Notfall Hebamme
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G E B U R T S M E D I Z I N<br />
<strong>Notfall</strong> <strong>Hebamme</strong><br />
BERUF<br />
Wenn bei der Geburt etwas schiefgeht, ist sie dran. Wegen des<br />
hohen Risikos fürchten die selbstständigen Geburtshelferinnen<br />
um ihre Existenz.<br />
VON Martin Spiewak | 06. Mai 2010 - 08:00 Uhr<br />
© Daniel Karmann /dpa<br />
Eine <strong>Hebamme</strong> führt in der Frauenklinik in Erlangen an einer schwangeren Patientin eine Ultraschall-<br />
Untersuchung durch<br />
Diese Stunden wird sie nie vergessen. Das Warten und das In-sich-Hineinhorchen. Die<br />
Angst und die Schmerzen. Am Ende der erlösende Schrei. Einen halben Tag und eine ganze<br />
Nacht dauerte es, bis Corinna Koch ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Nicht nur ihr<br />
Mann stand ihr bei. Auch ihre <strong>Hebamme</strong> wich der werdenden Mutter nicht von der Seite,<br />
volle 16 Stunden lang. Die persönliche Geburtshelferin versorgte sie mit Entspannungstees,<br />
gab die Kommandos fürs Pressen und Atmen, und schaffte es, das Baby kurz vor der<br />
Entbindung im Bauch noch einmal zu drehen – und so einen sonst vielleicht notwendigen<br />
Kaiserschnitt zu verhindern. »Ich habe Lotte völlig vertraut«, sagt Koch. Schließlich kannte<br />
sie ihre Geburtshelferin bereits seit Monaten.<br />
Lotte Gostischa ist eine sogenannte Beleghebamme im Berliner Sankt-Joseph-<br />
Krankenhaus. Sie begleitet Frauen von den ersten Monaten der Schwangerschaft bis<br />
zum Wochenbett. Gostischas Service, der die individuelle Betreuung mit der Sicherheit<br />
einer Klinik verbindet, ist äußerst beliebt. Fünfmal mehr Anfragen erhält die <strong>Hebamme</strong>,<br />
als sie Frauen bei der Geburt helfen kann. Als Corinna Koch im vergangenen Jahr ihr<br />
zweites Kind erwartete, meldete sie sich sofort wieder an und machte die gleichen guten<br />
Erfahrungen.<br />
Ein drittes Mal wird es vielleicht nicht mehr geben. Die <strong>Hebamme</strong> spielt – ähnlich viele<br />
ihrer Kolleginnen – mit dem Gedanken, die Geburtshilfe nach zwanzig Jahren aufzugeben.<br />
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BERUF<br />
»Kinder auf die Welt zu bringen, lohnt sich für mich kaum noch«, sagt Gostischa.<br />
Der Grund sind die extrem gestiegenen Haftpflichtkosten in der Geburtsmedizin, die<br />
sowohl Frauenärzte (siehe Kasten) wie auch <strong>Hebamme</strong>n treffen. Seit 2003 haben sich die<br />
Versicherungsprämien verdoppelt. Zum 1. Juli machen die Beiträge erneut einen Sprung<br />
um 56 Prozent. Dann muss Lotte Gostischa rund 3700 Euro Versicherungsbeitrag im Jahr<br />
zahlen – so viel wie sie in zwei Monaten netto einnimmt.<br />
Für eine Geburt bekommt die Berlinerin gerade einmal 240 Euro. Dafür steht sie Tag und<br />
Nacht auf Abruf. Sie kann nicht ins Schwimmbad mit ihrem Sohn gehen, im Wasser hört<br />
man kein Handy. Auch Kino oder Theater kann sie kaum genießen. Jederzeit könnte ein<br />
Anruf kommen. Innerhalb einer halben Stunde muss sie dann bei der Schwangeren sein.<br />
Die freie <strong>Hebamme</strong>ntätigkeit ist ein verantwortungsvoller Beruf mit einem Gehalt wenig<br />
über dem Mindestlohnniveau.<br />
In Stuttgart, Hamburg, Erfurt und Köln haben deshalb vergangenen Mittwoch <strong>Hebamme</strong>n<br />
vor Rathäusern und Kliniken protestiert. Lotte Gostischa war vor der Berliner Charité<br />
dabei. Die Geburtshelferinnen – Männer gibt es fast nicht in dem Beruf – demonstrieren<br />
gegen die hohen Haftpflichtprämien, für höhere Gehälter und Honorare. Hier geht ein<br />
Berufsstand auf die Straße, der sich professionalisiert hat und der starken Medikalisierung<br />
der Geburt selbstbewusst eigene Konzepte der Entbindungsmedizin entgegensetzt.<br />
Zu diesem Trend gehören sowohl die wachsende Zahl von Krankenhäusern, in denen<br />
Beleghebammen zum Einsatz kommen, als auch die sogenannten <strong>Hebamme</strong>nkreißsäle<br />
in Kliniken, in denen die Geburtshelferinnen das Sagen haben. Die ersten Studiengänge<br />
an Fachhochschulen in Osnabrück und Bochum, in denen man den Gesundheitsberuf<br />
auf akademischem Niveau erlernen kann, passen ebenso zu dieser Entwicklung. Die<br />
Geburtshelferinnen, so ihre Verbandsvorsitzende Martina Klenk, versprechen sich von der<br />
Verwissenschaftlichung ihrer Profession unter anderem den Nachweis, »dass die natürliche,<br />
von <strong>Hebamme</strong>n geleitete Geburt genauso sicher ist wie die interventionsreiche klinische<br />
Entbindung«.<br />
Auch im Geburtshaus Pankow übt man sich in der »hohen Kunst, möglichst nichts zu<br />
tun«, wie Klenk das nennt. Statt die Geburt einzuleiten oder zu beschleunigen, wartet man<br />
hier ab. Schmerzen werden nicht durch eine Spritze gelindert, sondern durch Akupunktur,<br />
Massagen oder eine Wärmflasche. »Entbunden« wird hier niemand, darauf legen die<br />
Geburtshelferinnen wert. »Wir unterstützen Frauen, ihr Kind zu bekommen«, sagt Sabine<br />
Witt – ob in der Badewanne oder auf dem Gebärhocker, hängend am Gebärtuch oder im<br />
sogenannten Vierfüßlerstand, wie es hier die meisten tun.<br />
Vor sechs Jahren hat <strong>Hebamme</strong> Witt mit drei Kolleginnen das Geburtshaus gegründet,<br />
in unmittelbarer Nähe zum kinderreichen Stadtteil Prenzlauer Berg. Die Gesundheit von<br />
Mutter und Neugeborenen hat Priorität. Gibt es Probleme, werden die Gebärenden sofort<br />
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ins nahe gelegene Krankenhaus verlegt. Bei 15 Prozent der Geburten ist dies der Fall.<br />
Damit liegen die Berliner im nationalen Schnitt.<br />
Knapp zwei Prozent der Frauen in Deutschland bekommen ihr Kind nicht im Krankenhaus.<br />
Seit 1999 werden alle diese Entbindungen von der Gesellschaft für Qualität in der<br />
außerklinischen Geburtshilfe (QUAG), deren Beirat auch Universitätsgynäkologen<br />
angehören, evaluiert. Danach kommt es bei Entbindungen im Geburtshaus oder im<br />
heimischen Bett nicht häufiger zu Komplikationen als bei jenen in der Klinik. Auch<br />
die Schäden der Neugeborenen waren nicht höher. In all den Jahren verstarb nur eine<br />
Mutter. »Für eine gesunde Frau spricht kein medizinischer Grund dagegen, ihr Kind<br />
außerhalb eines Krankenhauses zu bekommen«, sagt Beate Schücking, Ärztin und<br />
Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Osnabrück.<br />
Die internationale Forschung gibt ihr recht. So stellte Patricia Janssen von der Universität<br />
von British Columbia in Vancouver in der bislang größten vorliegenden Studie die<br />
Komplikationen bei Hausgeburten jenen im Krankenhaus gegenüber. Das Alter der Frauen<br />
sowie die Geburtsverläufe waren dabei vergleichbar. Die Hausgeburt, so das Ergebnis,<br />
gefährdet weder die Gesundheit des Kindes noch die der Mutter. Im Gegenteil: Bei der<br />
Mutter treten weniger Blutungen und Infektionen auf, die Neugeborenen benötigen seltener<br />
Sauerstoff. Die geringen »Schadensquoten« seien auch auf die verbesserte Kooperation<br />
zwischen Geburtshäusern und Kliniken zurückzuführen, sagt Stephan Schmidt, Gynäkologe<br />
und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin.<br />
Ihre Vorsicht hat den Pankower <strong>Hebamme</strong>n nichts genützt. Auch sie müssen vom ersten<br />
Juli an die neuen Haftpflichtprämien begleichen. Auf 15.000 Euro summieren sich die<br />
Versicherungskosten, zu viel für die kleine Einrichtung mit ihren rund 40 Entbindungen<br />
im Jahr. Als erstes Geburtshaus in Berlin müssen sie aufgeben. In Zukunft wollen sie<br />
ihr Geschäft – auch als Zeichen des Protestes – erst einmal auf Dienstleistungen wie<br />
Schwangerschaftsyoga oder Babymassage beschränken. Den Frauen, die sich für Juli zur<br />
Niederkunft angemeldet hatten, haben die <strong>Hebamme</strong>n abgesagt. »Ein Geburtshaus ohne<br />
Geburten, das ist schon traurig«, sagt Sabine Witt.<br />
Dabei sind die <strong>Hebamme</strong>n wie Ärzte Opfer einer Entwicklung, die sie selbst nicht zu<br />
verantworten haben. Die Ursachen für die gestiegenen Prämien sind weder in den Kliniken<br />
noch in den Geburtshäusern zu finden, sie entstehen vor Gericht. Vorbei die Zeiten, in<br />
denen Patienten, die juristisch gegen ärztliche Kunstfehler vorgingen, keine Chancen<br />
hatten oder mit lächerlich niedrigen Entschädigungen abgespeist wurden. Jeder zweite<br />
Arzthaftungsprozess bei niedergelassenen Medizinern führt mittlerweile zum Erfolg.<br />
Entsprechend mehr Geschädigte trauen sich – unterstützt von spezialisierten Anwälten,<br />
abgesichert durch Rechtsschutzversicherungen – zu klagen. Besonders für die<br />
Geburtsmedizin trifft das zu. Das liegt nicht daran, dass <strong>Hebamme</strong>n oder Gynäkologen<br />
mehr Kunstfehler unterlaufen als ihren Kollegen aus anderen Sparten. Im Gegenteil, die<br />
Vorfälle unter der Geburt sind in den vergangenen fünfzig Jahren extrem selten geworden,<br />
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und ihre Zahl nimmt weiter ab. Aber sie werden heute häufiger vor Gericht gebracht.<br />
»Wenn bei der Operation der Großmutter etwas schiefläuft, fragt man nicht so häufig nach.<br />
Bei einem kranken Kind ist das anders«, sagt Peter Gausmann von der Gesellschaft für<br />
Risikoberatung, der Kliniken auf Sicherheitslücken untersucht.<br />
Obwohl das Kinderkriegen so sicher wie nie zuvor ist, gibt es kein Gespräch mit<br />
einem Geburtshelfer, ohne dass irgendwann das Wort »Klage« fällt. Wenn einer<br />
<strong>Hebamme</strong> oder einem Arzt eine Schuld nachgewiesen werden kann, wird es extrem<br />
teuer. In keinem Bereich der Heilkunde liegen die Kosten für Folgeoperationen,<br />
Rehabilitationsbehandlungen und Schadensersatz so hoch wie in der Geburtsmedizin.<br />
Neuerdings sprechen die Gerichte einem Kind, das zum Beispiel unter der Geburt zu wenig<br />
Sauerstoff erhalten und einen Hirnschaden erlitten hat, zudem einen Verdienstausfall zu,<br />
und zwar ein Leben lang.<br />
Auch die Regressabteilungen der Krankenkassen fahnden seit einigen Jahren aktiv<br />
nach Behandlungsfehlern. Die Kassen versuchen, sich die Behandlungsausgaben<br />
von den Verursachern zurückzuholen. Der höchste durch eine <strong>Hebamme</strong> verursachte<br />
Einzelfallschaden lag bei 4,5 Millionen Euro. Die wenigen Assekuranzen, die angesichts<br />
dieser horrenden Summen noch bereit sind, die finanziellen Risiken der Geburtshilfe zu<br />
versichern, müssen hohe Prämien nehmen.<br />
In gewisser Weise ist die technisierte Geburtsmedizin Opfer ihres eigenen Erfolgs<br />
geworden: Je mehr die Ärzte den Geburtsvorgang technisch erfassen und beeinflussen<br />
können, desto leichter können ihnen Fehler nachgewiesen werden, desto häufiger kommt<br />
es zu Prozessen, desto höher wird wiederum der Aufwand an Überwachung und ärztlichen<br />
Eingriffen.<br />
Die Zahl der Entbindungen mit Kaiserschnitt hat sich in Deutschland in knapp zwanzig<br />
Jahren verdoppelt, heute liegt sie bei mehr als 30 Prozent. Jede vierte Geburt wird<br />
medizinisch eingeleitet, rund jede zweite mit Wehenmedikamenten oder gegen<br />
Ende mit einem Dammschnitt beschleunigt. Die Rate der Periduralanästhesien<br />
(Rückenmarksbetäubungen) liegt bei 25 Prozent. »Einst zur Beherrschung von<br />
Komplikationen entwickelte Eingriffe sind zur klinischen Routine geworden«, kritisiert<br />
Gesundheitsforscherin Schücking. Auch die Geburtsmediziner sehen die Kaiserschnittraten<br />
mittlerweile kritisch. Krankenhäuser mit hohen Sectio-Raten müssten sich rechtfertigen,<br />
sagt Fachgesellschaftspräsident Stephan Schmidt.<br />
Wie jeder medizinische Trend fördert auch dieser einen Gegentrend. In der Geburtsmedizin<br />
heißt er <strong>Hebamme</strong>nkreißsaal, eine Art Geburtshaus in der Klinik. Hier bekommen Frauen<br />
ihr Kind ohne ärztliche Hilfe allein unter der Aufsicht von <strong>Hebamme</strong>n. Nur für den <strong>Notfall</strong><br />
warten Ärzte im gleichen Gebäude. Oft haben die Paare das <strong>Hebamme</strong>nteam bereits vor<br />
der Entbindung kennengelernt. Zehn <strong>Hebamme</strong>nkreißsäle gibt es mittlerweile in deutschen<br />
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Krankenhäusern, der erste wurde 2003 in Bremerhaven eröffnet. Weitere folgten in<br />
Osnabrück, Hamburg, Stuttgart und im Universitätsklinikum Bonn.<br />
Die Anhängerinnen des Modells erhoffen sich, dass die Kaiserschnittraten sinken<br />
und die Zufriedenheit der Paare steigt. Denn gerade Erstgebärende in der Klinik<br />
fühlen sich mit ihren Wünschen und Gefühlen oft nicht ernst genommen. Dass dies im<br />
<strong>Hebamme</strong>nkreißsaal anders ist, hat ein Forschungsprojekt der FH Osnabrück bestätigt.<br />
Unter anderem fanden sich die Frauen besser in die Geburt einbezogen als im ärztlich<br />
geleiteten Kreißsaal nebenan. War eine <strong>Hebamme</strong> verantwortlich, endeten – bei ähnlichen<br />
Geburtsvoraussetzungen – 5,4 Prozent der Schwangerschaften mit einem Kaiserschnitt,<br />
hatte der Arzt das Sagen, waren es 12,3 Prozent. Zurzeit wird die Untersuchung, die bislang<br />
nur einen <strong>Hebamme</strong>nkreißsaal ausgewertet hat, an mehreren Standorten wiederholt. Wie<br />
immer sich Frauen entscheiden, ob sie sich unter die Obhut von <strong>Hebamme</strong>n begeben oder<br />
medizinisch voll abgesichert niederkommen, ob Paare im Geburtshaus oder in der Klinik<br />
ihr Kind bekommen: Wichtig ist, dass sie die Wahlfreiheit behalten. Die gestiegenen<br />
Prämien für Versicherungen drohen diese massiv zu beschränken.<br />
Mitte Juni haben die <strong>Hebamme</strong>n einen Termin bei Gesundheitsminister Philipp Rösler.<br />
Nötig sei eine politische Lösung des Problems, sagt die Verbandsvorsitzende Klenk:<br />
»Die flächendeckende Geburtshilfe ist in Gefahr.« Sie schlägt einen deutschlandweiten<br />
Fonds vor, der die Haftpflichtversicherung übernehmen soll – bezahlt aus Steuermitteln.<br />
Einige Kliniken lassen durchblicken, dass sie sich an den gestiegenen Kosten ihrer<br />
Beleghebammen beteiligen wollen. Darauf setzt auch die Berliner Beleghebamme Lotte<br />
Gostischa. »Sonst kann ich meinen Beruf bald zum Hobby erklären.«<br />
Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio<br />
COPYRIGHT: DIE ZEIT, 06.05.2010 Nr. 19<br />
ADRESSE: http://www.zeit.de/2010/19/<strong>Hebamme</strong>n<br />
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