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Gebaute Utopie - Architektursprache

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<strong>Gebaute</strong> <strong>Utopie</strong><br />

Die Gesellschaftsvision des Familistère von Guise<br />

Durch die grünen Hügel der Picardie führt der<br />

Weg über das Land in Richtung Guise. Fernab der<br />

großen Städte begleiten Straßendörfer und einzelne<br />

Gehöfte die Fahrt. Geruhsam geht es zu<br />

in dieser Gegend, die schon bessere Zeiten erlebt<br />

hat – die Häuser vermitteln den einstigen<br />

Wunsch nach Repräsentation, doch zerfallende<br />

Fassaden legen Zeugnis ab von der Endlichkeit<br />

repräsentativen Strebens.<br />

In Guise führt die Straße auf eine kleine<br />

Brücke zu, die sich über das Flüßchen Oise legt.<br />

In der Flußbiegung weitet sich ein Platz auf,<br />

der zu zwei Seiten von Bauten dieser besseren<br />

Tage gerahmt wird: Es sind die Tage, in denen<br />

der Ofenfabrikant Godin mit dem Familistère<br />

einen Modellversuch unternimmt, um die Wohnverhältnisse<br />

seiner Arbeiter zu revolutionieren.<br />

Die Hitze des Spätsommers treibt hinein in<br />

den Schatten, in den kühlen Hof seines Wohnpalastes.<br />

Fouriers Geistes Kind<br />

Die Konzeption des Familistère geht auf einen<br />

utopischen Entwurf zurück, den Charles Fourier<br />

in den 820er Jahren entwickelte. Fouriers Plan<br />

zu einer Neuorganisation der Gesellschaft geht<br />

von einer umgestalteten Stadtplanung aus, da<br />

sich in seinem Verständnis Gesellschaft und<br />

Architektur gegenseitig bedingen. Er entwirft<br />

ein Bild der völligen Auflösung der Städte, die<br />

durch schloßartige Baugruppen, die sogenannten<br />

Phalanstères, ersetzt werden. In ihnen werden<br />

kleine funktionale Gruppen, die Phalanges, zusammengefaßt:<br />

Diese Kleingruppen sollten eine<br />

Autarkie der landwirtschaftlich geprägten Anlagen<br />

gewährleisten und eine positive gesellschaftliche<br />

Entwicklung fördern. Die Errichtung<br />

autarker Wohneinheiten mit Bezug zur umliegenden<br />

Landschaft – bereits bei Thomas Morus’<br />

„Utopia“ angelegt – ist ein elementarer Bestandteil<br />

von Fouriers Theorie: „Das Gebäude,<br />

das eine Phalange bewohnt, hat keinerlei Ähnlichkeit<br />

mit unseren städtischen oder dörflichen<br />

Bauten (...). Die Wohnungen, Pflanzungen und<br />

Ställe einer Gesellschaft müssen sich auf wun-<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

Jean-Baptiste-André Godin,<br />

Familistère, Guise, Idealansicht<br />

um 87


derbare Weise von unseren Dörfern und Vorstädten<br />

unterscheiden, in denen Familien wohnen,<br />

die nichts verbindet und die darum im Gegensatz<br />

zueinander handeln. An Stelle eines Chaos<br />

von kleinen Häusern, die einander an Schmutz<br />

und Häßlichkeit übertreffen, baut eine Phalange<br />

sich ein großes Gebäude, das so regelmäßig ist,<br />

wie das Grundstück es erlaubt.“( )<br />

Der Entwurf dieses „Wohnpalastes“ sieht verschiedene,<br />

durch überdachte und klimatisierte<br />

Galeriestraßen – die rues intérieures – verbundene<br />

Gebäude vor. Diese funktional heterogenen<br />

Bauten gruppieren sich um offene Höfe, zu denen<br />

sich die Galerien orientieren.<br />

Die Kritik an der sozialisierenden Einheit<br />

der Familie führt in Fouriers Gesellschaftsvision<br />

zu deren teilweisen Auflösung in der Phalange:<br />

Ein Phalanstère soll auf eine Phalange<br />

mit rund 600 Personen beschränkt sein. Die<br />

große Gruppe der Gemeinschaft wird gegenüber<br />

der kleinen Gruppe der Familie durch separate<br />

Wohnungen für die Kinder und die Ausrichtung des<br />

Zusammenlebens auf das übergeordnete Kollektiv<br />

betont. Das Individuum erlangt durch eine Aufweitung<br />

der sozialen Beziehungen seine Emanzipation<br />

und die ihm gebührende Erfüllung des<br />

persönlichen Glücks im Einklang mit der Gemeinschaft.<br />

Fouriers ideale Umbildung der Gesellschaft<br />

durch bauliche Interventionen erfährt<br />

– wie auch die der <strong>Utopie</strong>n anderer Frühsozialisten<br />

– Kritik vor allem von Seiten Karl Marx’<br />

und Friedrich Engels’, die als Voraussetzung<br />

des gesellschaftlichen Wandels den umgekehrten<br />

Weg propagieren. Denn „nicht die Lösung der<br />

Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage,<br />

sondern erst durch die Lösung der sozialen<br />

Frage ... wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage<br />

möglich gemacht.“(2)<br />

Die familiäre Phalange<br />

Im Familistère von Guise haben die Lehren Fouriers<br />

ab 859 eine bauliche Manifestation gefunden.<br />

Der Erbauer, Jean-Baptiste-André Godin,<br />

überführt Fouriers Gedanken in ein Bauwerk, das<br />

positiven Einfluß auf die sozialen Mißstände<br />

haben soll. Entgegen der Meinung der Kritiker<br />

vertritt er die These, „daß der soziale<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

( ) zit. nach: Benevolo, Leo-<br />

nardo: Die sozialen Ursprün-<br />

ge des Städtebaus, Gütersloh<br />

97 , S. 68.<br />

(2) zit. nach: Schumpp,<br />

Mechthild: Stadtbau-<strong>Utopie</strong>n<br />

und Gesellschaft, Gütersloh<br />

972, Anm. S. 73.<br />

2


Fortschritt der Massen der fortschrittlichen<br />

Anordnung sozialer Architektur untergeordnet<br />

ist.“(3)<br />

Allerdings bedürfen die theoretischen Konzeptionen<br />

des Zusammenlebens zu ihrer praktischen<br />

Durchführbarkeit grundlegender Abwandlungen:<br />

Der Industrielle Godin ersetzt die Konstituente<br />

der Landwirtschaft durch industrielle Produktion<br />

– dadurch reagiert er auf die dem kapitalistischen<br />

Prinzip immanenten Bedingungen.<br />

Der Kollektivgedanke der Phalange erfährt eine<br />

pragmatische Reduktion: Jeder Familie wird eine<br />

eigene Wohnung zugestanden. Die Teilnahme am<br />

Gemeinschaftsleben ist durch entsprechende Einrichtungen<br />

möglich, ritualisierte Feierlichkeiten<br />

führen den Bewohnern die Zugehörigkeit<br />

zur übergeordneten Gruppe vor Augen, und ein<br />

differenziertes Erziehungssystem unterstützt<br />

die frühe Identifikation mit dem Familistère.<br />

Architektonische Konzeption<br />

Godin hat die Sprache Fouriers im wörtlichen<br />

und auch im architektonischen Sinn übernommen<br />

und einen Palast für die arbeitende Klasse gebaut,(4)<br />

der seinen baulichen Ausdruck durch<br />

eine Anlage von Hofbauten im weitläufigen Park<br />

findet – der Palast als Typus soll auch der<br />

arbeitenden Klasse offenstehen. Die Errichtung<br />

freistehender Einfamilienhäuser lehnt er ab,<br />

jedoch zeigt sich vor dem Hintergrund der Wohnungsnot<br />

in den städtischen Ballungsräumen die<br />

Notwendigkeit einer Lösung der Wohnungsfrage<br />

auf dem Land oder in Randgebieten kleinerer<br />

Siedlungen. So wie Fourier stellt auch Godin<br />

„den vielen Einzelhaushalten die große Wohneinheit<br />

... und der Stadt die kleine Lebenseinheit“(5)<br />

entgegen.<br />

Der Komplex der drei Wohngebäude ist annähernd<br />

axialsymmetrisch aufgebaut – sie gruppieren<br />

sich um einen Platz vor dem von zwei<br />

Seitengebäuden gerahmten Mittelbau. Mit einer<br />

Gesamtlänge von 80 Metern stellt das Familistère<br />

eine stark verkleinerte Ausführung des<br />

Phalanstère dar, dessen Front 200 Meter messen<br />

sollte.<br />

Im Inneren werden die rues intérieures, die<br />

Fourier vorschwebten, modifiziert, indem die<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

(3) Bollerey, Franziska:<br />

Architekturkonzeptionen der<br />

utopischen Sozialisten, Berlin<br />

99 , S. 58.<br />

(4) vgl. Ed. Archives d’Architecture<br />

Moderne: Le Familistère<br />

de Guise ou les<br />

Equivalents de la Richesse,<br />

Brüssel 977, S. 46: „Da<br />

wir aus den Hütten oder den<br />

armseligen Behausungen jeder<br />

einzelnen Arbeiterfamilie<br />

keine Paläste machen konnten,<br />

wollten wir die Wohnung<br />

des Arbeiters in einem Palast<br />

errichten: das Familistère<br />

ist nichts anderes<br />

als der Sozialpalast der Zukunft.“<br />

(Übers. d. Verf.)<br />

(5) Posener, Julius: Utopische<br />

Gemeinschaften: Fourier,<br />

Godin, Buckingham, Howard,<br />

S. 6; in: Arch+ 63/64,<br />

Aachen 982, S. 4-2 .<br />

3


Höfe der drei Wohnbauten überdacht und so zum<br />

sozialen Mittelpunkt transformiert werden. Die<br />

Laubengänge, von denen aus die Wohnungen der<br />

drei oberen Etagen erreicht werden, laufen auf<br />

allen Seiten um den Hof herum und bilden im<br />

weitesten Sinn eine Promenade für die Bewohner.<br />

Annick Brauman weist auf eine problematische,<br />

nämlich die regulative Funktion hin, die der<br />

Hof nach Godins Vorstellung auch erfüllen soll<br />

– als Überwachungsinstrument ermöglicht er den<br />

Bewohnern ständig die gegenseitige Kontrolle,<br />

so daß jeder zum Hüter seines Nachbarn werden<br />

kann.(6)<br />

Der Zugang zu den insgesamt 465 Wohnungen<br />

erfolgt von der Hofseite aus – sie orientieren<br />

sich mit einem Zimmer zur inneren, die<br />

übrigen Räume befinden sich an der äußeren,<br />

zu Park oder Platz gerichteten Fassade. Bei<br />

Bedarf können zwei kleinere Wohnungen jeweils<br />

zu einer größeren zusammengelegt werden, indem<br />

die Trennwände zwischen ihnen entfernt werden.<br />

Generell erschließt ein gemeinsames Vestibül<br />

zwei Wohnungen. Das kleine, zum Hof geöffnete<br />

Kabinett, das vom Vestibül aus betreten wird,<br />

ist unter anderem als Schlafraum konzipiert;<br />

eine in Anbetracht des Geräuschpegels im Innenhof<br />

durch spielende Kinder problematische<br />

Nutzung. Im Raum, der sich zur Außenseite öffnet,<br />

befindet sich ein Kamin, der die zentral<br />

gesteuerte Ventilation oder Heizung der Wohnung<br />

besorgt.<br />

Lüftungsöffnungen im Boden der Höfe sorgen<br />

hier durch das Nachströmen kalter Luft aus dem<br />

Kellergeschoß für die Lüftung und Kühlung des<br />

überdachten Hofraums. Im Sommer kann diese Vorrichtung<br />

durch einen manuell zu bedienenden<br />

Wasserkreislauf unterstützt werden.<br />

Die Vertikalerschließung der viergeschossigen<br />

Bauten erfolgt über Treppenanlagen in<br />

den Gebäudeecken, von denen die Laubengänge der<br />

einzelnen Geschosse erreicht werden. Treppen<br />

und Höfe wurden ursprünglich nachts von Gaslampen<br />

beleuchtet, deren Betrieb das Gaswerk<br />

des Familistère sicherstellte. Müllschächte,<br />

sanitäre Einrichtungen und Trinkwasserbrunnen<br />

befinden sich ebenfalls in den Ecken der Gebäude.(7)<br />

Die Versorgung der Bewohner mit Trinkwasser,<br />

einem Heizungs- und Ventilationssystem<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

(6) vgl. Brauman, Annick:<br />

Architecture of Programmed<br />

Emancipation and Freedoms,<br />

S. 49 f; in: Ed. Archives<br />

d’Architecture Moderne, a.a.<br />

O., S. 45-54.<br />

(7) vgl. Oyon, A.: Le Fa-<br />

milistère de Guise, Paris<br />

865, S. 2 : „(Die Treppen)<br />

sind nachts ebenso wie der<br />

Hof durch Gaslampen beleuchtet.<br />

Auf jedem Treppenabsatz<br />

sind Brunnen, deren vortreffliches<br />

Wasser mit einer<br />

kleinen Dampfmaschine ...<br />

aus der Versickerung der Anschwemmungsgebiete<br />

gesogen<br />

wird. Das Wasser kommt in den<br />

Reservoirs im Dachboden an,<br />

von wo es durch Leitungen in<br />

alle Brunnen verteilt wird.“<br />

(Übers. d. Verf.)<br />

4


und Sanitäranlagen erreicht einen Standard, der<br />

im Wohnungsbau der Zeit kaum realisiert wird.<br />

Die einzelnen Wohngebäude sind untereinander<br />

auf der Erdgeschoßebene durch überdachte Passagen<br />

übereck verbunden, so dass der gesamte<br />

Komplex trockenen Fußes durchquert werden kann.<br />

Dieses Motiv läßt sich als Interpretation der<br />

Verkehrsräume Charles Fouriers verstehen, der<br />

temperierte Galerien als Orte der Kommunikation<br />

und Begegnung vorsah – die Zusammenfassung der<br />

Hofbauten des Familistères überwindet eine Abgrenzung<br />

der auf die eigene Mitte bezogenen<br />

Gebäude.<br />

In einem rückwärtigen Annex des Hauptbaus<br />

sind Krippe und Kindergarten untergebracht,<br />

den Wohngebäuden gegenüber befinden sich die<br />

gemeinschaftlichen Einrichtungen: vis-à-vis<br />

des Mittelbaus das Schul- und Theatergebäude,<br />

zu seinen beiden Seiten Wirtschaftsgebäude<br />

mit Restaurant, Casino, Café und Werkstätten.<br />

Am Ostufer der Oise wurden das Gaswerk sowie<br />

ein Waschhaus mit Bädern und Schwimmhalle errichtet;<br />

weiter östlich, in größerer Entfernung<br />

zum Wohnkomplex, schließt das Gelände der<br />

Ofenfabrik an.<br />

Paternalistischer Sozialismus<br />

Der Fabrikant Godin steht der sozialistischen<br />

Lehre ambivalent gegenüber: Zum einen ist er<br />

ein Verfechter der gemäßigten Theorien des<br />

Charles Fourier und nimmt aktiv teil am politischen<br />

Geschehen des 9. Jahrhunderts – 87<br />

wird er zugleich Abgeordneter in der französischen<br />

Kammer und Bürgermeister von Guise.(8)<br />

Im selben Jahr werden in Paris seine theoretischen<br />

Betrachtungen, die Solutions Sociales,<br />

publiziert. Zum anderen aber sieht er sich in<br />

der Position und den Zwängen des Unternehmers,<br />

der einer kommunistischen Idee der „Gleichheit“<br />

mit kapitalistischem Realismus begegnet: „Die<br />

wirkliche Gleichheit besteht nicht darin, einem<br />

jeden einen gleichen Teil zu geben, sondern darin,<br />

einem jeden einen Teil zu geben, der seinen<br />

Bedürfnissen entspricht.“(9)<br />

Godin handelt bei der Etablierung des Familistère<br />

in Grundzügen nach den Prinzipien des<br />

Paternalismus. Der Fourier-Anhänger begründet<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

(8) vgl. Balmer, Leo: Das<br />

Familistère in Guise. Ueber-<br />

sicht, S. 59 f; in: Kunstge-<br />

werbemuseum Zürich: Produk-<br />

tionskommunen. 6 Versuche aus<br />

3 Jahrhunderten, Zürich 974,<br />

S. 58-62.<br />

(9) zit. nach: Bollerey,<br />

Franziska, a.a.O., S. 53.<br />

5


die hierarchische Steuerung damit, das Wohl der<br />

Arbeiter vom theoretisch-analytischen Standpunkt,<br />

aber auch aus eigener durchlebter Erfahrung<br />

beurteilen zu können. Daher kann er<br />

die Probleme und deren Lösung gezielt in Angriff<br />

nehmen – politisch gebildet und finanziell<br />

gesichert. Anfänglich strebt er zwar die<br />

Vereinigung von „Kapital, Arbeit und Talent“<br />

und den hierarchischen „Aufbau von demokratisch<br />

gewählten Selbstverwaltungskörpern“ an,<br />

die parallel zu seiner Geschäftsführung die Interessen<br />

der Arbeiter und Bewohner vertreten,<br />

letzteres scheitert aber an der nur geringen<br />

politischen Motivation der betroffenen Gruppe.<br />

Die 880 eingesetzte „Form der Assoziation büßt<br />

nochmals an demokratischem Gehalt ein und beruht<br />

schließlich auf einer autokratischen Betriebsorganisation<br />

mit der zentralen Stellung<br />

des Administrateur-Gérant“,( 0) dem Verwaltungsleiter<br />

des Unternehmens. Hierin ist wohl<br />

auch die von den Kritikern der Frühsozialisten<br />

bezeichnete Kluft zwischen Idealkonstruktion<br />

und tatsächlicher Beschaffenheit der Godinschen<br />

Gesellschaft zu sehen.<br />

Equivalents de la Richesse<br />

Die soziale und finanzielle Absicherung der Arbeiter<br />

erfährt gerade im späteren Verlauf des<br />

Modellversuchs eine äußerst fortschrittliche<br />

Prägung. Die Theorie der Equivalents de la<br />

Richesse – Absicherung der Arbeiter durch das<br />

Bereitstellen von Wohnraum, Erziehung und Sozialleistungen<br />

– soll ihnen den „ihren Bedürfnissen<br />

entsprechenden Teil“ zusichern, als Entsprechung<br />

finanziellen Reichtums. Die Wohnungen<br />

werden zu geringen Mietkosten zur Verfügung gestellt,<br />

mitsamt dem gehobenen Standard der Ausstattung.<br />

„Die besten und größten Wohnungen im<br />

zweiten Stock kosten ungefähr 30 Fr. jährlich,<br />

während in Paris für viel geringere Wohnungen<br />

im dritten Stock 500 bis 600 Fr. bezahlt werden.“(<br />

) Die Waren des täglichen Bedarfs erhalten<br />

die Bewohner in Läden, die im Erdgeschoß<br />

der Wohngebäude eingerichtet sind, „in bester<br />

Beschaffenheit und zu einem den Kostenpreis nur<br />

um einen geringen Zuschlag übersteigenden Preis<br />

in freiester Auswahl“.( 2)<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

( 0) Kunstgewerbemuseum Zürich,<br />

a.a.O., S. 6 .<br />

( ) Huber, V. A.: Sociale<br />

Fragen. IV. Die latente Association,<br />

Nordhausen 866,<br />

S. 2 .<br />

( 2) ebd., S. 22.<br />

6


Die Bewohner selbst tragen mit einer solidarischen<br />

Gemeinschaftskasse zur gegenseitigen<br />

sozialen Absicherung bei: Ihre regelmäßige Beitragszahlung<br />

stellt die Finanzierung von Pensions-<br />

und Unterstützungskassen, Kranken- und<br />

Medikamentenkassen sowie einer Mutterschaftsunterstützung<br />

sicher. Auf längere Sicht ist<br />

dieses enklavische Prinzip der „Hausgenossenschaft“<br />

nur bei Erhöhung oder gleichmäßig hohem<br />

Stand der Mitgliederzahl aufrechtzuerhalten –<br />

die beschränkte Größe liegt allerdings schon im<br />

Entwurf der Gemeinschaft begründet und führt zu<br />

einer schnellen Umkehr der Altersstruktur oder<br />

stößt an die Grenzen des Wachstums. Im Fall der<br />

Rentenzahlung mußte die Assoziation ihre Mitglieder<br />

beispielsweise ab 954 über die staatliche<br />

Rentenkasse versichern, um deren Versorgung<br />

zu garantieren.<br />

Zusätzlich zu ihren Löhnen steht den Arbeitern<br />

eine finanzielle Absicherung durch diverse Stufen<br />

der Gewinnbeteiligung offen, die von Betriebszugehörigkeit<br />

und Kapitalbeteiligung abhängen.<br />

Eine Unterscheidung von Associés, Sociétaires,<br />

Participants, Interéssés und Auxiliaires führt<br />

jedoch schließlich zu nachteiligen Auswirkungen<br />

auf das Kollektivgefühl, denn die Einordnung in<br />

eine der Gruppen etabliert ein neues Klassensystem<br />

im Familistère, das von Mißgunst und Neid<br />

geprägt wird.( 3)<br />

L’éducation intégrale<br />

Godins Konzeption des mehrgliedrigen Schulsystems<br />

spiegelt die Lehren Fouriers wider, der<br />

unter einer éducation intégrale die umfassende<br />

Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten versteht.<br />

Das pädagogische Gerüst ist auf dem<br />

„Princip der größtmöglichen Freiheit, und zwar<br />

... ohne körperliche Züchtigung oder überhaupt<br />

ostensible Mittel der Disciplin“( 4) gegründet.<br />

Godin betont die „Notwendigkeit, die von<br />

individuellen Wünschen und Ideen geprägte<br />

Erziehungstätigkeit der Eltern zugunsten einer<br />

gemeinschaftlichen, sozialen Erziehung zu beschränken.“(<br />

5) Das eingeführte System reicht<br />

von der Betreuung der Kleinkinder bis hin zur<br />

Weiterbildung der Erwachsenen: In Krippe und<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

( 3) vgl. Rabaux, René:<br />

Die Entwicklung des Famili-<br />

stère seit dem . Weltkrieg,<br />

S. 66; in: Kunstgewerbemu-<br />

seum Zürich, a.a.O., S. 63-<br />

75: „Die Gewinnspannen waren<br />

... hoch, und das Gefälle<br />

zwischen den Gewinnanteilen<br />

der Participants und denen<br />

der Associés ... machte sich<br />

mehr und mehr bemerkbar. Dies<br />

führte zwangsläufig dazu, daß<br />

die Participants die Asso-<br />

ciés und diese wiederum die<br />

Mitglieder des Conseil de<br />

Gérance beneideten, d.h. zu-<br />

mindest diejenigen, deren<br />

‚Befähigung’ nicht absolut<br />

überzeugte.“<br />

( 4) Huber, V. A., a.a.O.,<br />

S. 23 f.<br />

( 5) Erni, Stefan: Die Er-<br />

ziehung im Familistère – Go-<br />

dins Erziehungsprogramm, S.<br />

8 ; in: Kunstgewerbemuseum<br />

Zürich, a.a.O., S. 8 -89.<br />

7


Kindergarten werden die Kleinsten von ausgebildetem<br />

Personal betreut, das sich zum Teil<br />

auch aus Bewohnern des Familistère zusammensetzt.<br />

Den erwerbstätigen Müttern ist es jederzeit<br />

erlaubt, sich vom Arbeitsplatz zu entfernen,<br />

um ihre Kinder zu stillen. Die Erziehung<br />

ab dem dritten Lebensjahr zielt insbesondere<br />

darauf ab, „zu unterhalten und unterrichten,<br />

ohne dabei Zwang auszuüben ... Das Erziehungsziel<br />

soll nicht mit Zwang erreicht ..., sondern<br />

die Kinder sollen für die pädagogische<br />

Absicht gewonnen werden“.( 6) Später erfahren<br />

sie in der Schule den demokratisch gestalteten<br />

Unterricht, der ihre Selbständigkeit und ihr<br />

politisches Bewusstsein fördern soll. Nach der<br />

obligatorischen Schulausbildung – diese endet<br />

mit dem 4. Lebensjahr – besteht für begabte<br />

Schüler die Möglichkeit eines von der Assoziation<br />

finanzierten Studiums auf höheren Schulen.<br />

Entwurf einer Gesellschaft<br />

Das pädagogische Konzept Godins ermöglicht auf<br />

der einen Seite eine egalitäre Ausbildung. Auf<br />

der anderen Seite bedingt die Annahme einer<br />

harmonischen Gesellschaftsentwicklung( 7) die<br />

Akzeptanz des von Godin vorgezeichneten Wegs.<br />

Die Arbeiter werden mit sozialistischen Lehren<br />

vertraut gemacht und zu politischer Beteiligung<br />

motiviert, die im Aufstieg zum Associé gipfeln<br />

kann.<br />

„Aus der Sicht eines umfassenden Emanzipationsstrebens<br />

der gesamten Arbeiterschicht kann<br />

ein solches aufstiegsorientiertes Reformmodell<br />

als fragwürdig erscheinen, da es mithilft, die<br />

Arbeiter von ihrer eigenen Klasse zu entfremden“,<br />

kritisierte hier die marxistische Kritik<br />

strenger Observanz.( 8)<br />

Durch die kompensatorische Bildung, vor allem<br />

aber durch die liberale Erziehung der Kinder<br />

erhoffte sich Godin die Bildung einer neuen Generation,<br />

in der die Ideen des Familistère tief<br />

verwurzelt sein sollten.( 9) Der allgemein zugängliche<br />

Schulbesuch führt insgesamt zu einer<br />

Hebung des Bildungsniveaus, die Erziehungsmethoden<br />

betonen die Freiheit des Individuums innerhalb<br />

der Regeln der Gemeinschaft und sollen<br />

zur Festigung der Familistère-Idee beitragen.<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

( 6) ebd., S. 83.<br />

( 7) Huber, V. A., a.a.O.,<br />

S. 20: „Die in jeder Beziehung<br />

wohlthuende, erfreuliche,<br />

heitere, ja schöne<br />

Lebenshaltung in solcher Gemeinschaft<br />

werde, hofft man,<br />

auch die widerstrebenden,<br />

andersartigen Elemente der<br />

Einzelnen allmählig und ohne<br />

Zwang sich einverleiben“.<br />

( 8) Erni, Stefan, a.a.O.,<br />

S. 86.<br />

( 9) vgl. Oyon, A., a.a.O.,<br />

S. 9: „Die Kinder haben<br />

dieselben Voraussetzungen,<br />

sie haben dieselben Spiele<br />

gelernt und dieselben lehrreichen<br />

und moralischen Lektionen<br />

erhalten.“ (Übers. d.<br />

Verf.)<br />

8


Transfer eines Modelltypus<br />

Daß ihr Erfolg jedoch entscheidend von der idealen,<br />

weitläufigen Situation abhängt, die Godin<br />

in Guise vorfindet, zeigt sich am Versuch eines<br />

weiteren Familistères in Laeken-lez-Bruxelles.<br />

Dort entstehen auf dem Gelände einer Dependance<br />

ab 887 insgesamt 72 Wohnungen mit Primarschule<br />

und Wäscherei. Die gedrängte städtische Lage<br />

inmitten von Fabrikanlagen, zu einer Seite begrenzt<br />

vom Quai des Usines, führt dort mehr zu<br />

sozialem Wohnungsbau denn zur Fortsetzung des<br />

revolutionären Projekts.(20)<br />

In Guise selbst begann man 883 an der Rue de<br />

Cambrai mit dem Bau eines weiteren Familistère-<br />

Gebäudes außerhalb des ursprünglichen Geländes<br />

in der Oise-Schleife, der 885 abgeschlossen<br />

wurde. Bei dieser Variante fehlt mit der Glaseindeckung<br />

des Hofes ein wesentliches Merkmal<br />

der architektonisch formulierten sozialen Bindung:<br />

Der offene Hof kann die vier Seiten des<br />

Blocks nicht in der gleichen Weise verbinden,<br />

wie es in den drei früheren Bauten der Fall ist.<br />

Obwohl die Ausrichtung der Wohnungen äquivalent<br />

und die Erschließung ebenfalls über Laubengänge<br />

organisiert ist, unterstützt der Neubau mehr<br />

eine Individualisierung der Bewohner als eine<br />

genossenschaftliche Verbindung zum Kollektiv.<br />

Das abseits errichtete Gebäude steht stellvertretend<br />

für die Entwicklung des Modellversuchs<br />

in späterer Zeit: Die stärker werdende äußere<br />

Einflußnahme führt zu Interessenkonflikten auch<br />

innerhalb der Assoziation und schließlich zu<br />

ihrer Auflösung.<br />

Fragment der Vision<br />

Die Zeit hat ihre Spuren an den Bauten hinterlassen.<br />

Die auf Initiative des Département<br />

Aisne und der Stadt Guise vor einigen Jahren<br />

begonnenen Sanierungsarbeiten greifen langsam,<br />

und der Aufbau eines Informationszentrums steht<br />

noch am Anfang. Viele Wohnungen des Familistère<br />

stehen leer, wenngleich das Wohnprojekt mit<br />

aller Macht als solches erhalten bleiben soll.<br />

Neben der Stadtbibliothek, die ihren Platz im<br />

noch genutzten Schulgebäude gefunden hat, soll<br />

ein Museum entstehen, das – derzeit im Rohbau<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

(20) vgl. Ed. Archives d’Architecture<br />

Moderne, a.a.O.,<br />

S. 4 : „Die Zweigniederlassung<br />

von Brüssel stellt aus<br />

mehreren Gründen die benachteiligte<br />

Version von Guise<br />

dar: ökonomisch betrachtet<br />

aufgrund der Schwierigkeit<br />

des Imports von Gütern und<br />

Fachkräften aus Guise, vom<br />

sozialen Blickpunkt gesehen<br />

aufgrund der Schwierigkeit<br />

der Reproduktion eines<br />

Experiments, das stark von<br />

der Präsenz Godins und einem<br />

idealen Strandort abhing.“<br />

(Übers. d. Verf.)<br />

9


– eine wenig rücksichtsvolle Interpretation des<br />

Ortes befürchten läßt. Dennoch: Guise hat mit<br />

dem Erbe des Familistère ein Equivalent de la<br />

Richesse und wird sich allmählich dessen bewußt.<br />

Vielleicht tragen die Lehren der Vergangenheit<br />

Früchte und der Geist jener besseren<br />

Tage kehrt in dieses bauliche Zeugnis der <strong>Utopie</strong><br />

zurück ...<br />

<strong>Architektursprache</strong> Rainer Schützeichel<br />

Dieser Text ist erstmals er-<br />

schienen in: Bund Deutscher<br />

Architekten (Hrsg.), Der Ar-<br />

chitekt 9- 0/05, Wohnvisi-<br />

onen, Berlin 2005, S. 36-4 .<br />

0

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