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Vortrag Petra Fuchs - BAG GPV

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Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des TerrorsDie Vorgeschichte der NS-„Euthanasie“ reicht bis in das ausgehende 19. und beginnende 20.Jahrhundert zurück und geht mit dem Bedeutungswandel einher, den der aus dem Altertum(Antike) stammende Begriff „Euthanasie“ zu diesem Zeitpunkt erfuhr. 3 Ursprünglich meintedie aus dem Griechischen stammende Bezeichnung einen leichten, schönen Tod im Sinneeines schmerzlosen, würdigen und ehrenvollen Sterbens. Bereits um die Wende vom 18. zum19. Jahrhundert, hatte der niederländische Medizinprofessor Nicolaus Paradys (1740-1812)dem Begriff der „Euthanasie“ erstmals eine spezifisch ärztliche Ausrichtung verliehen. Erdeutete die euthanasia medica, die ärztliche „Euthanasie“ als „die Kunst, den Tod so leicht, soerträglich als möglich zu machen“ und empfahl den Einsatz schwächender Medikamente, denVerzicht auf lebensverlängernde Arzneien, wenn der tödliche Verlauf einer Erkrankung sicherund der Tod absehbar sei und Maßnahmen zur Erleichterung des Sterbens. Allerdings, sobetonte Paradys, dürfe der „Faden des Lebens“ nicht abgeschnitten werden. DieseSterbebegleitung ohne lebensverkürzende Maßnahmen umfasste ärztliche und pflegerischeTätigkeiten am Sterbebett, zu denen neben der Erleichterung durch Medikamente vor allemauch der geistliche Beistand gehörte, der dem Sterbenden die „so nötige Seelenruhe“verschaffen sollte. 4 Die so verstandene „Euthanasie“ galt nach Paradys als Bestandteilärztlicher Aufgaben und Pflichten – allerdings ohne die Grenze aktiver Lebensverkürzung zuüberschreiten.Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (ca.1895-1918)Seit Ende des 19. Jahrhunderts war eine Diskussion um die medizinische Erlösung unheilbarKranker und unerträglich Leidender entbrannt, die ihren Ausgang allerdings nicht in derMedizin, sondern in Literatur und Philosophie genommen hatte. So thematisierte derSchriftsteller Paul Heyse (1830-1914) in seiner Erzählung Auf Tod und Leben aus dem Jahre1885 die Tötung auf Verlangen bei unheilbaren Erkrankungen, sein Kollege Theodor Storm(1817-1888) sprach diesen Aspekt in seiner Novelle Ein Bekenntnis an, die 1887 erschien. Dievon mehreren Seiten aus formulierte Kritik richtete sich auf den § 216 desReichsstrafgesetzbuches von 1871, in dem es hieß: „Ist jemand durch das ausdrückliche undbestimmte Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Gefängnis nichtunter drei Jahren zu erkennen.“ 5 1888 verknüpfte Friedrich Nietzsche (1844-1900) in seinerSchrift Der Kranke als Parasit der Gesellschaft den individuellen Wunsch nachmedizinischer Erlösung von unheilbarem Leiden mit einer gesellschaftlichen Forderung:„Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist esunanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegtieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten2


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des Terrorsund Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist,sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn.“Nietzsche sah Ärzte in der moralischen Pflicht, als „Vermittler dieser Verachtung“ zufungieren. Dem Arzt komme es zu, Verantwortung zu tragen „für alle Fälle, wo das höchsteInteresse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt.“ 6Adolf Jost: Das Recht auf den Tod (1895) und die Diskussion im MonistenbundDer aus Österreich stammende Student der Philosophie, Mathematik und Physik Adolf LotharJost (1874-?) erhob in seiner Streitschrift Das Recht auf den Tod erstmals die Forderung nachFreigabe der Tötung auf Verlangen bei unheilbarer Krankheit. In der Forschungsliteratur zurdeutschen Diskussion um die „Euthanasie“ gilt diese Veröffentlichung aus dem Jahre 1895übereinstimmend als Beginn der modernen Debatte über die „Euthanasie“. Josts zentraleFrage lautete: „’Giebt es ein Recht auf den Tod?’, das heißt, giebt es Fälle, in welchen derTod eines Individuums sowohl für dieses selbst als auch für die menschliche Gesellschaftüberhaupt wünschenswert ist?“ 7 Dem jungen Autor ging es in seinen Ausführungen primärjedoch nicht um die Verteidigung des Suizids, sondern in erster Linie um das „Problem derunheilbar geistig oder körperlich Kranken.“ 8 Jost sprach erstmals vom „Werth des Lebens“,der sich aus zwei Faktoren zusammensetzte, erstens aus dem Wert des Lebens für denbetreffenden Menschen und zweitens aus der „Summe von Nutzen oder Schaden, die dasIndividuum für seine Mitmenschen darstellt.“ 9 Der Wert eines Menschenlebens könne nichtnur auf Null sinken, so Jost, sondern sogar negativ, also zum Unwert werden. 10 Nicht nur derKranke selbst, sondern auch der Staat habe in einem solchen Fall das Recht, dieses Leben zubeenden:„Wir räumen dem Staate […] in gewissen Fällen das Recht ein, das Leben einzelnerIndividuen, oft gegen deren Willen, zu vernichten, wenn es das allgemeine Interesseverlangt. […] Der Staat kann dann doch sagen: ‚Mein Interesse und das Interesse derbetreffenden Personen fordern gleichmäßig bei unheilbaren Leiden den raschen undschmerzlosen Tod, und ich überlasse es daher den Patienten, wenn etwa Krebsdiagnostiziert ist, sich für Tod oder Leben zu entscheiden.’ Bei geistig Kranken geht danngeht dann die Verwaltung dieses Rechtes wieder auf den Staat zurück und es genügt dieDiagnose auf Unheilbarkeit an und für sich, die Tödtung zu vollziehen.“ 11Mit seiner Argumentation überschritt Adolf Jost bereits die Grenze zwischen Tötung aufVerlangen und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, und er verband seine Forderung mitder Bewertung des menschlichen Lebens nach seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit. 123


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des TerrorsDer Sozialdarwinist Ernst Haeckel: Die Lebenswunder (1904)Nach dem in den Jahren 1901/02 die Initiativen des Invaliden J. Richter aus Kreischa/Sachsenund des Breslauer Oberlandesgerichtsrats Wilutzky zur Legalisierung der Freigabe der Tötungauf Verlangen gescheitert waren, stellte die Zeitschrift „Das monistische Jahrhundert“ 1913den Gesetzesvorschlag des lungenkranken Roland Gerkan (?-1913) zur Sterbehilfe zurDiskussion. Die Zeitschrift war das Organ des 1906 von dem Zoologen und undNaturphilosophen Ernst Haeckel (1834-1919) in Jena gegründeten Monistenbundes. 13Ausgehend von der Darwinschen Evolutionstheorie vertraten die 6.000 zumeist akademischgebildeten Mitglieder unter Leitung des Chemienobelpreisträgers Wilhelm Ostwald (1853-1932) eine auf naturgesetzlicher Grundlage beruhende einheitliche Weltanschauung(insbesondere Deszendenztheorei=) und grenzten sich scharf gegenüber christlichdogmatischenAnschauungen ab. 14 Der Monistenbund vertrat keine einheitliche politischeRichtung, so dass sich unter seinem Dach sozialreformerische, sozialistische und pazifistischePositionen ebenso wiederfanden wie sozialdarwinistische und nationalistische Anschauungen.Das Bundesmitglied Gerkan forderte in Paragraph 1 seines Gesetzesvorschlages: „Werunheilbar krank ist, hat das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie).“ Der unheilbar kranke undqualvoll leidende Mensch werde von einer überkommenen Rechtsordnung daran gehindert,klagte Gerkan, von seinem Leiden erlöst zu werden. Grausamer als ein Tier lasse ihn dieGesellschaft leiden:„Zu all dem gesellt sich noch das penigende Bewußtsein, daß ich meinen Angehörigenschwer zur Last falle. Wenn auch die Opfer an Zeit, Arbeitskraft und Geld mir gern undmit liebevoller Hingebung gebracht worden – ein schändlicher Schmarotzer bleibe ichdarum doch. Welch eine herzzerreißende und dabei doch groteske Energievergeudung,wenn man Aufwand und Erfolg gegeneinander abwägt.“ 15Zu dem Gefühl sinnlosen Leidens und der Abwägung von materiellem wie ideellem Aufwandund Nutzen gesellte sich die Verneinung der Sinnhaftigkeit von Pflege und persönlicherZuwendung bei unheilbarer Krankheit und tödlichem Leiden. Nach Gerkans Vorstellung hattenur der gesunde und arbeitsfähige Mensch ein uneingeschränktes Lebensrecht. Entsprechendsollte „Euthanasie“ von der zuständigen Gerichtsbehörde auf ausdrücklichen Wunsch desKranken eben dann gewährt werden, wenn„nach der wissenschaftlichen Überzeugung der untersuchenden Ärzte ein tödlicherAusgang der Krankheit wahrscheinlicher ist, als die Wiedererlangung dauernderArbeitsfähikeit.“ (§ 4) 164


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des TerrorsDiese Regelung ließ offen, was mit denjenigen Kranken geschehen sollte, die dauerhaftarbeitsunfähig oder nur eingeschränkt arbeitsfähig waren, ohne bereits im Sterben zu liegen,wie zeitgenössische Stimmen kritisch bemerkten. 17Schwäche und Krankheit, das Schwinden oder der Verlust der Arbeitskraft und dieAbhängigkeit von Pflege und Zuwendung anderer ließen nach Gerkans Auffassung den Wertdes menschlichen Lebens negativ werden. Zwar beanspruchte er Mitleid mit eben diesemnegativ bewerteten Menschenleben, doch bewegte sich seine Deutung dieses Begriffeszwischen Betroffenheit und Verachtung und beinhaltete keinesfalls solidarisches Einfühlen indas leidende menschliche Gegenüber. Die Unerträglichkeit der Leidenszustände mündete inden Wunsch, diese zu beseitigen, auch um den Preis der Tötung der Betroffenen.Der Vorschlag Gekans stieß sowohl auf Zustimmung als auch auf Kritik. Der Arzt Max Beeraus Barmen wies 1914 ausdrücklich auf die Gefahr eines „Dammbruchs“ hin:„Ist einmal die Scheu vor der Heiligkeit des Lebens vermindert, die freiwillige Sterbehilfefür die geistig gesunden Unheilbaren und die unfreiwillige für die Geisteskrankeneingeführt, wer steht dann dafür, dass man dabei Halt macht?“ 18Neben dem Einwand, der Gerkansche Gesetzesentwurf grenze den für die „Euthanasie“ inFrage kommenden Personenkreis nicht scharf genug ab und anderen Beanstandungen wog fürdie Kritiker besonders schwer, dass Gerkan „Sieche und Krüppel“ einbezogen hatte. Damithatte er die „Euthanasie“ über die Sterbehilfe für Todkranke im Stadium der Agonie hinausauf chronisch kranke und (körperlich) behinderte Menschen – unabhängig von derenLebenserwartung – ausgedehnt.Der naturalistische Monismus bildete einen fruchtbaren Nährboden für die verschiedenenAusprägungen des „Eutahansie“-Gedankens. Hatte sich der Gründer und Ehrenvorsitzendedes Bundes, Ernst Haeckel, in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868; 2. Ausg. 1870)noch zurückhaltend für die „Kindereuthanasie“ ausgeprochen, so lobte er die Praxis derTötung behinderter Kinder in der Antike in seinem vielbeachteten Werk Die Lebenswunderaus dem Jahr 1904 ausdrücklich. 19 Die„Tötung von neugeborenen verkrüppelten Kindern, wie sie z.B. die Spartaner behufs derSelection der Tüchtigsten übten“, könne „vernünftiger Weise gar nicht unter den Begriffdes Mordes fallen, wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehrmüssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten wie für dieGesellschaft nützliche Maßregel billigen.“ 20Grundsätzlich teilte Haeckel die Befürchtungen der Rassenhygieniker hinsichtlich dervermeintlichen Zunahme unheilbarer Krankheiten und deren hohen Verbreitungsgrad. Er gingallein von einer Zahl von 200.000 unheilbaren „Geisteskranken“ in Europa aus 21 und forderte5


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des Terrorsnun auch die Freigabe der Tötung unrettbarer Kranker „auf Verlangen“. Angesichts derTatsache, dass viele dieser Unheilbaren und schwer Leidenden ihren Tod wünschten, stelltesich Haeckel die Frage, „ob wir als mitfühlende Menschen berechtigt sind, ihren Wunsch zuerfüllen und ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen“. 22 Als bestimmendesMotiv für den Gnadentod nannte er Mitleid, das unheilbar Kranken ebenso zukommen solltewie in hohem Alter hoffnungslos erkrankten Haustieren. 23 Haeckel argumentierte auchutilitaristisch – also die Kosten und den Nutzen abwägend – und öknomisch und setzte denWert eines Menschenlebens immer auch in Beziehung zur Gesellschaft. Ausdrücklich nahmer Bezug auf die „unheilbar Geisteskranken“, die in den modernen Kulturstaaten „künstlicham Leben gehalten würden ohne irgendeinen Nutzen für sich selbst oder für dieGesammtheit“. 24 Er warf die Frage auf, „welche Verluste an Privatvermögen undStaatskosten“ durch Krankentötungen eingespart werden könnten und deutete drei Formen der„Euthanasie“ an:1. „Unheilbar Geisteskranke“, Krebskranke und Aussätzige sollten auf Verlangen getötetwerden können, wobei er die Frage der Zurechnungsfähigkeit psychisch Erkrankteraussparte, 252. Neugeborene Kinder, die „verkrüppelt“, geistig behindert oder „taubstumm“ (gehörlos)zur Welt kamen, sollten unmittelbar nach der Geburt getötet werden können 26 und3. die Todesstrafe, die Haeckel im weitesten Sinne rechnete zum Töten aus Mitleid rechnete,da er sie für weniger grausam hielt als eine lebenslange Freheitsstrafe, sollte auf Mörderund Gewohnheitsverbrecher angewendet werden, deren Taten als erblich bedingt galten. 27Sozialdarwinismus, Rassenhygiene/Eugenik: Alfred PloetzDer Gedanke der Neugeborenen-„Euthanasie“, wie ihn Haeckel geäußert hatte, spielte auch inder zeitlich parallel geführten rassenhygienischen bzw. eugenischen (erbpflegerischen)Diskussion eine Rolle. So galten für den Mediziner Alfred Ploetz (1860-1940), Begründer derRassenhygiene in Deutschland, die spartanischen Kindestötungen als Vorbild für die von ihmentwickelte rassenhygienische Utopie eines idealen Staates. In seiner 1895 veröffentlichtenSchrift Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen plädierte er für die„Ausmerze“ kranker und behinderter Neugeborener als erbpflegerische Maßnahme:„Stellt es sich trotzdem heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches und missratenesKind ist, so wird ihm vom Aerzte-Collegium [sic!], das über den Bürgerbrief derGesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine DosisMorphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassensich nicht lange rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweitesMal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugniss über Fortpflanzungsbefähigung erlaubt ist.“ 28Die Rassenhygiene stützte sich auf die seit etwa 1860 verbreitete Lehre desSozialdarwinismus. Diese übertrug die von dem englischen Naturforscher Charles Darwin6


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des Terrors(1808-1882) aufgestellten biologischen Entwicklungsgesetze auf die menschlicheGesellschaft. 29 Das Darwinsche Prinzip, nach dem im „Kampf ums Dasein“ stets diebestangepaßten Arten überlebten (Evolution durch Selektion), trug letztlich zu einerbiologistischen Sicht des Sozialen bei. Die menschliche Gesellschaft, verstanden alsbiologischer Organismus, der Volkskörper, sah sich jedoch der Gefahr der „Entartung“ undDegeneration ausgesetzt, denn die Errungenschaften der modernen Zivilisation,Wohlfahrtspflege und Medizin, verhinderten die „natürliche“ Auslese und führten zu einerdramatischen Vermehrung genetisch „Minderwertiger“. Als bevölkerungspolitischeGegenmaßnahmen zur sozialen „Ausscheidung der Schwachen“ stellten Vertreter derRassenhygiene die Asylierung – also Absonderung bestimmter Bevölkerungsgruppen wie z.B.Gewohnheitsverbrecher – und Sterilisierung, z.B. von „Geistesschwachen“ bzw.„Geisteskranken“, in den Vordergrund ihrer bevölkerungspolitischen Forderungen (negativeEugenik).Die Frage der „Euthanasie“, insbesondere die eingangs zitierte Forderung nach Tötungbehinderter Neugeborener, wurde zwar nicht immer ausdrücklich als rassenhygienischeForderung formuliert, als Gedankenmodell war sie jedoch durchaus von Bedeutung. So sahder führende Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887-1976) die Tötung behinderter Neugeborenerweniger als eine erbpflegerische Notwendigkeit, denn die Fortpflanzungsgefahr bei diesenKindern sei gering, allerdings hielt er „die altspartanische Aussetzung mißratener Kinder[…]“ für „ungleich humaner als die gegenwärtig im Namen des ‚Mitleids’ geübte Aufzuchtder unglücklichsten Geschöpfe.“ 30 Lenz gab jedoch zu Bedenken, dass durch die Freigabe derTötung Neugeborener die Achtung vor dem menschlichen Leben grundsätzlich eingeschränktbzw. verloren gehen könnte. An diesem Beispiel wird deutlich, dass rassenhygienischeForderungen und „Euthanasie“-Debatte nicht voneinander abhängig waren, d.h. werAnhänger der Rassenhygiene war, mußte nicht notwendigerweise die „Euthanasie“befürworten. Umgekehrt waren nicht alle Befürworter der Freigabe der „Euthanasie“gleichzeitig Vertreter rassenhygienischer Forderungen. Gemeinsam sind beiden Diskursenihre Wurzeln im Sozialdarwinismus und in der Sprachgebung.Karl Binding und Alfred Erich Hoche - „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwertenLebens“ (1920)Mit der Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihreForm, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, 1920, erschienen, erreichte die Debatte um die„Euthanasie“ eine neue Dimension. Die subjektiv als Trauma erlebte deutsche Niederlage im7


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des TerrorsKrieg nährte eine Wut auf das Heer der „unheilbar Kranken“ und „Schwachen“, von dem eshieß, es sei in den Anstalten künstlich am Leben gehalten worden, während die Besten desVolkes auf den Schlachtfeldern ihr Leben gegeben hätten. Zwar traf dieser Mythos in keinerWeise zu, denn Tausende von Anstaltspatient_innen waren verhungert oder an Auszehrungund Krankheiten zu Grunde gegangen, 31 dennoch trug er zur Radikalisierung der Debatte umdie „Euthanasie“ bei, die 1920 mit der Verööfentlichung der Schrift Die Freigabe derVernichtung lebensunwerten Lebens ihren Höhepunkt erreichte.Die Autoren, der führende deutsche Strafrechtler Karl Binding (1841-1920) 32 und derPsychiater und Ordinarius für Neroptahologie in Freiburg, Alfred Erich Hoche (1865-1943;Suizid), traten darin für die Legalisierung der „Euthanasie“ ein und unterschieden dreiGruppen von Menschen, für die eine Freigabe der Tötung in Betracht kam:1. die erste Gruppe umfasste Menschen, „die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbarVerlorenen, die in vollem Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösungbesitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben“. 33 Darunter fielen nachBinding unheilbar Krebskranke, unrettbar an TBC Erkrankte und tödlich Verwundete. DieFreigabe der Tötung bezeichnete er als „Pflicht gesetzlichen Mitleids“, wobei der Krankeentscheiden sollte, ob er das verlorene Leben noch tragen kann. 342. die zweite Gruppe bestand „aus den unheilbar Blödsinnigen – einerlei ob sie so geborenoder etwa wie die Paralytiker [Gelähmten] im letzten Stadium ihres Leidens so gewordensind.“ 35 Für diese Gruppe besteht nach Binding kein staatlicher Lebensschutz, ihnen wirdjeder Lebenswille angesprochen: „Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben.So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt dieseauf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste.“ 36 Die Tötung dieser Menschenwird gerechtfertigt durch die Zwecklosigkeit ihres Lebens und die Belastung derGesellschaft wie ihrer Angehörigen. Darüber hinaus appelliert Binding jedoch an tiefwurzende Gefühle, nicht Mitleid, sondern Abscheu ist das Tötungsmotiv, denn dieunheilbar Blödsinnigen seien „das furchtbare Gegenbild echter Menschen“, die „fast inJedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet.“ 373. Darüber hinaus gebe es eine dritte „Mittelgruppe“, die der „geistig gesundenPersönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis, etwa sehr schwere, zweifellos tödlicheVerwundung, bewußtlos geworden sind und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit nocheinmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden.“ 38 Die Tötungdieser Menschen ist nach Binding durch das unterstellte Tötungsverlangen gerechtfertigt,auch wenn jeder Einzelfall gesondert betrachtet werden müsste.8


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des TerrorsHoche kategorisierte die zu erlösenden Menschengruppen als „geistig Tote“, „deren Existenzam schwersten auf der Allgemeinheit lastet“. 39 Ökonomische Gründe rechtfertigten dieTötung dieser „Defektmenschen“ und „Ballastexistenzen“. Hoche errechnet die Kosten derUnterbringung von etwa 20.000 bis 30.000 Menschen in Heil- und Pflegeanstalten bei einerLebenserwartung von durchschnittlich 50 Jahren, um zu zeigen, welch „ein ungeheuresKapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, dem Nationalvermögen füreinen unproduktiven Zweck entzogen wird.“ 40Bis hin zur Gleichsetzung „geistig Toter“ mit den tief unten stehenden Tieren ist der in meinerEinleitung am Beispiel der NS-„Euthanasie“-Opfer Annegret Beier und Hermine Neussskizzierte radikale Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft vorgedacht.Die Schrift Bindings und Hoches löste in der Weimarer Republik eine kontroverse Diskussionaus. Neben ablehnenden Stellungnahmen gab es auch befürwortende Stimmen der Freigabeder „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In diesem Zusammenhang ist die Studie vonEwald Meltzer (1869-1840) hervorzuheben, die einen Eindruck von der Einstellung derBevölkerung zur „Euthanasie“ behinderter Kinder gibt. Meltzer, Direktor einer Einrichtungfür geistig behinderte Kinder in Sachsen führte 192ß eine Befragung unter 200 Eltern„blödsinniger“ Mädchen und Jungen durch. Die Frage, ob sie in die „Erlösung“ ihrer Kindereinwilligen würden, beantworteten 119 der Befragten mit „ja“, 43 mit „nein“ 41 .SchlussDie Binding/Hochesche Schrift bildete die gedankliche und intellektuelle Basis der„Euthanasie“ in der Zeit des NS. Ökonomische Erwägungen haben sich als dasHauptkriterium der Selektion im Rahmen des Krankenmordes durch empirische Forschungbestätigt. Das so viel zitierte Argument von der „schiefen Ebene“ (slippery slope), dasAlexander Mitscherlich 1949 formulierte scheint mir noch immer zutreffend zu sein:„Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte. Es begann mitder Akzeptanz der Einstellung, dass es bestimmte Leben gibt, die es nicht wert sind, gelebt zuwerden. Diese Einstellung umfasste in ihrer frühen Ausprägung die ernsthaft und chronischKranken. Allmählich wurde der Kreis derjenigen, die in diese Kategorie einbezogen wurden,ausgeweitet….es ist wichtig zu erkennen, dass die unendlich kleine Eintrittspforte, von deraus diese ganze Geisteshaltung ihren Lauf nahm, die Einstellung gegenüber nichtrehabilitierbarer Krankheit war.“ Mitscherlich (1947)Archivalien und LiteraturBundesarchiv Berlin (Barch), Kanzlei des Führers, Hauptamt II b, Bestand R 179, Nr. 24496 und Nr.24884.9


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des TerrorsBenzenhöfer, Udo: Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München2009.Binding, Karl, Hoche, Alfred E.: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens: ihr Maß undihre Form, Leipzig: Meiner 1920.Darwin, Charles: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung derbegünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein, nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichenVorrede und andern Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe aus dem Englischenübersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. H. G. Bronn, Stuttgart 1860.Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg i. Br. 1998.Gerkan, Roland: Euthanasie, in: Das monistische Jahrhundert 2 (1913), Nr. 7, S. 169-173.Haeckel, Ernst: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie.Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträthsel, Stuttgart 1904.Haeckel, Ernst: Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre,Berlin 1915.Hohendorf, Gerrit: Ideengeschichte und Realgeschichte der nationalsozialistischen "Euthanasie" imÜberblick, in: <strong>Fuchs</strong>, <strong>Petra</strong>, Rotzoll, Maike, Müller, Ulrich, Richter, Paul, Hohendorf, Gerrit(Hg.), "Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst". Lebensgeschichten vonOpfern der nationalsozialistischen "Euthanasie", Göttingen 2007, S. 36-52.Jost, Adolf: Das Recht auf den Tod. Sociale Studie, Göttingen 1895.Jütte, Robert, Eckhardt, Wolfgang U., Schmuhl, Hans-Walter, Süß, Winfried: Medizin undNationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011.Kaßler, [?]: Das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie), in: Deutsche Strafrechts-Zeitung 2 (1915), S. 203-204.Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik), München, 3. Aufl. 1931.Ewald Meltzer: Das Problem der Abkürzung des 'lebensunwerten' Lebens, Halle a.S. 1925.Mitscherlich, Alexander, Mielke, Fred: Das Diktat der Menschenverachtung. Aus der deutschenÄrztekomission beim amerikanischen Militärgericht I in Nürnberg. Eine Dokumentation vomProzeß gegen 23 SS-Ärzte und deutsche Wissenschaftler, Heidelberg 1947.Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, Leipzig 1889.Nowak, Kurt: „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation derevangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkrankenNachwuchses“ und der „Euthanasie“-Aktion, Göttingen 1978.Ploetz, Alfred: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch ÜberRassenhygiene und ihr Verhältniss zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus, Berlin1895.Roelcke, Volker: "Ars moriendi" und "euthanasia medica": Zur Neukonfiguration und ärztlichenAneignung normativer Vorstellungen über den "guten Tod" um 1800, in: Dietrich Engelhardt(Hg.), Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext, Würzburg2006, S. 29-44.Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zurVernichtung "lebensunwerten Lebens", 1890-1945, 2. Aufl., Göttingen 1992 (Erstaufl. 1987).Schmuhl, Hans-Walter: Eugenik und "Euthanasie" - Zwei Paar Schuhe? - Eine Antwort auf MichaelSchwartz, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), 757-762.Wilutzky, [?]: Dem Hunde einen Gnadenstoß, dem Menschen keinen, in: Das Recht 5 (1901), S. 458,zit. n. Grübler, Gert (Hg.): Quellen zur deutschen Euthanasie-Diskussion 1895-1941, Berlin 2007,S. 60-61.1 Barch R 179/24496, zit. n. Hohendorf 2007, 38.2 Barch, R 179/24884, zit. n. Hohendorf 2007, 38.3 Jütte u.a. 2011; Benzenhöfer 2009.4 Roelcke 2006.5 Vgl. Benzenhöfer 2009, 81; Nowak 1978, 45.6 Nietzsche 1889, 101f., Hervorhebg. i.O.7 Jost 1895, 1.8 Ebd.10


Gegen das Vergessen: Aus der Geschichte lernenBegleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisationam 31. August 2012 in Berlin in der Stiftung Topographie des Terrors9 Ebd., 13.10 Ebd., 26.11 Ebd., 32.12 Benzenhöfer 2009.13 Näheres siehe Schmuhl 1992, 210.14 Hohendorf 2007, 51.15 Gerkan 1913, 172f.16 Ebd., 170, 171.17 Schmuhl 1992, 112.18 Zit. n. Benzenhöfer 2009, 88; Kaßler 1915, 204; Schmuhl 1992, 114.19 Haeckel 1904.20 Ebd., 23.21 Ebd., 130f., 135f.22 Ebd., 132.23 Ebd., 132; vgl. auch Wilutzky 1901, 458.24 Haeckel 1904, 134.25 Ebd., 131, 135f.; Haeckel 1915, 34.26 Haeckel 1904, 137; Haeckel 1915, 34f.27 Haeckel 1904, 128; Haeckel 1915, 34.28 Ploetz 1895, 144.29 Darwin 1859, deutsch: 1860.30 Lenz 1931, 306.31 Faulstich 1998, 55-59.32 Binding befand sich zu dieser Zeit bereits im Ruhestand.33 Binding/Hoche 1920, 29.34 Ebd., 31.35 Ebd., 31.36 Ebd., 31.37 Ebd., 32.38 Ebd., 33.39 Ebd., 53.40 Ebd., 54.41 Meltzer 1925, 88.11

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