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Zeitfenster Herman Hertzberger: Diagoon-Häuser, Delft, 1967-1971 ...

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<strong>Zeitfenster</strong><br />

<strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong>: <strong>Diagoon</strong>-<strong>Häuser</strong>, <strong>Delft</strong>, <strong>1967</strong>-<strong>1971</strong><br />

Als Vertreter einer strukturalistischen Entwurfshaltung<br />

betont <strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong> den Unterschied<br />

zwischen der Kompetenz, dem Deutungspotential<br />

einer Form und ihrer Performanz, also<br />

ihrer situations- und zeitbedingten Interpretation.<br />

Eine Form oder Struktur ordnet sich<br />

so dem durch sie repräsentierten Inhalt unter,<br />

denn wandelbare Bedürfnisse können nicht programmiert<br />

werden, vielmehr müssen individuelle<br />

Aneignung und auch Veränderung möglich sein.<br />

Der Architekt habe nun die Aufgabe, menschliches<br />

Leben einzuräumen, und zwar in einem<br />

gesellschaftlichen Kontext: „Architecture is a<br />

means to fight loneliness.“( ) Die <strong>Diagoon</strong>-<strong>Häuser</strong><br />

stellen einen Versuch dar, diese Forderungen an<br />

Architektur in einem flexiblen Rahmenwerk umzusetzen.<br />

Vorschläge und Assoziationen<br />

<strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong> realisierte zwischen 967<br />

und 97 mit den <strong>Diagoon</strong>-<strong>Häuser</strong>n in <strong>Delft</strong> Prototypen<br />

als Alternative zu einer stereotypen<br />

Wohnhausarchitektur, die Funktionen im Grundriß<br />

starr umschrieb und festlegte. Diese sei „nach<br />

wie vor die verallgemeinerte Interpretation<br />

einiger weniger von dem, was angeblich viele<br />

wünschen.“(2) Dem stellte <strong>Hertzberger</strong> die<br />

eigenverantwortliche Fertigstellung der von<br />

ihm errichteten <strong>Häuser</strong> durch die jeweiligen<br />

Bewohner gegenüber: Da er als Architekt keine<br />

individuellen Bedürfnisse vorwegnehmen und daher<br />

auch nicht bedienen könne, überließ er es<br />

den Bewohnern, ihre gewissermaßen unfertigen<br />

<strong>Häuser</strong> nach eigenen Vorstellungen zu vollenden.<br />

<strong>Hertzberger</strong> bot ihnen ein grundlegendes<br />

Gehäuse, das sie selbst im Inneren zonieren und<br />

im Äußeren sukzessive erweitern konnten. Dies<br />

führte ihn in der Konsequenz jedoch nicht zu<br />

einer vernakularen Auffassung von Architektur:<br />

Vielmehr sei er als Architekt und damit Fachmann<br />

in der Pflicht, den Menschen Vorschläge zu<br />

unterbreiten, Assoziationen zu ermöglichen und<br />

Freiheiten zurückzugeben. Erst wenn die Bewohner<br />

sich mit ihrem Haus identifizieren könnten,<br />

werde es ihnen zur „Heimat“.<br />

Architektursprache Rainer Schützeichel<br />

<strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong>, <strong>Diagoon</strong>-<br />

<strong>Häuser</strong>, <strong>Delft</strong>, 967- 97<br />

( ) <strong>Hertzberger</strong>, <strong>Herman</strong>: Space<br />

and the Architect, Vortrag<br />

am Berlage Institute, VHS,<br />

Amsterdam 999.<br />

(2) <strong>Hertzberger</strong>, <strong>Herman</strong>: Die<br />

<strong>Diagoon</strong>-Wohnungen in <strong>Delft</strong><br />

- eine Form mit Vorschlägen,<br />

S. 474; in: Bauwelt 5/ 976:<br />

Neue Planungsmethoden für<br />

einen veränderten Wohnungsmarkt,<br />

Berlin 976, S. 474-<br />

479.


In der <strong>Delft</strong>er Gebbenlaan entstanden acht Reihenhäuser.<br />

Die Drehung von drei <strong>Häuser</strong>n um 80<br />

Grad sollte der Ausbildung einer repräsentativen<br />

Front gegenüber einer rückwärtigen, lediglich<br />

privaten Gartenfassade vorbeugen und den seriellen<br />

Charakter aufbrechen. Den <strong>Diagoon</strong>-<strong>Häuser</strong>n<br />

ist das Konzept der Unfertigkeit im Äußeren<br />

wie im Inneren immanent. Eine offensichtliche<br />

individuelle Aneignung konnten die Bewohner<br />

mit den Holzfensterelementen vollziehen: Deren<br />

Belegung mit Glas oder Holzpaneelen konnte<br />

innerhalb eines festgelegten Grundrasters variiert<br />

und somit den Bedürfnissen nach Öffnung<br />

oder Schließung angepaßt werden. Im Inneren finden<br />

sich halbgeschossig zueinander versetzte<br />

Ebenen, die sich als innere Balkone an zwei<br />

festgelegten Kernen um eine zentrale Wohnhalle<br />

schichten. Deckenrücksprünge in diesem<br />

zentralen Bereich ermöglichen die zusätzliche<br />

Belichtung der Geschosse durch Dachfenster. Der<br />

Alberti’schen Idee folgend, ein Haus sei zugleich<br />

eine kleine Stadt, ordnen sich die Ebenen<br />

um das ideelle Zentrum der Wohnhalle wie<br />

Balkone zu einem städtischen Platz.(3) Die diagonalen<br />

Durchblicke zu den einzelnen Bereichen<br />

des Hauses standen bei der Namensgebung des<br />

Projekts Pate, was die Bedeutung dieser internen,<br />

urbanen Kommunikation hervorhebt.<br />

Freie Grundrisse ermöglichten eine individuelle<br />

Widmung von privaten und öffentlichen<br />

Bereichen - <strong>Hertzberger</strong> schlug hier mithilfe<br />

von typisierten Einbauelementen verschiedene<br />

Zonierungen vor, um die Bewohner nicht mit<br />

einem „Zuviel an Freiheit“ zu überfordern. Auch<br />

hier unterschied er also klar zwischen der professionellen<br />

Aufgabe des Architekten und der<br />

- mehr intuitiven - Adaption durch die Bewohner:<br />

„So paradox es auch klingen mag: es ist<br />

sehr fraglich, ob nicht ein solcher [zu großer]<br />

Freiheitsgrad eine lähmende Wirkung hat; denn<br />

obgleich sich in diesem Falle theoretisch sehr<br />

viele Möglichkeiten anbieten, wird man doch<br />

nicht imstande sein, die für einen selbst richtigste<br />

Wahl zu treffen.“(4)<br />

Sämtliche Freibereiche wurden als Erweiterung<br />

des Wohnraums verstanden, der dort durch<br />

die mehr oder weniger starke „Veröffentlichung“<br />

eine andere Qualität erhielt. Die <strong>Diagoon</strong>-<br />

Architektursprache Rainer Schützeichel<br />

(3) vgl. a. Dijk, Hans van:<br />

Wonen langs de diagonaal,<br />

S. 8; in: RE/MAX QR Make-<br />

laars: <strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong>.<br />

<strong>Diagoon</strong>woning <strong>Delft</strong>, <strong>Delft</strong><br />

2006, S. 3-2 .<br />

(4) <strong>Hertzberger</strong>, <strong>Herman</strong>: Die<br />

<strong>Diagoon</strong>-Wohnungen in <strong>Delft</strong>,<br />

a.a.O., S. 474.<br />

2


<strong>Häuser</strong> bieten den Bewohnern sowohl Gärten als<br />

auch Dachterrassen auf verschiedenen Niveaus.<br />

Durch Überbauung der Terrassen ist eine Erweiterung<br />

des Innenraums möglich, ebenso wäre ein<br />

Rückbau einzelner Erweiterungen denkbar. Auf<br />

diese Weise können die <strong>Häuser</strong> den wechselnden<br />

Bedürfnissen einer wachsenden oder schrumpfenden<br />

Familie angepaßt werden.<br />

Die Bewohner machten von den ihnen gebotenen<br />

Freiheiten Gebrauch und modifizierten ihre <strong>Häuser</strong><br />

- ohne Intervention oder Anleitung des Architekten<br />

- eigenständig. <strong>Hertzberger</strong> faßte 987<br />

mit Blick auf spätere Projekte seine Methode<br />

des unfertigen Entwurfs, die nicht zuletzt in<br />

den <strong>Diagoon</strong>-<strong>Häuser</strong>n erprobt wurde, folgendermaßen<br />

zusammen: „Ich habe nur ein Minimum vorgegeben,<br />

und sie [die Bewoner] konnten darauf<br />

aufbauen. Genau das ist es, was ich mir wünsche<br />

und was meiner Meinung nach die Identifikation<br />

mit der Umgebung fördert.“(5)<br />

Kollektiver Raum<br />

Statt von „öffentlichem“ spricht <strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong><br />

von „kollektivem“ Raum, von collective<br />

space.(6) Der Raum ist in seinem Verständnis<br />

nicht in einer starren Hierarchie von Privatheit<br />

und Öffentlichkeit gegliedert, vielmehr<br />

schalten sich verschiedene Abstufungen zwischen<br />

beide Sphären. <strong>Hertzberger</strong> artikulierte<br />

diese Übergangszonen lediglich mit rudimentären<br />

architektonischen Mitteln, um deren Schwellencharakter<br />

zu betonen. So bieten die <strong>Diagoon</strong>-<br />

<strong>Häuser</strong> Übergänge von Innen nach Außen, die<br />

weder eindeutig dem einen noch dem anderen,<br />

sondern in gewisser Weise beiden Räumen zugeordnet<br />

sind.<br />

Der Gedanke, daß Architektur letztlich erst<br />

nach Inbesitznahme durch die Bewohner fertiggestellt<br />

wird, läßt auch hier eine individuelle<br />

Aneignung zu: Die Eigentümer können die vom<br />

Architekten nur angedeuteten Grenzen konkret<br />

formulieren oder offenlassen - ideell stellte<br />

<strong>Hertzberger</strong> die Grundstücke der acht Prototypen<br />

als ein Areal vor, „das Terrain ist überhaupt<br />

nicht so behandelt, daß daraus ein privater<br />

Anspruch abgeleitet werden könnte.“(7) Er versprach<br />

sich von der bloßen Andeutung eine ver-<br />

Architektursprache Rainer Schützeichel<br />

(5) Bollerey, Franziska: …ich<br />

will den Menschen keine Kon-<br />

zepte aufzwingen. Ein Gespräch<br />

mit <strong>Herman</strong> <strong>Hertzberger</strong>, S.<br />

639; in: Bauwelt 7- 8/ 987:<br />

‚Ruimte maken. Ruimte laten.’<br />

Holländische Ansichten, Berlin<br />

987, S. 637-643.<br />

(6) vgl. <strong>Hertzberger</strong>, <strong>Herman</strong>:<br />

Space and the Architect,<br />

a.a.O.<br />

(7) <strong>Hertzberger</strong>, <strong>Herman</strong>: Die<br />

<strong>Diagoon</strong>-Wohnungen in <strong>Delft</strong>,<br />

a.a.O., S. 479.<br />

3


stärkte Abstimmung der Bewohner untereinander,<br />

wie und ob Grenzen zu ziehen seien.<br />

Der grundlegende entwerferische Ansatz entspringt<br />

eindeutig den Demokratisierungsbestrebungen<br />

der späten sechziger Jahre: Die Bewohner<br />

gestalteten ihre <strong>Häuser</strong> aktiv nach eigenen Vorstellungen<br />

und in Verbindung mit ihren Nachbarn.<br />

Der gemeinschaftliche Überzug war durch<br />

den identischen Aufbau aller <strong>Häuser</strong> gegeben,<br />

die individuelle Aneignung vollzog sich durch<br />

selbstverantwortliches Handeln. Die <strong>Diagoon</strong>-<br />

<strong>Häuser</strong> spiegeln daher auch ein Gesellschaftsmodell<br />

wider, in dem Individuum und Gemeinschaft<br />

bei gegenseitiger Rücksichtnahme in gleicher<br />

Weise zur Geltung kommen. Dieses Modell setzt<br />

aber zugleich den Anspruch aller voraus, das<br />

Gemeinwesen auch gestalten zu wollen.<br />

Das Miteinander der Bewohner, das in der<br />

Anfangsphase des Projekts festzustellen war,<br />

hat sich jedoch mittlerweile primär zu einem<br />

Nebeneinander gewandelt. Ein vergleichbarer<br />

Sozialstatus der Nachbarn scheint hier zu<br />

Distinktionswünschen geführt zu haben, die<br />

das Individuelle stärker hervorheben als das<br />

Gemeinschaftliche dieser homogenen Mikrogesellschaft<br />

- <strong>Hertzberger</strong> hatte bereits früh<br />

darauf hingewiesen, daß das Projekt aufgrund<br />

hoher Baukosten als Experiment wenig geeignet<br />

gewesen war und daher auch nur eine bestimmte<br />

„Klientel“ hatte anziehen können.(8)<br />

So ist die anfängliche Absenz der Grenzen<br />

und damit die kollektive Widmung der Fläche<br />

nicht akzeptiert worden. Die Gärten sind inzwischen<br />

so bewachsen, daß ein Einblick weder<br />

möglich noch erwünscht ist - diese Pufferzone<br />

zwischen Außen und Innen ist nunmehr<br />

gänzlich dem Eigenen, dem Privaten gewidmet.<br />

Auch die vormals gepflasterten Flächen vor den<br />

Hauseingängen - die aus der Idee einer fließenden<br />

Verbindung von Haus- und Straßenraum<br />

entstanden - sind nach und nach bepflanzt worden<br />

und vermitteln nun den Eindruck, die Bewohner<br />

wollten den Abstand zu Nachbarn oder Fremden<br />

durch diese Vorgärten noch vergrößern. Lediglich<br />

die drei „gedrehten“ <strong>Häuser</strong> vermitteln an<br />

der Seite ihrer Eingangsfassaden, die sich zu<br />

einem kleinen Platz öffnen, noch heute in Teilen<br />

den ursprünglichen Charakter eines nicht (8) vgl. ebd., S. 474.<br />

Architektursprache Rainer Schützeichel<br />

4


klar auszumachenden Übergangs von öffentlicher<br />

und privater Sphäre.<br />

Openstelling<br />

Der Besucher kann sich heute nur schwer des<br />

Eindrucks erwehren, eine durchschnittliche<br />

niederländische, suburbane Siedlung in einem<br />

„extravaganten“ Kleid vor sich zu sehen. Dies<br />

zeigt, daß Architektur allein nicht die sozialen<br />

Formen bedingen kann - gemäß <strong>Hertzberger</strong>s<br />

Verständnis füllt erst der Mensch die Formen<br />

mit Inhalt und führt sie zur Sprache. Architektur<br />

ermöglicht zwar auch eine Dynamisierung<br />

sozialer Prozesse, kann diese aber ohne die<br />

Bereitschaft ihrer Nutzer nicht erzwingen. Als<br />

Prototyp stehen die <strong>Diagoon</strong>-<strong>Häuser</strong> bis heute<br />

vereinzelt da, das großangelegte Projekt wurde<br />

von <strong>Hertzberger</strong> nicht weiter verfolgt.<br />

Im Jahr 2005 wurde allerdings ein Projekt<br />

ins Leben gerufen, das die acht <strong>Häuser</strong> in<br />

der Gebbenlaan erneut in das Bewußtsein der<br />

Öffentlichkeit zu rücken versucht: Die Initiative<br />

Openstelling <strong>Diagoon</strong>woning <strong>Delft</strong> (9) ermöglicht<br />

es Interessierten, eines der <strong>Diagoon</strong>-<br />

<strong>Häuser</strong> zu besichtigen. In diesem Zusammenhang<br />

kann es aber als Bestärkung des Trends hin<br />

zu einem Nebeneinander gesehen werden, daß die<br />

übrigen Bewohner der Einladung zu einem Vortrag<br />

über „ihre“ <strong>Häuser</strong> im Rahmen dieser Führungen<br />

nicht folgten. Das Interesse gilt demnach stärker<br />

dem eigenen Leben als weniger dem gemeinschaftlichen<br />

Rahmenwerk. Die ursprüngliche<br />

Idee und auch die ihr zugrundeliegende Gesellschaftsvorstellung<br />

sollten aber weiterhin vor<br />

Augen geführt werden. Daher bedeutet das jüngst<br />

in Gang gesetzte Projekt der Openstelling einen<br />

vielversprechenden Schritt hin zu einer erneuten<br />

Öffnung des <strong>Diagoon</strong>-Projekts: „Dit huis<br />

moet je ervaren.“<br />

Architektursprache Rainer Schützeichel<br />

(9) Die Initiative geht zu-<br />

rück auf die Bewohnerin der<br />

Gebbenlaan 33, Els Hazelhof<br />

und den Makler Cees Malie-<br />

paard von RE/MAX QR Makelaars:<br />

www.diagoonwoningdelft.nl.<br />

Dieser Text ist erstmals er-<br />

schienen in: Bund Deutscher<br />

Architekten (Hrsg.), der ar-<br />

chitekt 3/07, Bewährungspro-<br />

ben, Berlin 2007, S. 47-5 .<br />

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