-Team zu gucken! Du bist ein guter Junge.“<br />
„Tim ist ein guter Junge“, sagt er in einer monotonen Stimme,<br />
worauf die Frau wiederholt „Ja, du bist ein guter Junge.“<br />
Prompt dreht er sich um und stolpert den Weg zurück, den er<br />
gekommen war. Die Frau und ich schauen ihm noch so lange<br />
nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet. Dann dreht sich<br />
die Frau zu mir und entschuldigt sich für das, was gerade<br />
passiert ist.<br />
Sie stellt sich als Elke vor. Sie ist eine Heimbetreuerin<br />
von Tim. Sie erzählt mir vom Kinderheim. Auf die Frage, was<br />
ich vorhin falsch gemacht hätte, nennt sie mir die häufigsten<br />
Ursachen für solch einen Anfall: wenn Leute ihn mit<br />
seinem Namen ansprächen oder ihm gegenüber Verneinungen<br />
benutzten. Ich sage ihr, dass ich mich bei Tim entschuldigen<br />
möchte, doch Elke sagt, dass es heute wohl nichts mehr werden<br />
wird, aber sie nimmt mich trotzdem mit. Tim ist erst vor<br />
kurzem ins Heim gekommen, nachdem seine Adoptivmutter, die<br />
er immer als seine Mutter bezeichnet hat, verstorben ist.<br />
Das Jugendamt hatte ihn, als er noch etwas jünger war, seiner<br />
leiblichen Mutter entzogen, da diese mit den Bedürfnissen<br />
des Kindes nicht zurecht gekommen war und ihn ständig angeschrien<br />
und zeitweise geschlagen hatte. Anscheinend hat Tim<br />
eine Art „allergische Reaktion“ auf seinen Namen, wenn ihn<br />
andere Leute aussprechen, da seine biologische Mutter immer<br />
nur dann seinen Namen gerufen hat, wenn es Ärger gab.<br />
Ständig habe sie zu ihm gesagt, dass er dies und das nicht<br />
machen dürfe, und sie hätte oft das Wort „Nein!“ benutzt.<br />
Oder: „Ich verstehe dich nicht!“, so dass auch dieser Satz<br />
für Tim tabu ist. Als ich mir mein Handgelenk reibe, lacht<br />
Elke und zeigt mir ihren Arm. Alles voller blauer Flecken.<br />
Sie erzählt mir, dass sie ganz schön lange gebraucht hat,<br />
um zu verstehen, wann und warum Tim sich selbst und manchmal<br />
andere Menschen zwickt. Er könne nicht viel innere Spannung<br />
aushalten und versuche, diese Spannung durch Schmerz-Zufügen<br />
zu entladen.<br />
85
Das Heim ist ein großes Haus, alles ist gemütlich eingerichtet.<br />
Als wir ins Wohnzimmer kommen, sehe ich Tim mit<br />
einem Mann zusammen das A-Team schauen. Der Mann, vermutlich<br />
Dirk, begrüßt uns, dreht sich dann wieder dem Fernseher<br />
zu. Tim nimmt keine Notiz von uns. Ab und zu, bei einer aufregenden<br />
oder lustigen Szene, schwingt er seine Arme wild.<br />
Diesen Abend komme ich nicht mehr dazu, mit Tim zu sprechen.<br />
Nach einer Tasse Tee verabschiede ich mich und Elke ruft mir<br />
hinterher, dass ich bald wieder vorbeikommen solle, wenn ich<br />
Lust oder Langeweile hätte. Auf dem Heimweg fühle ich mich,<br />
als ob meine Wahrnehmung verrückt wurde. Zuerst der tiefe<br />
Ton, den ich einen Tag zuvor gehört hatte. Ich habe das<br />
Gefühl, diesen Ton schon einmal gehört zu haben, aber jetzt<br />
hat er für mich eine andere Tiefe. Als ob jemand in mein<br />
Wahrnehmungssystem einen neuen Stein eingesetzt hätte. Als<br />
ob sich mein gesamtes Wahrnehmungsmuster verändert hätte. Ich<br />
fühle mich merkwürdig unorientiert und chaotisch, aber nicht<br />
schlecht.<br />
Am nächsten Abend gehe ich wieder zur Kapelle und höre<br />
auf halben Weg Tims Klänge. Genauso tief und traurig wie<br />
zuvor. Das alles erinnert mich an dich. Tim ist so wie du,<br />
nur, dass du immer alles unter deinem schwarzen Ledermantel<br />
versteckt hast. Ich klopfe an die Tür, trete langsam hinein.<br />
Ich weiß nicht, ob Tim mich gehört hat, zumindest versinkt<br />
er gerade im Klavier und beachtet mich gar nicht. Erst<br />
als er abrupt aufhört, dreht er sich zu mir. „Hallo“, sage<br />
ich und verkneife mir seinen Namen. „Hallo Tim“, sagt er,<br />
dreht sich wieder dem Klavier zu und spielt weiter. Ich<br />
setze mich zu ihm, in einem Abstand von vier Stühlen. Das<br />
scheint ihn nicht zu stören. Ich nähere mich immer weiter.<br />
Drei Stühle. Keine Reaktion. Zwei Stühle. Immer noch nichts.<br />
Als ich mich weiter nähere, bleiben seine Hände mitten im<br />
Spielen in der Luft stehen. Seine Augen fixieren mich.<br />
„Alles ist gut, alles ist gut, Tim“, sagt er sich selbst.<br />
„Ja, alles ist gut, du spielst prima“, sage ich. Er dreht<br />
sich wieder zum Klavier und beschwört diese unheimlichen<br />
Farbflächen. Ich schließe die Augen. Ich kann nicht sagen,<br />
dass ich mich wohl fühle, vielmehr habe ich das Gefühl,<br />
ständig zu kämpfen, um nicht unterzugehen. Das Ringen um<br />
Luft, das Ringen um Orientierung, das Ringen um sich selbst,<br />
das Ringen um was? Es fallen mir keine Worte ein, wie ich<br />
dieses Erlebnis beschreiben könnte. Es ist, als ob ich ein<br />
winziges Etwas von Tim verstanden, mitbekommen, ja erlebt<br />
86
hätte. Da sagt Tim: „Tim sucht seine Mutter und kann sie<br />
nicht finden.“<br />
Am Abend darauf sitze ich neben Tim am Klavier. Wieder<br />
wühlt er Klänge auf. In seinem Notenblock hat er am Anfang<br />
noch helle Klänge aufgezeichnet. Ich wundere mich, dass er<br />
jetzt nur im unteren Register spielt. Ich spiele ein paar<br />
Tonfolgen weit rechts. Er lauscht meinen Klängen, ohne mit<br />
dem Klavierspielen aufzuhören. Nach einer Weile schießt aus<br />
dem Nichts der Zeigefinger seiner rechten Hand in die hohe<br />
Lage. Nachdem er einen Ton erwischt hat, geht seine Hand<br />
wieder ins Tiefe. Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergehen.<br />
Kurz bevor ich aufstehe, höre ich eine Veränderung in<br />
seinen Farben. Höhere, leichtere Töne. Zuerst tastet er sich<br />
hinein, dann wühlt er auch hier. Es scheint mir, als ob sich<br />
ein Knoten löst. Die Töne sind nicht mehr wie ein Wollknäuel,<br />
sondern eher wie das Meer, das sich zum Wind bewegt.<br />
Auf einmal lacht er. Ich lege meine Hand auf seine Schulter,<br />
um ihn zu loben, doch Tim zuckt zusammen. Ich entschuldige<br />
mich bei ihm und halte meine Hände ganz fest um meinen<br />
Körper, um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht mehr anfassen<br />
werde. Tim sieht mich mit einem seltsamen Blick an. Ein Blick,<br />
als ob er nicht wirklich wüsste, was er möchte. Ein Blick,<br />
der sagt „Fass mich nicht an. Fass mich nicht an, aber<br />
berühr mich.“<br />
Als ich einen Abend später in die Kapelle eintrete, lege<br />
ich meinen Koffer ab. Tim, der bemerkt hat, dass heute etwas<br />
anders ist, schaut zu. Nachdem ich das Saxophon zusammengebaut<br />
habe, zeige ich ihm, dass er seine Hand über mein<br />
Saxophon halten soll. Als ich einen tiefen Ton, bei dem alle<br />
Klappen geschlossen sind, spiele, zieht er seine Hand sofort<br />
zu sich und schaut mich vorwurfsvoll an. Doch langsam legt<br />
er seine Hand wieder an den Trichter, und ich blase Luft<br />
durch den Klangkörper. Ich sehe, wie seine linke Mundhälfte<br />
nach oben zieht. Er spürt die Schwingung der Luft und freut<br />
sich. Fordernd hält er seine Hand so lange über das Instrument,<br />
bis mir die Puste ausgeht. Den ganzen Abend sieht<br />
er sich immer wieder seine Handfläche an und grinst mit<br />
einem Mundwinkel.<br />
Langsam, ganz langsam werde ich mit Tim warm. Ich bin immer<br />
noch sehr vorsichtig, vor allem, wenn es um die Sprache<br />
geht. Es ist so wundersam, wie jeder Mensch seine eigene<br />
87
Sprache entwickelt. Ich wollte deine Sprache lernen, doch<br />
die Zeit war zu kurz und ich war zu unaufmerksam. Vielleicht<br />
hätte es etwas geändert, wenn ich deine Sprache besser verstanden<br />
hätte. Vielleicht hätte es etwas geändert, wenn in<br />
dem Moment, als du auf dem Ast saßest, eine Art Neugierde<br />
dich am Leben erhalten hätte. Aber vielleicht hätte es auch<br />
nichts geändert, ich weiß es nicht. Es war dein Ausdruck und<br />
dein konsequenter Charakter.<br />
***<br />
Es ist nicht dein Grab, an dem ich dich finde. Es ist<br />
auch nicht der Ort, an dem du dir dein Leben genommen hast.<br />
Ich finde dich in Augenblicken wieder. In einer Schneeflocke,<br />
in einem Ton, oder wenn jemand mit deinem Parfum an<br />
mir vorbei läuft. Die Sonne scheint auf den Schnee und deine<br />
Fußspuren schmelzen, werden zu Wasser und versickern im Boden.<br />
Dich in Erinnerung behalten. Das ist nicht Wirklichkeit,<br />
nicht Bild. Es ist das Gefühl, das zwischen uns war.<br />
88
LISA SCHETTER<br />
Richtung<br />
90
In der Tapete hängen die Reste zerbrochener Gläser; das<br />
ausgeblichene Sofa darunter ist voll von Flecken, Flusen und<br />
Kritzeleien. Vor langer Zeit ist es einmal dunkelbeige gewesen.<br />
Beim Betrachten erschrickt Rondler jedes Mal neu, obwohl<br />
er weiß, dass die Flecken zu dunkel sind. In der Küche<br />
hört er die Stimme, die ihn schon den ganzen Morgen verfolgt,<br />
er versucht, sie durch noch entschlosseneres Starren<br />
auszuschalten. Nur Frauenstimmen können so klingen, denkt<br />
er. Überdreht. Schrill und ohne Atem zu holen. Und so durchdringend<br />
und bestimmt, dass der andere nach jedem zweiten<br />
Satz abbrechen muss. Du heute nicht.<br />
Die Leere, die nicht einmal den Versuch der konkreten Frage<br />
zulässt, setzt sich wieder in ihm fest. Er schweift ab. Das<br />
Schweigen in seiner Familie, er fragt sich, welche Art des<br />
Redens die schlimmste ist. Erinnert sich an den Zwang, eine<br />
vergiftete Luft so lange einzuatmen, bis man davon infiziert<br />
ist, sein Leben lang. Jede Flucht eine Provokation, Provozieren<br />
war nie seine Art gewesen. Er hat sich leise davongestohlen,<br />
als es an der Zeit war zu gehen. Und beim Aufatmen<br />
gespürt, wie ungleich die neue Luft war, wie er fast taumelte,<br />
so viel Fremdheit enthielt sie.<br />
Er ist sich sicher: Hier ist es anders. Gregor war nicht<br />
allein gewesen. Es passt nicht. Er muss zurückrudern, kommt<br />
an, konzentriert sich. Was weiß er? Immerhin die erste konkrete<br />
Frage. Seine Routine setzt sich durch. Die Antwort: Das<br />
Zimmer gibt ihm nicht viel.<br />
Eine Mitschülerin hat ihm am Morgen gesagt: Aggression,<br />
das wüsste sie nicht. Denken könnte sie es sich schon. Aber<br />
sein Gesicht hätte am Ende ohnehin kaum jemand mehr gesehen.<br />
Oft steinern, wenn er denn aufsehen musste. Er habe dauernd<br />
mit seinen Schultern gekämpft, seinem Kopf. Plötzlich hatte<br />
sie sich weggedreht. Er weiß im Nachhinein, dass sie nicht<br />
gekämpft hatte sagen wollen. „Jedenfalls sah er dir nicht ins<br />
Gesicht“, sagte sie. „Durch mich sah er immer hindurch, von<br />
Anfang an. Ich hab ihn ein paar Mal grüßen wollen.“ Sie<br />
zögerte. Dann: „Ich glaube eigentlich, dass er oft eine<br />
Faust geballt hatte. Sagen kann ich es nicht. Seine Hände<br />
waren immer in den Ärmeln. Er hat ziemlich kurze Arme, und<br />
er hielt sie sehr steif, die Jacken reichten ihm bis über<br />
die Fingerspitzen. Sie waren ihm immer zu groß, er vergrub<br />
sich darin, schlug den Kragen hoch. Sogar im Sommer. Seine<br />
91
Hände hab ich selten gesehen. Er lief immer gehetzt“, sagte<br />
sie. „Vielleicht sogar, ja, aggressiv, wenn man es im Nachhinein<br />
so nennen will. Ich weiß es nicht. Aber es hatte etwas<br />
von Anlaufnehmen. Wie wenn jemand etwas einrennen will.<br />
Dabei ist er uns immer ausgewichen, hat sich durchgeschlängelt,<br />
auch im größten Gedränge.“<br />
Keine Fotos, noch nicht einmal Poster. Die Wände sind leer,<br />
bis auf den Dreck und die Scherben. Eine leise, unauffällige<br />
Kälte. Wem auch immer die Stimme gehört, ein paar Vampirbilder<br />
wären ihr sicher lieber gewesen. Er mag sich nicht<br />
für diesen Gedanken, merkt, dass er ihm schon wieder das Weglaufen<br />
nahelegt. Aber er ist hier, um immer näher zu kommen.<br />
Der Computer ist schon mitgenommen worden, ihm bleibt nur<br />
noch der Schreibtisch. Schulhefte, kreuz und quer, herausgerissene<br />
Arbeitsblätter, Eselsohren, Bücher. Im Nebenraum<br />
hört er das Wort Gewalt, mehrmals, er sieht Kugelschreiber,<br />
Gewalt, Karteikästen mit leeren Karteikarten, zerbrochene<br />
Kugelschreiberminen, Gewalt, Radiergummis, Bleistifte, bestimmt<br />
zehn Stück. Gewalt. Überall in den Seiten sind<br />
Kritzeleien, Striche, ausgefüllte Kreise, im wahrscheinlich<br />
dunkelsten Grau, das möglich ist, wenn man wieder und wieder<br />
dieselbe Fläche entlang fährt. Wirklich bedeutungsvoll,<br />
persönlich, ist nichts. Gewalt, das Wort hallt in seinem<br />
Kopf nach, nebenan ist man schon ganz woanders.<br />
Das Gefühl, nichts erreicht zu haben, seine eigene Unklarheit,<br />
macht ihn rasend. Er geht nach draußen. Im Vorraum<br />
eine junge Frau, die er nicht kennt, und eine große, dürre<br />
ältere Dame mit Sonnenbrille, die mit der schrillen Stimme<br />
auf sie einredet. Er beeilt sich, muss zurück ins Präsidium,<br />
weil er noch ein Gespräch mit der Mutter vor sich hat.<br />
Der Nachrichtensprecher im Autoradio: Bislang noch keine<br />
Erkenntnisse über die Hintergründe der Tat. Rondler fährt<br />
beinah über eine rote Ampel, als er versucht, den Abschaltknopf<br />
zu finden. Der neunzehnjährige Abiturient hat gestern<br />
bei einem Amoklauf mit einem Messer zunächst mehrere Schüler<br />
schwer verletzt und sich anschließend selbst getötet. Das<br />
Tatmotiv bleibt weiterhin unklar. Im Bundesliga-Rückrundenspiel<br />
bezwang Werder Bremen Hertha BSC Berlin mit drei zu ...<br />
Er hört ein knackendes Geräusch, als er den Lautstärkeregler<br />
mit der ganzen Hand gegen den linken Anschlag presst. Die<br />
Stimme verschwindet.<br />
92
„Rondler“, sagt er. „Kriminalpsychologe.“ Sie nickt nur. Er<br />
hat damit gerechnet, dass sie bleich ist, aber das wenige,<br />
was er außerhalb der Sonnenbrille an Gesicht erkennen kann,<br />
ist von einer dicken Schicht Make-up überdeckt. Die riesige<br />
Tasse Kaffee vor ihr ist zu einem Drittel gefüllt. Er<br />
holt sich auch einen, obwohl der letzte erst zwanzig Minuten<br />
her ist. Sein Magen zieht sich beim ersten Schluck heftig zusammen.<br />
Er setzt die Tasse hart auf, nimmt sie wieder, trinkt<br />
noch einmal, erst als sie fast leer ist, fühlt er sich ausreichend<br />
gewappnet.<br />
Der Beginn des Gesprächs ist System, verläuft planmäßig.<br />
Sie antwortet laut und schnell; überzeugt. Sie kramt in<br />
ihren Sachen, zieht ein Handy hervor und legt es wieder weg,<br />
schaut auf die Uhr, so oft, dass er beim innerlichen Mitzählen<br />
nicht nachkommt. Der Leiter der Kommission sitzt im<br />
anderen Zimmer und hört mit zu. Ihre Antworten sind Satzanfänge,<br />
die mit hektischen Brüchen in neue Halbsätze übergehen,<br />
kurz vor Ende ein Ausrufezeichen werden. Permanente Verteidigung.<br />
Sie zögert nicht ein einziges Mal.<br />
„Haben Sie noch einen Termin?“, fragt er. Die Frage ist<br />
lächerlich, das Zählen der Uhrkontrollen ist noch lächerlicher.<br />
„Ja, sicher“, sagt sie, „die Beerdigung, was glauben Sie<br />
denn, ist Ihnen eigentlich bewusst, dass das auch etwas ist,<br />
über das die Medien berichten werden?“<br />
„Was denken Sie, wie kommt es dazu, dass Ihr Sohn so etwas<br />
macht?“<br />
Er erhält keine Antwort, sie starrt ihm wortlos ins Gesicht.<br />
Er verflucht sich, aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.<br />
„Hat er sich verändert? Gab es in letzter Zeit Konflikte?“<br />
Noch einmal ein Schluck Kaffee.<br />
„Bei uns gibt es keine Konflikte“, sagt sie knapp, „und wo<br />
er die Gewaltbereitschaft herhat, will ich gar nicht wissen.“<br />
„Schulisch?“, versucht er.<br />
„Seine Noten sind schlechter geworden“, sagt sie, „das<br />
hat mir nicht gefallen. Er hatte keinen Antrieb mehr, null<br />
Ehrgeiz, aber deshalb geht man nicht mit einem Messer auf<br />
andere Leute los. Suchen Sie woanders nach Gründen.“<br />
Als er zu sprechen ansetzt, vergräbt sie plötzlich den Kopf<br />
in den Händen. „Man ist bei ihm nicht durchgekommen, das<br />
haben alle gesagt. Wenn Sie das Konflikte nennen wollen.“<br />
Sie kaut heftig auf ihren Lippen. „Dieser ganze Scheiß, er<br />
in seinem Zimmer, den ganzen Tag, zugeschlossene Türen.“ Sie<br />
setzt sich auf, räuspert sich. Ein Blick aufs Handy. „Glauben<br />
93
Sie mir, wir haben uns, ich meine, die Lehrer, die Schulleitung,<br />
alle, Gespräche und Nachhilfe, das ganze Programm; er<br />
hat sich zurückgezogen, ich habe ihm endlos gesagt, er soll<br />
endlich Ernst machen, unkonzentriert, keinen Antrieb, aber<br />
Gewalt wirklich nicht. Da können Sie jeden fragen.“ Sie setzt<br />
noch zwei Sätze hinzu, die völlig an ihm vorbeirauschen.<br />
„Sein Zimmer enthält kaum persönliche Dinge“, sagt er.<br />
Sie runzelt die Stirn. „Ich verstehe Sie nicht.“<br />
Er bemerkt, wie sich seine eigenen Hände um die Tasse<br />
verkrampfen, ohne, dass er Einfluss darauf hat.<br />
Er weicht aus. „Können wir die Adresse von seinem Vater<br />
erfahren?“<br />
„Weiß ich nicht“, antwortet sie knapp. „Weg. Seit seiner<br />
Geburt. Sonst noch was?“<br />
Als er zur Schule fährt, um sich eine Wand dort anzusehen,<br />
die Gregor besprüht haben soll, bemerkt er im Haus unmittelbar<br />
gegenüber ein riesiges Plakat im Fenster: Lasst uns<br />
endlich in Ruhe! Momentan darf draußen auf der Straße kein<br />
Kamerateam mehr stehen. Ihm kommt der Blick vor wie der in<br />
eine Geisterstadt. Die Absperrung ist verlegt worden, jetzt<br />
ist sie ein paar hundert Meter weiter vorne. Er geht durch<br />
die Schule, ein Oberstufengymnasium, heute schon wieder<br />
teilweise geöffnet, zumindest schriftliches Abitur für die<br />
älteste Jahrgangsstufe muss trotz allem möglich sein. Im<br />
Moment sitzen die entsprechenden Schüler hinter ihren<br />
Tischen und schreiben die Prüfungen. Gregor hätte noch genau<br />
ein Jahr gehabt; unklar, ob es einen Zusammenhang gibt. Also<br />
erst mal nicht öffentlich erwähnen.<br />
Die Schule ist riesig, neu und modern gestaltet; große,<br />
hohe Fenster, die fast die ganzen Außenwände einnehmen. Die<br />
Sonne blendet ihn; nur dort, wo einzelne Fenster mit Plakaten,<br />
Leistungen der Schüler, verhängt sind, geht er kurzzeitig<br />
durch den Schatten. Er kneift die Augen zusammen.<br />
System, als er angefangen hat zu arbeiten, war es genau<br />
das, was er ekelhaft fand. Fingerspitze statt System; seine<br />
eigene Unmittelbarkeit, Direktheit, manchmal entstand dadurch<br />
eine bis zum Bersten aufgeladene Stimmung. Die Resultate:<br />
So sicher sie sich auch waren, fast nichts war durchzubringen.<br />
Jetzt der Amoklauf. Wieso mache ich das, denkt er. Die<br />
Maschinerie ist in Gang gesetzt, Aufmerksamkeit, Karriere,<br />
es gibt immer nur eine Richtung. Dann irgendwann doch die<br />
Angst vor der Fremdsteuerung.<br />
94
Eine Lehrerin wartet auf ihn, „Gries“, sagt sie, „ich unterrichte<br />
Kunst und Mathe und hatte ihn in beiden Fächern.“<br />
Er nickt.<br />
Er merkt, dass der Kaffee sich in ihm breitmacht, mit<br />
Migräne vermischt und nicht mehr loslässt; er will eine Frage<br />
stellen, aber die riesigen Fenster um ihn herum überblenden<br />
jeden klaren Gedanken. Das Gefühl der unsichtbaren Kameras,<br />
die sich durch die Scheiben hindurch immer näher an sein<br />
Gesicht heranpirschen, lässt ihn nicht mehr los. Er zieht<br />
den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag nach oben.<br />
Im Gehen sagt sie: „Ich zeige Ihnen die besprühte Wand,<br />
kommen Sie.“ Ihre Stimme ist weich. Es ist die Wand vor dem<br />
Kunstraum, von oben bis unten ziehen sich die Flecken und<br />
Linien in ausschließlich dunkelroter Farbe, er hat noch nie<br />
so ein wirres Zerrbild gesehen. Vielleicht liegt es an den<br />
Kopfschmerzen, dass er nichts erkennen kann. Die Wand ist<br />
riesig, wie alles hier, mittendrin ist eine geschlossene<br />
Tür, der Knauf ein einziger roter Fleck, in alle Richtungen<br />
ist die Farbe abgespritzt. „Er muss es Minuten vorher gemacht<br />
haben“, sagt sie. „Ich kannte ihn ganz gut.“ Er wendet<br />
sich ab, ihre Stimme ist zu weich, zu niedergedrückt, um<br />
Antworten zu finden, die Sinn ergeben.<br />
„Können Sie irgendwas erkennen“, sagt er und merkt, dass<br />
überhaupt nichts mehr passt, weder sie noch seine Stimme<br />
noch das Bild.<br />
„Ich kann es noch nicht mal vergleichen mit Bildern, die<br />
er sonst abgegeben hat“, sagt sie leise. „Er hat überhaupt<br />
keine Bilder abgegeben, seit mindestens einem Jahr nicht<br />
mehr. Eigentlich hätte ich ihm eine nicht mehr ausreichende<br />
Note geben müssen.“ Sie wartet einen Moment. „Nein, ich<br />
kann nichts erkennen.“<br />
Er fragt nach seinen sonstigen Noten und versinkt dabei.<br />
„Er war unangepasst“, sagt sie. „Er ist keiner Richtung gefolgt,<br />
aber er hat es nicht gemerkt, glaube ich. Er hat nicht<br />
verstanden, wieso die anderen ihn nicht mögen. Das war früher.<br />
Dann hat er sich zurückgezogen. Darüber kann ich nichts<br />
sagen. Man konnte ihn nicht mehr erreichen.“<br />
Sie schweigen. Es ist zu viel, er kann nicht mehr, seine<br />
Hände verkrampfen sich in seinen Jackentaschen. „Entschuldigung“,<br />
sagt sie. „Ich habe auf Ihre Frage gar nicht<br />
geantwortet.“<br />
95
Sie schaut ihn an. „Geht es Ihnen gut“, sagt sie, „soll ich<br />
Ihnen erst mal einen Kaffee machen.“ Er schüttelt den Kopf.<br />
„Es tut mir leid“, sagt sie. „Ich mochte ihn. Ich bin<br />
sicher im Moment keine gute Gesprächspartnerin.“<br />
Er erträgt es nicht länger. Sie sieht ihn stumm an, er<br />
dreht sich um, verabschiedet sich nicht, läuft ein paar<br />
Schritte von der Wand weg, wo sie immer noch wie eine Statue<br />
steht. Dann ertönt eine Klingel, Schüler quellen zu beiden<br />
Seiten um ihn herum aus den Klassenräumen, reißen ihn mit<br />
sich, er beeilt sich, hetzt, aber er kommt nicht durch. Die<br />
ewig krabbelnden Hände in seinen Jackentaschen geben keine<br />
Ruhe, falten das Innenfutter wieder und wieder, verbeißen<br />
sich, lösen sich, zerreiben den Stoff in einem fort, als er<br />
stolpert, packt er das Treppengeländer mit solcher Wucht,<br />
dass es bis in die tieferen Stockwerke schwankt. Er wartet<br />
nicht ab, jagt weiter nach unten, als er die Schultür hinter<br />
sich zufallen lässt, fängt er endgültig an zu rennen.<br />
96
CLIO ALYSSA VOSS<br />
Bettina Müller<br />
Der Aufstieg<br />
98
Bettina Müller<br />
Bettinas Bruder ist ein Ausrufezeichen. Alles an ihm<br />
sagt: Hier bin ich! Wir müssen uns unbedingt mal unterhalten!<br />
Hier haben Sie meine Visitenkarte! Auf überfüllten Bürgersteigen<br />
läuft er und die Leute weichen aus. Automatisch. Weil<br />
er auch ohne Wagen Warnblinker setzt, Lichthupe macht und die<br />
Leute sich von seinen kleinen unsichtbaren Ausrufezeichen<br />
beiseite schieben lassen.<br />
„Die Leute“, das sind Menschen wie Bettina. Verkäufer.<br />
Gastronomen. Anwälte. Studenten. Irgendwas. Wenn Bettina auf<br />
überfüllten Bürgersteigen läuft, weicht niemand aus. Sie ist<br />
diejenige, die sich wegdrängen lässt, das war schon immer<br />
so. Am liebsten setzt sie sich in Cafés und beobachtet die<br />
anderen. Im Café muss Bettina angesprochen werden, zumindest<br />
von der Kellnerin.<br />
Sie wird gefragt, was sie möchte. Natürlich könnte man<br />
die Antwort auf diese Frage ausweiten, Bettina fragt sich<br />
jeden Tag, was sie denn eigentlich möchte, vom Leben, von der<br />
Welt. Trotzdem antwortet sie trocken: „Einen Latte“. Weil<br />
man das eben so macht, unter Leuten. Und mehr wollte die<br />
Kellnerin schließlich auch nicht wissen. Als sie sich umdreht,<br />
entdeckt Bettina eine Tätowierung auf dem Steißbein<br />
der Kellnerin, ihr grasgrünes T-Shirt reicht nicht bis zum<br />
Bund ihrer Jeans, dazu das Piercing im Mundwinkel, die blondbrünett<br />
gestreiften Haare und Bettina denkt sich: Schulabbrecherin.<br />
Der Anzugträger am Tisch neben ihr mit dem Laptop:<br />
Versicherungsvertreter.<br />
Die Stempel erscheinen ohne Vorwarnung, eigentlich hasst<br />
Bettina es. Sie hat Achtung! Vorurteile von Peter Ustinov<br />
gelesen und will nicht abstempeln. Vor allem aber will sie<br />
nicht abgestempelt werden. Es gibt nicht nur negative, sondern<br />
auch positive Vorurteile, heißt es in dem Buch. Das<br />
Mädchen an dem Tisch hinten in der Ecke liest Paris – ein Fest<br />
fürs Leben von Hemingway, und Bettina denkt sich, die ist<br />
bestimmt sehr belesen, ein Mädchen aus gutem Hause, dabei<br />
könnte es das erste Buch im Leben des jungen Mädchens sein,<br />
sie liest es nur flüchtig durch für die Schule, weil sie<br />
muss, übermorgen ist die Klausur.<br />
Bettinas Schwester ist ein Fragezeichen. Fragezeichen-<br />
Menschen können äußerst anstrengend sein, oft egozentrisch<br />
und gleichzeitig unsicher. Wie seh ich aus? Ist das zu eng?<br />
99
Wollen wir nicht doch lieber woanders hingehen? Verstehst<br />
du, was ich meine, Betty? Sie hat immer geweitete Augen vom<br />
Fragen und Vorbereiten der nächsten Fragen, Golfbälle, ständig<br />
Bindehautentzündung.<br />
Der Vater ist ein Punkt. Ich muss los. Punkt. Ruf mich mal<br />
an. Punkt. Wir haben keine Milch mehr, Gisela. Punkt.<br />
Und Bettina?<br />
Bettina ist ein Komma. Sie trennt alles. Wichtiges von<br />
weniger Wichtigem, Haupt- von Nebensätzen, sich selbst von<br />
ihren Partnern. Während man mehrere Punkte nebeneinander<br />
setzen kann und so die Wirkung des Satzes verheißungsvoll<br />
oder geheimnisvoll wird (Lass uns doch woanders hingehen,<br />
Punkt Punkt Punkt), oder mehrere Ausrufezeichen und Fragezeichen<br />
nebeneinander gesetzt die Aussage verstärken, kann<br />
man nie zwei Kommata nebeneinander schreiben, überlegt<br />
Bettina. Schon die Plural-Form von Komma klingt seltsam.<br />
Kom-ma-ta. Deswegen ist sie von Vornherein dazu bestimmt gewesen,<br />
einsam zu sein. Langweilig. Bettina Müller eben, so<br />
heißen Tausende in Deutschland. Niemand braucht nachzufragen:<br />
„Wie schreibt man das?“ Alle sehen Bettina und denken:<br />
Aha, Bettina Müller. Dünnes, helles Haar, bisschen mollig,<br />
Bettina Müller. Bettina Müller, 1971- 20<strong>09</strong>. Sie war auch hier.<br />
Der Aufstieg<br />
Besser, dass er sich für die Lilien entschieden hatte,<br />
eine unverfängliche Wahl, überlegte er, als er endlich das<br />
Haus gefunden hatte. Er musste sich nicht die Mühe machen,<br />
ihren Nachnamen auf den Klingelschildern zu suchen, denn da<br />
öffnete sich die Tür, eine ältere Dame trat heraus, sie verstand<br />
seine Geste und wartete, bis er sich näherte, um ihm<br />
die Türe offen zu halten. Er dankte, die Frau nickte, er trat<br />
ins Treppenhaus.<br />
Oberster Stock, hatte Natalie gesagt. Ihre Stimme fühlte<br />
sich an wie der Stoff ihres Kleides an dem Abend, und wenn sie<br />
lachte, war es die immergleiche Abfolge desselben Tons, in<br />
ansteigender Lautstärke. Bestimmt würde sie Jazz auflegen,<br />
Kerzen anzünden, in einer Dachgeschosswohnung voll fliederfarbener<br />
Kerzen, wie ihr Kleid an dem Abend, fliederfarben<br />
<strong>10</strong>0
wie die Massen von Schmuck, den sie trug, allerdings alles<br />
aus Plastik, ihre Ringe, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger<br />
der anderen Hand hin- und herdrehte, immer wieder,<br />
während er sprach, ihn mit leicht gebeugtem Kopf betrachtend,<br />
als hätte sie noch nie zuvor von Novalis gehört. Sein<br />
Gürtel, der einzige, der farblich zum Jackett passte, saß<br />
stramm und kniff mit jeder Treppenstufe. Wann hatte er so<br />
zugenommen, überhaupt kam es ihm vor, als entdecke er jeden<br />
Tag zehn neue Falten in seinem Gesicht und übermorgen würde<br />
er aussehen wie eine verfaulte Apfelsine. Er stieg weiter<br />
hinauf, an den Wohnungstüren, Fußmatten, Haus- und Straßenschuhen<br />
vorbei. Was die Nutzung des kleinen Vorraums, den<br />
so ein Treppenhaus bot, anging, glichen sich die Menschen<br />
erstaunlich. Eine Fußmatte gehörte zum Wohnungstürvorraum-<br />
Standard, versteht sich, aber auch Zimmerpflanzen schienen<br />
unverzichtbar, wieso Zimmerpflanzen außerhalb der eigenen<br />
Zimmer, und anscheinend entledigte sich alle Welt ihrer<br />
Schuhe schon vor dem Eintreten in die Wohnung, wäre er auf<br />
Schuhdiebstahl aus, ein wahres Eldorado hier. Das Licht fiel<br />
aus dem hohen Fenster auf den Bügel seiner Brille und blendete<br />
ihn im Augenwinkel. In seiner rechten Hand raschelte<br />
das Papier des Lilienstraußes, und er ließ die Rotweinflasche<br />
in seiner Linken fröhlich mit seinen Bewegungen schwingen,<br />
als er wieder an sie und den bevorstehenden Abend dachte.<br />
Na-ta-lie, da oben wartete sie auf ihn bei Kerzen und Jazz.<br />
Sein Atem beschwerte sich, er war wirklich nicht mehr in Form.<br />
Bei dem nächsten Fenster musste er sich kurz anlehnen, er<br />
kippte es und sog die kalte Luft ein. Alt war er geworden.<br />
Wie Natalie das bloß aushielt, im obersten Stock, noch dazu,<br />
wenn sie Einkäufe zu tragen hatte! Draußen dämmerte es, er<br />
musste sich vorbeugen, um noch die Bürgersteige zu erkennen,<br />
fingernagelgroß, die Leute auf der Straße von hier oben.<br />
Bestimmt war er schon im sechsten Stock. Gleich hatte er es<br />
geschafft. Er seufzte, schloss das Fenster und ging weiter<br />
hinauf. Ihn beschlich langsam das Gefühl, sich zu verspäten,<br />
doch er hatte seine Armbanduhr vergessen, ein Mann ohne<br />
Uhr, dachte er, als hätte er keine Termine, vielleicht fiel<br />
es ihr ja nicht auf. Er zählte die Stufen, zwölf Stück, dann<br />
scharfe Wendung nach links, an der nackten Wand entlang, noch<br />
mal zwölf Stufen, nächstes Stockwerk, nächste Tür. Seine<br />
Beine, besonders die Waden, wurden immer träger, sein Gürtel<br />
kniff ihn, wieder musste er anhalten, hoffentlich kam ihm<br />
jetzt niemand entgegen, er ordnete das Schlamassel zwischen<br />
den Beinen so gut es ging. Er beschloss, sich zu eilen, ihm<br />
<strong>10</strong>1
kam es vor, als liefe er schon zwanzig Minuten aufwärts, der<br />
Geruch der Lilien stach in seine Nase, hätte er bloß die<br />
Rosen genommen, und die Weinflasche wurde ihm lästig. Wie<br />
viele Stockwerke hatte dieses Haus? Von draußen war es ihm<br />
gar nicht so hoch vorgekommen. Hatte er es überhaupt näher<br />
betrachtet, er wusste es nicht, und jedes Mal, wenn er nach<br />
dem Ende einer Stufenfolge um die Ecke bog, hatte er dieses<br />
Gefühl, so, das war’s aber jetzt, doch das war es nicht,<br />
noch kein letztes Geschoss, sondern neue, noch unbestiegene<br />
Stufen, denen er ausgelaugt gegenübertrat und die ihn mit<br />
ihrem grauen Linoleumglanz verhöhnten. Er schwitzte und er<br />
hatte Durst. Er brauchte noch eine Pause am Fenster, sollte<br />
das nächste Stockwerk nicht das Letzte sein – doch das musste<br />
es, ganz sicher – nein, das war es nicht. Und da war auch<br />
kein Fenster wie in den ersten paar Etagen, wie konnte ihm<br />
die zunehmende Dunkelheit entgangen sein, nur runde Wände<br />
aus Rauputz, die von einer Zwölfer-Stufenfolge zur nächsten<br />
überleiteten, erbarmungslos. Er musste sich nun mindestens<br />
im zwanzigsten Stock befinden. Die Hitze wurde unerträglich,<br />
die Weinflasche schwerer und schwerer, er zog sein nasses<br />
Jackett aus, nahm es in die rechte Hand, das Verpackungspapier<br />
des Blumenstraußes raschelte, die einzigen Geräusche<br />
in diesem Niemandsland, dieses Rascheln und seine Sohlen auf<br />
dem Boden, die sich anhörten wie das Kehren auf Asphalt,<br />
unten vor den Geschäften, an der kühlen, frischen Luft. Es<br />
zog jetzt vor allem in den Oberschenkeln, an ihrer Rückseite<br />
hoch und runter, der Gürtel zwickte ihn, wieder hielt er inne,<br />
stellte den Gürtel lockerer, musste nun aber darauf achten,<br />
dass seine Hose nicht abwärts rutschte. Das Hemd war inzwischen<br />
auch auf Bauch- und Brusthöhe durchnässt und sein Atem<br />
rasselte, sein Gaumen war staubtrocken. Er musste an den<br />
Wein, sofort. Er setzte sich unter Keuchen auf die Stufen,<br />
öffnete den Wein und stürzte die halbe Flasche hinunter. Den<br />
Rest ließ er stehen, zuviel wog die Last. Es ging weiter<br />
hinauf, dieselbe mechanische Bewegung der Füße, ein Tunnel<br />
nach oben aus Rohrputz und Linoleum, aus Weiß und Grau und<br />
dem stechenden Gelb des elektrischen Lichts, aus Liliengestank,<br />
eine Hölle aus Stufen. Ihm war schwindelig, doch<br />
er stieg tapfer weiter, Stockwerk um Stockwerk, es war zu<br />
spät zum Umkehren, denn das nächste Stockwerk musste das<br />
letzte sein, und dort war alles frisch und alles Flieder,<br />
immer wieder das nächste. Sein Gesicht musste krebsrot aussehen,<br />
nass glänzend und krebsrot, mit hervortretenden blauen<br />
Adern an seinen Schläfen als Kontrast, er riss das Papier<br />
<strong>10</strong>2
vom Blumenstrauß und presste sich die feuchten, kalten<br />
Stängel an die Stirn, dann an Wangen und Brust und wieder<br />
zum Gesicht, als wäre es ein Ritual, und ließ den Strauß<br />
einfach fallen. Seine Beine standen kurz vorm Krampf, doch<br />
er stieg weiter, mit wütender und schwindliger Entschlossenheit,<br />
während sein Atem immer animalischer klang, die Glieder<br />
brannten und sein Schädel lauter pochte, hämmerte, donnerte.<br />
Er sank auf die Knie, die nicht mehr und nicht weniger<br />
schmerzten als der Rest des ertaubenden Körpers, kroch salamanderartig<br />
die Treppe hinauf, zog sich mit triefenden, verklebten<br />
Armen nach oben, sein Japsen wurde leiser, sein<br />
Gesicht war auf den glatten Boden gepresst, die vom Wein rot<br />
gesprenkelte Hose hing zwischen den Kniekehlen, verschränkt<br />
lag er auf den harten Stufen, ungläubig blinzelnd, als deren<br />
Grau anthrazitfarben wurde, dann schwarz, verschwand. Er<br />
spürte noch ein letztes Zucken, irgendwo zwanzig Stockwerke<br />
unter ihm stand eine halb leere Rotweinflasche, und in unerreichbarer<br />
Distanz wehte ein frischer, kühlender Abendwind.<br />
<strong>10</strong>3
JOHANNES WALDEN<br />
Die Brücke<br />
Über eine Frau<br />
Nur, um es gesagt zu haben<br />
Die Himbeere<br />
<strong>10</strong>4
Die Brücke<br />
Vor einigen Jahren hatte ein Kollege aus dem Gemeinderat<br />
die Hand gehoben und um eine Abstimmung gebeten. Es war das<br />
jüngste Mitglied im Rat. Er war sehr strebsam und bekannt für<br />
seine Beobachtungsgabe. Er wollte darüber abstimmen lassen,<br />
ob die Brücke am Rand unseres Dorfes endlich fertiggestellt<br />
werden sollte. Wir hatten die Baustelle seit dem letzten<br />
Winter vernachlässigt. Wegen des Baus der ersten Automobile,<br />
sagte er. Das würde die Anbindung des Dorfs an das Umland<br />
verbessern. Der Vorschlag sorgte für Unruhe. Wir übrigen<br />
Mitglieder fanden es typisch für einen jungen Mann, so überstürzt<br />
zu handeln, nur weil irgendwo irgendwelche Fahrzeuge<br />
gebaut wurden. Sicher, einige von uns benutzten schon solche<br />
Maschinen für Landwirtschaft oder Transport. Doch auf<br />
den Straßen sah man eher selten diese Automobile fahren und<br />
Hilfe von außerhalb oder Anbindung brauchte man hier sowieso<br />
nicht. Ich stand auf und erklärte den übrigen Mitgliedern,<br />
dass es keinen Grund gebe, die Fertigstellung der Brücke zu<br />
veranlassen. Allein wegen der Kosten sei es eine nicht zu<br />
tragende Maßnahme. Am Abend glaubte ich bereits, die Brücke<br />
vergessen zu haben.<br />
Weil unsere Stadt jedoch in der Nähe einer bekannten<br />
Handelsroute liegt und diese wegen Steinschlags gesperrt<br />
werden musste, fuhr an jenem Tag schon das dritte Mobil über<br />
unseren Markt. Durch die breiteren Gassen kamen sie ohne<br />
Probleme, doch als sie den Markt durchfuhren und den Fluss<br />
an der Grenze der Stadt erreichten, mussten sie anhalten.<br />
Aufgeregt stiegen die Fahrer aus den Fahrzeugen und ließen<br />
sich schnell den Weg zur nächsten Brücke erklären. Alle<br />
waren wütend über die verlorene Zeit. Der letzte Fahrer<br />
hielt auf die Brücke zu, überhörte alle Rufe der Umstehenden,<br />
übersah alle Warnschilder und durchbrach die<br />
Absperrung. Hinter dieser waren Holz und Steine gelagert,<br />
die den Wagen stoppten. Die Menschen um mich herum begannen<br />
zu schreien und alle zeigten auf das Wasser unter uns.<br />
Jemand war von der Brücke gefallen und sein Körper trieb<br />
leblos im Wasser. Wer es war, konnte man nicht sagen, da er<br />
mit dem Gesicht nach unten trieb. Auch nicht, was er auf der<br />
Baustelle gemacht hatte. Ich rief den Leuten zu, sie sollten<br />
nicht so herumstehen, sondern sich um den Mann im Wasser<br />
kümmern, und einige liefen zum Fluss hinunter. Daraufhin<br />
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sahen ein paar Bauern nach dem verunglückten Fahrzeug. Drin<br />
saß ein dicker Mann. Wir brachten ihn in die Praxis des<br />
Landarztes. Dieser sagte, der Mann sei zwar am Bein verletzt,<br />
sonst aber wohlauf. Er müsse noch eine Weile Krücken<br />
benutzen. Das deprimiere ihn sehr, sagte der Reisende, er<br />
werde seinen Beruf aufgeben müssen: Handelsreisender.<br />
Schließlich würde er ja von allen überholt werden, klagte er.<br />
Er fragte, ob nicht irgendjemand ihn in die nächste Stadt bringen<br />
könne. Niemand konnte ihm diesen Wunsch erfüllen. Und<br />
wieso man diese Brücke immer noch nicht fertig gebaut habe,<br />
fragte er aufgeregt.<br />
Sobald ich zusammen mit einigen Polizisten die Spuren des<br />
Unfalls beseitigt und das Kraftfahrzeug von der Brücke entfernt<br />
hatte, ging ich den Reisenden besuchen. Er saß auf der<br />
Bank vor der Praxis und starrte auf die Straße. Seine Koffer<br />
standen schon griffbereit. Ich sagte ihm, er sehe aus, als<br />
warte er auf etwas. Ja, auf einen Wagen, antworte er. Einen,<br />
der ihn mitnehmen könne. Ich lachte darauf ein wenig. Da könne<br />
er aber lange warten. Der Handelsreisende schüttelte den<br />
Kopf. Ich wollte ihn ein wenig aufheitern und sagte, ich müsse<br />
noch die Bewässerung der Felder kontrollieren, ob er mit mir<br />
eine Strecke bis zum Stadtrand laufen würde. Die Luft würde<br />
ihm sicher gut tun. Der auf Krücken gehende Reisende machte<br />
sich mit mir zusammen auf den Weg. Er staunte ein wenig, wie<br />
still es auf den Straßen war, und ich erklärte ihm, nun würden<br />
einige Leute aus dem Dorf sicher die Brücke fertig bauen<br />
wollen und dass ich mich gleich morgen zu einer Sonderabstimmung<br />
mit dem Gemeinderat treffen müsste. Heute sei es<br />
schon zu spät. Er äußerte sich nicht weiter dazu.<br />
Noch nie war ich während des Sonnenuntergangs die Felder<br />
kontrollieren gegangen. Für gewöhnlich tat ich das am Mittag,<br />
um dann zu Hause einige Arbeiten vor dem Abendbrot zu erledigen.<br />
Wir erreichten die Stadtgrenze, und ich sah über die<br />
Felder. Von hier aus konnten wir auch ein einzelnes Automobil<br />
auf der Handelsroute beobachten. Die Straße sei also<br />
wieder offen, sagte er. Die Gefahr des Steinschlags vorbei?<br />
Es scheine ganz so, antwortete ich. Ob er gern mitgefahren<br />
wäre? Ich deutete auf die Lichter in der Ferne. Er antwortete<br />
nicht, sondern starrte weiter über die Landschaft.<br />
Ein alter Freund aus dem Gemeinderat kam gerade aus der<br />
Stadt zu uns herüber. Sie hätten den Mann im Wasser gefunden,<br />
sagte er. Das hier habe er getragen. Er reichte mir<br />
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einen Handwerkergürtel. Im Leder eingearbeitet, erkannte ich<br />
die Signatur meines jüngsten Kollegen. Der Reisende sah mich<br />
an und sagte, er glaube nicht, dass wir die Brücke jemals<br />
vollenden werden.<br />
Über eine Frau<br />
Sie ist eine Königin und ich bin ihr Diener. Unzählige<br />
meines Ranges schart sie um sich, behandelt alle mit derselben<br />
Kühle, die einen zittern lässt. Manchmal läuft sie<br />
in den Hallen des Schlosses an mir vorbei und ich kann ihr<br />
kaum in die Augen sehen, ihren Anblick kaum ertragen, so<br />
schön ist sie. Aber ich glaube, die Kälte im Schloss kommt<br />
aus dem Keller, denn sobald ich die Tür dort passiere,<br />
dringt ein düsteres Pfeifen hervor.<br />
Meine Aufgabe besteht darin, ihre Haare zu kämmen. Tag für<br />
Tag werden sie geschmeidiger, obwohl ich immer dieselbe<br />
Stelle streichle, ohne dass ihr diese Faulheit in meiner<br />
Arbeit auffällt. Zusammen mit zwei anderen Dienern, welche<br />
die Kleider und die Spangen der Königin halten, stehen wir<br />
in ihrem Ankleidezimmer. „Du zitterst“, sagt sie plötzlich.<br />
Es ist das erste Mal, dass sie mich anspricht, wenn sie mich<br />
auch dabei nicht ansieht. Ich bin so überrascht, dass ich<br />
keine Antwort hervorbringe. „Wenn du zitterst, kannst du meine<br />
Haare nicht weiter pflegen. Ich brauche eine ruhige Hand.“<br />
Ich schlucke schwer über dieses Urteil, doch der Freund<br />
mit den Spangen springt für mich ein: „Es ist kalt, Herrin,<br />
irgendwo im Schloss scheint ein Fenster oder eine Tür offen<br />
zu stehen.“<br />
Gemeinsam steigen wir in den düsteren Keller hinab.<br />
Sobald wir den Boden erreichen, erlöschen unsere Kerzen und<br />
wir müssen uns im Dunkeln vorantasten. Der Kleiderdiener hat<br />
das Fenster gefunden und ruft aus einer Ecke zu uns hinüber.<br />
„Soll ich es reparieren lassen? Wir haben einen guten<br />
Schlosser zu Hofe.“ In der Dunkelheit sehen wir ihr starres<br />
Gesicht nicht, als die Königin sagt: „Nein, es war kaputt<br />
und wird es auch bleiben.“<br />
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Nur, um es gesagt zu haben<br />
In der der Nacht wachte Karl plötzlich auf. Er sah zu ihr<br />
hinüber und bemerkte ein seltsames Gefühl in der Magengegend.<br />
Er wusste, irgendetwas stimmte nicht mit ihnen beiden. Karl<br />
war jemand, der Geheimnisse hatte; sie hingegen nur jemand,<br />
die mit ihrem Lachen nicht allein sein wollte. Was also<br />
taten sie hier? Da bemerkte Karl, was ihn aufgeweckt hatte:<br />
Eine Dose vor dem Bett war umgefallen, ohne, dass ihr jemand<br />
Beachtung schenkte. Und dann wurde es Karl auch wieder klar.<br />
Warum sie trotzdem neben ihm lag. Zum Lachen und Geheimnisse<br />
haben, braucht es immer zwei.<br />
Die Himbeere<br />
Der Bauernhof meiner Großeltern ist voller verwinkelter<br />
Scheunen und Wiesen. Als Kind habe ich die Ferien mit meinem<br />
Bruder immer draußen in den Gärten verbracht. Am Rande des<br />
Hofs stand ein vollgestopftes Lager mit ineinander verfahrenen<br />
Geräten. Fand man seinen Weg zwischen den verrosteten<br />
Heugabeln und einem staubüberzogenen Mähdrescher, so war es<br />
möglich, über ein loses Brett in der Wand in den Garten der<br />
Nachbarin zu gelangen. Neben ihrem Hühnerstall besaß diese<br />
Nachbarin einige Reihen Himbeersträucher. Von Zeit zu Zeit<br />
brachte sie uns einen Teller der Beeren mit, wenn sie unsere<br />
Großeltern am Sonnabend besuchen kam. Leider kam sie in<br />
letzter Zeit nicht mehr, weshalb wir uns entschieden hatten,<br />
einfach ein paar Himbeeren zu klauen. Doch als wir wieder<br />
hinter dem Stall saßen und Himbeeren aßen, fand ich<br />
etwas weitaus Wertvolleres als bloß kernlose Früchte.<br />
Dort lag im Schatten eines Strauches ein Vogelnest.<br />
„Nicht“, hielt mich mein Bruder zurück. „Die alte Lydia sieht<br />
uns noch.“ Doch ich machte mich von ihm los und zog das Nest<br />
mutig zu uns. Dort fand ich einen winzigen Vogel, blind und<br />
ohne Federn.<br />
Ich nahm ihn mit zum Hof meiner Großeltern, und wir verbrachten<br />
die restlichen Tage unserer Ferien damit, nach<br />
Regenwürmern für den kleinen Vogel zu suchen. Er schien un-<br />
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ersättlich und wollte immer mehr. Bekam er sie nicht, heulte<br />
und schrie er fürchterlich. Da wir ihn nachts nicht fütterten,<br />
sondern erschöpft von der Suche schliefen, wartete er am<br />
nächsten Morgen schon wütend vor Hunger auf uns, begrüßte<br />
uns nicht selten mit einem entsetzlichen Geschrei, sodass<br />
mein Bruder es schnell leid wurde, ihn ständig zu füttern.<br />
Als die Ferien fast vorbei waren und Lydia am Sonntag wieder<br />
zum Essen vorbeikam, war ich nicht dabei, um ihre Himbeeren<br />
zu kosten, denn ich suchte nach Futter für den schon<br />
abgemagerten Vogel. Mein Bruder verriet unser Geheimnis, da<br />
alle sich über mein Fehlen wunderten und nach mir fragten.<br />
Ich sah an diesem Tag also meine Oma durch das lose Brett<br />
an der Wand der Scheune klettern und sie nahm den Vogel in<br />
ihre warmen Hände und sie sagte, ich könne ruhig essen gehen<br />
und sie wüsste, wohin mit ihm und ich sollte mir keine<br />
Sorgen um ihn machen und so tat ich es und ich nahm noch<br />
Abschied von ihm und genoss meine Himbeeren, wie jemand, dem<br />
eine untragbare Bürde unter Schulterklopfen und aufmunternden<br />
Worten abgenommen wurde, um erst später zu erkennen,<br />
dass der Fleck über dem losen Brett, jene Stelle war, an der<br />
Oma den kleinen Vogel totgeschlagen hatte.<br />
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