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Christiane Krautscheid - Schott Music

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Die Jagd nach dem verlorenen KonzertPaul Hindemith - Klaviermusik mit Orchester, op. 29Das verschwundene ManuskriptAus Briefen Paul Hindemiths und aus seinen Skizzenbüchern wusste die Forschungseit Jahrzehnten, dass es ein Klavierkonzert für die linke Hand aus dem Jahr 1923 vonihm geben musste. Die Partitur fand sich jedoch nicht in Hindemiths Nachlass. Es gabnur eine Möglichkeit: Der Pianist, für den Hindemith es geschrieben hatte, musstedas Autograph besitzen.Dieser Pianist war Paul Wittgenstein, Bruder des berühmten Philosophen LudwigWittgenstein. Er hatte im 1. Weltkrieg seinen rechten Arm verloren und bestellte inden 20er und 30er Jahren bei renommierten Komponisten Klavierwerke für die linkeHand. Maurice Ravel schrieb für ihn das Klavierkonzert D-Dur, Erich WolfgangKorngold das Konzert in Cis, Sergei Prokofiew das 4. Klavierkonzert B-Dur, FranzSchmidt das Konzert Es-Dur und die Beethoven-Variationen, Richard Strauss dasParergon und den Panathenäenzug, Benjamin Britten schließlich seine Diversions.Wittgenstein führte die Klaviermusik für Orchester, die er bei Hindemith bestellt undauch bezahlt hatte, nie auf. Warum nicht? Um diese Frage rankt sich eine Fülleabenteuerlicher Anekdoten. Eine davon glaubt zu wissen, Hindemith habe währendeines Streites mit Wittgenstein in Salzburg die Partitur vor Wut in die Salzachgeworfen. An dieser und allen anderen Vermutungen dürfte nur eines stimmen:Wittgenstein mochte das Stück nicht. Er stand ihm ebenso skeptisch gegenüber wiedem Konzert von Prokofiew, das er ebenfalls nicht spielte, oder dem Konzert vonRavel, das er nur mit erheblichen eigenmächtigen Änderungen aufführte, die Ravelentsetzten. Wittgenstein war eben kein Anhänger der Avantgarde. Umso ehrenvollerist es, dass dank seiner Aufträge bedeutende Werke der Moderne geschriebenwurden.Die Jagd nach dem verlorenen KonzertNach dem Tod Wittgensteins (1961) stellte sich rasch heraus, dass sich das gesuchteKlavierkonzert tatsächlich in seinem Nachlass befand. Deshalb baten die Hindemith-Stiftung und <strong>Schott</strong> als Exklusiv-Verlag des Komponisten die Anwälte der ErbenWittgensteins in New York um den Verkauf des Werkes. Doch alle Briefe undAngebote stießen auf teils rüde Zurückweisung. Immer wieder wurde zur Begründungangeführt, Wittgensteins Witwe wünsche die Herausgabe zu ihren Lebzeiten nicht.Dann geschah, Anfang des Jahres 2002, etwas Merkwürdiges. Das FrankfurterHindemith-Institut erhielt ein anonymisiertes Email, in dem das Manuskript zum Kaufangeboten wurde. Was man denn dafür zahlen würde? Die Forscher waren perplex.Kein Absender, keine weiteren Erläuterungen zum Zustand des Manuskripts. Manantwortete dem großen Unbekannten, bezeugte allergrößtes Interesse – und hörtenichts mehr. Wieder vergingen Monate. Dann plötzlich nahmen die Anwälte derWittgenstein-Erben offiziell Kontakt zur Hindemith-Stiftung auf, die Verhandlungenüber eines der letzten unbekannten Werke der klassischen Moderne konntenbeginnen.Aber zunächst galt es, die entscheidende Frage zu klären. War das, was die Anwälteanboten, wirklich das gesuchte Klavierkonzert? War es echt, war es vollständig? DieForschung wusste ja nur aus Briefen und Skizzenbüchern von seiner Existenz, undniemand kannte es wirklich. Nun begann die kriminalistische Arbeit des Hindemith-Spezialisten Giselher Schubert. Er flog nach New York, um den Nachlass zu sichtenund das Manuskript zweifelsfrei zu identifizieren. Die Überraschung, die dort auf ihnwartete, hätte kaum größer sein können. Statt eines wohlgeordneten Archivs führte


man ihn in eine schwach beleuchtete Lagerhalle. Dort lag, ungeordnet in staubigenPappkartons, der für die Musikwelt so bedeutende Nachlass Wittgensteins.Und das Original?Aber wie identifiziert man ein Werk, von dem man nur ein paar Skizzen hat, vondenen man glaubt, dass sie zur Klaviermusik gehören könnten? Der Forscher hatteGlück. „Unter den verstaubten Papieren fand ich einige Blätter, die völlig mit demersten Teil des Konzerts, den Hindemith in sein Skizzenbuch notiert hatte,übereinstimmten. Außerdem stand auf einem Blatt die Anmerkung: ‚Ein Takt fehlt’.Diese Passage kannten wir ebenfalls aus den Skizzenbüchern, in denen der fehlendeTakt ausgeschrieben war. Damit konnten wir aus den Einzelblättern die Teile desPuzzles zusammensetzen.“Zu dem glücklichen Fund kam eine herbe Enttäuschung. Giselher Schubert erkannteauf den ersten Blick, dass es sich nicht um die Handschrift Hindemiths, also nicht umdas Autograph handelte, das der Komponist an den Pianisten geschickt hatte.Offensichtlich hatte Hindemith jemanden mit einer Abschrift beauftragt.Unglaublicherweise kann es sich beim Kopisten nicht um einen Profi gehandelthaben: „Die Handschrift ist übersät mit musikalischen und notationstechnischenFehlern, sogar die Namen Hindemith und Wittgenstein sind mehrmals falschgeschrieben“, berichtet Claus-Dieter Ludwig, der die Ausgabe beim <strong>Schott</strong>-Verlagbetreut. Und vor allem bleibt eine Frage: Wo ist das Autograph? Was hatWittgenstein damit gemacht?Vielleicht wird auch dieses Rätsel eines Tages gelöst werden. Neben dem erhofftenHindemith-Werk hielt Giselher Schubert an jenem Tag in der staubigen New YorkerLagerhalle übrigens noch ein Autograph von Beethoven und eine Urkunde mit deroriginalen Unterschrift Maria Theresias von Österreich in Händen – Schätze vonunvorstellbarem Wert, die fern jeder konservatorischen Sorgfalt in den altenPappkartons aufbewahrt wurden.Jedenfalls konnte der Hindemith-Forscher mit der glücklichen Nachricht nachFrankfurt zurückkehren. Hindemith-Stiftung und <strong>Schott</strong>-Verlag verhandeltengemeinsam mit den New Yorker Anwälten, und nach einigem Hin- und Her ging dasWerk in den Besitz der Hindemith-Stiftung über.Kapitel IV: Eine letzte TückeGlückliches Ende? Noch nicht ganz. Der Forscher durfte die Notenblätter nämlichnicht einfach mitnehmen. Das Konvolut musste aus steuerlichen Gründen per Postnach Frankfurt geschickt werden. Und so meldete sich eines Tages der FrankfurterZoll beim Hindemith-Institut mit der Nachricht, ein Päckchen aus New York seiangekommen. Wie hoch denn bitte der Wert des Inhalts sei? Schubert beriet sich mitseinen Kollegen. Wie sollte nicht nur der Kaufpreis, sondern auch der immenseideelle Wert beziffert werden? Schließlich nannte man eine Summe. Und danngeschah etwas Unglaubliches.„Wir erhielten einen Anruf vom Zoll, das Paket könne nicht zugestellt werden“,berichtet Giselher Schubert. „Es enthalte doch nur ein bisschen Papier, die hoheSumme könne nicht sein, man benötige den materiellen Wert dieser Blätter! Alsokorrigierten wir den Wert um einige Nullen nach unten und gaben den Wert desPäckchens mit fünf Dollar an. Prompt wurde es zugestellt. Als wir es endlich inHänden hielten, haben wir gedacht: Eigentlich waren fünf Dollar viel zu viel,schließlich war das Papier ja schon beschrieben und quasi unbrauchbar…“.Am 9. Dezember 2004, nach über achtzig Jahren, kann die Musikwelt zum ersten Maljenes Konzert hören können, das Hindemith im Alter von achtundzwanzig Jahren als


noch junger, aber schon sehr erfolgreicher Komponist schrieb. Dieser Abend wirdnicht nur für Simon Rattle, den Pianisten Leon Fleisher und die Philharmoniker eineinzigartiges Erlebnis, sondern auch für alle Musikfreunde, die in dieserGeburtsstunde zu Gast in der Philharmonie sein dürfen.© <strong>Christiane</strong> <strong>Krautscheid</strong>Erstabdruck im Magazin der Berliner Philharmoniker

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