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open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

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OPEN POEMS<br />

OPEN WRITING<br />

<strong>09</strong>/<strong>10</strong><br />

TEXTE AUS DEN LITERATURWERKSTÄTTEN DES<br />

OPEN MIKE


OPEN POEMS<br />

OPEN WRITING<br />

<strong>09</strong>/<strong>10</strong>


Rebecca Ciesielski<br />

Max Czollek<br />

Alexander Makowka<br />

Tristan Marquardt<br />

Darian Meier<br />

Friederike Scheffler<br />

Lea Schneider<br />

Grußwort<br />

5<br />

OPEN POEMS<br />

Worte von Ulf Stolterfoht<br />

9<br />

11<br />

11<br />

12<br />

13<br />

15<br />

15<br />

16<br />

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31<br />

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34<br />

34<br />

37<br />

37<br />

38<br />

38<br />

Illegales Klangmaterial und<br />

In dieser Gegend wird Strom …<br />

Wirklichkeitsbalkone mit Abzieh-<br />

Phantome, die Phantome würfeln,<br />

dem jahr zweitausendundneun<br />

übereck.1.2.<strong>10</strong>.<br />

rezeptoren finale<br />

lenzmond<br />

das ist der elektrosmog<br />

Vokalise<br />

Dasitzen und nur bedingt<br />

Stummszene<br />

Verhängnis<br />

Stürmisches Moment<br />

das tut nicht weh.<br />

mit ge teil tes fahr rad …<br />

setz löcher in die luft<br />

die so- nach ti gall …<br />

Lebensgeflüster<br />

Parkerlebnis<br />

kleine Reise, Reise<br />

Sinn<br />

Zurück<br />

merkn<br />

vor dem morgen<br />

im museum<br />

gegen die stille : innen im zimmer<br />

Fluchtlinien<br />

Zugfahrt mit Marion P.<br />

Erinnerungskonserve<br />

Inneren Bereichen


Lea Schneider<br />

Janina de Castellano<br />

Nicolas Geibel<br />

Katharina Hartwell<br />

Eva Kissel<br />

Erika Kojima<br />

Lisa Schetter<br />

Clio Alyssa Voß<br />

Johannes Walden<br />

37<br />

37<br />

38<br />

38<br />

OPEN WRITING<br />

Worte von Markus Orths<br />

49<br />

51<br />

52<br />

55<br />

57<br />

65<br />

73<br />

74<br />

75<br />

76<br />

77<br />

79<br />

82<br />

90<br />

99<br />

<strong>10</strong>0<br />

<strong>10</strong>5<br />

<strong>10</strong>6<br />

<strong>10</strong>8<br />

<strong>10</strong>8<br />

Impressum<br />

112<br />

Fluchtlinien<br />

Zugfahrt mit Marion P.<br />

Erinnerungskonserve<br />

Inneren Bereichen<br />

U7<br />

C.<br />

Das Schamhafte wehrt sich wie<br />

der Teufel dagegen,geliebt<br />

zu werden<br />

Die Postkartenmalerin<br />

Schwund<br />

Die Hand an die Stirn eines<br />

Fiebernden<br />

Wenn Kastanien retten<br />

Gardinen<br />

Die Nacht um Verzeihung bitten<br />

Weihnacht<br />

Adam<br />

Spuren im Schnee<br />

Richtung<br />

Bettina Müller<br />

Der Aufstieg<br />

Die Brücke<br />

Über eine Frau<br />

Nur, um es gesagt zu haben<br />

Die Himbeere


Am Anfang sind ein Tisch, einige Seiten Papier, ein paar Stifte, eine Gruppe junger<br />

Schreibsüchtiger und ein erfahrener Autor, der sein Wissen an eine jüngere Generation<br />

weitergeben möchte – das sind die Schreibwerkstätten <strong>open</strong> <strong>poems</strong> und <strong>open</strong> <strong>writing</strong>,<br />

die seit 2006 einmal jährlich gemeinsam von der Literaturwerkstatt Berlin, dem Literaturhaus<br />

Frankfurt und der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong> veranstaltet werden. „Erzwungen werden<br />

kann nichts“, so Markus Orths, <strong>open</strong> mike-Preisträger und Leiter von <strong>open</strong> <strong>writing</strong>. „Man<br />

kann lediglich einen Rahmen der Freiheit bieten, eine Zeit. Man kann die Entstehung<br />

von Texten begleiten: bei den einen mehr, bei den anderen weniger, bei dritten vielleicht<br />

gar nicht. Es schreibt jeder auf seine Weise“.<br />

Unser Dank gilt Markus Orths, dem Leiter von <strong>open</strong> <strong>writing</strong> im Literaturhaus Frankfurt,<br />

und Ulf Stolterfoht, dem Leiter von <strong>open</strong> <strong>poems</strong> in der Literaturwerkstatt Berlin. Beide<br />

haben über einen Zeitraum von sechs Monaten junge Menschen intensiv bei ihrem<br />

Schreibprozess begleitet. Sie haben Texte gemeinsam geschrieben, sich gegenseitig<br />

vorgelesen, diskutiert, kritisiert und dabei auch die Entdeckung gemacht, dass dieser<br />

Austausch für beide Seiten beflügelnd ist.<br />

Der vorliegende Band dokumentiert die in den Werkstätten geschriebenen Texte. Wir<br />

wünschen allen jungen Autoren viel Tatkraft und Erfolg, und uns, dass diese Anthologie<br />

den einen oder anderen Leser motiviert, sich selbst einmal schreibend auszuprobieren.<br />

Viel Spaß beim Lesen wünschen<br />

THOMAS WOHLFAHRT<br />

LITERATURWERKSTATT BERLIN<br />

MARIA GAZZETTI<br />

LITERATURHAUS FRANKFURT<br />

KARIN HEYL<br />

CRESPO FOUNDATION<br />

5


OPEN POEMS<br />

MIT ULF STOLTERFOHT


Rebecca Ciesielski<br />

<strong>10</strong><br />

Max Czollek<br />

14<br />

Alexander Makowka<br />

18<br />

Tristan Marquardt<br />

24<br />

Darian Meier<br />

28<br />

Friederike Scheffler<br />

32<br />

Lea Schneider<br />

36<br />

Linus Westheuser<br />

40


„Ich weiß nicht, was ein Gedicht ist.“ Oskar Pastior<br />

Und wir, nachdem wir uns über ein halbes Jahr lang in der Literaturwerkstatt Berlin getroffen<br />

haben, wir wissen es natürlich auch nicht – Gott sei Dank! Trotzdem haben wir, alle zusammen,<br />

einiges gelernt über Gedichte – wenn auch womöglich ganz Verschiedenes.<br />

Verschiedenes deshalb, weil die Teilnehmer der Werkstatt, schon aus Altersgründen, ganz<br />

unterschiedliche Absichten mit dem Schreiben von Gedichten verbanden und es manchmal<br />

gar nicht so einfach war, diese unterschiedlichen Ansätze als gleichberechtigt gelten zu lassen<br />

– und da nehme ich mich selbst nicht aus! Wo es für die jüngeren Teilnehmer ungewohnt war,<br />

auf rein formale oder strukturelle Forderungen reagieren zu müssen, ohne sich in die Häfen<br />

der Inhaltlichkeit, des selbst Erlebten oder Empfundenen zurückziehen zu dürfen, so war es<br />

für mich (und einige andere, wie ich glaube) eine überraschende Einsicht, daß es so etwas<br />

wie ein reines, also absichtsloses, regelgeleitetes Schreiben nicht gibt, daß Gedichte immer<br />

„auf etwas hin“ geschrieben sind. Was wir also gelernt haben: daß vieles Platz hat unter dem<br />

Begriff „Gedicht“. Und daß Toleranz ganz wesentlich eine intellektuelle Leistung darstellt.<br />

Wir hatten aber auch die beste Voraussetzung, die es gibt für die Arbeit mit Gedichten: ziemlich<br />

viel Zeit, um uns gegenseitig vorzulesen und zuzuhören. Natürlich wurde auch kritisiert, wurden<br />

Vorschläge gemacht, wurden Texte bewertet und gegeneinander abgewogen, das Wesentliche<br />

scheint mir aber diese Atmosphäre einer gemeinsamen Konzentriertheit zu sein, das<br />

Gefühl, an der selben Sache zu arbeiten, und sei es mit ganz unterschiedlichen Mitteln.<br />

Vielleicht auch das Gefühl, daß das, was man da im stillen Kämmerlein produziert, einen<br />

wirklichen Wert darstellt, gerade in seiner Unverwertbarkeit. Einigen der Teilnehmer waren<br />

unsere Termine dann auch viel zu wenig - sie trafen sich darüber hinaus in anderen Runden<br />

und Zirkeln (und auf Bühnen!), drei oder vier Abende Lyrik pro Woche!<br />

An einem Mittwoch im März hatten wir uns nicht wie üblich am Spätnachmittag getroffen,<br />

sondern schon zum gemeinsamen Frühstück. Dann haben wir uns mit Gedichten beschäftigt,<br />

dann haben wir Kaffee getrunken und Kekse gegessen und wieder über Gedichte<br />

gesprochen, dann hat jeder sein Lieblingsgedicht vorgelesen und was dazu gesagt, dann<br />

sind wir weitergezogen in die benachbarte Gaststätte Malzcafé, haben ein Bier getrunken<br />

und noch ein bißchen über Gedichte gesprochen und womöglich noch ein Bier getrunken, und<br />

dann haben wir uns eine gute Nacht gewünscht. Was war das für ein schöner Tag!<br />

Den Teilnehmern vielen Dank für ihre Offenheit und ihr Engagement, der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong><br />

und der Literaturwerkstatt Berlin, ganz besonders aber Jutta Büchter, allen Dank dafür, daß<br />

sich das beschriebene Glück ereignen konnte – und hoffentlich weiterhin ereignen kann!<br />

ULF STOLTERFOHT<br />

9


REBECCA CIESIELSKI<br />

Illegales Klangmaterial und<br />

In dieser Gegend wird Strom gespart und Straßenschilder<br />

wieder weggestellt.<br />

Wirklichkeitsbalkone mit Abzieh-<br />

Phantome, die Phantome würfeln,<br />

<strong>10</strong>


Illegales Klangmaterial und<br />

Postrock Gitarrenriffs. 5 Uhr 36, der<br />

Biorhythmus im Stand-byme-Modus.<br />

Unumgängliche Staubgoldbeschallung und<br />

verschwiegene Zungenkompositionen beyond<br />

the dancefloor. Es stahl, was es war und<br />

aus manchem Lied kehrten sie<br />

einzeln<br />

-.<br />

In dieser Gegend wird Strom gespart und Straßenschilder<br />

wieder weggestellt.<br />

Hier hängen Abwege noch<br />

klar umrissen unter liegenden Achterschleifen, deren<br />

Schatten sich selbst umkreisen und niemand will wissen,<br />

wo er nicht mehr hinkommt, mit bescheidenen Ängsten (und<br />

wenigen Fragen<br />

bis zur nächstgrößeren Stadt) draußen im Fenster die graustarre<br />

Katze vor Jahren<br />

eingeschlafen wie einiges an diesem Umweg<br />

der Bundesstraße, an dem die Menschen genügsam sind, nur<br />

teilweise etwas still-<br />

gelegt hinter den Pupillen.<br />

11


Wirklichkeitsbalkone mit Abziehbildern<br />

fleischfressender Orchideenblüten. Da waren schwach<br />

erleuchtete Gitterfenster, Shadowplays,<br />

stummgeborener Teilsilhouetten, Grauzonen, die<br />

einander kannten.<br />

Unsauber verputzte Wimpernfassaden (kristallgrau, schwarzgerahmt,<br />

paarweise festgenagelt)<br />

neben leergeräumten Wortleinspielwänden. Da waren<br />

Sondermodelle zahnlosgebliebener Muttersprachen<br />

auf krähenfüßige Lippen kopiert und<br />

es hingen letzte<br />

Fragen an Halswirbeln, denn Wirbelstürme<br />

fingen erst uns,<br />

dann einander.<br />

Doch nur<br />

hier waren deine Porzellanhände mit penibel abgezählten<br />

Fingerkuppen, die<br />

lauwarme Sonnen<br />

falteten, um sie auf höheren Dächern<br />

aufzubahren.<br />

12


Phantome, die Phantome würfeln,<br />

es sind<br />

Prinz en<br />

In zest<br />

Innen-<br />

Ansichtskartenständer, ausgelöschte Mehrzweck-<br />

Flügel ,<br />

Mundwinkel-<br />

Messer.<br />

In der Waagschale detonierte Kolibrifedern unter<br />

abgestürzten spirituellen Neubauten und<br />

Empathie als Wirtschaftsmakel- Buddha<br />

traf ich im höchsten Level.<br />

Ich rannte vorüber,<br />

er winkte mir nach und<br />

wartete ab.<br />

Ferngläserene Zwecksvertiefungen grundlegender<br />

Fragwürdigkeiten zwischen<br />

tiefer gelegten Gedankenlinien<br />

engmaschiger Alltagstabellen mit<br />

Zwangstaufen, Unterwerfungsritualen,<br />

Einzelstimmrecht. Ja,<br />

auch Eva ist<br />

kahl und zahnlos geworden.<br />

13


MAX CZOLLEK<br />

dem jahr zweitausendundneun<br />

übereck.1.2.<strong>10</strong>.<br />

rezeptoren finale<br />

lenzmond<br />

das ist der elektrosmog<br />

14


dem jahr zweitausendundneun widme<br />

ich einen endreim das ist meine reise<br />

und ich reise allein dieses mal die<br />

zünder finden brandsätze zünden<br />

so ist es gut und fragt nicht so brecht<br />

was ist der überfall auf eine bank<br />

wenn alles patjomkin und dörfer<br />

ich suche wörter die sind auch bloß<br />

fassade<br />

da sprüh ich gefühl drauf<br />

das ist jetzt erlaubt das ist kunst<br />

am bau das ist indie jahre gekommen<br />

totgewohnt nach der überproduktion<br />

alter wunder vor der sprengung<br />

taugen trümmer noch immer<br />

als spielplatz für stadtpiraten<br />

zum endlich zufrieden sein<br />

einfach weiter machen<br />

übereck.1.2.<strong>10</strong>.<br />

du wirst angezählt du weißt schon<br />

nicht mehr wie die biere stehn<br />

der barmann listet striche wir<br />

habens ja die rechnung kommt<br />

zum schluß: mach dir keine sorgen<br />

(die lagern woanders – subkutan<br />

wobei die couch so nah der gedanke<br />

den prosecco melodisch zu gurgeln wo<br />

alles sprache und das einzig wahre du<br />

einen falschen artikel trägt als schmuck<br />

das könig weil wir alle so kohlensäure<br />

und viel zu bunte ikonen mit heiligen<br />

schein)<br />

15


das kalte bier hier die kehle runter<br />

fehlt nicht viel und ‘wir’<br />

bloß ein buntes geschieße<br />

aktive botenstoffe: rezeptoren<br />

finale auf allen ebenen<br />

kleinhirn möchte großhirn sein<br />

frontallappen moralsynapsen<br />

das ist der große regen gewaltige<br />

schwemme urlaute<br />

erlaubter urlaub im gurkenglas<br />

(pack die badehose ein)<br />

das kalte bier hier der archimedische<br />

punkt darum die gegend kippt mit<br />

jedem schluck ein pendelschlag zeit<br />

ansage und irgendeinen maßstab<br />

muss mensch schließlich haben<br />

- dieser geht durch den magen<br />

und das ist immer noch besser<br />

als einfach nur vorbei<br />

lenzmond<br />

kaum ist er angekommen<br />

da klebt der schon an den<br />

schleimhäuten der erinnerung<br />

dieser kriegsgott des frühlings<br />

wie der wohl meinen pathos<br />

zertreten wird denke ich und sitze<br />

zwischen westen und osten eine<br />

gerade linie dort wo jedes haus<br />

fassade jeder mensch staffage<br />

für den schneidenden wind<br />

die krokusse im park<br />

wie taschenmesser<br />

16


das ist der elektrosmog<br />

einer alten schreibmaschine<br />

die ich als haut<br />

meinem laptop<br />

übergestülpt habe -<br />

das tippt sich so<br />

authentischer:<br />

sie schreibt e. allan<br />

poe/sie weiß nicht<br />

wie die straßenbahn<br />

quietscht das datum<br />

der bauarbeiten ist<br />

ihr unbekannt nur<br />

wo der rabe kräht<br />

sein niemalsmehr<br />

auf dem knorrigen<br />

baum da schreibt<br />

sie so etwas wie tiefe<br />

das gefühl der nacht<br />

und die liebe<br />

in flaschen<br />

ist immer noch<br />

die gleiche<br />

17


ALEXANDER MAKOWKA<br />

Vokalise<br />

Dasitzen und nur bedingt<br />

Stummszene<br />

Verhängnis<br />

Stürmisches Moment<br />

18


Vokalise<br />

Armes ich, o du<br />

abendlich ob Dunst<br />

satzverstimmt wozu?<br />

Als denn ihro Kunst<br />

hakte, ich noch tu<br />

alles in Lobus<br />

Sprachregion und<br />

mache mich vom Punkt<br />

Armes ich doch nun<br />

spalte dich vor Lust<br />

kannst es itzt wohl tun<br />

Schalen sind robust<br />

Kannst es itzt wohl ruhn<br />

lassen im Ohrsprung<br />

Schalen sind konfus<br />

aber in Ordnung<br />

Dasitzen und nur bedingt<br />

den Dingen nachhängen<br />

die in bewegteren Stunden<br />

einen Geist bedrängen –<br />

Dem steten Lauf der Zeiger<br />

nichts entgegen, nicht mal<br />

schweigend von und wegen<br />

setzen wollen<br />

auf die eilige Karte<br />

die als ständigen Trumpf<br />

streng Verwahrte<br />

gegen einen schwelen Sumpf<br />

gemächlicher Triebsamkeit –<br />

Möglich erst in freier Zeit<br />

19


Stummszene<br />

Wenn geflügelte worte und<br />

fliegende Fäuste zu<br />

lange regierten visagen<br />

tuschierten den letzten rest<br />

ausdruck mitunter<br />

wegpolierten verlangte der<br />

lauf der geschichte<br />

einstweilen nach erden- der<br />

stille und ruhe kehrte ein<br />

jene zeit ohne regen mit<br />

blicken zur seite verwegen<br />

ob doch jemand wagt es zu<br />

reden nur diesmal ist<br />

ungesagtes in der schwebe<br />

im raum trägt die handlung<br />

fort auf leisen schwingen um<br />

an fernem Ort sie dereinst<br />

aus erstarrung aufzutaun<br />

20


Verhängnis<br />

Gehend stehend denkend mensch kann<br />

das der erste frühling sein der dort von<br />

grauen winter wassern steinern blaue<br />

platte freit<br />

die war des tages all so blank dass wär<br />

ein jemand lauen auf triebs weit genug<br />

nach oben hin tendiert hätt sich den<br />

kopf gestoßen bandagiert so wie es<br />

eigentlich in farbenfroheren<br />

geschichten praktiziert<br />

doch noch bevor des abends nun zu<br />

sagen an der zeit gewesen wär ein<br />

nephograph bescheiden hat<br />

beschrieben dass die winter wasser<br />

wiederum zurückgekehrt worauf auch<br />

kälte in der straße neuen einzug hält<br />

hierauf dreht ein jemand kurzen fußes<br />

bei mit neigung direkt dort ans<br />

häusereck von wo er besser seinem<br />

atem folgen kann voll grimm gefallen<br />

scheint zu finden dran denn jedenfalls<br />

gemeint er ständig dieser dunst sei<br />

endlos inspirierend indes atmet er und<br />

atmet stundenweise mehr die straße<br />

diesig<br />

dies verhängt die schrubbfrisch<br />

glänzend klinke welche binnen sonnes<br />

einfall noch im auge sich versenkte<br />

bringt all jene in bedrängnis die da<br />

frühlings haft gepredigt blumenkübel<br />

am balkonbrett installiert sogar im<br />

spätlicht und die andern unterwegs mit<br />

kurzen Ärmeln schauzutragen wie und<br />

wo sie sich erwärmen vor dem spiegel<br />

all zu nämlich beim behaglichen<br />

vergöttern ihrer muskeln jedem spötter<br />

eins zu wischen als die lichter der<br />

laternen in der straße sanft verlöschen<br />

denn so weit hat der dunst sein kreisen<br />

zwischenzeitlich aus gebreitet neben<br />

quellen der gewalt auch jene die der<br />

angst anheimgefallen und reales in<br />

geduckter haltung meiden wie den<br />

jemand noch vom häusereck am ende<br />

schon verschluckt


Stürmisches Moment<br />

So kommt es, dass von An- und für sich Fechtungen<br />

die ehemalig ausgetragen wie gewollt,<br />

vom Blechdach aus die Rede schwillt<br />

im Hagel über mir, wohl ihrer Kunst zuwider,<br />

wegzudenken, was nie anders können wird.<br />

Denn zwischentropfenweise kann es sein,<br />

dass viel schon ist, was unser beider<br />

letzte Krümmung dieser Welt als vorschriftsmäßig<br />

streng vermieden hielt, wonach wir beide<br />

gleich genötigt Standorttauschs entgegenschielen.<br />

Doch spüre ich die Schwierigkeit, die sie vom<br />

Blechdach aus als Sitzplatz sich in immer<br />

ärger schimmernden Kaskaden in den Kopf<br />

einhämmern lässt und nicht bedenkt, wie<br />

unterhalb das Hämmern in den Ohren brennt.<br />

22


TRISTAN MARQUARDT<br />

das tut nicht weh.<br />

mit ge teil tes fahr rad ist tan dem, ge teil-<br />

setz löcher in die luft<br />

die so- nach ti gall wä re so nicht<br />

24


das tut nicht weh. das tut mir nicht leid. und das verletzt (auch)<br />

kein sprach-gesetz. es war verweis-verschleiß, der die wunde<br />

auf-brach. ja, wir nannten uns (du und ich) und kannten<br />

kunst genug. wir lasen beide, liebten mittel, die zum<br />

zwecke der gewohntheit (zeitweise) über-<br />

schritten waren. ja, wir litten beide unter Benn und Böll. und ja:<br />

weil je ein teil unsrer bekannten (die genannten) schon verwechselt<br />

hat. wer und wann er (auch) der nazi war – das<br />

gedicht wars nicht. ‘cuse me, ‘cuse me fragte jemand<br />

‘you speak any language? möglich, wirklich nicht.<br />

25<br />

für linus<br />

mit ge teil tes fahr rad ist tan dem, ge teil-<br />

tes fahr rad ist hal bes rad, sind ein fach<br />

zwei rä der, ist je ein rad. SCHWIERIG<br />

ist die auf tei lung der rest be-<br />

stand tei le: ven til kap pen<br />

bei spiels wei se, sitz hal-<br />

te rung und lenk rad<br />

las sen sich kaum<br />

mehr als sprach-<br />

lichtei- len.


1<br />

setz löcher in die luft<br />

und komm dem drang zu<br />

sinken nach bei all dem<br />

bilden<br />

wir uns ein wir wiesen<br />

gründe viel nach vorn<br />

(und viel nach hinten)<br />

setzen sinken ungefragt<br />

auf einen stuhl aus rokoko<br />

auf etwas jugend-stil<br />

und jugend-sprache<br />

werden sesshaft<br />

in den pics und<br />

speichern sie<br />

extern<br />

2<br />

setz etwas jugend-stil in<br />

jugend-sprache, komm<br />

dem drang zu rokoko<br />

bei<br />

all dem setzen wir uns<br />

ein und sinken, bilden<br />

löcher nach, sie<br />

werden pics, wir<br />

sesshaft in den<br />

wiesen, sinken<br />

viel und ungefragt<br />

auf einen stuhl aus luft,<br />

auf gründe, die extern<br />

und nach und nach viel<br />

hinten speichern vorn<br />

26


die so- nach ti gall wä re so nicht<br />

in die ge schich te ein ge drun gen,<br />

hät te die so- ly rik nicht (ü ber<br />

jah re) so die- fi xiert ver si fiziert.<br />

GEHT DOCH NICHT. die rech nung kam, wir<br />

zahl ten das preis geld. (die lee re.) hier<br />

und: te le vi sio nen, die dort zwitschern,<br />

nachts zum schlaf. im traum sang die sosee<br />

le so be seelt, als wär sie die.<br />

27


DARIAN MEIER<br />

Lebensgeflüster<br />

Parkerlebnis<br />

kleine Reise, Reise<br />

Sinn<br />

Zurück<br />

28


Lebensgeflüster<br />

Alles vollgepisste Straßen.<br />

Welche? Niemandsgassen.<br />

Die Schönheit der Stadt.<br />

Es stinkt nach Scheiße.<br />

Wo? Jederorts.<br />

Die Kultur des daseins.<br />

Ey, hast’e mal ‘ne Kippe?<br />

Wieso? Gesundheitsreform.<br />

Der Körper verlangt.<br />

Man, gib’ma’ die Pulle her!<br />

Warum? Leerefüllend.<br />

Es gibt nichts anderes.<br />

Parkerlebnis<br />

Ich verfolge sie mit meinem Blick,<br />

doch sie bemerkt mich nicht.<br />

Ich kenne die Kirschblüte.<br />

Oh ja, ich habe sie studiert.<br />

Sie welkt zu keiner Zeit<br />

und ist sehr oft hier<br />

Meine Anwesenheit – so unscheinbar<br />

wird sie jemals nach mir sehen (?)<br />

29


kleine Reise, Reise<br />

Stein um Stein mauer ich<br />

Mein Teil, denn es ist<br />

hässlich, du bist einfach<br />

die schönste Stadt der Welt.<br />

Ich habe keine Lust !<br />

Sinn<br />

Ich sehe dem nach,<br />

was mein Auge entzückt wahrnimmt.<br />

Ich höre dem nach,<br />

was mein Ohr melodisch vernimmt.<br />

Ich rieche dem nach,<br />

was meine Nase reizend aufnimmt.<br />

Doch ich fühle dem nach,<br />

was mein Herz für immer vermisst.<br />

30


Zurück<br />

Tief in deinen Augen<br />

dort liegt der Schmerz<br />

An den Platz wo ich einst war<br />

zerbrach ich dein Herz<br />

Nun sammele ich die Scherben auf<br />

und halte sie in meiner Hand<br />

Ich versuche sie zu verbinden<br />

doch sie zerfallen zu Sand<br />

Dennoch halte ich mich an ihn fest<br />

und hoffe du kannst mir vergeben<br />

Bitte komm’ zurück zu mir<br />

Ich kann nicht ohne dich leben<br />

31


FRIEDERIKE SCHEFFLER<br />

merkn<br />

vor dem morgen<br />

im museum<br />

gegen die stille : innen im zimmer<br />

32


merkn ramadan spielt zimtrein punk<br />

melkt zierpapier nimmt an nur dank<br />

merkt anran leid kumpirman spitzen<br />

trimmd pr naren in pamukkale sitzen<br />

er tanzt an der ampel spunk mimikri<br />

resamplt nen mainzer kantdupkrimi<br />

sammelt nutzen kein raprind im park<br />

nimmt keen indiraz perlnpumastark<br />

knustert dir reimpampe mal anz kinn<br />

rum maeklt keiner zapimpt dran sinn<br />

vor dem morgen<br />

was haben wir nicht<br />

angestellt uns zu betrinken<br />

am müden kanal am haven<br />

noch einmal zu singen<br />

den ganzen weiten weg<br />

bis zu dir hier her<br />

noch einmal die strophe<br />

wenn du sonst nichts weißt<br />

sag hamburg berlin<br />

nur vergiss diesen pathos<br />

wer will schon<br />

dass die nacht verraucht<br />

die haustür auftaucht<br />

du verschwindest<br />

den ganzen weiten weg<br />

bis zu dir hier her<br />

33


im museum sprich nicht<br />

von der angst unsrer worte<br />

von unserem fall was bleibt<br />

wir zittern ordnen uns<br />

wechselnd epochen zu<br />

summn melodien<br />

zwischen die jahre<br />

die randbemerkung<br />

gekonnt verbissen<br />

spieln wir zwischen vitrinen<br />

verstecken wir halten uns<br />

gegen geschichte am leben<br />

gegen die stille : innen im zimmer<br />

in nacht vier ließ nach<br />

was liebe sie nannten<br />

rannten die körper<br />

im voneinander : fort<br />

übten sie abstand wieder<br />

zu finden die zeichen zu lesen<br />

mit nichts als den zehen<br />

gegen die stille : innen im zimmer<br />

34


LEA SCHNEIDER<br />

Fluchtlinien<br />

Zugfahrt mit Marion P.<br />

Erinnerungskonserve<br />

Inneren Bereichen<br />

36


Unsere Fluchtlinien kreuzten sich in einem Punkt<br />

innerhalber Projektion ausgelegt<br />

auf kleinstmessbare Zeiträume,<br />

zwischen deren Wänden wir kaum blieben:<br />

Geometrie dieser Art ist temporär aufgebaut.<br />

(Unser Warten deshalb eine flüchtige Kontralogik<br />

systemimmanenter Möglichkeit.<br />

Mit mehr Zeit im Mai hätten wir den Versuch gemacht<br />

eine Flasche zu öffnen gegen Abend.<br />

Aber dann genauso:)<br />

In der Unendlichkeit treffen sich nur Parallelen.<br />

Zugfahrt mit Marion P.<br />

Ich durchquere ein Märchenland<br />

in dem man Heine liest<br />

je näher ich dem Osten komme<br />

finde ich Schneereste<br />

das Ruhrgebiet liegt jetzt schon<br />

hinter mir, glänzt noch<br />

Ich werde Landschaft sein<br />

meine Linien zwischen den Farben<br />

gerade und glattgefressen von Schafen<br />

neben jeweiligen Supermärkten<br />

Und da hebt sich keine Hand<br />

mehr aus dieser seltsamen Spanne<br />

einer Woche und eines halben Lebens<br />

kurzes Winken von Rotkäppchen<br />

und später kann ich das dann vielleicht anders lesen<br />

37


Erinnerungskonserve<br />

für Fabian<br />

Lass uns warten bis die Straßen frei sind und die Plakate<br />

abgerissen<br />

Eine uninspirierte Sammlung Nadelwälder wischt über den<br />

Rückspiegel<br />

und kurz vorm Einschlafen<br />

Trägst du Sand in vergangene Hotelzimmer<br />

hinter den Ameisenstraßen am Nachmittag<br />

die wir genommen haben zum ersten Meer<br />

Gegen Abend weniger Fettgeruch und Möwen<br />

unterhalb des Balkons dafür die Andeutung<br />

von Waffenstillstand und Kronkorken<br />

Draußen grub jemand mit einem Silberlöffel danach<br />

wir wussten das schon damals weil wir gedankenlos<br />

ein Zimmer teilten in dem es zu warm war für Schlaf.<br />

Wir dringen vor zu den Inneren Bereichen der Stadt<br />

ein Gesicht mit aufgemaltem Fenster leuchtet<br />

so sehen wir die Nacht im Umkreis von zwei Kilometern<br />

die Staumeldungen<br />

Von entfernten Inseln bleiben unverstanden<br />

spielen wir nur Gedanken auf dem Weg nach da<br />

so hängen Teppiche von den Balkonen<br />

im Sekundenaufprall<br />

Eines Tropfens auf der nassen Wolle am Geländer<br />

ziehen wir Fäden sind schon fast da<br />

so zerfasert die Nacht vor uns Panzerglas<br />

Soll man das ins Gesicht kleben fragt einer<br />

In zivilisierten Bereichen wie diesen spielt immer ein<br />

Radio weiter<br />

38


LINUS WESTHEUSER<br />

gymnopédie no 3<br />

ein sommer heißt nichts wahrheit<br />

der tag entsteht auf der linie als speed painting<br />

müllrose<br />

ich bin verliebt in die großen vögel<br />

40


gymnopédie no 3<br />

satie hört man<br />

bei lauter stärke in den grund:<br />

wie hinten türen sich öffnen und schliessen<br />

ab im rauschen die schritte die den<br />

kaffee machen gehen (wieder öffnen)<br />

die augen: gerieben hundert mal<br />

tausend dienstag ist ein missverständnis<br />

das leben wird in der kneipe freibier<br />

übermorgen und die ecken<br />

so still die zeche und so klein<br />

der wirbelstaub im atem die<br />

drähte zehrend in armen und beinen<br />

zu spüren immer im gang zu spüren<br />

den kaffee machen gehen<br />

alt umher die geister aus tassen und<br />

ecken voll übergängen lent et grave<br />

die blätter zu staub wie<br />

für immer birnenblau geboren<br />

für am fenster nur und kurz<br />

hören die töne die einer anschlägt<br />

in anbetracht eines rauschens<br />

den geistern<br />

ohne eile und gebeugt<br />

durch die tür ist noch<br />

offen die fehlbarkeit der Uhren<br />

41


ein sommer heißt nichts wahrheit<br />

ist gelingensding (gedankenlos) wie<br />

austritt aus dem landeskörper<br />

rückversichert kaum sturz raus<br />

zu disteln bloß und matten<br />

farben einer fermentierten<br />

frage am abend (die platten)<br />

bauten der städte (die platten)<br />

tiere auf dem weg dem<br />

einzigen hinaus in<br />

wahrheit heißt weiter so<br />

durchfragen von fall zu<br />

fall<br />

der tag entsteht auf der linie als speed painting<br />

übung am gesicht mit fremden<br />

applikationen und schmerzen in den fingern<br />

vom tagelangen erschaffen einer sprache<br />

durch zeigen und zwitschern<br />

jetzt ist ein guter teil immer schon<br />

geschafft mit nichts als copypaste<br />

hauptsache irgendwas zusammen und wir<br />

fahren runter zum park im kopf: x<br />

singvögel über feldern aus<br />

strobo klickklick dann<br />

replay passanten it was so much fun<br />

why didn’t you do it?<br />

it was so much fun<br />

why<br />

UND DAS WARTEN HÄLT AN<br />

dass was ins auge geht mal so richtig oder<br />

kein anschluss mehr erreicht und<br />

ob da einer die miene verzieht hinterm<br />

geschlossenen fenster<br />

42


müllrose<br />

wo ich bin röselt sich müll<br />

wie hautblumen tausendfach<br />

im halmöd<br />

gestreut grob sommerlich<br />

dass mir die augen sporen<br />

vor mohn- vor kornblumenreminiszenzen<br />

wo ich bin bricht liberacion<br />

im dicken glas das licht<br />

de cuba hier kein wort nur<br />

mild der ausschlag<br />

der mark brandenburg<br />

ich bin verliebt in die großen vögel<br />

besonders wenn es warm ist in der nacht gehen sie ein und<br />

aus bei mir<br />

ich liege mit den geschlossenen augen an ihren krallen ich<br />

saufe die architektur<br />

was bin ich geworden dass ich hier bin ohne stöße in der<br />

luft und verliebt?<br />

jede wand ist ein schirm für bilder in meinem park<br />

steht ein vergoldeter hirsch auf kunstrasen sein fell ist<br />

bedeckt<br />

mit der scheisse der vögel was bin ich geworden?<br />

meine fühler gehen ins erdreich ich<br />

versuche nur betrunken mich gerade zu denken<br />

ich suche das stampfen im boden<br />

ich liege in meinem bett ein schirm sind die wände ich<br />

schreibe<br />

F U C K an jede einzelne in der stadt fällt der schnee<br />

dann die streu<br />

43


dann räumen sie den schnee dann saugen sie die streu die<br />

straßen<br />

sind leer und warm und überall kreisen die vögel<br />

sie nisten wie haufen von trockenen kraken an den häusern<br />

es geht<br />

ein wind so sanft und böse dass einem die gedanken schlingern<br />

was bin ich geworden ich will mich gerade denken aber<br />

es wuchert mir überm kopf die sonne gibt sich hin in quadraten<br />

aus obst die<br />

flecken kleben in der ganzen stadt ich will sie lieben die<br />

stadt aber<br />

ich liebe die großen vögel und wie es wuchert aus den<br />

leeren häusern<br />

das licht ist eine trockene krake auf den leuten im bus und<br />

ich liege im bett und ich warte auf den tag ich warte auf<br />

die nacht<br />

ich halte mein fenster weit offen an allen tagen<br />

denn ich bin verliebt in die großen vögel<br />

immer nachts sind sie bei mir<br />

44


OPEN WRITING<br />

MIT MARKUS ORTHS


Janina de Castellano<br />

50<br />

Nicolas Geibel<br />

56<br />

Katharina Hartwell<br />

64<br />

Eva Kissel<br />

72<br />

Erika Kojima<br />

82<br />

Lisa Schetter<br />

90<br />

Clio Alyssa Voß<br />

98<br />

Johannes Walden<br />

<strong>10</strong>4


Wer schreiben möchte, muss in sich einen Drang spüren, der ihn nicht loslässt und immer<br />

wieder neu an den Schreibtisch treibt. Einen inneren Zwang, ein Schreibenmüssen, ein<br />

Nichtanderskönnen. Die bekannte Phrase „Kunst kommt nicht von Können, sondern von<br />

Müssen“ ist völlig zutreffend. Diesen Drang, dieses unbedingte Müssen, das unabdingbar<br />

zum Schreiben dazugehört, kann man weder lernen noch lehrend vermitteln. Er ist da, der<br />

Drang, oder eben nicht.<br />

Die Kurse <strong>open</strong> <strong>writing</strong> sind demnach keine Schriftstellerschmiede, in der neue Schriftsteller<br />

sozusagen am Fließband hergestellt werden. Die Kurse sind vielmehr ein Feld, auf dem sich<br />

junge Leute ausprobieren können und bilden einen wichtigen Rahmen, um etwas über sich<br />

selbst und seine Position zum Schreiben herauszufinden. In den Werkstätten kann man den<br />

Drang, schreiben zu müssen, nicht injizieren, aber jeder kann für sich herausfinden, ob dieser<br />

Drang da ist und wenn ja, wie stark; und man kann ein Talent fürs Schreiben nicht züchten,<br />

aber austesten, wie groß es ist.<br />

Lernen und lehren kann man etwas anderes: Um schreiben zu können, muss man lesen<br />

können, das Geschriebene begutachten, verbessern, verändern. Dies war Hauptteil unserer<br />

Schreibwerkstatt: die Arbeit am Text. Dazu ist es wichtig, analysieren zu können, was genau<br />

bei einem Text gelingt und was nicht. Ist ein Text zäh und langweilig, mag es daran liegen,<br />

dass er zu sehr berichtet und zu wenig szenisch darstellt; um das zu erkennen, muss man<br />

aber erst den Unterschied zwischen „telling“ und „showing“ kennen, zwischen Bericht und<br />

Erzählung. Ist eine Figur eindimensional und blass, mag es an der Figurenzeichnung liegen;<br />

um das zu erkennen, muss man aber erst wissen, welche Möglichkeiten der<br />

Charakterisierung es überhaupt gibt. Stimmt der Ton nicht, mag es an einer falschen<br />

Perspektive liegen; um das zu erkennen, muss man aber erst die Chancen und Gefahren<br />

einer jeden Perspektive kennen und abwägen können.<br />

Wir haben somit einen Fokus auf die Theorie des Schreibens gelegt, auf das literaturwissenschaftliche<br />

Handwerkszeug, wir haben viel über die Texte der Teilnehmer gesprochen, wir<br />

haben in Übungen im Seminar selber Texte verfasst, wir haben einige heftige<br />

Grundsatzdiskussionen geführt, über Aufgaben und Möglichkeiten der Literatur, über die Art<br />

und Weise von Kritik, über Sinn und Unsinn von Bewertungen.<br />

Mein Ansatz war immer der, den Schülern Lust und Freude am Schreiben zu vermitteln, da<br />

ich selber immer mit Lust und Freude schreibe. Und auch diese drei Jahre der Vermittlung<br />

haben mir viel Freude bereitet. Ich danke ganz herzlich der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong>, Frau Ulrike<br />

<strong>Crespo</strong> und Frau Karin Heyl, besonders Katrin Krampe für die Unterstützung der<br />

Organisation und Franziska Lindner für die Betreuung im Literaturhaus.<br />

MARKUS ORTHS<br />

49


JANINA DE CASTELLANO<br />

U7<br />

C.<br />

Das Schamhafte wehrt sich wie der Teufel dagegen,<br />

geliebt zu werden<br />

50


U7<br />

Ihr Menschen in der U Bahn seid hässliche Geister, die den<br />

Glauben an sich selbst verloren haben.<br />

Ab und an tanzt ein geistig Behinderter oder ein Betrunkener<br />

vorbei, an dem ihr gekonnt vorüberschielt.<br />

Ich will euch nicht sehen, Gespenster der Morgenstunden.<br />

Vier grünblaue Wände. Ich starre von einer zur Nächsten.<br />

Auf keinen Fall möchte ich in den Augen eines dieser Menschen<br />

hängen bleiben.<br />

Dicker Mann, Ende Dreißig, schwirrt mit indiskretem Blick<br />

beständig in mein Sichtfeld.<br />

Als ob ich es nicht merkte. Am liebsten würde ich mich<br />

zu ihm drehen und ihm so lange unverfroren in die Augen<br />

starren, bis er sein eigenes Spiegelbild darin erkennt. Dann<br />

wäre es ihm nicht länger möglich, sich auf mir auszuruhen.<br />

Auf der Bank gegenüber kauert eine zittrige Gestalt. Die<br />

Augen glasig, verwaschenes Blau, fixieren einen Punkt unweit<br />

von mir. Eine alte Frau, nicht älter als Siebzig. Sie zieht<br />

unablässig ihre roséfarbenen Lippen in ihre zahnlose Mundhöhle,<br />

um sie dann, wie zu einem Kuss gespitzt, wieder an<br />

der Außenwelt teilhaben zu lassen. Ich sinne nach, ob sie<br />

schön war, bevor Alter und Zweifel ihre glatte Haut in schlaffes<br />

Leder verwandelt haben. Merkt man es selbst gar nicht,<br />

dass man immer magerer wird und die Augen sich in ihre Höhlen<br />

zurückziehen, dass man sich zu einem untoten Schatten des<br />

lebendigen Menschen entwickelt, der man einmal war?<br />

Wenn der Dicke nicht hier mit mir eingesperrt wäre, würde<br />

er seine Brille putzen und Stromrechnungen bezahlen. Jetzt<br />

aber befindet er sich, im Grunde verängstigt bis aufs Blut,<br />

auf dem Weg zur Arbeit. Er ahnt nicht, welche Macht ihm<br />

gerade zuteil wird. Seine reine Präsenz, gepaart mit seinen<br />

unverschämten Glotzaugen, verursacht einen stechenden Schmerz<br />

in meinem Solar Plexus. Ich wünschte, ihm einige Schritte<br />

voraus gewesen zu sein.<br />

Eine russische Frau mit rot geschminkten Lippen, einem<br />

Pelzmantel und einer Lederhandtasche quetscht sich neben mir<br />

auf den Sitz. Ich stelle mir vor, wie ich sie ohne Vorwarnung<br />

mit dem Blut der Tiere übergieße, aus denen ihr Mantel<br />

besteht. Ihre Mundwinkel haben sich entsprechend eindeutig<br />

51


entschieden, Richtung Erde zu weisen. Ihr misstrauischer<br />

Blick aus braunen, faltigen Augen geht ins Leere. Ihr Kopf<br />

ist auffallend in den Nacken gelegt, sie drückt sich mit<br />

ihrem gesamten Gewicht in den roten Ledersitz und bemerkt<br />

dabei offenbar nicht, dass sie auf meiner Tasche sitzt.<br />

Die Restpassagiere bestehen aus einer ungeschminkten Frau<br />

mit Brille, die ganz und gar in einen Science-Fiction-Roman<br />

vertieft ist, einem Anzugträger, der seine Selbstbestätigung<br />

wie ein Gebet über die Tastatur seines Mobiltelefons<br />

wichst und ein paar hysterisch schnatternden und<br />

kreischenden Mädchen auf dem Weg zur Schule. Ihr synthetisches<br />

Parfum dringt, ohne dass ich es will, aggressiv in<br />

meine Nase.<br />

Lange seid ihr nicht mehr meine Brüder und Schwestern.<br />

Wir erkennen uns nicht. Wir sind uns gleichgültig, im besten<br />

Fall sind wir uns im Weg, wir begegnen uns im Egomodus. Dann<br />

gibt es kleine, erregende Kämpfe, in denen man die Lebendigkeit<br />

in euren toten Augen aufflammen sieht. Sonst seid ihr<br />

kalt und steif. Noch am nächsten Tag steht ihr da und wartet<br />

auf die nächste U-Bahn.<br />

Ich sehe mein Innerstes, ich schaue in das tiefste Loch in<br />

mir. Darin sehe ich keinen. Außer mich selbst.<br />

C.<br />

Stolz verkündete er am Telefon, seine Brieffreundin sei<br />

jetzt da, er habe keine Zeit sich zu treffen. Wir würden<br />

unsere Briefe lesen und hätten uns viel zu sagen.<br />

Er könne ohne Tabletten weder einschlafen noch aufwachen.<br />

Seine Hosen passten seither nicht mehr, berichtete er in<br />

einem vorhergegangenen Brief.<br />

Es waren die letzten Tage im Dezember, abends am Bahnhof<br />

nach 6 Stunden Fahrt. Ein richtiger Mensch, eigentlich ein<br />

verschüchterter Riesenjunge, mit abstehenden Ohren und<br />

tätowiertem Gesicht, ragte 1,90m vor mir in die Höhe. Sein<br />

52


echtes Auge floh leicht nach außen. Er trug Rollkragen,<br />

Mütze und schwarze Jeans.<br />

An seiner Wand hing mein Bild. Vergrößert und gerahmt. Er<br />

war gerührt, als ich mit Selbstverständlichkeit meine<br />

schneenassen Schuhe auszog, bevor ich seinen Wohnbereich<br />

betrat. Andere zollten ihm nicht diese Art von Respekt,<br />

sagte er in einem Anflug von Bitterkeit.<br />

Der Eingangsbereich der Wohnung war eine Elektro- und<br />

Physik-Werkstatt erster Klasse. Mehrere hundert kleine Plastikschubladen,<br />

liebevoll etikettiert und in Schönschrift<br />

beschrieben: Muttern, Dübel, Lötkolben … Dutzende Werkzeuge,<br />

sauber aufgeräumt, alle hatten ihren Platz. Eine kleine,<br />

stumme Familie.<br />

Am ersten Abend gab es Nudeln mit scharfer Soße. Beschämt<br />

erklärte er, dass sie wohl deutlich zu scharf geworden sei.<br />

Ich konnte ihn insoweit beruhigen, dass er sich nach einigem<br />

Hadern zu mir setzte, und ebenso anfing zu essen.<br />

Ein Terrarium mit „Mausen“, wie er sie im Schwäbischen<br />

nannte, stand auf einem Regal in Augenhöhe. Sie hatten gerade<br />

Babys bekommen, die sehr klein, rosa und zerbrechlich waren.<br />

Nur wenn man Glück hatte, bekam man sie zu Gesicht. Sie bewegten<br />

sich kriechend fort und rissen ihre kleinen Mäulchen<br />

auf, wenn das Muttertier in ihrer Nähe das Nest ausstopfte.<br />

Einige Zeit nach meinem Besuch gestand er mir, dass er einige<br />

von ihnen als Schlangenfutter weggegeben habe.<br />

Er war im Besitz einer alten Kaffeemühle. Mit Engelsgeduld<br />

und meisterhafter Präzision, erklärte er mir, wie sie<br />

funktioniert. Noch nie zuvor war ich in der Lage, einen<br />

technischen Vorgang nach nur einer Erklärung fehlerfrei auszuführen.<br />

Meine Art, mich für die Gastfreundschaft und seine<br />

bloße Existenz zu bedanken, bestand für die drei Tage meiner<br />

Anwesenheit darin, ihm Kaffee zu kochen. Ich war so glücklich,<br />

dass ich es damals nicht merken konnte.<br />

Bad und Schlafzimmer waren gleichermaßen tapeziert mit<br />

schwarzen Müllsäcken, Fenster gab es keine. Genau einmal<br />

schlief ich in seinem Arm. Unschuldig. In der letzten Nacht<br />

vor meiner Abreise. Er hatte zuvor mehrfach erwähnt, dass<br />

er zu alt für mich sei.<br />

53


Bei einem spanischen Abendessen, zu dem er mich leider<br />

nicht einladen konnte, da es diesen Monat knapp sei finanziell,<br />

erzählte er mir Anekdoten aus seinem früheren Leben.<br />

Der Pfarrer habe es damals beim Konfirmandenunterricht auf<br />

ihn abgesehen. Als er einmal zu spät zur Kirche kam, da er<br />

mit dem Fahrrad gestürzt war und sich das Knie verletzt<br />

hatte, holte der Pfarrer aus und trat an ebenjener Stelle<br />

derart zu, dass es den Jungen umwarf. Aufgelöst humpelte er<br />

nach Hause und berichtete seinen Eltern von dem Vorfall. Die<br />

Konfirmandengruppe aber schwieg.<br />

Seine Eltern würden ihn noch heute manchmal mit dem Namen<br />

seines älteren Bruders ansprechen, der Möbel aus Kirschbaumholz<br />

im Wohnzimmer stehen habe.<br />

In der Schule wurde er Bananengesicht genannt. Er versuchte<br />

die Gunst der Mädchen auf sich zu lenken, indem er<br />

sie so fest kniff, dass sie blaue Flecken davontrugen und sie<br />

anspie, im Glauben, sie würden davon schwanger.<br />

An Silvester stiegen wir auf den höchsten Berg der<br />

Alptraumstadt. Wir waren zu hoch geklettert, hatten das<br />

Feuerwerk unter uns. Schweigend saßen wir in der Schwefelwolke.<br />

Hand in Hand, laut lachend rutschten und stolperten<br />

wir die verschneiten Hänge hinab, als es vorüber war.<br />

Mit jeder Stunde, in der mein Abschied näher rückte, zog<br />

er sich wieder mehr in sich zurück. Er wirkte reservierter,<br />

ernster. Glücksmomente schwanden, und ich fühlte mich machtlos,<br />

und doch wusste ich, dass es nur so und nicht anders sein<br />

konnte.<br />

Ich küsste ihn auf seine vernarbte Wange und stieg,<br />

bewusst ohne mich umzudrehen, in den Wagen meiner Mitfahrgelegenheit.<br />

Zuvor hatte er noch pflichtbewusst beim Einladen<br />

des Gepäcks geholfen. Aus dem Radio erklang wenig später ein<br />

bekanntes Lied, das mich nie zuvor berührt hat: „Du bist<br />

schön. Du bist schön, das ist wahr.“<br />

Im Sommer, zwei Jahre nach unserer Begegnung, verabschiedete<br />

ich mich von ihm in einem kurzen Brief.<br />

Er hat den Umriss seiner Hand auf das Papier seiner Antwort<br />

gezeichnet. Schrieb …<br />

54


„Ich bin so geistig dünn geworden, bin nicht mehr, was ich war.<br />

Diese zerrende Welt nimmt mir mein Ich.<br />

Veränderung ist Leben, kein Schönes.<br />

Will nicht klagen, mach es doch.“<br />

Und zuletzt:<br />

„…sur l’autre rive je t’attendrai.“<br />

(Am anderen Ufer warte ich auf dich.)<br />

Das Schamhafte wehrt sich wie der Teufel dagegen,<br />

geliebt zu werden<br />

Voller Angst starrte sie in den Spiegel. Sie wollte nichts<br />

mit dem weißen Wesen zu tun haben, das zurück in ihre Augen<br />

starrte. Nie. Der raue Stock der Kindheit schimmerte durch<br />

sie hindurch wie eine glitschige Ader, durch die nichts als<br />

Schande floss. Der brennende Wunsch sich zu bedecken, oder<br />

auf der Stelle entzwei zu reißen. Sie wollte nichts mehr,<br />

als ihre Eingeweide auf die Spiegelfläche platschen zu<br />

sehen. Nicht etwa in einer dramatische Explosion. Eher so,<br />

wie ein Kotelett von der Arbeitsfläche auf den Boden fallen<br />

würde. Ein rotziges, dumpfes Platsch. Das würde den Eingeweiden,<br />

da sie zu ihr gehörten, gerecht werden.<br />

Wenn man sie finden würde, wäre sie ein schleimiger<br />

Haufen auf Linoleum, nur die Augen und Zähne würden auf eine<br />

frühere Existenz als Mensch verweisen. Man würde sie aufkehren<br />

müssen und in die Notaufnahme fahren, so tun, als<br />

wollte man etwas reparieren. Hier und da näht und tackert<br />

man ein wenig, auch für die Angehörigen. Dann würden die<br />

Ärzte mit gespielter Überraschung die Schultern hochziehen,<br />

auf die absurde Skulptur deuten und erklären, dass sie ihr<br />

Bestes gegeben hätten. Und man würde ihnen glauben, ein<br />

Formular ausfüllen lassen und sie selbst noch mal einpacken,<br />

vielleicht tiefgefrieren, bis ihre Familie über die<br />

Finanzierung ihrer Bestattung und den Verbleib ihres bescheidenen<br />

Besitzes entschieden hätten. Stattdessen schminkte<br />

sie sich, zog sich mit Bedacht an und ging zur Arbeit.<br />

55


NICOLAS GEIBEL<br />

Die Postkartenmalerin<br />

56


Der Platz an sich wirkte nicht besonders. Er war mittelgroß<br />

und mit grauem Kopfstein gepflastert. Ein Platz, wie<br />

er oft anzutreffen ist in diesen Breitengraden, im Zentrum<br />

einer der vielen schmucken Städtchen, die sich entlang der<br />

Küste ziehen. Genauer betrachtet unterschied er sich jedoch,<br />

abgesehen natürlich von den umgebenden Gebäuden, entscheidend<br />

von seinen Verwandten. Alle Seiten fielen gleichmäßig<br />

zur Mitte hin ab, wodurch sein Mittelpunkt auch der tiefste<br />

Punkt war. Das Pflaster wand sich spiralförmig zu diesem Punkt<br />

hin. Nun geriet jeder Neuling und auch so mancher Stadtbewohner,<br />

trotz des gewohnten Charakters des sich bietenden<br />

Anblicks, in diesen Strudel und blieb, gefangen von der brachliegenden<br />

Größe, an dessen Endpunkt stehen. Der Grund des<br />

Verweilens, der städtische Dom, manifestierte sich am östlichen<br />

Rand des Platzes. Verbindet man schon allein mit dem<br />

Wort „Dom“ oder seinem Pendant „Kathedrale“ eine gewisse<br />

Größe und empfindet bei dessen Klang einen fahlen Abdruck<br />

von Ehrfurcht, so wurden selbst diese Worte, die mit so viel<br />

Glanz, Größe, Glorie und Gottesfurcht verbunden werden, diesem<br />

Monument nicht gerecht.<br />

Den Dom angemessen zu beschreiben, gestaltet sich äußert<br />

schwierig und erscheint unmöglich, ist doch die menschliche<br />

Sprache ein viel zu einfaches und grobes Werkzeug. Man (ich,<br />

ich kann in diesem Fall ausschließlich für mich sprechen)<br />

kann nur sagen, dass der Betrachter bis in sein innerstes<br />

Selbst berührt wurde. Die gegossenen Mauern streckten sich<br />

Richtung Himmel, und es schien, als würden sie ihn leicht<br />

streifen, so wie eine Mutter, die das Gesicht ihres Neugeborenen<br />

das erste Mal berührt. Die Türme zwirbelten sich in<br />

die Höhe, kühn die eigene Zerbrechlichkeit missachtend. Die<br />

Kuppel, das Haupt des Domes, stand rund und golden und saugte<br />

das Licht der Sonne in sich hinein, um es auf die weißen<br />

Wände zu werfen. Sie schimmerten sachte. Man wandte das nasse<br />

Gesicht ab und erkannte, dass Gott den Menschen wohl doch<br />

nach seinem Abbild geschaffen hatte, damit dieser ihm ein<br />

solches Haus bauen konnte. Wenn die Sonne morgens aufging,<br />

stand sie für einen Moment direkt hinter der Kuppel des<br />

Doms. Das Licht des steigenden Sterns umstrahlte dann den<br />

von menschlichen Händen geschaffenen Halbmond und umgab ihn<br />

mit einem hellen Schein, welcher den Dom, für diesen kurzen<br />

Moment zumindest, unsrer irdischen Welt entrückte und ein<br />

Stück gen Himmel trug. War der Dom sonst auch ein erhabener<br />

Anblick, so war er in diesen Momenten wahrhaft göttlich.<br />

57


Sie hatte es sich zur Aufgabe gewählt, eben diese Entrücktheit,<br />

dieses kühne Vordringen auf transzendenten Boden, auf<br />

ihr bescheidenes Medium zu bannen. Sie ging dieser Aufgabe<br />

schon lange nach. Sie saß auf dem Platz und malte kleine<br />

Miniaturen des Domes auf Postkarten. Aus Notwendigkeit verkaufte<br />

sie diese an die Touristen, die, immer noch gefesselt<br />

und berührt, ein kleines Andenken wünschten, um ihren Angehörigen<br />

etwas mitbringen zu können, damit der sicherlich<br />

bildhafte Bericht eine gewisse Handfestigkeit erlangte. Oder<br />

sie wünschten sich ein lebhafteres Bild als die bloße Erinnerung.<br />

Nicht allen erging es so. Manches schlichte Gemüt<br />

erblickte den Dom, betrachtete ihn, bejahte seine Größe,<br />

schätzte seine Maße, fragte sich, wie viel Material und Zeit<br />

der Bau wohl beansprucht hatte, beschloss, dass er beeindruckend<br />

war, wendete ihm den Rücken zu und vergaß ihn augenblicklich.<br />

Daraufhin übersah er die Frau, die in der Mitte<br />

des Platzes, mit leicht nördlicher Tendenz, auf einem Schemel<br />

saß und unermüdlich malte. Krähenfüße umrissen scharf ihre<br />

Augen, und die Farben hatten sich tief in ihre Finger eingebrannt.<br />

Täglich stand sie weit vor Sonnenaufgang auf, um<br />

pünktlich auf dem Platz zu sein. Immer war die Zeit zu knapp,<br />

sie rannte unermüdlich gegen sie an, malte mit fliegenden<br />

Händen, verlor letzten Endes doch. Sie konnte das Motiv nie<br />

so darstellen, dass es ihrem Auge gerecht wurde, wenn sie<br />

es überhaupt in seiner ganzen Form gemalt hatte. Mit der<br />

Zeit jedoch konnte sie langsam Fortschritte in ihrer Kunst<br />

erkennen, zunächst kaum erahnbar, später immer deutlicher.<br />

So hoffte sie, dass sie am Ende doch erfolgreich sein würde<br />

und stand nach jedem Scheitern erneut wieder in aller Frühe<br />

auf, um auf den Platz zu gehen, zu ihrem Dom. Das Licht der<br />

Sonne wandelte sich zwar auch über den Tag hinweg, jedoch<br />

so gemächlich, dass es innerhalb von Minuten kaum merklich<br />

war. Dadurch war es ihr gelungen, den Dom zu jeder anderen<br />

Tageszeit zu malen. Sie erschuf täglich Repliken ihrer<br />

Bilder. Sie saß im morgendlichen Zwielicht auf dem hölzernen<br />

Schemel, auf dem sie immer saß. Die Sitzfläche glänzte,<br />

das häufige Herüberfahren mehr oder weniger rauen Stoffes<br />

hatte das einstmals raue Holz poliert. Vor ihr stand ihre<br />

alte Staffelei, ein windschiefes Ding mit verschieden langen<br />

Beinen, das auf der leichten Schräge des Pflasters immer<br />

ein wenig wackelte. Sie griff in die Leinentasche links<br />

neben ihrem Schemel und holte ein weißes Papierrechteck heraus,<br />

das sie auf die Staffelei stellte. Dann entnahm sie<br />

demselben Beutel eine Reihe von Farbtuben und Pinseln und<br />

58


eine alte Mischpalette, die wohl aus Holz bestand, aber deren<br />

ursprüngliche Beschaffenheit unter dutzenden Farbschichten<br />

verborgen war. Sie drückte die Farben aus den Tuben, um sie<br />

mit einem Pinsel zu verrühren, bis sie eine neue Farbe ergaben,<br />

die gänzlich anders schien als die Töne, aus denen sie<br />

entstand. Allmählich entwickelte sich ein Spektrum verschiedener<br />

Farben. Sie war zuversichtlich, dass die neue<br />

Goldmischung, die sie innerhalb der letzten Wochen entwikkelt<br />

hatte, dem Heiligenschein der Kuppel gleichen und wenn<br />

nicht, ein Schritt in die richtige Richtung sein würde. Das<br />

Rot der aufgehenden Sonne war schwer zu treffen, wies es<br />

doch jeden Tag andere Schattierungen auf, je nach Wetter.<br />

Die Marmorwände waren nicht nur schlicht weiß, wie der Laie<br />

vielleicht vermutet, sondern wiesen eine Vielzahl an Nuancen<br />

auf. Während am Fuße des Domes ein fast bräunliches Elfenbein<br />

herrschte, verlief sich dieses nach oben hin. Es wurde<br />

mehr und mehr mit Weiß verdünnt, aus Elfenbein wurde klares<br />

Weiß, und an den oberen Kanten, dort, wo die Wände und Türme<br />

dem Himmel am nächsten waren, schien der Marmor fast transparent.<br />

Als die Sonne nun langsam stieg und den Platz in ein<br />

diesiges gräuliches Rot hüllte, tauchte sie den Pinsel<br />

zuerst in den elfenbeinernen Ton. Sie hatte die Tage zuvor<br />

versucht, mit dem weißlichen Teil in der Mitte des Rumpfes<br />

zu beginnen und war damit nicht recht vorangekommen. Als die<br />

Sonne hinter dem Dom verschwand und der goldene Strahlenkranz<br />

um die Kuppel erbebte, begann sie zu malen. Der Pinsel<br />

huschte über die lächerliche Leinwand, setzte hier einen<br />

Tupfer Gold, zog da eine kurze Linie Mattweiß und wirklich,<br />

es schien, als würde sich aus diesen so wahllos verstreut<br />

anmutenden Akzenten das Bild herausarbeiten, das der Dom ihr<br />

bot. Doch die Sonne tauchte bereits über der Kuppel auf,<br />

schob sich träge über deren Rand, als würde sie an ihr haften<br />

und erstrahlte hell und kalt am Morgenhimmel. Große<br />

Teile der Kuppel fehlten, die Wände waren durchbrochen von<br />

nackten Stellen und der Sockel wies einen kleinen Fehler am<br />

unteren rechten Rand auf, weil ihr der Pinsel wegen einer<br />

unsauberen Handbewegung minimal weggerutscht war. Der<br />

Strahlenkranz aber war vollendet dargestellt. So wie sich<br />

ein Schmetterlingssammler über ein seltenes Exemplar freut,<br />

so freute sie sich über diesen Fortschritt. Ihr war es gelungen,<br />

zumindest ein Fragment des Moments festzuhalten. Der<br />

Strahlenkranz schien wie ein Nachtfalter aus mystischen<br />

Gegenden mit gefährlich und exotisch klingenden Namen, beide<br />

Teil eines größeren Ganzen und beide in ihrer bruchstück-<br />

59


haften Natur doch vollkommen. Und so wie der Sammler wusste,<br />

dass es noch ein langer, vielleicht unmöglicher Weg zur<br />

vollkommenen Sammlung war, so wusste auch sie, dass sie nur<br />

einen kleinen Schritt nach vorne gemacht hatte. Aber wie die<br />

einzelnen Schritte eines Balletttänzers war auch dieser von<br />

ausgesuchter Wichtigkeit und Anmut. Sie nahm das Rechteck von<br />

der Staffelei, betrachtete es noch einmal und verstaute es<br />

dann vorsichtig in ihrem Leinenbeutel.<br />

Den Rest des Tages war es lächerlich einfacher den Dom zu<br />

malen. Es entstanden an diesem Tag, wie an vielen anderen<br />

zuvor, wundervoll pittoreske Ansichten, ob nun im diesigen<br />

Weiß der ersten Morgenstunden, im grellen harten Licht des<br />

Mittags oder im zarten Rosé der frühen Abendstunden, das<br />

langsam ins Purpur abglitt, um letztendlich in ein samtenes<br />

Nachtblau überzugehen. Als sie mit dem letzten Abendlicht<br />

ihre Staffelei zusammenklappte, sich die Tasche mit ihren<br />

Utensilien über die Schulter hängte und mit Staffelei und<br />

Schemel in den Händen den Platz verließ, war sie glücklich.<br />

Sie lebte, oder besser schlief, in einem gesichtslosen<br />

älteren Wohnungskomplex unweit des Platzes, doch außerhalb<br />

des Stadtkerns, ließ doch die Stadtverwaltung solche Bausünden<br />

dort berechtigterweise nicht zu. Das Haus war ein grauer<br />

Niemand, mit hoher schnörkelloser Fassade, rau verputzt,<br />

über die sich in kongruenten Reihen kleine Fenster zogen.<br />

Sie hatte ihren Heimweg nicht wahrgenommen, weder die paar<br />

Stadtbewohner, die ihre wohlbekannte Gestalt erkannten und<br />

entweder sanft lächelnd und höflich nickend, einen Gruß auf<br />

den Lippen oder heftig den Kopf über ihren seligen Blick<br />

schüttelnd an ihr vorübergingen, noch die Häuser und Gärten,<br />

die den vertrauten Weg säumten. Sie schloss die Tür auf und<br />

betrat das Haus. Sie ging die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf,<br />

öffnete sie und blickte sich verwundert um. Ein Mensch<br />

stand auf dem Treppenabsatz.<br />

„Wissen sie, trotz der Tatsache, dass ich die meiste Zeit<br />

alleine bin, halte ich mich für sehr umgänglich“, sagte er<br />

zu ihr. Er stand breitbeinig, mit leicht vornüber gebeugtem<br />

Oberkörper da. Er stand vor ihr, mit seiner großen dunklen<br />

Gestalt das ganze Treppenhaus einnehmend, das abendliche<br />

Zwielicht warf lange Schatten. Er blickte ihr fest in die<br />

Augen. „Ich habe einfach viel mehr Zeit als die meisten Leute.<br />

Die zugegeben recht raren Kontakte die ich zu meinen<br />

Mitmenschen pflege, kann ich dafür umso intensiver auskosten<br />

und überlegter empfinden.“ (Er schien wirklich wenig<br />

Umgang zu pflegen. Sie hatte ihn bis dahin vielleicht drei-<br />

60


mal im Treppenhaus gesehen. Man begegnete sich kurz im Aufoder<br />

Abgehen, grüßte sich flüchtig, eher pflichtbewusst,<br />

denn man wohnte ja im selben Haus und da gehörte es sich so,<br />

und sie würde nicht behaupten, dass hier eine Bekanntschaft<br />

vorlag. Hätte sie jemand gefragt, hätte sie ihn wohl nicht<br />

beschreiben können. Auch jetzt erschien er ihr neblig, die<br />

Schatten zerstoben fein seine Konturen. Jedenfalls hatte sie<br />

ihn außerhalb des Treppenhauses nur ein einziges Mal auf dem<br />

Platz gesehen oder sie dachte zumindest, dass er es gewesen<br />

sein könnte. Der Moment war sehr flüchtig gewesen, eine große<br />

dunkle Gestalt hatte sie aus ihrer Konzentration gerissen,<br />

weil sie schnurstracks und forschen Schrittes durchs Bild<br />

gelaufen war.) Sie war etwas befremdet von seinem vertraulichen<br />

Ton und fühlte sich sehr klein im Vergleich zu ihm.<br />

„Ich gehe mit großer Aufmerksamkeit an ein mögliches<br />

Zusammentreffen heran. Nehmen wir beispielsweise den Besuch<br />

im Supermarkt. Ab und an gehe ich dorthin, jeder Mensch muss<br />

essen und trinken. Wenn ich dann am Band stehe, meine Waren<br />

vor mir, langsam voranrückend, blicke ich die Kassiererin<br />

an. Ich betrachtete die Bewegungen ihrer Hände, wie sie die<br />

Konservendosen hält, die sie über das Band führt, ob ihre<br />

Finger zittern, die Neigung ihres Kopfes. Ich betrachte sie<br />

und male mir aus, wie sie so ist. Ist sie scheu?, frage ich<br />

mich. Ist sie schwach? Und wenn ich dann vor ihr stehe, mein<br />

Blick haftet unentwegt an ihr, dann habe ich jede Nuance<br />

ihres Wesens ausgelotet. Dann kenne ich sie. Ich neige dann<br />

meinerseits den Kopf. Dann lächelt sie ein kleines Lächeln,<br />

und ich lächle zurück. Dann bezahle ich und gehe. Denn ich<br />

weiß alles, was wert zu wissen ist.“ Die Tür ihrer Wohnung<br />

stand weit offen, und sie stellte in plötzlicher wilder<br />

Angst ihren Fuß auf die Schwelle, doch schien ihr, als wäre<br />

diese hoch wie der geliebte Dom, und ihr Knie sackte sachte<br />

ein. Er stand hoch und schwarz in ihrem Rücken. Seine<br />

Züge waren erstarrt und glänzten kalt. Als er nun zu sprechen<br />

fortfuhr, schien es, als würden seine Gesichtsmuskeln<br />

kurz spröde. „Was bleibt mir, dem Gottverleugner, als die<br />

Stirn auf den kalten Stein zu pressen und den Mammon an seiner<br />

Statt in den Himmel zu heben? Ich lege meine Hände auf<br />

den Boden und strecke meine Arme ganz aus, und ich schreie<br />

meines Gottes Namen immer und immer wieder. Wachse drohend,<br />

brenne, stecke alle an. Ich liege wie die Pest in der Luft,<br />

dringe in alle Ritzen, jeden Spalt hinaufkriechend, bis ihr<br />

alle von mir getränkt seid und jeder Tänzer, starr vor<br />

Staub, die Füße still hält. Und du, die du mir die Stirn<br />

61


stellen willst, du, mein Geschöpf, die ich in meinem immerwährenden<br />

Gebet mit eiserner Hand auf den Boden presse. Du<br />

denkst, du stellst mir Mauern aus Glas, hinter denen du deinen<br />

Tanz tanzen kannst?“<br />

Und er zerbrach ihren Spiegel in silbrige Forellenschuppen<br />

und spiegelte sich tausend- und abertausendfach und<br />

atmete den Namen seines Gottes, während durch die weit geöffnete<br />

Tür zerrissene Skizzen auf sie herableuchteten, alle<br />

dasselbe Motiv zeigend, einen Dom im Licht des ewigen Sterns.<br />

62


KATHARINA HARTWELL<br />

Schwund<br />

64


Tobi ruft kurz nach Mitternacht an. „Jetzt ist der<br />

Staubsauger weg“, sagt er. Und: „Du findest das wohl normal.“<br />

„Nein“, sage ich. „Überhaupt nicht.“<br />

„Ich fahr da nächstes Wochenende hin“, sagt er. „Du kannst<br />

mitkommen oder nicht. Deine Sache. Ich schau mir das jetzt<br />

selbst an.“<br />

Er legt auf, bevor ich Zeit habe zu antworten, weil er<br />

weiß, dass ich ihn nicht allein fahren lasse.<br />

„Krieg dich wieder ein“, sagt Tobi und rast über eine<br />

gelbe Ampel. „Ist doch besser, wenn sie nicht wissen, dass<br />

wir kommen, sonst kochen die bloß was. Rouladen oder so.“<br />

„Wie denn, ohne Töpfe?“, frage ich.<br />

Er lacht nicht, ich lache auch nicht. „Hör mal, Sonntag<br />

hauen wir wieder ab“, sage ich. „Wie besprochen.“<br />

„Wie es eben so läuft“, sagt Tobi. „Was meinst du, wie<br />

lang so eine Ermittlung dauert?“<br />

„Ermittlung?“ frage ich und halte mich an meinem Gurt fest.<br />

Die Eltern freuen sich riesig. Lässt sich annehmen.<br />

„Huch“, sagt der Vater. „Ach“, sagt die Mutter. Und: „Wenn<br />

ich das gewusst hätte, hätte ich was gekocht.“<br />

„Zu dumm“, sagt Tobi und schiebt sich geschäftig an ihr<br />

vorbei.<br />

Ich trotte hinter ihm in die Küche. Mir ist unklar, wie<br />

es Tobi gelingt, immer so geschäftig auszusehen, auch wenn<br />

er gar nichts zu tun hat.<br />

„Jetzt kümmern wir uns“, sagt er, setzt seine<br />

Sonnenbrille ab und legt sie auf die Küchenablage. Fast<br />

würde ich auf ihn hereinfallen, habe aber zufällig denselben<br />

Film wie er gesehen, über den unsympathischen Ermittler,<br />

den am Anfang keiner mag, am Schluss aber doch alle, weil<br />

er jedes Rätsel löst und so beeindruckend kompetent ist.<br />

„Gut, dass du da bist“, sagt die Mutter, beeindruckt von<br />

Tobis Kompetenz.<br />

„Danke“, sage ich.<br />

„Jetzt geht das schon wieder los“, sagt der Vater.<br />

„Am besten“, sagt Tobi „wir legen eine Inventarliste an.“<br />

Die Mutter bekommt leuchtende Augen angesichts so viel fachmännischer<br />

Tatkraft. „Genau“, sagt sie, „das machen wir!“<br />

Der Vater sieht weniger überzeugt aus, ich stelle mich –<br />

mal wieder, wie immer, dir kann man’s auch nie recht machen<br />

– quer. „Was sollen wir denn mit einer Inventarliste?“ frage<br />

65


ich. „Der Staubsauger ist weg, die zwei blauen Schüsseln,<br />

Papas graues Sakko und das Telefonbuch. Das wissen wir so,<br />

da brauchen wir keine Liste für.“<br />

Tobi verschränkt die Arme. „Wenn du die Sache schon wieder<br />

so negativ angehst.“<br />

„Ich schlage bloß vor, dass wir erst mal den Staubsauger<br />

suchen. Ich geh auf den Dachboden, Tobi, du schaust im<br />

Keller nach.“<br />

Wir finden den Staubsauger nicht. Nicht im Keller, nicht<br />

auf dem Dachboden. Nicht in der Abstellkammer, wo er ursprünglich<br />

verwahrt wurde. Stattdessen stellen wir fest,<br />

dass das Teeservice der Oma, die Waschmaschine und alle<br />

übrigen Telefonbücher ebenfalls verschwunden sind. Zumindest<br />

was diese angeht, sind wir froh. Wir haben noch nie verstanden,<br />

wieso der Vater seit den siebziger Jahren alle Telefonbücher<br />

aufhebt.<br />

Es wäre falsch zu sagen, nichts habe sich im Haus verändert.<br />

Möbel sind nicht verrückt oder entfernt worden, die<br />

Tapeten wurden nicht gestrichen und auch nichts Wesentliches<br />

renoviert oder erneuert. Trotzdem. Anzeichen ihrer Krankheiten,<br />

ihres Alters, ihres Älterwerdens finden sich überall.<br />

Medikamente im Wohnzimmer, Schachteln und Tuben und<br />

Dosen und Zeitpläne, der Inhalator der Mutter, die Einstiegshilfe<br />

an der Badewanne, Tees und Schlafmittel und<br />

Franzbranntwein und Salben. Dieses soll beleben und jenes<br />

beruhigen. Dieses fördert die Durchblutung und jenes lindert<br />

die Atembeschwerden.<br />

Und die Eltern?<br />

Die Eltern sind immer noch sie selbst, nur sind sie weniger<br />

von sich, als hätten sie sich halbiert oder seien geviertelt<br />

worden. Sie sind verwaschen und geschrumpft und<br />

nicht mehr ganz glaubwürdig. Der Vater erinnert noch an den<br />

Vater, wird aber mit jedem Tag mehr zum fleckigen Gespenst.<br />

Nachts geistert er durchs Haus, dann muss ihn die Mutter<br />

wieder einsammeln, im Wohnzimmer, im Flur. „Hast du geträumt?“,<br />

fragt sie oft, auch tagsüber, wenn er im Fernsehsessel<br />

einnickt. Dann schüttelt er heftig den Kopf, als läge<br />

ihm nichts ferner, als hätte er nie, in seinem ganzen Leben<br />

nicht, geträumt.<br />

Nachmittags, als die Eltern ihr Mittagschläfchen halten,<br />

klopfe ich an Tobis Tür. Er sitzt auf dem Boden, staubt<br />

66


seine Mineralien ab, umwickelt sie mit Tempos und packt sie<br />

in seinen Rucksack. „Was wird das denn?“, frage ich, und er<br />

schreckt hoch. „Nur so zur Sicherheit“, sagt er.<br />

Wenn man Tobi ließe, würde auch er Telefonbücher sammeln.<br />

„Wegen dem Staubsauger“, sage ich, „denkst du, was ich<br />

denke?“<br />

„Was denkst du?“, fragt er.<br />

„Carl“, sage ich.<br />

Er wiegt den Kopf, wirft mir einen nicht unbeeindruckten<br />

Blick zu und sagt: „Stimmt, zutrauen würd ich’s ihm.“<br />

Wir mögen Carl nicht. Wir trauen Carl nicht. Wir verstehen<br />

ihn nicht. Mit den Eltern redet er Hochdeutsch, aber wenn<br />

wir den Raum betreten, fängt er sofort an zu schwäbeln. Er<br />

will nicht verstanden werden, nicht von Tobi und mir. Seit<br />

zwei Jahren ist Carl der Untermieter der Eltern.<br />

„Du meinst, der Carl …“, sagt Tobi.<br />

„Wer sonst kommt ohne Schwierigkeiten ins Haus? Wer sonst<br />

könnte eine Waschmaschine klauen, ohne dass es irgendwem<br />

auffällt?“<br />

Einen Moment ist Tobi überzeugt, sind wir beide aufgeregt,<br />

weil wir die Lösung des Rätsels gefunden haben. Dann<br />

sagt Tobi: „Aber was will der mit den Sachen? Mit Papas Sakko.<br />

Oder mit den Telefonbüchern. Was will der denn damit? Wenn<br />

der was klauen will, warum klaut er dann nicht das Silber<br />

oder Mamas Schmuck?“<br />

Ratlos betrachten wir Tobis Mineraliensammlung. Im Haus ist<br />

es mucksmäuschenstill.<br />

Abends will die Mutter uns etwas Gutes kochen. Wir essen<br />

versalzene Suppe und angebrannte Frikadellen und zerkochte<br />

Kartoffeln. Wir essen schweigend mit Plastikgabeln von<br />

Partypapptellern. Abends passiert so wenig im Haus meiner<br />

Eltern, dass die Zeit stoppt. Das war schon immer so.<br />

Während die Eltern mindestens eine Dreiviertelstunde Tagesschau<br />

gucken, stecken wir im Minutenmatsch fest. So klebrig,<br />

so schwer hat sich schon lange kein Abend mehr angefühlt.<br />

Um die Eltern nicht von der neusten Kaltwetterfront abzulenken,<br />

spielen wir in Tobis Zimmer Halma. Ich gewinne vier<br />

Partien hintereinander, und Tobi hat keine Lust mehr. Er<br />

schlägt vor, dass wir uns mit alten Freunden, mit Schulfreunden<br />

auf ein Bier treffen, und ich erinnere ihn, dass<br />

alle weggezogen sind, und wir außerdem nie Freunde hatten,<br />

nur Feinde. „Stimmt“, sagt Tobi resigniert, und wir spielen<br />

noch eine Partie Halma.<br />

67


Am nächsten Morgen habe ich Rückenschmerzen, weil ich<br />

nicht in meinem Bett, sondern auf Tobis Couch geschlafen<br />

habe. „Selbst Schuld“, sagt Tobi. Er versteht nicht, warum ich<br />

nicht in meinem Zimmer habe schlafen wollen.<br />

„Weil es gruselig ist, darum“, sage ich.<br />

„Ist doch alles genau wie früher, die haben doch nichts<br />

verändert“, sagt Tobi.<br />

Und da liegt das Problem. Das Haus wird zum Museum. Und<br />

Museen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Vergangenheit und<br />

Erinnerung konservieren, nicht dadurch, dass dort jemand<br />

lebt. Wäre der Tod ein Gebäude, dann sicher ein Museum.<br />

Beim Frühstück stellen wir fest, dass keine Butter im Haus<br />

ist. „Jetzt auch noch die Butter!“, stöhne ich, aber die<br />

Mutter stellt klar, nein, die Butter sei nicht verschwunden,<br />

sie hätte bloß vergessen, welche zu besorgen, und den Vater<br />

mit seinem schlechten Bein habe sie heute Morgen nicht in<br />

die Stadt schicken wollen.<br />

„Wieso denn in die Stadt, er kann doch zum Supermarkt<br />

gehen“, sage ich.<br />

„Der ist weg“, behauptet die Mutter.<br />

Tobi und ich spähen aus dem Fenster Richtung Supermarkt.<br />

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hätte uns auch ein verschwundener<br />

Supermarkt nicht weiter überrascht.<br />

„Da ist er doch“, sagt Tobi zaghaft. Seine fachmännische<br />

Tatkraft ist verschwunden.<br />

Wir erfahren: Der Vater setzt keinen Fuß mehr in den Supermarkt,<br />

seit der Besitzer gewechselt hat. Alles ist fremd,<br />

der Supermarkt hat einen neuen Namen, das Sortiment ist ein<br />

anderes und viel kleiner, und das Personal hat komplett<br />

gewechselt. Der Vater findet sich dort nicht mehr zurecht.<br />

Abends lädt Tobi uns zum Italiener ein. Während wir zum<br />

Restaurant fahren, parken, bestellen, essen, bezahlen, wundere<br />

ich mich über die Eltern. Ihr Fahrstil erschreckt mich,<br />

und dass sie die Verkehrsregeln vergessen zu haben scheinen,<br />

dass die kurzsichtige Mutter unbebrillt fährt, weil die<br />

Brille verschwunden ist, dass sie die Karte im Restaurant<br />

nicht verstehen und den Kellner verdächtigen, sie über den<br />

Tisch zu ziehen. Weil, das flüstern sie sich beunruhigt zu,<br />

es sich um einen neuen, ihnen gänzlich unbekannten Kellner<br />

handelt. „Der Alfredo sieht aber anders aus“, bemerkt der<br />

Vater.<br />

68


Als wir wieder zuhause sind, schnappe ich Tobi und schubse<br />

ihn in den begehbaren Kleiderschrank der Mutter. „Seit wann<br />

können die kein Auto mehr fahren?“, flüstere ich. „Seit wann<br />

können die nicht mehr bestellen, seit wann geht Papa nicht<br />

mehr in den Supermarkt. Was ist hier los?“<br />

Tobi zuckt die Achseln und hört gar nicht zu. „Flipp jetzt<br />

nicht aus“, sagt er, „aber die Badewanne ist weg.“<br />

Ich renne ins Badezimmer, ich untersuche die schmutzigen<br />

Kacheln, ich flippe aus, ich drohe, die Polizei zu rufen, ich<br />

rufe die Polizei. Die Polizei weiß nicht weiter. „Und was<br />

ist sonst noch verschwunden?“, fragt der ratlose Polizist.<br />

Stolz produziert Tobi seine Liste. Ein Hauch fachmännischer<br />

Taktkraft funkelt in seinen Augen.<br />

„Komisch“, sagt der Polizist. „Telefonbücher?“<br />

Wir schütteln ratlos die Köpfe. Beiläufig erwähnt Tobi<br />

Carl, und der Polizist verspricht, „der Sache auf den Grund<br />

zu gehen.“<br />

Tobi hält Plastikgabel und Messer in den Fäusten und sagt:<br />

„Darüber haben wir schon hundert Mal gesprochen. Nicht schon<br />

wieder.“<br />

„Ich würde das nur mal gern gedanklich durchspielen“,<br />

sage ich.<br />

„Wir ziehen nicht aus“, sagt die Mutter. „Da gibt es nichts<br />

durchzuspielen, wir bleiben hier.“<br />

Nicht zum ersten Mal erwähne ich: Das Haus ist zu groß,<br />

die Heizkosten sind unbezahlbar, weder Tobi noch ich wohnen<br />

in der Nähe, der Vater wird schon bald die Treppe nicht mehr<br />

laufen können. „Und jetzt auch noch das“, sage ich.<br />

Tobi schaut mich misstrauisch an, so als verdächtige er<br />

mich, in das Verschwinden von Waschmaschine, Telefonbüchern<br />

und Schüsseln involviert gewesen zu sein, nur um noch ein<br />

Argument mehr auf meiner Seite zu haben.<br />

„Hast du was damit zu tun?“, fragt er.<br />

„Jetzt reicht’s aber!“, sage ich.<br />

Die Mutter hebt beschwichtigend die Hände. „Wir verstehen<br />

ja. Wir sehen das ja ein. Aber wir können hier nicht weg.<br />

Wenn ich mir vorstelle, dass hier jemand Fremdes wohnt.“<br />

Ich schüttele den Kopf, als sei ich mir meiner Sache<br />

sicher, tatsächlich bin ich mir gar nicht sicher. Ich will<br />

nach Hause, nur weiß ich nicht, wo das sein soll.<br />

„Also wegen dem Fernseher“, sagt die Mutter. „Eben war er<br />

noch da.“<br />

69


Diese Nacht schlafe ich in meinem eigenen Zimmer. Gegen<br />

drei wache ich auf. Ich schrecke hoch, weiß nicht, was mich<br />

geweckt hat, weiß es doch: Ein Tosen, ein Heulen. Ein Sturm<br />

muss aufgezogen sein, auch wenn sie im Wetterbericht nicht<br />

einmal Unruhen angekündigt haben. Es donnert nicht, es<br />

blitzt nicht, aber die Jalousien klappern, die Wasserflasche<br />

wackelt auf dem Tisch, der Boden zittert leicht. Ich schließe<br />

die Augen, versuche, wieder einzuschlafen, aber das Lärmen,<br />

das Stürmen nimmt mit jeder Minute zu. Ich stehe auf, laufe<br />

zum Fenster und schaue nach draußen. Die Nacht ist schwarz und<br />

unergründlich und, soweit ich durch die leicht geöffneten<br />

Jalousien sehen kann, ruhig.<br />

„Hörst du das?“, fragt Tobi. Ich habe nicht gemerkt, dass<br />

er ins Zimmer gekommen ist.<br />

„Bloß ein Sturm“, sage ich und glaube mir fast selbst.<br />

„Mach das Fenster auf“, flüstert Tobi.<br />

Ich öffne das Fenster und atme Nachtluft. Es ist windstill.<br />

Tobi tritt neben mich ans offene Fenster. Wir starren<br />

nach draußen.<br />

„Das ist hier drinnen“, sagt er. „Der Sturm ist im Haus.“<br />

„Du spinnst doch“, sage ich, als ein Windstoß die Wasserflasche<br />

und ein paar Bücher vom Tisch fegt. Ich spähe ins<br />

Dunkel, warte auf den dumpfen Schlag, mit dem die Gegenstände<br />

auf dem Boden auftreffen sollten. Es bleibt still.<br />

„Geh die Eltern wecken“, sage ich zu Tobi.<br />

Ich renne ins Arbeitszimmer, um nach den Fotoalben zu<br />

suchen. Menschen retten bei einem Brand angeblich immer ihre<br />

Fotos, irgendetwas werden sie sich dabei denken. Ich gehe<br />

durch die Schränke der Eltern und muss kein schlechtes<br />

Gewissen haben, weil ich in ihren Privatsachen wühle. Es ist<br />

kaum noch etwas da. Ich finde ein einziges Fotoalbum, aber<br />

als ich es aus dem obersten Regalbrett ziehe, fällt es mir<br />

aus der Hand und unter den Schreibtisch des Vaters. Ich bücke<br />

mich, taste in der Dunkelheit. Es ist nicht da, nicht zu<br />

finden und ich kapituliere.<br />

Tobi und die Eltern warten am Treppenabsatz.<br />

„Raus hier, was macht ihr noch hier?“, frage ich. Tobi<br />

zuckt die Achseln, mehr Gespenst als Mensch, hier oben für<br />

diesen Augenblick ganz der Vater.<br />

Wir bugsieren den Vater die Treppe hinunter. Wegen des<br />

schlechten Beins ist er unwahrscheinlich langsam. Die Treppe<br />

ist schmal, und die Wände zittern, Bilder fallen zu Boden,<br />

einige zerspringen, man kann das Glas splittern hören, andere<br />

70


machen kein Geräusch mehr. Ich konzentriere mich auf den<br />

Vater und jede einzelne Stufe, aber aus den Augenwinkeln<br />

sehe ich die Risse. Das Haus scheint von beiden Seiten zusammengeschoben,<br />

zusammengedrückt zu werden. Auf der untersten<br />

Stufe stolpert der Vater, und ich werfe mich vor ihn.<br />

Ich bin sicher, dass auch er verschwinden würde, wie die<br />

Bücher, wie die Alben. Tobi reißt die Haustür auf, greift die<br />

Mutter am Arm und zieht sie nach draußen. „Ich brauch den<br />

Mantel. Die Nachbarn!“, ruft sie, aber Tobi zieht weiter.<br />

Mit winzigen Schritten nähert sich der Vater der Haustür.<br />

Auf den letzten Metern schiebe ich ihn. Hinter uns knackst<br />

und kracht es. Das sind die Balken, das ist die Treppe, jede<br />

einzelne Stufe kann man hören, wie bei einer Tonleiter. Die<br />

Musik ihres Verschwindens frisst sich durch das Holz.<br />

Die Mutter wartet vor dem Nachbarhaus, Tobi und ich<br />

schleifen und ziehen, schieben und tragen den Vater das<br />

Treppchen vor der Haustür hinunter. Als wir ihn loslassen,<br />

höre ich ein Geräusch, so laut, dass ich es im ersten Moment<br />

nicht als Geräusch erkenne. Wie eine Explosion, ein Knall,<br />

ein akustischer Unfall sprengt es alles, was meinem Gehörgang<br />

vertraut ist. Ich presse die Hände auf die Ohren, gehe<br />

in die Knie und schließe die Augen, weil ich die Mutter nicht<br />

länger sehen will. Nach dem Geräusch, das kein Geräusch ist,<br />

pfeift es im Kopf. Es piept und fiept, als habe man während<br />

eines Konzerts zu lange neben den Lautsprechern gestanden. Ich<br />

lasse die Hände sinken. Ich drehe mich nicht um, schaue bloß<br />

die Mutter an, die Mutter und Tobi und wie sie starren,<br />

obwohl es doch nichts, rein gar nichts mehr zu sehen gibt.<br />

71


EVA KISSEL<br />

Die Hand an die Stirn eines Fiebernden<br />

Wenn Kastanien retten<br />

Gardinen<br />

Die Nacht um Verzeihung bitten<br />

Weihnacht<br />

Adam<br />

72


Die Hand an die Stirn eines Fiebernden<br />

Da könnte man ihr Kinderauge ein einzig Mal nicht übergehen,<br />

zum ersten Mal könnt’ ihrem Traum geglaubt.<br />

Elen liegt meistens wach im Fieber, sie wälzt sich durch<br />

die Nacht, indem sie selbige sich um den Körper wickelt mit<br />

dieser Dreherei. So schwer ist diese Bettdecke doch nicht,<br />

oder ist es die Dunkelheit, die ihre Masse in meinen schwachen<br />

Körper schiebt? Und nassen Körper, der scheinbar nichts<br />

als schwitzen kann und glühen. Das denkt sie sich und wird<br />

so plötzlich nur noch ein Stück Fleisch, das einen Blutkreis<br />

trägt. Elen spürt auch den Schädel richtig, wie er mit seiner<br />

hohlen Existenz den Kopf rund hält.<br />

Ein Jemand hat den Hausarzt hergerufen, sie hat es nicht<br />

bemerkt, doch nun steht er auf einmal vor ihr. Ganz ohne<br />

weißen Kittel, das Stethoskop nicht um den Hals, nur lose in<br />

der Hand, erscheint die Frage nach Elens Befinden schon fast<br />

ein bisschen übermütig. Sie würde gerne sagen: Es pocht und<br />

wabert, summt in sich zusammen, gibt sich dem Rausch der<br />

Ohren hin.<br />

Doch fraglich, ob er das verstünde, so sagt sie nur: Es<br />

sticht ein bisschen in dem linken Zeh. ‚Ein Stechen in dem<br />

linken Zeh‘, das steht wohl eher in dem dicken, abgewetzten<br />

Buche, das er da mit sich trägt. Doch schlägt er es nicht<br />

nach, er weiß es scheinbar so: „Das Fieber ist sehr hoch und<br />

ausgeprägt ist das Delirium. Sie ist im Wahn.“<br />

Elen meint, dass Doktoren nur viel zu kurze Sätze sagen<br />

und immer so, als seien die Patienten nicht dabei. Nun gut,<br />

versucht er bloß der Mutter zu erklären, die noch die Schürze<br />

mit dem Fettfleck trägt, so schnell war wohl der Doktor.<br />

Und überhaupt. Vielleicht will Elen ja im Wahn sein. Sie<br />

findet diesen Wahn nämlich auch gut. Obwohl sie gar nicht<br />

genau weiß, was er bedeutet. Der Wahn, der macht, dass man<br />

den Tag als Nacht durchschläft und letztere dafür ein bisschen<br />

wacher hält. Der macht, dass man ein bisschen seichter<br />

in dem Leben klemmt und ach, welch Träume er erst schenkt!<br />

Ein Traum, der nicht vom Schlaf bedingt, man braucht nur<br />

Müdigkeit, bestehend aus der Tiefe eines Schachts, sackt man<br />

in ihn hinein. In seine Farben, die so gefasst sind. Alles<br />

ist möglich dort. Er ist sogar betont und Elen würde diesem<br />

Traume all anderm vorziehen. Auch wenn es manchmal schlimm<br />

ist, man rennt, kommt nicht vom Fleck und kann nur Stille<br />

schreien.<br />

73


Elen freut sich, wenn dieser oder jener Traum ihr etwas mit<br />

ins Wache gibt, wenn kleine Narben, blaue Flecken von ihr<br />

entdeckt. Sie weiß, dass sie sich nachts im Traume stieß,<br />

vielleicht an Wasser oder auch an Luft. Die Dinge haben dort<br />

nichts Irdisches.<br />

Im Traum könnte die Mutter niemals die Tochter bitten,<br />

sofort die Stube reinzufegen, die Stube braucht dies nicht.<br />

Genauso wie die Mutter keine Worte braucht, sie weiß, dass<br />

Worte nur Konstrukte sind. Dass Elen, dürft sie frei entscheiden,<br />

die Stube nicht Stube genannt, doch Besen und den<br />

Besen Stube. So hätte ein Befehl der Mutter keinen Sinn, da<br />

Elen mit der Stube Besen fegen sollt, was unmöglich erscheint.<br />

Im Traum, da wissen alle, was die Wahrheit ist. Dass<br />

diese nämlich nicht besteht, dass, wenn die Augen zu sind,<br />

der Raum um alles stirbt und lediglich der Weg vom Sinn zum<br />

Hirn die Welt bestimmt. Und da ein jeder dieses weiß, fällt<br />

Falsch und Richtig aus, gibt’s keine Katze, keine Maus. Die<br />

Sinngebung verwest und alles nichtet ab.<br />

Wenn Elen ihren Wahn noch so sehr mag, so mag sie doch<br />

den Atem ihrer Mutter auch, der auf dem alten Canapé noch<br />

heftiger sich aus ihr stößt. Sie mag der Mutter Kälte in der<br />

Hand, die sich auf Elens Stirne legt. Sie mag den Weg von<br />

Mutters Arm zur Stirn am liebsten, denn niemand könnte diesen<br />

Weg, der nichts als still Gebärde ist, ihr nehmen.<br />

Wenn Kastanien retten<br />

Neben Elen in der Kirchbank sitzt die Großmutter, die<br />

schnauft. Die Großmutter, die immer ihr die Socken strickt<br />

und die das Leben so durchschmatzt. Sie hat doch immer ein<br />

Geräusch an sich. Gar zweimal singt sie falsch, doch eigentlich<br />

hat Elen nie an ihre hellen Töne glauben können.<br />

Die Daumendreherei während der Predigt lässt dann das Licht<br />

noch greller gegens bunte Kirchenfenster prallen, sodass man<br />

gar nicht mehr herauszuschauen fähig ist, das Licht bricht<br />

sich noch aus den Strahlen sonst.<br />

Dann lauscht sie wieder nur der kalten Fülle leerer<br />

Kirchen, die eigentlich vollsungen werden müsste, um weiterhin<br />

zu existieren, um nicht vor leisem, immerwährend Seufzen<br />

zu erblassen.<br />

74


Das Schönste jedoch sind die Glocken, weil sie sich immer<br />

fragt, wo sie gegossen wurden, dass sie so ungreifbare Klänge<br />

von sich geben und sie möcht auch gegossen werden dort. Ihr<br />

Klang gibt Elen immer ein Stück Schlaf im Mutterschoß, sie<br />

schmiegt sich immer ein.<br />

Und Elen denkt an Welten ohne Glocken, ohne was, das den<br />

Sonntag jede Woche ruft, und das die Straßen leer hallt<br />

immer wieder mit seinem schwachen Jammern. Wie man in Klänge<br />

einwurzelt, das wird Elen bewusst, als sie nicht mehr vom<br />

Glockenschlage lassen kann, auch in Gedanken nicht. Schnell<br />

fragt sie sich, was wohl die Oma im Gedanke hat, wahrscheinlich<br />

den Großvater, wie er zuhause keltert, den Saft stark<br />

aus der Traube presst.<br />

Elen ist nicht ganz sicher, vielleicht gedenkt sie auch<br />

der alten Zeit, auf jeden Fall sieht Elen die Kastanie auf<br />

dem Boden liegen nun und kann nicht ab, sie aufzuheben und<br />

sich an ihrem tiefen Braun ein bisschen zu vergehen, sie<br />

knetet es durch ihre warme Hand und stumpft es so ein wenig<br />

ab. Der Pfarrer verspricht sich grade da, als Elen die<br />

Kastanie fallen lässt und dumpf verschlägt der Knall des<br />

Pfarrers falsches Wort. Nun schauen alle um, die Großmutter<br />

wird rot im Kopf und schaut beschämt zurück. Elen schließt<br />

schlichtweg die Augen, als Kind hat das ja auch geklappt,<br />

dann war man einfach nicht mehr da für den Moment.<br />

Gardinen<br />

Elen hatte gerade den allerletzten Ton fertig gesummt,<br />

als sie beschloss, die Welt ein bisschen mehr zu meiden. Sie<br />

war schlichtweg zu überfüllt. Drum stieß Elen die Fenster<br />

auf und ging. Gewiss würd sie die Kacheln auf dem Boden missen<br />

und auch die Mutter würd ihr fehlen. „Dir hängt da Blut<br />

im Ohr“, das war das Erste, was die Fremde zu ihr sagte.<br />

Nämlich beim Klettern aus dem Fenster verfing sich das Geäst<br />

in ihr, das einzig, das versuchte, sie zu halten. Es riss auch<br />

ein paar Haare ab und allgemein bekannt ist wohl, wie Haare<br />

binden. Doch Elen ging. Sie ging in alles über. Die Mutter<br />

sucht sie heute noch, wehn die Gardinen rüber.<br />

75


Die Nacht um Verzeihung bitten<br />

Sie wollte die Augen in Reinschrift schreiben.<br />

Die dumme Lisa hatte das mal machen müssen. Sie hatte der<br />

Lehrerin eine Arbeit gegeben, die man nicht hatte lesen können.<br />

Die Lehrerin gab sie mit den Worten zurück: „Schreib das<br />

ins Reine, Lisa. Man kann ja nichts lesen.“<br />

Elen konnte ihn nicht lesen, nichts konnte sie an ihm entziffern.<br />

Sie sah ihn an und sah Verworrenes an, Zerstobenes,<br />

sah etwas an, das es nicht gab. Sie wusste keine Farben für<br />

die Augen, solch Hände hatte sie noch nie gesehen. Die Form<br />

des Kopfes ließ nichts zu, der Mund gab Worte, die nicht<br />

wuchsen, auch wenn sie Elen täglich goss.<br />

Alles, was Elen je von ihm bekam, jedwed Geräusch, jeglich<br />

Geruch und all Geschriebenes, Gesagtes, das sie sorgsam sich<br />

ersucht, geerntet, es war so überaus gewichtig, dass sie es<br />

fallen lassen musste, gerade dort, wo sie es aufgehoben.<br />

Nicht einen Tag gelang es ihr, ihn mitzunehmen an der Hand,<br />

nicht einen einzig Augenblick. Sie streifte bloß an ihm vorüber<br />

so wie man Haare aus Gesichtern streift.<br />

Da nahm sie sich vor, seine Augen in Reinschrift zu schreiben.<br />

Doch als sie sich beim letzten Pigment dann vertat, da<br />

knüllte sie alles zusammen und warf es zum Brennholz.<br />

Und wusste erst dann, wie überaus wichtig Verworrenes war<br />

und Zerstobenes. Wie bedeutsam, die Hand nie zu greifen, auf<br />

dass die Luft genug Raum zum Umhüllen, Umspielen auch hat.<br />

Wie nötig, die Augen – zumindest die Augen – aus Zeiten der<br />

Farblosigkeit nicht zu wecken, wie unbedingt sinnvoll, das,<br />

was man bekommt, in den Tagen zu lassen, in die es geboren,<br />

nichts mit sich zu schleifen wie der Mond den Schatten der<br />

Erde.<br />

Und da nahm sie sich vor, um Verzeihung zu bitten. Ihn und<br />

die Nacht und alle, die dies schon immer gewusst.<br />

76


Weihnacht<br />

Elen will dieses Jahr gern größer als der Christbaum sein.<br />

Sie will die Silberspitze auf ihn setzen können, ohne dazu<br />

die Leiter aus dem Schuppen herzutragen. Drum holt sie ein<br />

paar Mark aus ihrer Büchse und läuft zur Kellerstraße zum<br />

Verkauf. Mit dem Gesparten in der Hand springt sie dem<br />

Baumverkäufer fast in die Arme, so aufgeregt ist sie. Bisher<br />

nämlich gab’s immerzu nur Tannengrün zum Tischgedeck, wenn<br />

nicht sogar nur Reisig. Da freut sie sich besonders, als ihr<br />

der Baumverkäufer einen Apfel schenkt, um an den Baum zu<br />

hängen, da ja zuhause gar kein Baumschmuck aufzufinden ist.<br />

Nur leider merkt Elen auf dem Nachhauseweg, dass ihr der<br />

Magen heftig grummelt, so steckt sie sich den Apfel in den<br />

Mund und schluckt ihn fast mit einem Male runter. Jetzt hat<br />

sie gar nichts mehr, bloß noch eine Idee: Der Bauer Franz<br />

hat doch bestimmt noch Stroh im Stall, ein wenig wird sie<br />

da wohl haben dürfen. Tatsächlich schenkt er ihr etwas,<br />

sogar sehr viel, die Tüte quillt schon über.<br />

Zuhaus beginnt Elen sogleich, Strohsterne herzustellen,<br />

auch wenn sie etwas schief und lose sind. Mit Stroh binden,<br />

das hat wohl keiner jemals gut gekonnt. Das Abendläuten rückt<br />

einen schon zum Tag hinaus, als Elen stolz ihr Werk betrachtet.<br />

Der Baum ist gänzlich strohern, die bunten Kerzen fast<br />

schon zu alt, um ihren Kampf dem Dunkel anzusagen. Dennoch<br />

fehlt eine Spitze, die Spitze, die den Baum erst kaufen<br />

ließ. Elen vergaß, dass es sie gar nicht gibt, schon gar<br />

nicht silbern. Das einzig Silberne, das sie besitzt, ist<br />

eine Silberdistel, obwohl ihr nicht mal diese eigentlich<br />

gehört. Elen weiß nur, dass sie auf einer Wiese in die Lüfte<br />

ragt und ihre Blicke oft schon band.<br />

Es ist schon gar so spät, dass Elen aus der Türe schleichen<br />

muss, die Mutter hätt’ niemals sie in die Dunkelheit<br />

entlassen. Die Kälte ist sehr tief, vielleicht tiefer denn<br />

je, denn Elen hatte nicht Gelegenheit gehabt, sich Stiefel<br />

anzuziehen und den Mantel. Die Haussocken halten den Schnee<br />

nicht warm, obwohl Elen sich sicher war, dass Omas Selbstgestricktes<br />

sogar die Winterkälte schmelzen ließe. Ein Glück,<br />

ist diese Blume nah am Haus. Elen tut das Pflücken fast ein<br />

bisschen leid, die Blume hat sich bestimmt gut in die Wiese<br />

eingelebt und würde sich vielleicht mit einem Tannenbaum<br />

nicht allzu gut vertragen. Aber es liegt ihr ob, dem Christbaum<br />

eine Spitze auch zu schenken und als der Baum die<br />

Distel trägt, zwar noch ein bisschen unsicher, verlegen, da<br />

77


kann Elen nicht anders als zu strahlen und zweimal in die<br />

Hände laut zu klatschen, sodass die Mutter kommt und sie die<br />

Freude teilen. Sie streicht Elen über ihr braunes Haar, die<br />

Strähne, die sich wortlos löst, hängt Elen zwar ins Auge,<br />

doch wird sie nicht von ihr bemerkt, sie sieht nichts als<br />

den schwachen Glanz der Kerzen.<br />

Am übernächsten Tage steht Elen vor dem grünen Baum und<br />

denkt, wär doch ein Baumsterben dies Jahr gewesen. Es hätte<br />

keine kleine, keine große Tanne überlebt, dann hätt’ ihr<br />

schöner Baum auch nicht dies schrecklich Fest ertragen müssen.<br />

Nicht zusehen müssen, wie alle sich verweinen, wenn sie<br />

den Weihnachtsgruß demjenigen, dem sie die Hand fest schütteln,<br />

ins Gesichte küssen. Wie diese Hand nicht losgelassen<br />

werden will, weil jeder weiß, dass sie im nächsten Jahr<br />

schlaff neben ihrem Körper hängen könnte, tief in der Erden<br />

Grund. Weil jeder weiter leben will und doch nicht immer kann.<br />

Da nützt auch jeder Ratschlag nichts. Nämlich bei Uromas<br />

Beerdigung da ward in Elens Ohr geflüstert: Wenn du den Mund<br />

aufmachst, dann haben es die Tränen etwas schwerer. Doch<br />

hatte Elen ihren Mund auf, oh ja, sehr wohl, und dennoch<br />

liefen die Tränen wangenwärts. Vielleicht war es gar nicht<br />

so schlimm, sie mochte den Geschmack von Salz in ihrem Mund,<br />

der alle Zähren aufzufangen hatte. Sie mochte dieses<br />

Abperlen an Haut.<br />

Gewiss war auch, dass dieser Baum mit anzusehen hatte,<br />

wie klein Sofie sich ihren Milchzahn aus dem Munde stieß.<br />

Sie hatte vorgehabt, den Weihnachtssang mit ihrer Flöte zu<br />

begleiten, doch jetzt klang dieses Weihnachtslied so schief,<br />

dass irgendwann der Text vergessen wurde und nach und nach<br />

das Singen sich verlor. Der vierjährige Hans war mit dem Kaufladen<br />

so sehr beschäftigt, dass er vor Freude in die Hose<br />

machte. Über die Puppa dann konnt Sofie sich nur wenig freuen,<br />

da diese einer Hexe glich und Sofie Hexen für gewöhnlich<br />

mied. Tante bekam noch einen Christstollen von Mutter,<br />

die Mutter einen von der Tante. Elen vergab übrige Strohsterne,<br />

wobei die Hälfte leider im Geben schon zerfiel. Der<br />

Großpapa hatte bereits am Tag vor der Bescherung die Kognakflasche<br />

hinter dem Canapé entdeckt und sie am nächsten<br />

Mittag trinken müssen. Kein Wunder, dass er auf klein Sofies<br />

Vorschlag, einmal in ihre Flöte reinzupusten, nicht reagierte.<br />

Und nun steht Elen vor dem Baum und wünscht sich alles<br />

Menschliche aus ihm heraus, auf dass er nichts verstünde,<br />

von dem, was er da sah, auf dass er nicht an dieser Menschenarmut<br />

litte.<br />

78


Adam<br />

Elen kennt einen Jungen, den sie nicht mögen will. Sie will<br />

ihn nicht mögen, weil man ihn Adam nennt. Elen will keinen<br />

mögen, der Adam heißt, der in seinem Namen so viel an<br />

Wohlklang staut, dass andre Wörter drunter leiden müssen.<br />

Elen hat es schon ausprobiert. Sie nahm ein Blatt und schrieb<br />

„Schwalbe“ darauf mit sorgfältiger Schrift. Sie sagte es<br />

laut auf, vielleicht dreimal. Es war kein schlechtes Wort,<br />

sie würde sagen Note zwei. Doch als sie das Wort Adam dann<br />

daneben schrieb, verlor das Schwalbenwort, was Wörter nur<br />

verlieren können. Sie sagte Schwalbe Adam Schwalbe Adam,<br />

doch dann hörte sie auf, damit der Name dem einst schönen<br />

Vogel nicht noch mehr seines Klangs entriss, damit der Vogel<br />

nicht noch durchsichtiger, noch nesthockiger wurde.<br />

Manchmal scheint Adam diese Empfindlichkeit, die sein Name<br />

hervorbringt, auch zu spüren, wenn er am Ende eines Briefes<br />

schreibt, mit liebem Gruß A., um seinem Brief nicht alles zu<br />

entnehmen, was er davor ihm gab.<br />

Und noch etwas: Elen will keinen Menschen gerne mögen,<br />

den sie nie fragen könnte, ob sie an seine Schläfe einmal<br />

langen dürfe, und das konnte sie viele Leute fragen. Ein<br />

jeder, Vater, Mutter würde sagen: In Ordnung, wenn du meinst.<br />

Alle würden kurz stutzen, die Geste über sich ergehen lassen<br />

und dann im nächsten Augenblick das eben grad Geschehene<br />

vergessen.<br />

Doch nicht so Adam. Das sanfte Streifen an der Schläfe,<br />

auch noch so leicht nur und vergänglich, würde für ihn zur<br />

Narbe werden, die sich nicht schließt. Ihm würde dieser kaum<br />

vorhandene Druck nicht gehen, er würd sein Herz im Kopfe<br />

immer schlagen hören und auch des Herzes Echo. Er könnte die<br />

Gebärde nicht ertragen und nur aus diesem einen Grund: Adam<br />

wäre der Einzige, der diese ernst nähme, der sie verehrte,<br />

pflegte und versorgte. Doch Elen weiß, dass das nicht möglich<br />

ist, dass man Momente, Weilen nie unterschätzen sollte.<br />

Man sollte sie vergehen lassen, denn dazu sind sie da,<br />

daraus bestehen sie. Und da ist es schon wieder. Adam nimmt<br />

einer Sache ihren Wert. Er nimmt, wenn er Elens Geste behalten<br />

will, dem Augenblick den Glanz. Und das steht ihm nicht<br />

zu. Das steht niemandem zu.<br />

Es ist ganz einfach so, dass Elen niemanden mögen will,<br />

der manchmal einen Teebeutel im Haare hängen hat, weil es<br />

gut riecht. Der gerne wissen will, wie schwer sein Kopf ist<br />

79


und diesen deshalb mal in der einen mal in der andern seiner<br />

Hände schaukelt, wie Marktschreier Melonen. Der Socken<br />

trägt, die mehr aus Loch bestehen als aus Gestricktem. Der<br />

mit den Beinen schlenkert, wenn er ein bisschen ungeduldig<br />

ist, oder etwas, das er gern möchte, nicht bekommt. Der in<br />

der Schule sich immer auf die gleiche Weise meldet: Er legt<br />

den Zeigefinger auf den Daumen, sodass er ein Luft-O<br />

erformt. Mit dieser Hand geht er über die andere und zieht<br />

zuerst das Handgelenk, dann den Handrücken und dann die<br />

Spitze des zweiten Fingers an unsichtbaren Fäden hoch, die<br />

er, wenn er die Antwort dann gegeben, noch niemals je vergaß,<br />

mit seiner Scherenhand entzweizuschneiden, sodass die Hand,<br />

mit der er sich gemeldet, ganz schlapp zu Tische fällt.<br />

An Adam pfeift der Wind sich tot, in Adam fließt das Blut<br />

sich wund, durch Adam welkt der Schnee.<br />

80


ERIKA KOJIMA<br />

Spuren im Schnee<br />

82


Wenn ich um mich schaue, sehe ich Fußspuren. Verschiedene.<br />

Sie kommen von irgendwo her, überkreuzen sich, führen in die<br />

Ferne und verschwinden am Horizont. Doch deine Fußspuren im<br />

Schnee hören plötzlich neben mir auf.<br />

Eine schwarze Masse und du mitten drin in Weiß. Nur die<br />

Rosen unterscheiden dich vom Schnee. Du hast, seit ich dich<br />

kenne, immer nur schwarze Sachen getragen. Wie einen Mantel,<br />

der dich vor der Außenwelt schützt. Vielleicht musste das<br />

so sein, sonst hätten sie, hätten wir dich zerbrochen. Ich<br />

nehme eine Hand voll Erde und bewerfe dich, nehme zwei Hände<br />

voll bunter Blüten und lasse sie auf dich hinabsegeln.<br />

***<br />

Der Gürtel liegt kühl um meinen Hals. Ich spüre das<br />

Pulsieren meiner Halsschlagader. Nur ein Sprung, und ich bin<br />

vielleicht bei dir. Im Wald ist es schon dunkel und etwas<br />

kühl. Wenn ich hier so auf dem Ast sitze und die Beine baumeln<br />

lasse, frage ich mich, was dein letzter Gedanke war,<br />

dein letztes Bild vom Leben. Ich schließe meine Augen und<br />

sehe dein Lächeln, am Abend, bevor es passiert ist, höre<br />

deine Stimme, und es scheint, als wärst du gar nicht so weit<br />

entfernt. Alle sagen, du seiest ganz weit weg, sind traurig,<br />

aber ich habe mich dir in der letzten Zeit noch nie so<br />

nah gefühlt.<br />

Die Erinnerungen an dich werden plötzlich von tiefen<br />

Tönen durchbrochen. Wie eine Strömung ziehen sie mich in einen<br />

Sog von Klängen. Die Töne werden zu Tonflächen, die den Wald<br />

umhüllen. Ich schaue um mich und sehe in einiger Entfernung<br />

ein winziges Orange tanzen. Etwas in mir regt sich. Neugier?<br />

Ein Antrieb, den ich seit langem nicht mehr gespürt habe.<br />

Ich löse den Gürtel von meinem Hals, klettere den Ast hinunter<br />

und laufe barfuß in Richtung der Klänge. Nach einer<br />

Weile bleibe ich vor einer Kapelle stehen, mitten im Wald.<br />

Durch ein schmales Fenster sehe ich flackerndes Licht. Es<br />

ist keine Musik, die sich zuordnen lässt. Eher eine Aneinanderreihung<br />

von Tongeflechten, die sich manchmal auflösen,<br />

dann wieder Klumpen bilden, die tief im Magen sitzen. Mir<br />

scheint es strukturlos, aber irgendetwas hält das Ganze zusammen,<br />

ich sehe nur nicht, was. Abrupt hört das Stück auf<br />

und endet mit einem durchdringenden Ton. Er hallt nach,<br />

sitzt immer noch tief in mir und zieht mich nach unten. Die<br />

83


Tür springt auf, eine kleine Gestalt springt undynamisch<br />

etwas steif und lallend hinaus. Ich stehe immer noch versteinert<br />

an meinen Platz vorm Fenster, ohne mich verstecken zu<br />

können. Nach ein paar Atemzügen macht es nicht den Anschein,<br />

dass der Junge wieder zurückkommt, und so schleiche ich mich<br />

vorsichtig hinein. Eine Kerze beleuchtet den ganzen Raum,<br />

in dem nur ein Klavier und ein paar Stühle stehen. Ein<br />

Notenheft. Die Seiten sind bemalt, dunkle Farben und spitze<br />

Formen, unregelmäßig und asymmetrisch. Am Anfang sind die<br />

Farben warm und fröhlich, am Ende dunkelblau, lila und<br />

schwarz. Vorn, hinter der Bezeichnung „Name“, steht in kindlich<br />

schiefer Handschrift „TIM“. Ein Geräusch lässt mich<br />

aufschrecken, ich laufe nach draußen, renne, bis ich vor<br />

meiner Haustür stehe. Erst jetzt spüre ich die Taubheit meiner<br />

Füße, mit denen ich durch den Schnee gelaufen bin. Erschöpft<br />

lasse ich mich in mein Bett fallen und schlafe ein.<br />

Der nächste Tag vergeht schnell, ich bekomme von den<br />

Seminaren wenig mit, da ich mich ständig frage, wer dieser<br />

Junge war, der die tief dringenden Klänge erzeugte. Als es<br />

dunkel wird, gehe ich zur Kapelle zurück. Ich warte so<br />

lange, bis der Junge wieder auftaucht, er kommt vom Waldrand.<br />

Gerade als er seine Hand zum Türgriff bewegt, rutscht<br />

mir sein Name aus dem Mund. Mein leises „Hallo Tim“ bringt<br />

ihn zum Erstarren. Er duckt sich ein wenig und schaut sich<br />

um. Ein bisschen lauter versuche ich es noch einmal: „Hallo<br />

Tim, ich bin hier, ich …“, ein lautes Kreischen unterbricht<br />

meinen Satz. Der Junge hält sich seine Ohren mit beiden<br />

Händen fest zu und legt seine Ellbogen schützend an seinen<br />

Kopf. Er geht in die Hocke und macht sich klein und brabbelt<br />

etwas Unverständliches vor sich hin, er wird immer lauter,<br />

als ob er alles um sich her übertönen wollte. Ich laufe<br />

zu ihm hin, sein Körper zittert. Ich lege eine Hand auf<br />

seine Schulter und sage: „Ist schon gut, ich tue dir nichts.<br />

Du brauchst keine Angst zu haben.“ Doch er wird immer unruhiger<br />

und fängt an, sich selbst zu zwicken. Sein Kopf wird<br />

rot, die Augen treten hervor. Er schaut mich an, die Zähne<br />

zusammengebissen, er kneift sich immer noch in den Arm und<br />

sagt: „Alles ist gut, alles ist gut.“ Seine Zwickstelle fängt<br />

an zu bluten, und ich rufe: „Nein, nicht!“ In diesen Moment<br />

explodiert er. Er schreit und tobt und nimmt meinen Arm,<br />

greift unter meine Jacke und den Pulli hindurch und kneift<br />

mich in mein Handgelenk. Seine Nägel bohren sich hinein. Ich<br />

schreie „Aufhören! Lass das!“ Man muss uns gehört haben.<br />

84


Eine Frau kommt auf uns zugeeilt und löst auf wundersame<br />

Weise Tims Griff und dreht ihn zu sich, so dass sie sich<br />

direkt in die Augen schauen, dann lässt sie ihn sofort los.<br />

Sie singt: „Spiderschwein, Spiderschwein, er macht das, was<br />

ein Spiderschwein kann“, und der Junge fängt langsam an, mit<br />

seinen Armen den Takt mitzuschwingen. Bei der zweiten Strophe<br />

summt er leise mit, bei der dritten stimmt er ins Singen ein.<br />

Die Frau sagt: „Jetzt geh zu Dirk und frag ihn, ob er Lust<br />

hat, mit dir das A-Team zu gucken! Du bist ein guter Junge.“<br />

„Tim ist ein guter Junge“, sagt er in einer monotonen Stimme,<br />

worauf die Frau wiederholt „Ja, du bist ein guter Junge.“<br />

Prompt dreht er sich um und stolpert den Weg zurück, den er<br />

gekommen war. Die Frau und ich schauen ihm noch so lange<br />

nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet. Dann dreht sich<br />

die Frau zu mir und entschuldigt sich für das, was gerade<br />

passiert ist.<br />

Sie stellt sich als Elke vor. Sie ist eine Heimbetreuerin<br />

von Tim. Sie erzählt mir vom Kinderheim. Auf die Frage, was<br />

ich vorhin falsch gemacht hätte, nennt sie mir die häufigsten<br />

Ursachen für solch einen Anfall: wenn Leute ihn mit<br />

seinem Namen ansprächen oder ihm gegenüber Verneinungen<br />

benutzten. Ich sage ihr, dass ich mich bei Tim entschuldigen<br />

möchte, doch Elke sagt, dass es heute wohl nichts mehr werden<br />

wird, aber sie nimmt mich trotzdem mit. Tim ist erst vor<br />

kurzem ins Heim gekommen, nachdem seine Adoptivmutter, die<br />

er immer als seine Mutter bezeichnet hat, verstorben ist.<br />

Das Jugendamt hatte ihn, als er noch etwas jünger war, seiner<br />

leiblichen Mutter entzogen, da diese mit den Bedürfnissen<br />

des Kindes nicht zurecht gekommen war und ihn ständig angeschrien<br />

und zeitweise geschlagen hatte. Anscheinend hat Tim<br />

eine Art „allergische Reaktion“ auf seinen Namen, wenn ihn<br />

andere Leute aussprechen, da seine biologische Mutter immer<br />

nur dann seinen Namen gerufen hat, wenn es Ärger gab.<br />

Ständig habe sie zu ihm gesagt, dass er dies und das nicht<br />

machen dürfe, und sie hätte oft das Wort „Nein!“ benutzt.<br />

Oder: „Ich verstehe dich nicht!“, so dass auch dieser Satz<br />

für Tim tabu ist. Als ich mir mein Handgelenk reibe, lacht<br />

Elke und zeigt mir ihren Arm. Alles voller blauer Flecken.<br />

Sie erzählt mir, dass sie ganz schön lange gebraucht hat,<br />

um zu verstehen, wann und warum Tim sich selbst und manchmal<br />

andere Menschen zwickt. Er könne nicht viel innere Spannung<br />

aushalten und versuche, diese Spannung durch Schmerz-Zufügen<br />

zu entladen.<br />

85


Das Heim ist ein großes Haus, alles ist gemütlich eingerichtet.<br />

Als wir ins Wohnzimmer kommen, sehe ich Tim mit<br />

einem Mann zusammen das A-Team schauen. Der Mann, vermutlich<br />

Dirk, begrüßt uns, dreht sich dann wieder dem Fernseher<br />

zu. Tim nimmt keine Notiz von uns. Ab und zu, bei einer aufregenden<br />

oder lustigen Szene, schwingt er seine Arme wild.<br />

Diesen Abend komme ich nicht mehr dazu, mit Tim zu sprechen.<br />

Nach einer Tasse Tee verabschiede ich mich und Elke ruft mir<br />

hinterher, dass ich bald wieder vorbeikommen solle, wenn ich<br />

Lust oder Langeweile hätte. Auf dem Heimweg fühle ich mich,<br />

als ob meine Wahrnehmung verrückt wurde. Zuerst der tiefe<br />

Ton, den ich einen Tag zuvor gehört hatte. Ich habe das<br />

Gefühl, diesen Ton schon einmal gehört zu haben, aber jetzt<br />

hat er für mich eine andere Tiefe. Als ob jemand in mein<br />

Wahrnehmungssystem einen neuen Stein eingesetzt hätte. Als<br />

ob sich mein gesamtes Wahrnehmungsmuster verändert hätte. Ich<br />

fühle mich merkwürdig unorientiert und chaotisch, aber nicht<br />

schlecht.<br />

Am nächsten Abend gehe ich wieder zur Kapelle und höre<br />

auf halben Weg Tims Klänge. Genauso tief und traurig wie<br />

zuvor. Das alles erinnert mich an dich. Tim ist so wie du,<br />

nur, dass du immer alles unter deinem schwarzen Ledermantel<br />

versteckt hast. Ich klopfe an die Tür, trete langsam hinein.<br />

Ich weiß nicht, ob Tim mich gehört hat, zumindest versinkt<br />

er gerade im Klavier und beachtet mich gar nicht. Erst<br />

als er abrupt aufhört, dreht er sich zu mir. „Hallo“, sage<br />

ich und verkneife mir seinen Namen. „Hallo Tim“, sagt er,<br />

dreht sich wieder dem Klavier zu und spielt weiter. Ich<br />

setze mich zu ihm, in einem Abstand von vier Stühlen. Das<br />

scheint ihn nicht zu stören. Ich nähere mich immer weiter.<br />

Drei Stühle. Keine Reaktion. Zwei Stühle. Immer noch nichts.<br />

Als ich mich weiter nähere, bleiben seine Hände mitten im<br />

Spielen in der Luft stehen. Seine Augen fixieren mich.<br />

„Alles ist gut, alles ist gut, Tim“, sagt er sich selbst.<br />

„Ja, alles ist gut, du spielst prima“, sage ich. Er dreht<br />

sich wieder zum Klavier und beschwört diese unheimlichen<br />

Farbflächen. Ich schließe die Augen. Ich kann nicht sagen,<br />

dass ich mich wohl fühle, vielmehr habe ich das Gefühl,<br />

ständig zu kämpfen, um nicht unterzugehen. Das Ringen um<br />

Luft, das Ringen um Orientierung, das Ringen um sich selbst,<br />

das Ringen um was? Es fallen mir keine Worte ein, wie ich<br />

dieses Erlebnis beschreiben könnte. Es ist, als ob ich ein<br />

winziges Etwas von Tim verstanden, mitbekommen, ja erlebt<br />

86


hätte. Da sagt Tim: „Tim sucht seine Mutter und kann sie<br />

nicht finden.“<br />

Am Abend darauf sitze ich neben Tim am Klavier. Wieder<br />

wühlt er Klänge auf. In seinem Notenblock hat er am Anfang<br />

noch helle Klänge aufgezeichnet. Ich wundere mich, dass er<br />

jetzt nur im unteren Register spielt. Ich spiele ein paar<br />

Tonfolgen weit rechts. Er lauscht meinen Klängen, ohne mit<br />

dem Klavierspielen aufzuhören. Nach einer Weile schießt aus<br />

dem Nichts der Zeigefinger seiner rechten Hand in die hohe<br />

Lage. Nachdem er einen Ton erwischt hat, geht seine Hand<br />

wieder ins Tiefe. Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergehen.<br />

Kurz bevor ich aufstehe, höre ich eine Veränderung in<br />

seinen Farben. Höhere, leichtere Töne. Zuerst tastet er sich<br />

hinein, dann wühlt er auch hier. Es scheint mir, als ob sich<br />

ein Knoten löst. Die Töne sind nicht mehr wie ein Wollknäuel,<br />

sondern eher wie das Meer, das sich zum Wind bewegt.<br />

Auf einmal lacht er. Ich lege meine Hand auf seine Schulter,<br />

um ihn zu loben, doch Tim zuckt zusammen. Ich entschuldige<br />

mich bei ihm und halte meine Hände ganz fest um meinen<br />

Körper, um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht mehr anfassen<br />

werde. Tim sieht mich mit einem seltsamen Blick an. Ein Blick,<br />

als ob er nicht wirklich wüsste, was er möchte. Ein Blick,<br />

der sagt „Fass mich nicht an. Fass mich nicht an, aber<br />

berühr mich.“<br />

Als ich einen Abend später in die Kapelle eintrete, lege<br />

ich meinen Koffer ab. Tim, der bemerkt hat, dass heute etwas<br />

anders ist, schaut zu. Nachdem ich das Saxophon zusammengebaut<br />

habe, zeige ich ihm, dass er seine Hand über mein<br />

Saxophon halten soll. Als ich einen tiefen Ton, bei dem alle<br />

Klappen geschlossen sind, spiele, zieht er seine Hand sofort<br />

zu sich und schaut mich vorwurfsvoll an. Doch langsam legt<br />

er seine Hand wieder an den Trichter, und ich blase Luft<br />

durch den Klangkörper. Ich sehe, wie seine linke Mundhälfte<br />

nach oben zieht. Er spürt die Schwingung der Luft und freut<br />

sich. Fordernd hält er seine Hand so lange über das Instrument,<br />

bis mir die Puste ausgeht. Den ganzen Abend sieht<br />

er sich immer wieder seine Handfläche an und grinst mit<br />

einem Mundwinkel.<br />

Langsam, ganz langsam werde ich mit Tim warm. Ich bin immer<br />

noch sehr vorsichtig, vor allem, wenn es um die Sprache<br />

geht. Es ist so wundersam, wie jeder Mensch seine eigene<br />

87


Sprache entwickelt. Ich wollte deine Sprache lernen, doch<br />

die Zeit war zu kurz und ich war zu unaufmerksam. Vielleicht<br />

hätte es etwas geändert, wenn ich deine Sprache besser verstanden<br />

hätte. Vielleicht hätte es etwas geändert, wenn in<br />

dem Moment, als du auf dem Ast saßest, eine Art Neugierde<br />

dich am Leben erhalten hätte. Aber vielleicht hätte es auch<br />

nichts geändert, ich weiß es nicht. Es war dein Ausdruck und<br />

dein konsequenter Charakter.<br />

***<br />

Es ist nicht dein Grab, an dem ich dich finde. Es ist<br />

auch nicht der Ort, an dem du dir dein Leben genommen hast.<br />

Ich finde dich in Augenblicken wieder. In einer Schneeflocke,<br />

in einem Ton, oder wenn jemand mit deinem Parfum an<br />

mir vorbei läuft. Die Sonne scheint auf den Schnee und deine<br />

Fußspuren schmelzen, werden zu Wasser und versickern im Boden.<br />

Dich in Erinnerung behalten. Das ist nicht Wirklichkeit,<br />

nicht Bild. Es ist das Gefühl, das zwischen uns war.<br />

88


LISA SCHETTER<br />

Richtung<br />

90


In der Tapete hängen die Reste zerbrochener Gläser; das<br />

ausgeblichene Sofa darunter ist voll von Flecken, Flusen und<br />

Kritzeleien. Vor langer Zeit ist es einmal dunkelbeige gewesen.<br />

Beim Betrachten erschrickt Rondler jedes Mal neu, obwohl<br />

er weiß, dass die Flecken zu dunkel sind. In der Küche<br />

hört er die Stimme, die ihn schon den ganzen Morgen verfolgt,<br />

er versucht, sie durch noch entschlosseneres Starren<br />

auszuschalten. Nur Frauenstimmen können so klingen, denkt<br />

er. Überdreht. Schrill und ohne Atem zu holen. Und so durchdringend<br />

und bestimmt, dass der andere nach jedem zweiten<br />

Satz abbrechen muss. Du heute nicht.<br />

Die Leere, die nicht einmal den Versuch der konkreten Frage<br />

zulässt, setzt sich wieder in ihm fest. Er schweift ab. Das<br />

Schweigen in seiner Familie, er fragt sich, welche Art des<br />

Redens die schlimmste ist. Erinnert sich an den Zwang, eine<br />

vergiftete Luft so lange einzuatmen, bis man davon infiziert<br />

ist, sein Leben lang. Jede Flucht eine Provokation, Provozieren<br />

war nie seine Art gewesen. Er hat sich leise davongestohlen,<br />

als es an der Zeit war zu gehen. Und beim Aufatmen<br />

gespürt, wie ungleich die neue Luft war, wie er fast taumelte,<br />

so viel Fremdheit enthielt sie.<br />

Er ist sich sicher: Hier ist es anders. Gregor war nicht<br />

allein gewesen. Es passt nicht. Er muss zurückrudern, kommt<br />

an, konzentriert sich. Was weiß er? Immerhin die erste konkrete<br />

Frage. Seine Routine setzt sich durch. Die Antwort: Das<br />

Zimmer gibt ihm nicht viel.<br />

Eine Mitschülerin hat ihm am Morgen gesagt: Aggression,<br />

das wüsste sie nicht. Denken könnte sie es sich schon. Aber<br />

sein Gesicht hätte am Ende ohnehin kaum jemand mehr gesehen.<br />

Oft steinern, wenn er denn aufsehen musste. Er habe dauernd<br />

mit seinen Schultern gekämpft, seinem Kopf. Plötzlich hatte<br />

sie sich weggedreht. Er weiß im Nachhinein, dass sie nicht<br />

gekämpft hatte sagen wollen. „Jedenfalls sah er dir nicht ins<br />

Gesicht“, sagte sie. „Durch mich sah er immer hindurch, von<br />

Anfang an. Ich hab ihn ein paar Mal grüßen wollen.“ Sie<br />

zögerte. Dann: „Ich glaube eigentlich, dass er oft eine<br />

Faust geballt hatte. Sagen kann ich es nicht. Seine Hände<br />

waren immer in den Ärmeln. Er hat ziemlich kurze Arme, und<br />

er hielt sie sehr steif, die Jacken reichten ihm bis über<br />

die Fingerspitzen. Sie waren ihm immer zu groß, er vergrub<br />

sich darin, schlug den Kragen hoch. Sogar im Sommer. Seine<br />

91


Hände hab ich selten gesehen. Er lief immer gehetzt“, sagte<br />

sie. „Vielleicht sogar, ja, aggressiv, wenn man es im Nachhinein<br />

so nennen will. Ich weiß es nicht. Aber es hatte etwas<br />

von Anlaufnehmen. Wie wenn jemand etwas einrennen will.<br />

Dabei ist er uns immer ausgewichen, hat sich durchgeschlängelt,<br />

auch im größten Gedränge.“<br />

Keine Fotos, noch nicht einmal Poster. Die Wände sind leer,<br />

bis auf den Dreck und die Scherben. Eine leise, unauffällige<br />

Kälte. Wem auch immer die Stimme gehört, ein paar Vampirbilder<br />

wären ihr sicher lieber gewesen. Er mag sich nicht<br />

für diesen Gedanken, merkt, dass er ihm schon wieder das Weglaufen<br />

nahelegt. Aber er ist hier, um immer näher zu kommen.<br />

Der Computer ist schon mitgenommen worden, ihm bleibt nur<br />

noch der Schreibtisch. Schulhefte, kreuz und quer, herausgerissene<br />

Arbeitsblätter, Eselsohren, Bücher. Im Nebenraum<br />

hört er das Wort Gewalt, mehrmals, er sieht Kugelschreiber,<br />

Gewalt, Karteikästen mit leeren Karteikarten, zerbrochene<br />

Kugelschreiberminen, Gewalt, Radiergummis, Bleistifte, bestimmt<br />

zehn Stück. Gewalt. Überall in den Seiten sind<br />

Kritzeleien, Striche, ausgefüllte Kreise, im wahrscheinlich<br />

dunkelsten Grau, das möglich ist, wenn man wieder und wieder<br />

dieselbe Fläche entlang fährt. Wirklich bedeutungsvoll,<br />

persönlich, ist nichts. Gewalt, das Wort hallt in seinem<br />

Kopf nach, nebenan ist man schon ganz woanders.<br />

Das Gefühl, nichts erreicht zu haben, seine eigene Unklarheit,<br />

macht ihn rasend. Er geht nach draußen. Im Vorraum<br />

eine junge Frau, die er nicht kennt, und eine große, dürre<br />

ältere Dame mit Sonnenbrille, die mit der schrillen Stimme<br />

auf sie einredet. Er beeilt sich, muss zurück ins Präsidium,<br />

weil er noch ein Gespräch mit der Mutter vor sich hat.<br />

Der Nachrichtensprecher im Autoradio: Bislang noch keine<br />

Erkenntnisse über die Hintergründe der Tat. Rondler fährt<br />

beinah über eine rote Ampel, als er versucht, den Abschaltknopf<br />

zu finden. Der neunzehnjährige Abiturient hat gestern<br />

bei einem Amoklauf mit einem Messer zunächst mehrere Schüler<br />

schwer verletzt und sich anschließend selbst getötet. Das<br />

Tatmotiv bleibt weiterhin unklar. Im Bundesliga-Rückrundenspiel<br />

bezwang Werder Bremen Hertha BSC Berlin mit drei zu ...<br />

Er hört ein knackendes Geräusch, als er den Lautstärkeregler<br />

mit der ganzen Hand gegen den linken Anschlag presst. Die<br />

Stimme verschwindet.<br />

92


„Rondler“, sagt er. „Kriminalpsychologe.“ Sie nickt nur. Er<br />

hat damit gerechnet, dass sie bleich ist, aber das wenige,<br />

was er außerhalb der Sonnenbrille an Gesicht erkennen kann,<br />

ist von einer dicken Schicht Make-up überdeckt. Die riesige<br />

Tasse Kaffee vor ihr ist zu einem Drittel gefüllt. Er<br />

holt sich auch einen, obwohl der letzte erst zwanzig Minuten<br />

her ist. Sein Magen zieht sich beim ersten Schluck heftig zusammen.<br />

Er setzt die Tasse hart auf, nimmt sie wieder, trinkt<br />

noch einmal, erst als sie fast leer ist, fühlt er sich ausreichend<br />

gewappnet.<br />

Der Beginn des Gesprächs ist System, verläuft planmäßig.<br />

Sie antwortet laut und schnell; überzeugt. Sie kramt in<br />

ihren Sachen, zieht ein Handy hervor und legt es wieder weg,<br />

schaut auf die Uhr, so oft, dass er beim innerlichen Mitzählen<br />

nicht nachkommt. Der Leiter der Kommission sitzt im<br />

anderen Zimmer und hört mit zu. Ihre Antworten sind Satzanfänge,<br />

die mit hektischen Brüchen in neue Halbsätze übergehen,<br />

kurz vor Ende ein Ausrufezeichen werden. Permanente Verteidigung.<br />

Sie zögert nicht ein einziges Mal.<br />

„Haben Sie noch einen Termin?“, fragt er. Die Frage ist<br />

lächerlich, das Zählen der Uhrkontrollen ist noch lächerlicher.<br />

„Ja, sicher“, sagt sie, „die Beerdigung, was glauben Sie<br />

denn, ist Ihnen eigentlich bewusst, dass das auch etwas ist,<br />

über das die Medien berichten werden?“<br />

„Was denken Sie, wie kommt es dazu, dass Ihr Sohn so etwas<br />

macht?“<br />

Er erhält keine Antwort, sie starrt ihm wortlos ins Gesicht.<br />

Er verflucht sich, aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.<br />

„Hat er sich verändert? Gab es in letzter Zeit Konflikte?“<br />

Noch einmal ein Schluck Kaffee.<br />

„Bei uns gibt es keine Konflikte“, sagt sie knapp, „und wo<br />

er die Gewaltbereitschaft herhat, will ich gar nicht wissen.“<br />

„Schulisch?“, versucht er.<br />

„Seine Noten sind schlechter geworden“, sagt sie, „das<br />

hat mir nicht gefallen. Er hatte keinen Antrieb mehr, null<br />

Ehrgeiz, aber deshalb geht man nicht mit einem Messer auf<br />

andere Leute los. Suchen Sie woanders nach Gründen.“<br />

Als er zu sprechen ansetzt, vergräbt sie plötzlich den Kopf<br />

in den Händen. „Man ist bei ihm nicht durchgekommen, das<br />

haben alle gesagt. Wenn Sie das Konflikte nennen wollen.“<br />

Sie kaut heftig auf ihren Lippen. „Dieser ganze Scheiß, er<br />

in seinem Zimmer, den ganzen Tag, zugeschlossene Türen.“ Sie<br />

setzt sich auf, räuspert sich. Ein Blick aufs Handy. „Glauben<br />

93


Sie mir, wir haben uns, ich meine, die Lehrer, die Schulleitung,<br />

alle, Gespräche und Nachhilfe, das ganze Programm; er<br />

hat sich zurückgezogen, ich habe ihm endlos gesagt, er soll<br />

endlich Ernst machen, unkonzentriert, keinen Antrieb, aber<br />

Gewalt wirklich nicht. Da können Sie jeden fragen.“ Sie setzt<br />

noch zwei Sätze hinzu, die völlig an ihm vorbeirauschen.<br />

„Sein Zimmer enthält kaum persönliche Dinge“, sagt er.<br />

Sie runzelt die Stirn. „Ich verstehe Sie nicht.“<br />

Er bemerkt, wie sich seine eigenen Hände um die Tasse<br />

verkrampfen, ohne, dass er Einfluss darauf hat.<br />

Er weicht aus. „Können wir die Adresse von seinem Vater<br />

erfahren?“<br />

„Weiß ich nicht“, antwortet sie knapp. „Weg. Seit seiner<br />

Geburt. Sonst noch was?“<br />

Als er zur Schule fährt, um sich eine Wand dort anzusehen,<br />

die Gregor besprüht haben soll, bemerkt er im Haus unmittelbar<br />

gegenüber ein riesiges Plakat im Fenster: Lasst uns<br />

endlich in Ruhe! Momentan darf draußen auf der Straße kein<br />

Kamerateam mehr stehen. Ihm kommt der Blick vor wie der in<br />

eine Geisterstadt. Die Absperrung ist verlegt worden, jetzt<br />

ist sie ein paar hundert Meter weiter vorne. Er geht durch<br />

die Schule, ein Oberstufengymnasium, heute schon wieder<br />

teilweise geöffnet, zumindest schriftliches Abitur für die<br />

älteste Jahrgangsstufe muss trotz allem möglich sein. Im<br />

Moment sitzen die entsprechenden Schüler hinter ihren<br />

Tischen und schreiben die Prüfungen. Gregor hätte noch genau<br />

ein Jahr gehabt; unklar, ob es einen Zusammenhang gibt. Also<br />

erst mal nicht öffentlich erwähnen.<br />

Die Schule ist riesig, neu und modern gestaltet; große,<br />

hohe Fenster, die fast die ganzen Außenwände einnehmen. Die<br />

Sonne blendet ihn; nur dort, wo einzelne Fenster mit Plakaten,<br />

Leistungen der Schüler, verhängt sind, geht er kurzzeitig<br />

durch den Schatten. Er kneift die Augen zusammen.<br />

System, als er angefangen hat zu arbeiten, war es genau<br />

das, was er ekelhaft fand. Fingerspitze statt System; seine<br />

eigene Unmittelbarkeit, Direktheit, manchmal entstand dadurch<br />

eine bis zum Bersten aufgeladene Stimmung. Die Resultate:<br />

So sicher sie sich auch waren, fast nichts war durchzubringen.<br />

Jetzt der Amoklauf. Wieso mache ich das, denkt er. Die<br />

Maschinerie ist in Gang gesetzt, Aufmerksamkeit, Karriere,<br />

es gibt immer nur eine Richtung. Dann irgendwann doch die<br />

Angst vor der Fremdsteuerung.<br />

94


Eine Lehrerin wartet auf ihn, „Gries“, sagt sie, „ich unterrichte<br />

Kunst und Mathe und hatte ihn in beiden Fächern.“<br />

Er nickt.<br />

Er merkt, dass der Kaffee sich in ihm breitmacht, mit<br />

Migräne vermischt und nicht mehr loslässt; er will eine Frage<br />

stellen, aber die riesigen Fenster um ihn herum überblenden<br />

jeden klaren Gedanken. Das Gefühl der unsichtbaren Kameras,<br />

die sich durch die Scheiben hindurch immer näher an sein<br />

Gesicht heranpirschen, lässt ihn nicht mehr los. Er zieht<br />

den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag nach oben.<br />

Im Gehen sagt sie: „Ich zeige Ihnen die besprühte Wand,<br />

kommen Sie.“ Ihre Stimme ist weich. Es ist die Wand vor dem<br />

Kunstraum, von oben bis unten ziehen sich die Flecken und<br />

Linien in ausschließlich dunkelroter Farbe, er hat noch nie<br />

so ein wirres Zerrbild gesehen. Vielleicht liegt es an den<br />

Kopfschmerzen, dass er nichts erkennen kann. Die Wand ist<br />

riesig, wie alles hier, mittendrin ist eine geschlossene<br />

Tür, der Knauf ein einziger roter Fleck, in alle Richtungen<br />

ist die Farbe abgespritzt. „Er muss es Minuten vorher gemacht<br />

haben“, sagt sie. „Ich kannte ihn ganz gut.“ Er wendet<br />

sich ab, ihre Stimme ist zu weich, zu niedergedrückt, um<br />

Antworten zu finden, die Sinn ergeben.<br />

„Können Sie irgendwas erkennen“, sagt er und merkt, dass<br />

überhaupt nichts mehr passt, weder sie noch seine Stimme<br />

noch das Bild.<br />

„Ich kann es noch nicht mal vergleichen mit Bildern, die<br />

er sonst abgegeben hat“, sagt sie leise. „Er hat überhaupt<br />

keine Bilder abgegeben, seit mindestens einem Jahr nicht<br />

mehr. Eigentlich hätte ich ihm eine nicht mehr ausreichende<br />

Note geben müssen.“ Sie wartet einen Moment. „Nein, ich<br />

kann nichts erkennen.“<br />

Er fragt nach seinen sonstigen Noten und versinkt dabei.<br />

„Er war unangepasst“, sagt sie. „Er ist keiner Richtung gefolgt,<br />

aber er hat es nicht gemerkt, glaube ich. Er hat nicht<br />

verstanden, wieso die anderen ihn nicht mögen. Das war früher.<br />

Dann hat er sich zurückgezogen. Darüber kann ich nichts<br />

sagen. Man konnte ihn nicht mehr erreichen.“<br />

Sie schweigen. Es ist zu viel, er kann nicht mehr, seine<br />

Hände verkrampfen sich in seinen Jackentaschen. „Entschuldigung“,<br />

sagt sie. „Ich habe auf Ihre Frage gar nicht<br />

geantwortet.“<br />

95


Sie schaut ihn an. „Geht es Ihnen gut“, sagt sie, „soll ich<br />

Ihnen erst mal einen Kaffee machen.“ Er schüttelt den Kopf.<br />

„Es tut mir leid“, sagt sie. „Ich mochte ihn. Ich bin<br />

sicher im Moment keine gute Gesprächspartnerin.“<br />

Er erträgt es nicht länger. Sie sieht ihn stumm an, er<br />

dreht sich um, verabschiedet sich nicht, läuft ein paar<br />

Schritte von der Wand weg, wo sie immer noch wie eine Statue<br />

steht. Dann ertönt eine Klingel, Schüler quellen zu beiden<br />

Seiten um ihn herum aus den Klassenräumen, reißen ihn mit<br />

sich, er beeilt sich, hetzt, aber er kommt nicht durch. Die<br />

ewig krabbelnden Hände in seinen Jackentaschen geben keine<br />

Ruhe, falten das Innenfutter wieder und wieder, verbeißen<br />

sich, lösen sich, zerreiben den Stoff in einem fort, als er<br />

stolpert, packt er das Treppengeländer mit solcher Wucht,<br />

dass es bis in die tieferen Stockwerke schwankt. Er wartet<br />

nicht ab, jagt weiter nach unten, als er die Schultür hinter<br />

sich zufallen lässt, fängt er endgültig an zu rennen.<br />

96


CLIO ALYSSA VOSS<br />

Bettina Müller<br />

Der Aufstieg<br />

98


Bettina Müller<br />

Bettinas Bruder ist ein Ausrufezeichen. Alles an ihm<br />

sagt: Hier bin ich! Wir müssen uns unbedingt mal unterhalten!<br />

Hier haben Sie meine Visitenkarte! Auf überfüllten Bürgersteigen<br />

läuft er und die Leute weichen aus. Automatisch. Weil<br />

er auch ohne Wagen Warnblinker setzt, Lichthupe macht und die<br />

Leute sich von seinen kleinen unsichtbaren Ausrufezeichen<br />

beiseite schieben lassen.<br />

„Die Leute“, das sind Menschen wie Bettina. Verkäufer.<br />

Gastronomen. Anwälte. Studenten. Irgendwas. Wenn Bettina auf<br />

überfüllten Bürgersteigen läuft, weicht niemand aus. Sie ist<br />

diejenige, die sich wegdrängen lässt, das war schon immer<br />

so. Am liebsten setzt sie sich in Cafés und beobachtet die<br />

anderen. Im Café muss Bettina angesprochen werden, zumindest<br />

von der Kellnerin.<br />

Sie wird gefragt, was sie möchte. Natürlich könnte man<br />

die Antwort auf diese Frage ausweiten, Bettina fragt sich<br />

jeden Tag, was sie denn eigentlich möchte, vom Leben, von der<br />

Welt. Trotzdem antwortet sie trocken: „Einen Latte“. Weil<br />

man das eben so macht, unter Leuten. Und mehr wollte die<br />

Kellnerin schließlich auch nicht wissen. Als sie sich umdreht,<br />

entdeckt Bettina eine Tätowierung auf dem Steißbein<br />

der Kellnerin, ihr grasgrünes T-Shirt reicht nicht bis zum<br />

Bund ihrer Jeans, dazu das Piercing im Mundwinkel, die blondbrünett<br />

gestreiften Haare und Bettina denkt sich: Schulabbrecherin.<br />

Der Anzugträger am Tisch neben ihr mit dem Laptop:<br />

Versicherungsvertreter.<br />

Die Stempel erscheinen ohne Vorwarnung, eigentlich hasst<br />

Bettina es. Sie hat Achtung! Vorurteile von Peter Ustinov<br />

gelesen und will nicht abstempeln. Vor allem aber will sie<br />

nicht abgestempelt werden. Es gibt nicht nur negative, sondern<br />

auch positive Vorurteile, heißt es in dem Buch. Das<br />

Mädchen an dem Tisch hinten in der Ecke liest Paris – ein Fest<br />

fürs Leben von Hemingway, und Bettina denkt sich, die ist<br />

bestimmt sehr belesen, ein Mädchen aus gutem Hause, dabei<br />

könnte es das erste Buch im Leben des jungen Mädchens sein,<br />

sie liest es nur flüchtig durch für die Schule, weil sie<br />

muss, übermorgen ist die Klausur.<br />

Bettinas Schwester ist ein Fragezeichen. Fragezeichen-<br />

Menschen können äußerst anstrengend sein, oft egozentrisch<br />

und gleichzeitig unsicher. Wie seh ich aus? Ist das zu eng?<br />

99


Wollen wir nicht doch lieber woanders hingehen? Verstehst<br />

du, was ich meine, Betty? Sie hat immer geweitete Augen vom<br />

Fragen und Vorbereiten der nächsten Fragen, Golfbälle, ständig<br />

Bindehautentzündung.<br />

Der Vater ist ein Punkt. Ich muss los. Punkt. Ruf mich mal<br />

an. Punkt. Wir haben keine Milch mehr, Gisela. Punkt.<br />

Und Bettina?<br />

Bettina ist ein Komma. Sie trennt alles. Wichtiges von<br />

weniger Wichtigem, Haupt- von Nebensätzen, sich selbst von<br />

ihren Partnern. Während man mehrere Punkte nebeneinander<br />

setzen kann und so die Wirkung des Satzes verheißungsvoll<br />

oder geheimnisvoll wird (Lass uns doch woanders hingehen,<br />

Punkt Punkt Punkt), oder mehrere Ausrufezeichen und Fragezeichen<br />

nebeneinander gesetzt die Aussage verstärken, kann<br />

man nie zwei Kommata nebeneinander schreiben, überlegt<br />

Bettina. Schon die Plural-Form von Komma klingt seltsam.<br />

Kom-ma-ta. Deswegen ist sie von Vornherein dazu bestimmt gewesen,<br />

einsam zu sein. Langweilig. Bettina Müller eben, so<br />

heißen Tausende in Deutschland. Niemand braucht nachzufragen:<br />

„Wie schreibt man das?“ Alle sehen Bettina und denken:<br />

Aha, Bettina Müller. Dünnes, helles Haar, bisschen mollig,<br />

Bettina Müller. Bettina Müller, 1971- 20<strong>09</strong>. Sie war auch hier.<br />

Der Aufstieg<br />

Besser, dass er sich für die Lilien entschieden hatte,<br />

eine unverfängliche Wahl, überlegte er, als er endlich das<br />

Haus gefunden hatte. Er musste sich nicht die Mühe machen,<br />

ihren Nachnamen auf den Klingelschildern zu suchen, denn da<br />

öffnete sich die Tür, eine ältere Dame trat heraus, sie verstand<br />

seine Geste und wartete, bis er sich näherte, um ihm<br />

die Türe offen zu halten. Er dankte, die Frau nickte, er trat<br />

ins Treppenhaus.<br />

Oberster Stock, hatte Natalie gesagt. Ihre Stimme fühlte<br />

sich an wie der Stoff ihres Kleides an dem Abend, und wenn sie<br />

lachte, war es die immergleiche Abfolge desselben Tons, in<br />

ansteigender Lautstärke. Bestimmt würde sie Jazz auflegen,<br />

Kerzen anzünden, in einer Dachgeschosswohnung voll fliederfarbener<br />

Kerzen, wie ihr Kleid an dem Abend, fliederfarben<br />

<strong>10</strong>0


wie die Massen von Schmuck, den sie trug, allerdings alles<br />

aus Plastik, ihre Ringe, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger<br />

der anderen Hand hin- und herdrehte, immer wieder,<br />

während er sprach, ihn mit leicht gebeugtem Kopf betrachtend,<br />

als hätte sie noch nie zuvor von Novalis gehört. Sein<br />

Gürtel, der einzige, der farblich zum Jackett passte, saß<br />

stramm und kniff mit jeder Treppenstufe. Wann hatte er so<br />

zugenommen, überhaupt kam es ihm vor, als entdecke er jeden<br />

Tag zehn neue Falten in seinem Gesicht und übermorgen würde<br />

er aussehen wie eine verfaulte Apfelsine. Er stieg weiter<br />

hinauf, an den Wohnungstüren, Fußmatten, Haus- und Straßenschuhen<br />

vorbei. Was die Nutzung des kleinen Vorraums, den<br />

so ein Treppenhaus bot, anging, glichen sich die Menschen<br />

erstaunlich. Eine Fußmatte gehörte zum Wohnungstürvorraum-<br />

Standard, versteht sich, aber auch Zimmerpflanzen schienen<br />

unverzichtbar, wieso Zimmerpflanzen außerhalb der eigenen<br />

Zimmer, und anscheinend entledigte sich alle Welt ihrer<br />

Schuhe schon vor dem Eintreten in die Wohnung, wäre er auf<br />

Schuhdiebstahl aus, ein wahres Eldorado hier. Das Licht fiel<br />

aus dem hohen Fenster auf den Bügel seiner Brille und blendete<br />

ihn im Augenwinkel. In seiner rechten Hand raschelte<br />

das Papier des Lilienstraußes, und er ließ die Rotweinflasche<br />

in seiner Linken fröhlich mit seinen Bewegungen schwingen,<br />

als er wieder an sie und den bevorstehenden Abend dachte.<br />

Na-ta-lie, da oben wartete sie auf ihn bei Kerzen und Jazz.<br />

Sein Atem beschwerte sich, er war wirklich nicht mehr in Form.<br />

Bei dem nächsten Fenster musste er sich kurz anlehnen, er<br />

kippte es und sog die kalte Luft ein. Alt war er geworden.<br />

Wie Natalie das bloß aushielt, im obersten Stock, noch dazu,<br />

wenn sie Einkäufe zu tragen hatte! Draußen dämmerte es, er<br />

musste sich vorbeugen, um noch die Bürgersteige zu erkennen,<br />

fingernagelgroß, die Leute auf der Straße von hier oben.<br />

Bestimmt war er schon im sechsten Stock. Gleich hatte er es<br />

geschafft. Er seufzte, schloss das Fenster und ging weiter<br />

hinauf. Ihn beschlich langsam das Gefühl, sich zu verspäten,<br />

doch er hatte seine Armbanduhr vergessen, ein Mann ohne<br />

Uhr, dachte er, als hätte er keine Termine, vielleicht fiel<br />

es ihr ja nicht auf. Er zählte die Stufen, zwölf Stück, dann<br />

scharfe Wendung nach links, an der nackten Wand entlang, noch<br />

mal zwölf Stufen, nächstes Stockwerk, nächste Tür. Seine<br />

Beine, besonders die Waden, wurden immer träger, sein Gürtel<br />

kniff ihn, wieder musste er anhalten, hoffentlich kam ihm<br />

jetzt niemand entgegen, er ordnete das Schlamassel zwischen<br />

den Beinen so gut es ging. Er beschloss, sich zu eilen, ihm<br />

<strong>10</strong>1


kam es vor, als liefe er schon zwanzig Minuten aufwärts, der<br />

Geruch der Lilien stach in seine Nase, hätte er bloß die<br />

Rosen genommen, und die Weinflasche wurde ihm lästig. Wie<br />

viele Stockwerke hatte dieses Haus? Von draußen war es ihm<br />

gar nicht so hoch vorgekommen. Hatte er es überhaupt näher<br />

betrachtet, er wusste es nicht, und jedes Mal, wenn er nach<br />

dem Ende einer Stufenfolge um die Ecke bog, hatte er dieses<br />

Gefühl, so, das war’s aber jetzt, doch das war es nicht,<br />

noch kein letztes Geschoss, sondern neue, noch unbestiegene<br />

Stufen, denen er ausgelaugt gegenübertrat und die ihn mit<br />

ihrem grauen Linoleumglanz verhöhnten. Er schwitzte und er<br />

hatte Durst. Er brauchte noch eine Pause am Fenster, sollte<br />

das nächste Stockwerk nicht das Letzte sein – doch das musste<br />

es, ganz sicher – nein, das war es nicht. Und da war auch<br />

kein Fenster wie in den ersten paar Etagen, wie konnte ihm<br />

die zunehmende Dunkelheit entgangen sein, nur runde Wände<br />

aus Rauputz, die von einer Zwölfer-Stufenfolge zur nächsten<br />

überleiteten, erbarmungslos. Er musste sich nun mindestens<br />

im zwanzigsten Stock befinden. Die Hitze wurde unerträglich,<br />

die Weinflasche schwerer und schwerer, er zog sein nasses<br />

Jackett aus, nahm es in die rechte Hand, das Verpackungspapier<br />

des Blumenstraußes raschelte, die einzigen Geräusche<br />

in diesem Niemandsland, dieses Rascheln und seine Sohlen auf<br />

dem Boden, die sich anhörten wie das Kehren auf Asphalt,<br />

unten vor den Geschäften, an der kühlen, frischen Luft. Es<br />

zog jetzt vor allem in den Oberschenkeln, an ihrer Rückseite<br />

hoch und runter, der Gürtel zwickte ihn, wieder hielt er inne,<br />

stellte den Gürtel lockerer, musste nun aber darauf achten,<br />

dass seine Hose nicht abwärts rutschte. Das Hemd war inzwischen<br />

auch auf Bauch- und Brusthöhe durchnässt und sein Atem<br />

rasselte, sein Gaumen war staubtrocken. Er musste an den<br />

Wein, sofort. Er setzte sich unter Keuchen auf die Stufen,<br />

öffnete den Wein und stürzte die halbe Flasche hinunter. Den<br />

Rest ließ er stehen, zuviel wog die Last. Es ging weiter<br />

hinauf, dieselbe mechanische Bewegung der Füße, ein Tunnel<br />

nach oben aus Rohrputz und Linoleum, aus Weiß und Grau und<br />

dem stechenden Gelb des elektrischen Lichts, aus Liliengestank,<br />

eine Hölle aus Stufen. Ihm war schwindelig, doch<br />

er stieg tapfer weiter, Stockwerk um Stockwerk, es war zu<br />

spät zum Umkehren, denn das nächste Stockwerk musste das<br />

letzte sein, und dort war alles frisch und alles Flieder,<br />

immer wieder das nächste. Sein Gesicht musste krebsrot aussehen,<br />

nass glänzend und krebsrot, mit hervortretenden blauen<br />

Adern an seinen Schläfen als Kontrast, er riss das Papier<br />

<strong>10</strong>2


vom Blumenstrauß und presste sich die feuchten, kalten<br />

Stängel an die Stirn, dann an Wangen und Brust und wieder<br />

zum Gesicht, als wäre es ein Ritual, und ließ den Strauß<br />

einfach fallen. Seine Beine standen kurz vorm Krampf, doch<br />

er stieg weiter, mit wütender und schwindliger Entschlossenheit,<br />

während sein Atem immer animalischer klang, die Glieder<br />

brannten und sein Schädel lauter pochte, hämmerte, donnerte.<br />

Er sank auf die Knie, die nicht mehr und nicht weniger<br />

schmerzten als der Rest des ertaubenden Körpers, kroch salamanderartig<br />

die Treppe hinauf, zog sich mit triefenden, verklebten<br />

Armen nach oben, sein Japsen wurde leiser, sein<br />

Gesicht war auf den glatten Boden gepresst, die vom Wein rot<br />

gesprenkelte Hose hing zwischen den Kniekehlen, verschränkt<br />

lag er auf den harten Stufen, ungläubig blinzelnd, als deren<br />

Grau anthrazitfarben wurde, dann schwarz, verschwand. Er<br />

spürte noch ein letztes Zucken, irgendwo zwanzig Stockwerke<br />

unter ihm stand eine halb leere Rotweinflasche, und in unerreichbarer<br />

Distanz wehte ein frischer, kühlender Abendwind.<br />

<strong>10</strong>3


JOHANNES WALDEN<br />

Die Brücke<br />

Über eine Frau<br />

Nur, um es gesagt zu haben<br />

Die Himbeere<br />

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Die Brücke<br />

Vor einigen Jahren hatte ein Kollege aus dem Gemeinderat<br />

die Hand gehoben und um eine Abstimmung gebeten. Es war das<br />

jüngste Mitglied im Rat. Er war sehr strebsam und bekannt für<br />

seine Beobachtungsgabe. Er wollte darüber abstimmen lassen,<br />

ob die Brücke am Rand unseres Dorfes endlich fertiggestellt<br />

werden sollte. Wir hatten die Baustelle seit dem letzten<br />

Winter vernachlässigt. Wegen des Baus der ersten Automobile,<br />

sagte er. Das würde die Anbindung des Dorfs an das Umland<br />

verbessern. Der Vorschlag sorgte für Unruhe. Wir übrigen<br />

Mitglieder fanden es typisch für einen jungen Mann, so überstürzt<br />

zu handeln, nur weil irgendwo irgendwelche Fahrzeuge<br />

gebaut wurden. Sicher, einige von uns benutzten schon solche<br />

Maschinen für Landwirtschaft oder Transport. Doch auf<br />

den Straßen sah man eher selten diese Automobile fahren und<br />

Hilfe von außerhalb oder Anbindung brauchte man hier sowieso<br />

nicht. Ich stand auf und erklärte den übrigen Mitgliedern,<br />

dass es keinen Grund gebe, die Fertigstellung der Brücke zu<br />

veranlassen. Allein wegen der Kosten sei es eine nicht zu<br />

tragende Maßnahme. Am Abend glaubte ich bereits, die Brücke<br />

vergessen zu haben.<br />

Weil unsere Stadt jedoch in der Nähe einer bekannten<br />

Handelsroute liegt und diese wegen Steinschlags gesperrt<br />

werden musste, fuhr an jenem Tag schon das dritte Mobil über<br />

unseren Markt. Durch die breiteren Gassen kamen sie ohne<br />

Probleme, doch als sie den Markt durchfuhren und den Fluss<br />

an der Grenze der Stadt erreichten, mussten sie anhalten.<br />

Aufgeregt stiegen die Fahrer aus den Fahrzeugen und ließen<br />

sich schnell den Weg zur nächsten Brücke erklären. Alle<br />

waren wütend über die verlorene Zeit. Der letzte Fahrer<br />

hielt auf die Brücke zu, überhörte alle Rufe der Umstehenden,<br />

übersah alle Warnschilder und durchbrach die<br />

Absperrung. Hinter dieser waren Holz und Steine gelagert,<br />

die den Wagen stoppten. Die Menschen um mich herum begannen<br />

zu schreien und alle zeigten auf das Wasser unter uns.<br />

Jemand war von der Brücke gefallen und sein Körper trieb<br />

leblos im Wasser. Wer es war, konnte man nicht sagen, da er<br />

mit dem Gesicht nach unten trieb. Auch nicht, was er auf der<br />

Baustelle gemacht hatte. Ich rief den Leuten zu, sie sollten<br />

nicht so herumstehen, sondern sich um den Mann im Wasser<br />

kümmern, und einige liefen zum Fluss hinunter. Daraufhin<br />

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sahen ein paar Bauern nach dem verunglückten Fahrzeug. Drin<br />

saß ein dicker Mann. Wir brachten ihn in die Praxis des<br />

Landarztes. Dieser sagte, der Mann sei zwar am Bein verletzt,<br />

sonst aber wohlauf. Er müsse noch eine Weile Krücken<br />

benutzen. Das deprimiere ihn sehr, sagte der Reisende, er<br />

werde seinen Beruf aufgeben müssen: Handelsreisender.<br />

Schließlich würde er ja von allen überholt werden, klagte er.<br />

Er fragte, ob nicht irgendjemand ihn in die nächste Stadt bringen<br />

könne. Niemand konnte ihm diesen Wunsch erfüllen. Und<br />

wieso man diese Brücke immer noch nicht fertig gebaut habe,<br />

fragte er aufgeregt.<br />

Sobald ich zusammen mit einigen Polizisten die Spuren des<br />

Unfalls beseitigt und das Kraftfahrzeug von der Brücke entfernt<br />

hatte, ging ich den Reisenden besuchen. Er saß auf der<br />

Bank vor der Praxis und starrte auf die Straße. Seine Koffer<br />

standen schon griffbereit. Ich sagte ihm, er sehe aus, als<br />

warte er auf etwas. Ja, auf einen Wagen, antworte er. Einen,<br />

der ihn mitnehmen könne. Ich lachte darauf ein wenig. Da könne<br />

er aber lange warten. Der Handelsreisende schüttelte den<br />

Kopf. Ich wollte ihn ein wenig aufheitern und sagte, ich müsse<br />

noch die Bewässerung der Felder kontrollieren, ob er mit mir<br />

eine Strecke bis zum Stadtrand laufen würde. Die Luft würde<br />

ihm sicher gut tun. Der auf Krücken gehende Reisende machte<br />

sich mit mir zusammen auf den Weg. Er staunte ein wenig, wie<br />

still es auf den Straßen war, und ich erklärte ihm, nun würden<br />

einige Leute aus dem Dorf sicher die Brücke fertig bauen<br />

wollen und dass ich mich gleich morgen zu einer Sonderabstimmung<br />

mit dem Gemeinderat treffen müsste. Heute sei es<br />

schon zu spät. Er äußerte sich nicht weiter dazu.<br />

Noch nie war ich während des Sonnenuntergangs die Felder<br />

kontrollieren gegangen. Für gewöhnlich tat ich das am Mittag,<br />

um dann zu Hause einige Arbeiten vor dem Abendbrot zu erledigen.<br />

Wir erreichten die Stadtgrenze, und ich sah über die<br />

Felder. Von hier aus konnten wir auch ein einzelnes Automobil<br />

auf der Handelsroute beobachten. Die Straße sei also<br />

wieder offen, sagte er. Die Gefahr des Steinschlags vorbei?<br />

Es scheine ganz so, antwortete ich. Ob er gern mitgefahren<br />

wäre? Ich deutete auf die Lichter in der Ferne. Er antwortete<br />

nicht, sondern starrte weiter über die Landschaft.<br />

Ein alter Freund aus dem Gemeinderat kam gerade aus der<br />

Stadt zu uns herüber. Sie hätten den Mann im Wasser gefunden,<br />

sagte er. Das hier habe er getragen. Er reichte mir<br />

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einen Handwerkergürtel. Im Leder eingearbeitet, erkannte ich<br />

die Signatur meines jüngsten Kollegen. Der Reisende sah mich<br />

an und sagte, er glaube nicht, dass wir die Brücke jemals<br />

vollenden werden.<br />

Über eine Frau<br />

Sie ist eine Königin und ich bin ihr Diener. Unzählige<br />

meines Ranges schart sie um sich, behandelt alle mit derselben<br />

Kühle, die einen zittern lässt. Manchmal läuft sie<br />

in den Hallen des Schlosses an mir vorbei und ich kann ihr<br />

kaum in die Augen sehen, ihren Anblick kaum ertragen, so<br />

schön ist sie. Aber ich glaube, die Kälte im Schloss kommt<br />

aus dem Keller, denn sobald ich die Tür dort passiere,<br />

dringt ein düsteres Pfeifen hervor.<br />

Meine Aufgabe besteht darin, ihre Haare zu kämmen. Tag für<br />

Tag werden sie geschmeidiger, obwohl ich immer dieselbe<br />

Stelle streichle, ohne dass ihr diese Faulheit in meiner<br />

Arbeit auffällt. Zusammen mit zwei anderen Dienern, welche<br />

die Kleider und die Spangen der Königin halten, stehen wir<br />

in ihrem Ankleidezimmer. „Du zitterst“, sagt sie plötzlich.<br />

Es ist das erste Mal, dass sie mich anspricht, wenn sie mich<br />

auch dabei nicht ansieht. Ich bin so überrascht, dass ich<br />

keine Antwort hervorbringe. „Wenn du zitterst, kannst du meine<br />

Haare nicht weiter pflegen. Ich brauche eine ruhige Hand.“<br />

Ich schlucke schwer über dieses Urteil, doch der Freund<br />

mit den Spangen springt für mich ein: „Es ist kalt, Herrin,<br />

irgendwo im Schloss scheint ein Fenster oder eine Tür offen<br />

zu stehen.“<br />

Gemeinsam steigen wir in den düsteren Keller hinab.<br />

Sobald wir den Boden erreichen, erlöschen unsere Kerzen und<br />

wir müssen uns im Dunkeln vorantasten. Der Kleiderdiener hat<br />

das Fenster gefunden und ruft aus einer Ecke zu uns hinüber.<br />

„Soll ich es reparieren lassen? Wir haben einen guten<br />

Schlosser zu Hofe.“ In der Dunkelheit sehen wir ihr starres<br />

Gesicht nicht, als die Königin sagt: „Nein, es war kaputt<br />

und wird es auch bleiben.“<br />

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Nur, um es gesagt zu haben<br />

In der der Nacht wachte Karl plötzlich auf. Er sah zu ihr<br />

hinüber und bemerkte ein seltsames Gefühl in der Magengegend.<br />

Er wusste, irgendetwas stimmte nicht mit ihnen beiden. Karl<br />

war jemand, der Geheimnisse hatte; sie hingegen nur jemand,<br />

die mit ihrem Lachen nicht allein sein wollte. Was also<br />

taten sie hier? Da bemerkte Karl, was ihn aufgeweckt hatte:<br />

Eine Dose vor dem Bett war umgefallen, ohne, dass ihr jemand<br />

Beachtung schenkte. Und dann wurde es Karl auch wieder klar.<br />

Warum sie trotzdem neben ihm lag. Zum Lachen und Geheimnisse<br />

haben, braucht es immer zwei.<br />

Die Himbeere<br />

Der Bauernhof meiner Großeltern ist voller verwinkelter<br />

Scheunen und Wiesen. Als Kind habe ich die Ferien mit meinem<br />

Bruder immer draußen in den Gärten verbracht. Am Rande des<br />

Hofs stand ein vollgestopftes Lager mit ineinander verfahrenen<br />

Geräten. Fand man seinen Weg zwischen den verrosteten<br />

Heugabeln und einem staubüberzogenen Mähdrescher, so war es<br />

möglich, über ein loses Brett in der Wand in den Garten der<br />

Nachbarin zu gelangen. Neben ihrem Hühnerstall besaß diese<br />

Nachbarin einige Reihen Himbeersträucher. Von Zeit zu Zeit<br />

brachte sie uns einen Teller der Beeren mit, wenn sie unsere<br />

Großeltern am Sonnabend besuchen kam. Leider kam sie in<br />

letzter Zeit nicht mehr, weshalb wir uns entschieden hatten,<br />

einfach ein paar Himbeeren zu klauen. Doch als wir wieder<br />

hinter dem Stall saßen und Himbeeren aßen, fand ich<br />

etwas weitaus Wertvolleres als bloß kernlose Früchte.<br />

Dort lag im Schatten eines Strauches ein Vogelnest.<br />

„Nicht“, hielt mich mein Bruder zurück. „Die alte Lydia sieht<br />

uns noch.“ Doch ich machte mich von ihm los und zog das Nest<br />

mutig zu uns. Dort fand ich einen winzigen Vogel, blind und<br />

ohne Federn.<br />

Ich nahm ihn mit zum Hof meiner Großeltern, und wir verbrachten<br />

die restlichen Tage unserer Ferien damit, nach<br />

Regenwürmern für den kleinen Vogel zu suchen. Er schien un-<br />

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ersättlich und wollte immer mehr. Bekam er sie nicht, heulte<br />

und schrie er fürchterlich. Da wir ihn nachts nicht fütterten,<br />

sondern erschöpft von der Suche schliefen, wartete er am<br />

nächsten Morgen schon wütend vor Hunger auf uns, begrüßte<br />

uns nicht selten mit einem entsetzlichen Geschrei, sodass<br />

mein Bruder es schnell leid wurde, ihn ständig zu füttern.<br />

Als die Ferien fast vorbei waren und Lydia am Sonntag wieder<br />

zum Essen vorbeikam, war ich nicht dabei, um ihre Himbeeren<br />

zu kosten, denn ich suchte nach Futter für den schon<br />

abgemagerten Vogel. Mein Bruder verriet unser Geheimnis, da<br />

alle sich über mein Fehlen wunderten und nach mir fragten.<br />

Ich sah an diesem Tag also meine Oma durch das lose Brett<br />

an der Wand der Scheune klettern und sie nahm den Vogel in<br />

ihre warmen Hände und sie sagte, ich könne ruhig essen gehen<br />

und sie wüsste, wohin mit ihm und ich sollte mir keine<br />

Sorgen um ihn machen und so tat ich es und ich nahm noch<br />

Abschied von ihm und genoss meine Himbeeren, wie jemand, dem<br />

eine untragbare Bürde unter Schulterklopfen und aufmunternden<br />

Worten abgenommen wurde, um erst später zu erkennen,<br />

dass der Fleck über dem losen Brett, jene Stelle war, an der<br />

Oma den kleinen Vogel totgeschlagen hatte.<br />

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Alle Rechte an den einzelnen Beiträgen<br />

liegen bei den Autoren.<br />

Die Schreibwerkstätten <strong>open</strong> <strong>poems</strong> und <strong>open</strong> <strong>writing</strong> sind eine<br />

Gemeinschaftsveranstaltung der Literaturwerkstatt Berlin,<br />

des Literaturhaus Frankfurt und der <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong>.<br />

Herausgeber: Literaturwerkstatt Berlin,<br />

Literaturhaus Frankfurt, <strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong><br />

Gestaltung: Patrick Koch<br />

Druck: Druckerei Imbescheidt<br />

Literaturwerkstatt Berlin<br />

www.literaturwerkstatt.org<br />

Literaturhaus Frankfurt<br />

www.literaturhaus-frankfurt.de<br />

<strong>Crespo</strong> <strong>Foundation</strong><br />

www.crespo-foundation.de<br />

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