Aon Holdings Austria - Kammer der Architekten und ...
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Von oben Von oben sieht man nicht, wie hoch oben<br />
das Wetter-Observatorium liegt. „Wolkenhaus“<br />
war sein ursprünglicher Name, „Sonnblick“ ist sein<br />
euphemistisch-offizieller, „Nebelblick“ sein unter<br />
Meteorologen üblicher Name. Der höchstgelegene<br />
Arbeitsplatz Österreichs befindet sich auf 3106 m<br />
inmitten des Nationalparks Hohe Tauern. Kontinuierliche<br />
Messreihen seit mehr als 125 Jahren sind<br />
in Zeiten <strong>der</strong> Klimakrise ein Kapital, von dem man<br />
nie geahnt hätte, dass es eines Tages so hoch im<br />
Kurs steht.<br />
Fern <strong>der</strong> Zivilisation kann man hier von Emis-<br />
sionen unbehelligt forschen. Das macht die Daten<br />
so rein wie die Luft, <strong>der</strong>en nahezu homöopathische<br />
Verunreinigungen hier störungsfrei messbar wer-<br />
den. Gewandelt haben sich die gestellten Fragen.<br />
1886 wollte man die höheren Luftschichten erforschen.<br />
In den 1970er-Jahren den „sauren Regen“.<br />
Heute die Rückbildung <strong>der</strong> Gletscher, radioaktive<br />
Grüße aus Fukushima <strong>und</strong> die Erwärmung <strong>der</strong><br />
Erde. Immer aufwendiger wurde die Messtechnik.<br />
Manche Apparate erzeugen so viel Abwärme, dass<br />
in <strong>der</strong> Hütte Unterdruck hergestellt werden muss,<br />
um die Messgenauigkeit nicht zu gefährden. Die<br />
heiße Luft wird über einen 20 m hohen Turm<br />
ausgeblasen. Die Hütte saugt <strong>und</strong> atmet! Aber auch<br />
das sieht man natürlich nicht, von oben betrachtet.<br />
Wolfgang Pauser �<br />
285<br />
285, Zeitschrift <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eskammer <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten<br />
März 2012, www.daskonstruktiv.at, Euro 9,– | gz 12z039152 m | vpa 1070 Wien<br />
285,<br />
an<strong>der</strong>s als geWohnt Kein Zweifel, die Frage nach dem<br />
„weiter wohnen wie gewohnt“ stellt sich<br />
unter wechselnden gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Bedingungen seit dem Beginn des<br />
bürgerlichen Zeitalters um 1800 immer wie<strong>der</strong> aufs Neue.<br />
Das wird auch so bleiben – eine ebenso spannende<br />
wie anspruchsvolle Herausfor<strong>der</strong>ung für alle, die sich<br />
mit dem facettenreichen Wohnungswesen befassen.
2 | 3<br />
Inhalt<br />
7<br />
8 – 11<br />
12 – 15<br />
16 – 17<br />
18 – 21<br />
22 – 24<br />
25 – 27<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
an<strong>der</strong>s als geWohnt<br />
285<br />
Editorial, Pendls Standpunkt<br />
Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt<br />
Standpunkte: Rudolf Kolbe, Klaus Thürriedl, Alfred Brunnsteiner<br />
Plus / Minus: Shared Space Thomas Pilz / Hans-Peter Auer<br />
Weiter wohnen wie gewohnt? | Vom Wohnen <strong>und</strong> dem Wohnungsbau aus<br />
soziologischer <strong>und</strong> sozialpsychologischer Sicht Susanne Gysi<br />
Wohnen in Österreich – Zwischen Hauseigentum <strong>und</strong> Miete |<br />
Aktuelle Wohnungsmarktstrukturen <strong>und</strong> künftige Entwicklungen Josef Kohlbacher & Ursula Reeger<br />
Sozialer <strong>und</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>ter Wohnbau in Zeiten des Finanzkapitalismus |<br />
Über die Ökonomisierung aller Lebensbereiche Andreas Rumpfhuber<br />
wohn-ware standby | Technikkonzepte für zu Hause Renate Hammer & Peter Holzer<br />
Partizipation als Innovation im Wohnbau |<br />
Über Selbstorganisation, Urbanitätskerne <strong>und</strong> Stadtmotoren Robert Temel<br />
Wohnraum <strong>und</strong> Gesellschaft |<br />
Vergleichende Reflexionen von Europa <strong>und</strong> den USA Elisabeth Lichtenberger<br />
32 – 35 Wirtschaftliche Standortbestimmung <strong>der</strong> Branche |<br />
Durchgeführt von Triconsult im Auftrag <strong>der</strong> bAIK<br />
36 – 37 Die Integrationsmaschine |<br />
Über Doug Saun<strong>der</strong>s’ bahnbrechendes Buch „Arrival City“ Michael Krassnitzer<br />
40 Empfehlungen<br />
41 Jüngste Entscheidung, Krassnitzers Lektüren<br />
42 Porträt: Josef Linsinger | Magdalena Klemun<br />
43 Fehlanzeige, Das nächste Heft<br />
44 Von oben<br />
Impressum<br />
Medieninhaber <strong>und</strong> Herausgeber<br />
Erscheinungsweise<br />
Auflage<br />
Einzelpreis<br />
Abopreis pro Jahr<br />
Redaktion, Anzeigen & Aboverwaltung<br />
Redaktionsteam<br />
Redaktionsbeirat<br />
konstruktiv 285<br />
B<strong>und</strong>eskammer <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong><br />
<strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten (bAIK)<br />
1040 Wien, Karlsgasse 9<br />
T: 01-505 58 07-0, F: 01-505 32 11<br />
www.daskonstruktiv.at<br />
vier Mal jährlich<br />
13.300 Stück<br />
9,00 Euro<br />
24,00 Euro<br />
art:phalanx Kunst- <strong>und</strong> Kommunikationsbüro<br />
Clemens Kopetzky (Geschäftsleitung)<br />
Susanne Hai<strong>der</strong>, Sebastian Jobst, Heide Linzer<br />
1070 Wien, Neubaugasse 25 /1 /11<br />
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redaktion@daskonstruktiv.at, anzeigen@<br />
daskonstruktiv.at, abo@daskonstruktiv.at<br />
arge Walter Bohatsch / Reinhard Gassner, Gerald<br />
Fuxjäger (Präsident <strong>der</strong> <strong>Kammer</strong> <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong><br />
<strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten für Steiermark <strong>und</strong><br />
Kärnten), Georg Pendl (Präsident <strong>der</strong> bAIK), Rudolf<br />
Kolbe (Vizepräsident <strong>der</strong> bAIK <strong>und</strong> Präsident <strong>der</strong><br />
<strong>Kammer</strong> <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten<br />
für Oberösterreich <strong>und</strong> Salzburg), Sabine<br />
Oppolzer (Kulturjournalistin), Wolfgang Pauser<br />
(Konsumforscher & Berater), Walter Stelzhammer<br />
(Präsident <strong>der</strong> <strong>Kammer</strong> <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong><br />
Ingenieurkonsulenten für Wien, Nie<strong>der</strong>österreich<br />
<strong>und</strong> Burgenland)<br />
Lektorat<br />
Gestaltung<br />
Druck<br />
Abbildungen<br />
F. = Fotograf<br />
A. = Architekt<br />
Dorrit Korger<br />
Gassner Redolfi, Schlins<br />
Bohatsch <strong>und</strong> Partner, Wien<br />
Ueberreuter Print GmbH, Korneuburg<br />
Gedruckt auf SoporSet Premium<br />
Seite 3: F.: Dietmar Tollerian / Konzept: Andreas<br />
Strauss | Seite 4: Ingo Pertramer, Andrea Maria Dusl<br />
| Seite 5: ©<strong>Kammer</strong> <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong> Ingenieur-<br />
konsulenten | Seite 7 – 21: Filip Dujardin | Seite 15,<br />
20: Grafik: Gassner Redolfi/Bohatsch <strong>und</strong> Partner |<br />
Seite 23: ©>kabelwerk< bauträger gmbh | Seite 24:<br />
Per Hoffmann Olsen, A.: Franz Kuzmich | Seite 26:<br />
Archiv Gabriele Reiterer | Seite 27: Siemens Cor-<br />
porate Archives, Mark Faviell | Seite 32 – 35: Grafik:<br />
Gassner Redolfi/Bohatsch <strong>und</strong> Partner | Seite 36:<br />
Sue Ann Harkey | Seite 37: Peter Gugerell | Seite 40:<br />
www.mediathek.at, Adam & Harborth, www.<br />
thewil<strong>der</strong>nessdowntown.com | Seite 42: Josef<br />
Linsinger | Seite 43: André Krammer, F.: Frank<br />
Kleinbach, Installation: Peter Dittmer | Seite 44:<br />
Land Salzburg, Landesplanung <strong>und</strong> sagis<br />
Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber,<br />
Rechtsnachfolger <strong>und</strong> Werknutzungsberechtigten,<br />
die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle<br />
des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung,<br />
Veröffentlichung <strong>und</strong> Verwertung von<br />
Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen<br />
dieser Publikation um Kontaktaufnahme.<br />
Das Gestaltungskonzept dieser Zeitschrift ist<br />
urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung<br />
außerhalb <strong>der</strong> Grenzen des Urheberrechts ist<br />
unzulässig. Die Texte, Fotos, Plandarstellungen<br />
sind urheberrechtlich geschützt.<br />
Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz ist auf<br />
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die sich nicht mit <strong>der</strong> des Herausgebers o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Redaktion decken muss. Für unverlangte<br />
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gemäße textliche Überarbeitung behält sich<br />
die Redaktion vor.<br />
Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen<br />
Beiträge <strong>und</strong> Abbildungen sind urheberrechtlich<br />
geschützt.<br />
Zugunsten <strong>der</strong> Lesbarkeit wird, wenn von den<br />
Autorinnen <strong>und</strong> Autoren nicht an<strong>der</strong>s vorgesehen,<br />
auf geschlechtsspezifische Endungen verzichtet.<br />
Das Zitat auf dem Titel wurde dem Text<br />
„Weiter wohnen wie gewohnt? Vom Wohnen<br />
<strong>und</strong> dem Wohnungsbau aus soziologischer <strong>und</strong><br />
soziopsychologischer Sicht“ von Susanne Gysi<br />
entnommen.<br />
Fehlanzeige Verordneter Anachronismus Die Stellplatzverpflichtung, insbeson<strong>der</strong>e<br />
die Koppelung von Wohneinheit <strong>und</strong> Stellplatz, ist ein problematisches Erbe einer längst überholten<br />
Planungsdoktrin. Das Regulativ wurde hierzulande erstmals in <strong>der</strong> ns-Zeit in <strong>der</strong> Bauordnung verankert<br />
<strong>und</strong> wurde auch in <strong>der</strong> Zeit nach 1945 zu einem unhinterfragten Dogma <strong>der</strong> „autogerechten Stadt“.<br />
Aber nicht nur aus ökologischen Gründen handelt es sich um eine unzeitgemäße Verordnung. Auch die<br />
Statistik – ca. 40 % <strong>der</strong> Wiener Haushalte verfügen beispielsweise über kein eigenes Auto – spricht gegen<br />
die Errichtung eines Stellplatzes pro Wohneinheit, wie es etwa das Wiener Garagengesetz verlangt.<br />
Partielles Umdenken hat zu Klauseln geführt, die Ausnahmeregelungen im Bebauungsplan erlauben.<br />
Einzelne Pilotprojekte mit reduziertem Stellplatzschlüssel o<strong>der</strong> gar autofreie Mustersiedlungen sind<br />
entstanden. Eine generelle Hinterfragung des Regulativs hingegen ist ausgeblieben. Dabei könnten frei<br />
werdende Mittel beim Entfall teurer <strong>und</strong> nicht benötigter Garagenfläche sinnvoll investiert werden,<br />
etwa in die Erhöhung <strong>der</strong> Wohn- <strong>und</strong> Außenraumqualität. André Krammer �<br />
Schalten <strong>und</strong> Walten [Die Amme – Die Amme_5]<br />
von Peter Dittmer<br />
Im Rahmen dieser Installation tritt <strong>der</strong><br />
Museumsbesucher mit einer Maschine<br />
in Dialog, regelrecht wi<strong>der</strong>spenstig geht sie<br />
dabei mit Fragen <strong>und</strong> Bemerkungen um <strong>und</strong><br />
legt die Grenzen <strong>der</strong> Kommunikation zwischen<br />
Mensch <strong>und</strong> Computer frei. Die aufgezeich-<br />
neten Dialoge <strong>und</strong> nähere Informationen sind<br />
unter www.dieamme.de zu finden.<br />
Das nächste Heft Digitalisierung ist mehr als die elektronische<br />
Speicherung von Information, die Übersetzung in<br />
eine binäre Sprache ist vielmehr eine Interpretation <strong>der</strong><br />
eigentlichen Information. Denn die innere Logik eines jeden<br />
digitalen Systems lässt nur zwei Werte zu. Daraus ergibt<br />
sich, dass die Maschine nur in Stufen „denken“ kann <strong>und</strong><br />
dennoch – o<strong>der</strong> gerade deshalb – ermöglichen computergestützte<br />
Berechnungen Planungen <strong>und</strong> Entwürfe, die <strong>der</strong><br />
Mensch auf sich allein gestellt nicht bewältigen kann.<br />
Das scheint nur natürlich, hat sich <strong>der</strong> homo faber doch<br />
immer schon Werkzeuge geschaffen, um seine Umwelt zu<br />
manipulieren. Ungewöhnlich scheint vielmehr die Erfindung<br />
eines Werkzeugs, dessen innere Logik so fremd ist.<br />
Das kommende Heft wird sich daher <strong>der</strong> Frage widmen,<br />
wie sehr die Digitalisierung <strong>der</strong> Welt bereits vorangeschritten<br />
ist <strong>und</strong> zu welchem Ergebnis das führt.
Editorial<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
an<strong>der</strong>s als gewohnt o<strong>der</strong> weiter wohnen wie<br />
gehabt? Synonyme für Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong>/o<strong>der</strong><br />
Stillstand? Der Strukturwandel <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wertepluralismus<br />
in unserer Gesellschaft for<strong>der</strong>n<br />
ihr Tribut in vielen Bereichen unseres alltäglichen<br />
Lebens. „Verän<strong>der</strong>ung von Haushaltsformen<br />
<strong>und</strong> Wohnweisen“ so die Schweizer<br />
Sozialwissenschaftlerin Susanne Gysi, „lassen<br />
sowohl wandelnde Normen <strong>und</strong> Werthaltungen<br />
als auch demografischen Wandel <strong>und</strong><br />
Pendls Standpunkt<br />
Wohnbau, insbeson<strong>der</strong>e sozialer wohnbau<br />
hat in österreich höchstes niveau. Das zeigen<br />
auch wie<strong>der</strong> die artikel in diesem heft. Wohnungen<br />
sind leistbar, auch für finanzschwächere,<br />
<strong>und</strong> das bei hoher qualität hinsichtlich<br />
energiestandard, nachhaltigkeit, freiraumgestaltung<br />
<strong>und</strong> nicht zuletzt des kerns <strong>der</strong> uns<br />
betreffenden aufgabe, <strong>der</strong> architektur. Kritik<br />
am wohnbau bewegt sich daher immer auf<br />
hohem niveau, nicht immer die kritik selbst,<br />
aber eben die objekte <strong>der</strong>selben. Diesen standard<br />
gemeinsam mit den bauträgern zu halten<br />
<strong>und</strong> auszubauen ist unser arbeitsprogramm<br />
als architekten <strong>und</strong> ingenieure, die rahmenbedingungen<br />
dazu zu verbessern jenes <strong>der</strong><br />
berufsvertretung.<br />
Erstmals öffnete das<br />
parkhotel vor dem Linzer<br />
Brucknerhaus 2005 seine<br />
Pforten.<br />
neue Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Arbeitswelt an die<br />
Privathaushalte (Anm: in Mitteleuropa) erkennen.“<br />
Doch was bedeutet dies tatsächlich<br />
für unsere Lebensphasen <strong>und</strong> (Wohn)Biografien,<br />
welche Ansätze <strong>und</strong> Innovationen sind erkennbar?<br />
Partizipatives Planen; generationenübergreifendes<br />
Wohnen, Lifestyle vs. Wohnbedarf;<br />
<strong>der</strong> öffentliche Raum; Mobilität <strong>und</strong><br />
Sesshaftigkeit, Familienwohnung o<strong>der</strong> Cluster-<br />
Gr<strong>und</strong>riss; Eigentum o<strong>der</strong> Miete; Immigration<br />
<strong>und</strong> demografische Alterung; Technikkonzepte<br />
für den Privatraum; Effizienz, Konsistenz <strong>und</strong><br />
Die for<strong>der</strong>ung an die politik ist in diesem zusammenhang<br />
recht einfach, aber umso dringlicher:<br />
zweckbindung <strong>der</strong> wohnbauför<strong>der</strong>ungsmittel.<br />
Diese dürfen nicht – wie lei<strong>der</strong> in den<br />
letzten jahren in einigen b<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n üblich<br />
– für an<strong>der</strong>es verwendet werden, son<strong>der</strong>n<br />
nur gemäß ihrer bezeichnung: für die wohnbauför<strong>der</strong>ung.<br />
In diesem heft wird auch die umfrage <strong>der</strong><br />
bAIK vom letzten jahr vorgestellt, welche wir<br />
nun schon dreimal durchgeführt haben. Zwei<br />
für mich maßgebliche kernaussagen seien kurz<br />
umrissen: Die österreichischen architektInnen<br />
nehmen zu 51 % an wettbewerben teil, investieren<br />
dabei 52,1 mio. euro <strong>und</strong> lukrieren<br />
eine gesamtauftragssumme von 213,4 mio.<br />
euro. Für diese investition in baukultur, welche<br />
in dieser form <strong>und</strong> in diesem umfang von<br />
Suffizienz; öffentlicher <strong>und</strong> sozialer Wohnbau?<br />
Wo geht es hin? Diese Schlagwörter dienen<br />
an dieser Stelle nur als Kurzfassung <strong>der</strong> Themen,<br />
die uns zum aktuellen Schwerpunkt an<strong>der</strong>s<br />
als geWohnt interessiert haben <strong>und</strong> ließen sich<br />
leicht fortsetzen.<br />
Suffizienz im Sinne <strong>der</strong> Frage nach dem<br />
rechten Maß benötigt ein Umdenken, ein<br />
Überdenken unserer Lebens- <strong>und</strong> Wirtschaftsweisen<br />
<strong>und</strong> damit last but not least auch<br />
das Entwickeln von Wohnformen an<strong>der</strong>s als<br />
gewohnt. In diesem Sinne wünschen wir eine<br />
anregende Lektüre! Heide Linzer (Redaktion) �<br />
keinem an<strong>der</strong>en beruf eingebracht wird, verlangen<br />
wir nicht mehr, aber auch nicht weniger,<br />
als dass die von uns in über 150-jähriger<br />
tradition entstandenen <strong>und</strong> weiterentwickelten<br />
regeln von allen beteiligten respektiert<br />
werden.<br />
In <strong>der</strong> WE, dem kammereigenen pensionssystem,<br />
welches zu führen uns gesetzlich<br />
auferlegt ist, möchten lediglich 10 % <strong>der</strong> mitglie<strong>der</strong><br />
verbleiben, während sich 73 % <strong>der</strong> mitglie<strong>der</strong><br />
für eine überführung in das allgemeine<br />
sozialversicherungssystem aussprechen. Für<br />
mich keine überraschung, aber ein gewichtiges<br />
argument für die legitimität genau dieses<br />
anliegens bei den nun anstehenden verhandlungen<br />
mit den ministerien. … Auf dass die<br />
übung gelinge. Georg Pendl (Präsident <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eskammer<br />
<strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten) �
Wohnraum Mensch<br />
Martin Puntigam<br />
Kabarettist, Autor <strong>und</strong> MC <strong>der</strong> Science Busters<br />
Menschen auf <strong>der</strong> Suche nach Wohnraum<br />
sind gleichzeitig Wohnraum für eine gigantische<br />
Anzahl an Lebewesen.<br />
Ein erwachsener Mensch besteht nämlich<br />
nicht nur aus Haut <strong>und</strong> Haar, Fleisch <strong>und</strong><br />
Knochen, son<strong>der</strong>n auch aus circa 1000 Spinnentieren,<br />
etlichen Hun<strong>der</strong>t Madenwürmern,<br />
ein paar Dutzend Amöben <strong>und</strong> etwa hun<strong>der</strong>t<br />
Billionen Bakterien. Wir selber sind bei uns<br />
nur eine extreme Randgruppe.<br />
Mit dem Austritt des Kopfes aus <strong>der</strong><br />
Scheide, praktisch wenn noch ein Teil des<br />
Babys in <strong>der</strong> Mutter ist, landen die ersten<br />
Bakterien <strong>und</strong> machen es sich bequem. Wobei<br />
bequem eher übertrieben ist. Sie vermehren<br />
sich sofort rasant <strong>und</strong> haben dauernd alle<br />
Hände voll zu tun, an<strong>der</strong>e Mikroorganismen<br />
abzuwehren, die ihren Platz besetzen wollen.<br />
Einfach mit einem Handtuch den Platz reservieren<br />
<strong>und</strong> dann zum Frühstück weggehen,<br />
das geht in <strong>der</strong> Bakterienwelt nicht. Wohnraum<br />
ist knapp <strong>und</strong> muss permanent neu erobert<br />
werden.<br />
Wuchereria bancrofti, Escherichia, Staphylococcus,<br />
Klebsiella, Helicobacter, you<br />
Dusls Schwerpunkt<br />
name it. Auf praktisch allen Körperteilen, die<br />
irgendwie Kontakt mit <strong>der</strong> Außenwelt haben,<br />
inklusive 400 Quadratmetern Schleimhaut<br />
herrscht eine Mikrobendichte, gegen die<br />
Hongkong wie eine Wüstenei wirkt. Und sie<br />
können niemals sicher sein, dass ihr Wohnrecht<br />
erhalten bleibt, selbst wenn sie glauben<br />
im Gr<strong>und</strong>buch zu stehen. Im Magen etwa können<br />
nur wenige Bakterienarten überl eben,<br />
weil das Salzsäureaufkommen die Wohnqualität<br />
stark schmälert. Wenn Helicobacter-<br />
pylori-Bakterien sich dort ansiedeln <strong>und</strong> eine<br />
House-Warming-Party schmeißen, dann nennen<br />
Menschen das Magengeschwür, nehmen<br />
Antibiotika <strong>und</strong> die ganze Mühe mit den Umzugskartons,<br />
extra ausmalen, Bodenabschleifen,<br />
neue Fenster, Designerlampen usw. war<br />
umsonst.<br />
Denn natürlich gestalten auch Bakterien<br />
ihren Wohnraum gerne ein bisschen individuell,<br />
mit viel Liebe zum Detail. Tischtuch,<br />
Blumenschmuck, Kerzen, ein paar Schmuckmurmeln<br />
da, ein paar Duftblätter dort, <strong>und</strong><br />
schon wirkt <strong>der</strong> ganze Raum wie verwandelt.<br />
Wir Menschen nennen das dann M<strong>und</strong>geruch. �<br />
Cross check<br />
Rudolf Kolbe<br />
Vizepräsident <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eskammer <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong><br />
<strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten<br />
Unverhofft kommt oft<br />
Manchmal passieren Hoppalas. Manchmal ist<br />
es lustig <strong>und</strong> es passiert nichts. Manchmal ist<br />
es nicht lustig <strong>und</strong> wir reden dann von einem<br />
Problem. Ein Hoppala, das gar nicht so selten<br />
im Bauwesen passiert, ist, wenn Materiengesetze<br />
übersehen <strong>und</strong> Dritte geschädigt werden.<br />
Ein Problem.<br />
Zum Beispiel das Wasserrecht (WRG 1959).<br />
Beim Bauen geht es sehr oft in den Untergr<strong>und</strong><br />
– auch bei Hochbauten – <strong>und</strong> dort ist Gr<strong>und</strong>wasser.<br />
So kann es passieren, dass trotz Baubewilligung<br />
Hausbesitzer, durchaus einige 100 m<br />
weit entfernt vom Bauplatz, Ersatz für ihre versiegten<br />
Hausbrunnen for<strong>der</strong>n.<br />
Nach § 10, Abs. 1 WRG 1959 benötigen<br />
Brunnen zur Abdeckung des eigenen Haus-<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftsbedarf auf eigenem Gr<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> Boden keine Bewilligung, somit werden<br />
Schneelast<br />
Alfred Brunnsteiner<br />
Präsident <strong>der</strong> <strong>Kammer</strong> <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong> Ingenieurkonsulenten<br />
für Tirol <strong>und</strong> Vorarlberg<br />
Alfred Brunnsteiner gibt allen Hauseigentümern<br />
den dringenden Rat, die Schneelasten<br />
auf ihren Dächern kontinuierlich, also regel-<br />
„Cabin crew, doors in flight and cross check.“<br />
Je ein Flugbegleiter verriegelt die Tür <strong>und</strong><br />
kontrolliert dann an <strong>der</strong> jeweils gegenüberliegenden,<br />
ob sein Kollege dies auch ordnungsgemäß<br />
gemacht hat. Ein ganz selbstverständlicher<br />
Vorgang im Flugbetrieb, kein Infragestellen,<br />
ob denn diese Kontrolle eines an sich<br />
unkomplizierten Vorganges nicht übertrieben<br />
<strong>und</strong> damit einsparbar wäre. Es hängt einfach<br />
zu viel davon ab, als dass man hier Kompromisse<br />
eingehen würde.<br />
Szenenwechsel. Aus dem Text einer rezenten<br />
Ausschreibung: „Die Erstellung bzw.<br />
Beibringung <strong>der</strong> notwendigen tragwerkstechnischen<br />
Nachweise ist in die Einheitspreise<br />
einzukalkulieren …“ Keine Präzisierung, was zu<br />
liefern ist, keine Vorgaben, welche Qualifikation<br />
zur Erstellung benötigt wird, <strong>und</strong> schon<br />
diese auch nirgendwo vermerkt. Trotzdem<br />
entsteht ein Wasserrecht, das durch die Errichtung<br />
von Gebäuden, auch in einiger Entfernung,<br />
nicht beeinträchtigt werden darf.<br />
Je<strong>der</strong> Bauherr ist also gut beraten, nicht<br />
nur die Frage des Baugr<strong>und</strong>es bereits in <strong>der</strong><br />
Einreichphase abzuklären, son<strong>der</strong>n auch die<br />
Fragen des Gr<strong>und</strong>wassers. Dabei ist die Sache<br />
beim Bauen im Gr<strong>und</strong>wasser vergleichsweise<br />
einfach. Beim Kluftwasser im Festgestein<br />
wird es da schon aufwendig, denn Eingriffe in<br />
wasserführende Klüfte können weit entfernte<br />
Hausbrunnen trockenlegen. Der Verursacher<br />
ist dann verpflichtet, Ersatzwasser zu<br />
beschaffen.<br />
Der kluge Mann baut daher vor <strong>und</strong> erhebt<br />
durchaus großzügig im Umfeld seines<br />
Bauvorhabens alle Hausbrunnen. Empfehlenswert<br />
ist, zu diesem Zweck einen Kollegen<br />
aus dem Bereich <strong>der</strong> Geologie o<strong>der</strong> Kulturtech-<br />
mäßig <strong>und</strong> wie<strong>der</strong>kehrend, zu messen <strong>und</strong><br />
allenfalls das Dach abzuschöpfen. „Als Hauseigentümer<br />
bin ich verpflichtet, zu überprüfen,<br />
wie viel Schnee auf dem Dach meines<br />
Hauses liegt. Diese Messung kann je<strong>der</strong><br />
Hauseigentümer selbst vornehmen o<strong>der</strong><br />
durch Zimmermeister, Baumeister o<strong>der</strong> Ziviltechniker<br />
machen lassen“, betont Brunnsteiner.<br />
Die erhöhten Schneelasten können nämlich<br />
auch <strong>der</strong> Festigkeit <strong>der</strong> gesamten<br />
Ge bäu dekonstruktion erheblichen Schaden<br />
zufügen. Deshalb sollte auch die Standfestigkeit<br />
des Gebäudes ständig <strong>und</strong> wie<strong>der</strong>kehrend<br />
kontrolliert <strong>und</strong> geprüft <strong>und</strong> durch ein<br />
Prüfprotokoll des Fachmannes bestätigt<br />
werden.<br />
Sinnvoll wäre auch ein Tragsicherheits-<br />
bzw. Gebrauchstauglichkeitsausweis für Gebäude.<br />
Alle Prüfberichte könnten in einem<br />
Gebäudeausweis gesammelt werden, schlägt<br />
4 | 5 285<br />
Puntigams Kolumne | Dusls Schwerpunkt<br />
Standpunkte<br />
gar keine Vorschreibung einer unabhängigen<br />
Prüfung.<br />
Bis Redaktionsschluss brachte <strong>der</strong> diesjährige<br />
Winter noch keine größere Zahl von<br />
Dächern zum Einsturz <strong>und</strong> auch sonst sind –<br />
Gott sei Dank – durch schlechte Tragwerksberechnung<br />
ausgelöste Unfälle o<strong>der</strong> Schäden<br />
so selten wie Flugzeugabstürze.<br />
Also lehnen wir uns zurück <strong>und</strong> verzichten<br />
wie<strong>der</strong> einmal bei Umsetzung <strong>der</strong> OIB-Richtlinien<br />
in unsere Landesgesetze auf die Verbindlichmachung<br />
<strong>der</strong> Maßnahmen zur Qualitätssicherung<br />
<strong>der</strong> Planung o<strong>der</strong> auch die Ein führung<br />
eines Prüfingenieurs, wie er in an<strong>der</strong>en eu-<br />
Län<strong>der</strong>n längst Standard ist. Guten Flug. �<br />
Weitere Informationen zur oib-Richtlinie auf<br />
www.aikammeros.org<br />
Klaus Thürriedl<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> B<strong>und</strong>essektion Ingenieurkonsulenten<br />
nik <strong>und</strong> Wasserwirtschaft zu konsultieren,<br />
um abzuklären, welche Hausbrunnen einem<br />
Beweissicherungsverfahren unterzogen werden<br />
sollen. Lei<strong>der</strong> ist das nicht ganz billig, doch<br />
lassen sich auf diese Weise kostenintensive<br />
Ersatzfor<strong>der</strong>ungen vermeiden. �<br />
Brunnsteiner vor. Gemessen wird die Schneelast,<br />
indem man ein einfaches Plastikrohr<br />
durch die Schneedecke bis auf die Dachhaut<br />
drückt. Dann wird das Rohr mit dem Schneeinhalt<br />
auf eine Waage gestellt <strong>und</strong> <strong>der</strong> Inhalt<br />
von Schnee <strong>und</strong> Eis gewogen <strong>und</strong> durch die<br />
Querschnittsfläche des Rohres dividiert.<br />
Übersteigt das Gewicht den Normwert, muss<br />
das Gebäudedach abgeschöpft werden.<br />
Die Sicherheitsbeiwerte, die bei <strong>der</strong> Berechnung<br />
<strong>und</strong> Dimensionierung angesetzt<br />
werden, dürfen nicht für die Aufnahme von<br />
höheren Lasten herangezogen werden. Die<br />
Sicherheitsbeiwerte wurden geschaffen, um<br />
Imperfektionen im Material, Imperfektionen<br />
bei <strong>der</strong> Ausführung, Lastausmitten <strong>und</strong> ungewollte<br />
Lastumlagerungen in den Berechnungen<br />
abzudecken. �
Shared Space<br />
6 | 7 285<br />
Die neue Kultur des öffentlichen Raums<br />
An <strong>der</strong> Schnittstelle von Stadtplanung, Verkehrstechnik<br />
<strong>und</strong> Architektur des öffentlichen<br />
Raums hat sich in den vergangenen Jahren<br />
das Shared-Space-Paradigma erfolgreich etabliert.<br />
Shared Space hat sich aus den aufmerksamen<br />
Beobachtungen des Verkehrssicherheitsexperten<br />
Hans Mon<strong>der</strong>man in Holland<br />
entwickelt <strong>und</strong> bewährt sich heute in vielen<br />
Städten in ganz Europa. Das Konzept bricht<br />
mit zentralen Mythen <strong>der</strong> Verkehrsplanung:<br />
Straßen im urbanen Kontext werden nicht<br />
mehr primär als Verkehrsraum aufgefasst,<br />
son<strong>der</strong>n als prinzipiell multifunk tional <strong>und</strong><br />
sozial organisierter öffentlicher Raum; Sicherheit<br />
entsteht nicht durch Segregation (die<br />
führt nur zu Tempo, Unaufmerksamkeit <strong>und</strong><br />
dem erhöhten Zwang zum Regelfolgen), son<strong>der</strong>n<br />
durch das maßvolle Mischen von Verkehrsarten<br />
(ohne die Ausbildung von Territorien<br />
<strong>und</strong> unter Vermeidung von rechtlichen<br />
Reglementierungen); je mehr Menschen im<br />
Raum anwesend sind, desto sicherer ist die<br />
Situation (weil die real gefahrenen Geschwindigkeiten<br />
sinken); die angemessene Planung<br />
öffentlicher Räume erfolgt nicht durch Verkehrsexperten,<br />
son<strong>der</strong>n unter intensiver Einbindung<br />
<strong>der</strong> Bürger vor Ort. Die Logik <strong>der</strong> Planung<br />
ist damit umgekehrt: Es wird zunächst<br />
ein attraktiver öffentlicher Raum gestaltet,<br />
in den erst dann die Erfor<strong>der</strong>nisse des Verkehrs<br />
integriert werden.<br />
Die positiven Effekte sind verblüffend:<br />
angepasste Geschwindigkeiten, erhöhte Aufmerksamkeit,<br />
sinkende Unfallzahlen, Neubelebung<br />
des Raumes. In Österreich sind so<br />
unterschiedliche Projekte wie die Ortsdurchfahrt<br />
in Gleinstätten (dtv 7000) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Sonnenfelsplatz<br />
in Graz (dtv 14.000) die ersten<br />
Umsetzungsorte – in beiden Fällen bewährt<br />
sich das Konzept. Und Projekte wie die Exhibition<br />
Road in London o<strong>der</strong> die Schwarzenburgstraße<br />
in Köniz bei Bern (dtv bis 19.000) zeigen,<br />
dass diese Prinzipien auch in innerstädtischen<br />
Räumen mit sehr hohen Verkehrsfrequenzen<br />
bestens funktionieren. Thomas Pilz �<br />
Plus/Minus<br />
Fluch o<strong>der</strong> Segen?<br />
Shared Space ist ein neues Konzept zur umfassenden<br />
Gestaltung des öffentlichen Raumes.<br />
Straßen, Plätze <strong>und</strong> Wege werden als<br />
Lebensraum aufgefasst, <strong>der</strong> von allen Mitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft geteilt <strong>und</strong> gemeinsam<br />
genutzt wird. Dieser Raum wird nicht<br />
durch Ampeln, Verkehrsschil<strong>der</strong>, Fußgängerinseln<br />
<strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Barrieren organisiert, son<strong>der</strong>n<br />
durch die Möglichkeit <strong>der</strong> Verständigung<br />
aller Verkehrsteilnehmer. Wie sieht jedoch<br />
die Praxis aus? Gleinstätten, eine 1500-Einwohner-Gemeinde<br />
mit etwa 7400 Fahrzeugen<br />
pro Tag war hier Pionier in <strong>der</strong> Steiermark.<br />
Einbindung <strong>der</strong> Bevölkerung, Beachtung öffentlicher<br />
Einrichtungen, Gespräche mit Gewerbetreibenden<br />
<strong>und</strong> letztendlich auch den<br />
Verkehrsteilnehmern waren die Basis für<br />
eine gute <strong>und</strong> nachhaltige Planung bzw. Umsetzung.<br />
Nach wie vor (die Eröffnung war im<br />
September 2010) gibt es keine Unfälle mit<br />
Personenschäden <strong>und</strong> funktioniert dieses<br />
Konzept dort. Die Umsetzung am Grazer Sonnenfelsplatz<br />
muss hier aber kritischer betrachtet<br />
werden. 5-sternförmig angeordnete<br />
Zu- bzw. Abfahrten, die doppelte Anzahl an<br />
Fahrzeugen (15.000), über 3400 Fußgänger<br />
<strong>und</strong> pro St<strong>und</strong>e an die 640 Radfahrer stellen<br />
eine Dimension dar, die normalerweise klare<br />
Regelung benötigt. Zu verkehrsintensiven<br />
Zeiten sind chaotische Zustände, Unsicherheit<br />
<strong>und</strong> Gefahren die Folge dieser Neugestaltung.<br />
Hinzu kommt, dass <strong>der</strong> Sonnenfelsplatz<br />
nicht wie die insgesamt 107 bereits<br />
umgesetzten Shared Spaces in Holland vollständig<br />
ohne Barrieren gestaltet ist, son<strong>der</strong>n<br />
dass es in Graz sehr wohl Begrenzungen, einen<br />
angedeuteten Kreisverkehr sowie auch<br />
Steinbarrieren gibt. Gespräche mit Anrainern<br />
<strong>und</strong> Betroffenen zeigen auch deutlich<br />
die Schwachstellen auf. Viele umfahren den<br />
Sonnenfelsplatz, weil sie Angst haben, viele<br />
berichten uns von gefährlichen Situationen.<br />
Bisher gab es lediglich Unfälle mit Blechschäden.<br />
Bei <strong>der</strong> Planung dieser Shared Spaces<br />
sollten daher aus unserer Sicht einfache <strong>und</strong><br />
klarer strukturierte Straßenzüge in Betracht<br />
kommen, was wie<strong>der</strong>um für kleinere Gemeinden<br />
<strong>und</strong> nicht innerstädtische Bereiche mit<br />
hohen Frequenzen von Verkehrsteilnehmern<br />
spricht. Großstädte haben eigene Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>und</strong> Verkehrsteilnehmer von Jung bis Alt<br />
brauchen hier klare Regelungen des Miteinan<strong>der</strong><br />
– damit Gefahren größtmöglich ausgeschlossen<br />
werden können. Hans-Peter Auer �<br />
an<strong>der</strong>s als geWohnt<br />
Aus Versatzstücken <strong>der</strong> Realität setzt Filip Dujardin fiktive architektonische<br />
Szenarien zusammen. Obwohl diese wirken, als wären f<strong>und</strong>amentale<br />
Naturgesetze <strong>und</strong> Normen gesellschaftlichen Zusammenlebens<br />
außer Kraft gesetzt worden, gelingt es Dujardin, diese utopischen Gebilde<br />
<strong>und</strong> Konstruktionen in eine Aura des Alltäglichen zu hüllen. Seine Fiktionen<br />
konfrontieren den Betrachter mit den eigenen Vorstellungen <strong>und</strong><br />
Konzeptionen architektonischer Gestaltung <strong>und</strong> Auffassungen des eigenen<br />
Lebensraums. Doch auch in den Bil<strong>der</strong>n selbst prallen planerische<br />
Strukturen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wunsch <strong>der</strong> Bewohner nach eigenbestimmter Lebensraumgestaltung<br />
aufeinan<strong>der</strong>. Trotz <strong>der</strong> Generierung <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> am<br />
Computer haftet ihnen die Vertrautheit dokumentarischer Fotografie<br />
an, denn bei Dujardins fiktiven Architekturen handelt es sich nicht um<br />
Ren<strong>der</strong>ings, son<strong>der</strong>n um detailverliebte digitale Fotocollagen. Gerade<br />
die Witterungs- <strong>und</strong> Gebrauchsspuren verschleiern den Entstehungsprozess<br />
<strong>und</strong> laden dazu ein, jedes Detail als Referenz auf tatsächlich<br />
Gebautes zu enträtseln. Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Serie Fictions begleiten daher die<br />
Texte des Schwerpunkts <strong>und</strong> laden Sie ein, Wohnraum „an<strong>der</strong>s als<br />
geWohnt“ zu betrachten. Die Redaktion �
Weiter wohnen wie gewohnt? |<br />
Vom Wohnen <strong>und</strong> dem Wohnungsbau aus<br />
soziologischer <strong>und</strong> sozialpsychologischer Sicht<br />
Susanne Gysi ist Sozialwissenschaftlerin.<br />
Sie<br />
war 1990 Mitbegrün<strong>der</strong>in<br />
des eth Wohnforums,<br />
einer Forschungsstelle<br />
am Departement<br />
Archi tektur <strong>der</strong> eth<br />
Zürich, wo sie bis 2008<br />
forschte <strong>und</strong> lehrte (www.<br />
wohnforum.arch.ethz.ch).<br />
Als freiberuflich Tätige<br />
bleibt sie dem eth<br />
Wohnforum assoziiert.<br />
1 Andritzky, Michael<br />
(1979), Weiter wohnen<br />
wie gewohnt? Ausstellung<br />
Deutscher Werkb<strong>und</strong>,<br />
Darmstadt 1979<br />
2 Gysi, Susanne (2009),<br />
Zwischen „Lifestyle“ <strong>und</strong><br />
Wohnbedarf. Was <strong>der</strong><br />
Mensch zum Wohnen<br />
braucht. In: Eberle, D.<br />
<strong>und</strong> Glaser, M. A. (Hrsg),<br />
Wohnen – Im Wechselspiel<br />
zwischen öffentlich<br />
<strong>und</strong> privat. Niggli Verlag<br />
Sulgen/Zürich<br />
3 Hugentobler, Margrit,<br />
Susanne Gysi (1996),<br />
Sonnenhalb – schattenhalb.<br />
Wohngeschichten<br />
<strong>und</strong> Wohnsituationen<br />
von Frauen in <strong>der</strong><br />
Schweiz, Limmat, Zürich<br />
4 Huber, Andreas, (Hrsg.),<br />
eth Zürich (2008), Neues<br />
Wohnen in <strong>der</strong> zweiten<br />
Lebenshälfte. Birkhäuser,<br />
Basel<br />
5 Hilti, Nicola (2009),<br />
Multilokales Wohnen<br />
zwischen Mobilität <strong>und</strong><br />
Sesshaftigkeit, in:<br />
Andexlinger, Wolfgang/<br />
Obkircher, Stefan/<br />
Saurwein, Karin (Hrsg.),<br />
Dokonara. 2. InternationalesDoktorandInnenkolleg<br />
Nachhaltige<br />
Raumentwicklung,<br />
Innsbruck, University of<br />
Innsbruck Press, S. 47–61<br />
6 Hofer, Andreas, Von <strong>der</strong><br />
Familienwohnung zum<br />
Cluster-Gr<strong>und</strong>riss, in:<br />
tec21 Nr. 7/2011, sia,<br />
Zürich<br />
„Weiter wohnen wie gewohnt?“ So lautete im Jahr<br />
1979 <strong>der</strong> Titel des von Michael Andritzky 1 verfassten<br />
Text-Bil<strong>der</strong>buchs zur gleichnamigen Werkb<strong>und</strong>-<br />
Ausstellung über Geschichte, Gegenwart <strong>und</strong> Alternativen<br />
des Wohnens. Das Mädchen auf dem Titelblatt<br />
sitzt eingemauert in einem Fauteuil aus Beton.<br />
Beklagt werden die lebensfeindlichen Bedingungen<br />
des Massenwohnungsbaus mit seinen beengenden<br />
Gr<strong>und</strong>rissen <strong>und</strong> Regelungen, aber auch rigide Vorstellungen<br />
darüber, wie „man wohnt“. Kein Zweifel,<br />
die Frage nach dem „weiter wohnen wie gewohnt“<br />
stellt sich unter wechselnden gesellschaftlichen<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlichen Bedingungen seit dem Beginn<br />
des bürgerlichen Zeitalters um 1800 immer wie<strong>der</strong><br />
aufs Neue. Das wird auch so bleiben – eine ebenso<br />
spannende wie anspruchsvolle Herausfor<strong>der</strong>ung für<br />
alle, die sich mit dem facettenreichen Wohnungswesen<br />
befassen.<br />
Zur Entwicklung <strong>der</strong> Haushaltformen<br />
Die Nachkriegsbevölkerung in Mitteleuropa ist<br />
demografisch geprägt durch Babyboom, Wan<strong>der</strong>ungsströme,<br />
wachsenden Wohlstand <strong>und</strong> steigende<br />
Lebenserwartung. In einigen Län<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Regionen<br />
nimmt sie aus reproduktiven <strong>und</strong> migrationsbedingten<br />
Gründen ab; älter wird sie überall. Ungleich<br />
verteilte Chancen wirtschaftlicher <strong>und</strong> individueller<br />
Teilnahme <strong>und</strong> Teilhabe innerhalb <strong>und</strong> an den Rän<strong>der</strong>n<br />
Europas – das Ende <strong>der</strong> aktuellen Wirtschafts-<br />
<strong>und</strong> Finanzkrise ist noch nicht abzusehen – hinterlassen<br />
bereits wie<strong>der</strong> deutliche Spuren in neuen<br />
Migrationsmustern: Bevölkerungswachstum hier,<br />
Bevölkerungsschrumpfung dort.<br />
Ähnlich entwickeln sich dagegen die Haushaltgrößen<br />
in Mitteleuropa; sie haben sich zwischen<br />
Anfang <strong>und</strong> Ende des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts auf knapp<br />
über zwei Personen halbiert, in den Städten liegen<br />
sie bereits darunter. In 35 bis 40 % aller Haushalte<br />
lebt eine Einzelperson. In den Großstädten machen<br />
sie bereits die Hälfte aus.<br />
Wer den Begriff „Haushalt“ mit „Familie“ gleichsetzt,<br />
liegt folglich in zwei von drei Fällen falsch.<br />
Vielfältige Haushaltformen <strong>und</strong> Wohnweisen lassen<br />
sowohl wandelnde Normen <strong>und</strong> Werthaltungen<br />
als auch demografischen Wandel <strong>und</strong> neue Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Arbeitswelt an die Privathaushalte<br />
erkennen. 2 In <strong>der</strong> Schweiz charakterisieren heute<br />
drei ähnlich große Haushaltformen die Wohnbevölkerung:<br />
Einpersonenhaushalte, Mehrpersonenhaushalte<br />
ohne Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Mehrpersonenhaushalte<br />
mit Kin<strong>der</strong>n.<br />
Einpersonenhaushalte<br />
Aus dem wachsenden Anteil Alleinleben<strong>der</strong> einen<br />
generellen Trend zum lebenslänglichen Dasein als<br />
„Swinging Single“ o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> Vereinzelung abzuleiten<br />
wäre unzulässig, wie ein Blick auf die Altersstruktur<br />
<strong>und</strong> neuere Studien in Deutschland <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Schweiz zeigen.<br />
Die Gruppe <strong>der</strong> Alleinlebenden ist heterogen<br />
<strong>und</strong> befindet sich in sehr unterschiedlichen<br />
Lebensphasen.<br />
Mit 60 % dominieren die ledigen <strong>und</strong> verwitweten<br />
Frauen zu gleichen Teilen; die über 64-Jährigen<br />
machen die Mehrheit aus. Mehr als die Hälfte <strong>der</strong><br />
alleinlebenden Männer hingegen ist jünger als 40<br />
<strong>und</strong> lebt öfter als gleichaltrige Frauen geschieden<br />
o<strong>der</strong> getrennt. Alleinlebende Menschen zeichnen<br />
sich mehrheitlich durch hohe soziale Integration<br />
<strong>und</strong> vielfältige Beziehungen aus: Jüngere pflegen<br />
gute Kontakte zur Herkunftsfamilie, sind nicht<br />
selten „in festen Händen“, während Ältere ihre<br />
Kontakte nach dem Prinzip „Intimität auf Distanz“<br />
pflegen.<br />
Mehrpersonenhaushalte ohne Kin<strong>der</strong><br />
Der Anteil <strong>der</strong> Mehrpersonenhaushalte ohne Kin<strong>der</strong><br />
– zumeist Paare in <strong>der</strong> Vorfamilienphase <strong>und</strong><br />
Ehepaare in <strong>der</strong> Nachfamilienphase – hat sich seit<br />
den 60er-Jahren mehr als verdoppelt. Er beträgt in<br />
<strong>der</strong> Schweiz <strong>und</strong> in Deutschland r<strong>und</strong> ein Drittel<br />
aller Haushalte, in Österreich gut 20 %, mit steigendem<br />
Anteil. Jüngere Paare gründen später <strong>und</strong><br />
seltener eine Familie als ihre Eltern. Babyboom <strong>und</strong><br />
höhere Lebenserwartung lassen den Anteil älterer<br />
Ehepaare <strong>und</strong> die ihnen verbleibende Lebenszeit<br />
steigen. An<strong>der</strong>e Formen wie Wohngemeinschaften,<br />
Geschwisterhaushalte o<strong>der</strong> Haushalte Erwachsener<br />
mit Eltern(teil) sind anteilsmäßig eher unbedeutend<br />
<strong>und</strong> tendenziell abnehmend. Mehrpersonenhaushalte<br />
ohne Kin<strong>der</strong> weisen aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
Altersstruktur sehr heterogene Lebensweisen auf.<br />
Jüngere Paare leben eher in städtischen Gebieten,<br />
ältere auch im suburbanen <strong>und</strong> ländlichen<br />
Raum.<br />
Mehrpersonenhaushalte mit Kin<strong>der</strong>n<br />
Noch immer bilden hier klassische Kernfamilien mit<br />
Mutter, Vater <strong>und</strong> zwei Kin<strong>der</strong>n die Mehrzahl. Drei<br />
<strong>und</strong> mehr Kin<strong>der</strong> sind seltener geworden, Kernfamilien<br />
mit einem Kind häufiger – im Durchschnitt<br />
noch 1,5 Kin<strong>der</strong> pro Schweizerin gegenüber 1,25<br />
in Österreich <strong>und</strong> Deutschland. Weitere Tendenzen<br />
lassen sich ebenfalls ausmachen:<br />
Dreigenerationenhaushalte sind fast gänzlich Steigend ist dage-<br />
verschw<strong>und</strong>en, ebenso Familienhaushalte mit gen <strong>der</strong> Anteil<br />
Drittpersonen.<br />
<strong>der</strong> „Patchworkfamilien“,<br />
<strong>der</strong>en<br />
Kin<strong>der</strong> aus zwei o<strong>der</strong> drei Ehen stammen. Eine<br />
weitere, oft vorübergehende Haushaltform ist die<br />
<strong>der</strong> zumeist weiblichen Alleinerziehenden. Sie<br />
nimmt aufgr<strong>und</strong> steigen<strong>der</strong> Scheidungszahlen<br />
ebenfalls stark zu. Mittlerweile machen Alleinerziehende<br />
in <strong>der</strong> Schweiz 15 % aller Familienhaushalte<br />
mit Kin<strong>der</strong>n aus, in Österreich sind es 19 %.<br />
Lifestyles <strong>und</strong> Trends: medial überbewertet<br />
Schenkte man Lifestylemagazinen <strong>und</strong> Trendmeldungen<br />
<strong>der</strong> Wochenendpresse Glauben, würden<br />
unsere Mitmenschen in atemberauben<strong>der</strong> Abfolge<br />
durch immer neue „Gesellschaften“ katapultiert,<br />
von <strong>der</strong> Zweidrittel- zur Multioptionsgesellschaft,<br />
von <strong>der</strong> Konsum- über die Geiz- <strong>und</strong> Spaß- hin zur<br />
Sinngesellschaft.<br />
8 | 9 285<br />
Weiter wohnen wie gewohnt? Weiter wohnen wie gewohnt?<br />
Dass das aktuell proklamierte „Minus-Zeitalter“<br />
für manche ungewollt zur schmerzhaften<br />
Realität geworden ist, zeigt die Negativentwicklung<br />
<strong>der</strong> frei verfügbaren Haushaltbudgets.<br />
Wohl lassen hoher Wohlstand, struktureller<br />
Wandel, Wertepluralisierung <strong>und</strong> die quantitativ<br />
gelöste Wohnungsfrage vermuten, dass heute<br />
je<strong>der</strong> <strong>und</strong> jede die eigene Lebens- <strong>und</strong> Wohn-<br />
biografie stets aufs Neue komponieren kann<br />
<strong>und</strong> will.<br />
Doch relativieren neuere Studien über<br />
den sozialen <strong>und</strong> kulturellen Wandel <strong>der</strong> letzten<br />
50 Jahre diese Freiheitserwartung. So stellen sie<br />
zwar „ab Ende <strong>der</strong> 50er-Jahre eine Aufweichung,<br />
ja in den 60er- <strong>und</strong> 80er-Jahren eine Erosion kollektiver,<br />
klassen- <strong>und</strong> regionenspezifischer Lebensformen<br />
<strong>und</strong> Lebensmuster“ fest. Aber dieser Pluralisierung<br />
individueller Handlungsspielräume steht<br />
das Beharrungsvermögen tradi tioneller Strukturen
<strong>und</strong> Mentalitäten <strong>der</strong> Bevölkerungsmehrheit gegenüber;<br />
es gerät zu Unrecht aus dem Blickfeld <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit.<br />
Lebensphasen, Übergänge <strong>und</strong> Wohnbiografien in<br />
<strong>der</strong> Zusammenschau<br />
– Lebensbereiche,<br />
die sich gleichermaßen<br />
bedingen<br />
wie verstärken.<br />
In dieser dynamischenZusammenschau<br />
erst erschließen sie das Patchwork, welches<br />
Biografien ausmacht <strong>und</strong> statistische Daten erhellt.<br />
Beson<strong>der</strong>s deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang<br />
in <strong>der</strong> Analyse von Lebensverläufen <strong>und</strong><br />
Wohnbiografien mehrerer Frauengenerationen im<br />
Vergleich. 3 Hinter je<strong>der</strong> Wohngeschichte steht eine Lebensgeschichte,<br />
geprägt durch die soziale <strong>und</strong><br />
geografische Herkunft, weitergestrickt in <strong>der</strong><br />
eigenen Familien-, Bildungs-, Erwerbs- <strong>und</strong> Wohngeschichte<br />
Fast immer ist die Kette sich folgen<strong>der</strong><br />
Lebensphasen klar gekennzeichnet durch gleichzeitige<br />
o<strong>der</strong> zeitlich nur leicht verschobene Verän<strong>der</strong>ungen<br />
in mehreren Lebensbereichen. Biografische<br />
Übergänge gehen mit räumlichen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
einher – einem Wohnungswechsel, baulichen Maßnahmen<br />
o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Nutzungsweisen verfügbarer<br />
Wohn flächen. Der wechselnde Stellenwert<br />
des Wohnens verstärkt zudem die Konturen aufeinan<strong>der</strong><br />
folgen<strong>der</strong> Lebensphasen.<br />
Die jungen Erwachsenen: Ausziehen o<strong>der</strong> bleiben?<br />
Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
lebten junge Erwachsene vor ihrer Heirat meist im<br />
elterlichen Haushalt, allenfalls erwerbs- o<strong>der</strong> studienbedingt<br />
zur Untermiete o<strong>der</strong> in einem Kollektivhaushalt.<br />
Danach zogen junge Erwachsene immer<br />
früher aus dem Elternhaus; männliche Jugendliche<br />
bleiben länger zu Hause als weibliche. Inzwischen<br />
hat sich dieser Trend des frühen Wegzugs aus dem<br />
Elternhaus allerdings gewendet: Junge Erwachsene,<br />
auch „Generation Praktikum“ genannt, verbleiben<br />
wie<strong>der</strong> länger im „Hotel Mama“, <strong>und</strong> manche kehren<br />
– nicht immer zur Freude ihrer Eltern – als „Baby-<br />
Boomerang-Generation“ zwischen wechselnden<br />
Studien- <strong>und</strong> Arbeitsorten, Wohnorten, Partnerschaften<br />
<strong>und</strong> Wohnungen wie<strong>der</strong>holt dorthin zurück,<br />
erlauben doch großzügigere Raumverhältnisse <strong>und</strong><br />
ein verän<strong>der</strong>tes Generationen verständnis heute<br />
autonome Wohnweisen für beide Generationen.<br />
Zunächst reicht die häufig gewechselte „Loge“<br />
als Unterkunft, denn Ausgehen <strong>und</strong> Dabeisein<br />
ist wichtiger als das Ausgestalten des häuslichen<br />
Bereichs, die Wohnkosten wollen tief gehalten<br />
werden. Erst mit <strong>der</strong> beruflichen Festigung gewinnt<br />
die Wohnsituation mehr Bedeutung. Sie muss nun<br />
funktionale wie repräsentative Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
erfüllen, primär die Zugehörigkeit zur „richtigen“<br />
Lebensstilgruppe manifestieren <strong>und</strong> sich zunehmend<br />
auch als Basis für flexibilisierte Arbeitsverhältnisse<br />
eignen. Es folgt häufig ein Umzug an eine<br />
zentrale, städtische Lage, denn die Nähe zu Arbeitsort<br />
<strong>und</strong> Auftraggebern, die Erreichbarkeit des kulturellen<br />
Angebots <strong>und</strong> die gute Verkehrsanbindung<br />
zählen, ist doch „Living apart together“ – ein Drittel<br />
aller „Singles“ lebt in fester Partnerschaft – aus laufbahnstrategischen<br />
<strong>und</strong> ökonomischen Gründen ein<br />
oft praktiziertes Muster des Zusammenlebens bis<br />
zum Moment <strong>der</strong> Familiengründung.<br />
Die Familienphase: Die „Hausfrau <strong>und</strong> Mutter“<br />
verabschiedet sich<br />
Fast immer folgt dem Eintritt in die Familienphase<br />
ein Umzug in eine größere Wohnung. Kleinräum -<br />
liche Standortqualitäten rücken in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>:<br />
ein kin<strong>der</strong>gerechtes Wohnumfeld, familienergänzende<br />
Kin<strong>der</strong>betreuungsangebote, Einkaufs- <strong>und</strong><br />
Naherholungsmöglichkeiten.<br />
Die Mehrzahl junger Frauen ist heute gut<br />
qualifiziert <strong>und</strong> nicht mehr bereit, sich<br />
zwischen Berufstätigkeit <strong>und</strong> Mutterschaft<br />
zu entscheiden.<br />
Für sie <strong>und</strong> eine Min<strong>der</strong>heit junger Männer steht<br />
zu Beginn <strong>der</strong> Familienphase auch eine Weichenstellung<br />
im Erwerbsleben an: Wer Berufs- <strong>und</strong><br />
Familienarbeit verbinden will, reduziert die Arbeitszeit,<br />
wechselt die Arbeitsstelle o<strong>der</strong> verkürzt die<br />
Distanz zwischen Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsort. Attraktive<br />
Miet- <strong>und</strong> Eigentumswohnungen in städtischen<br />
Lagen werden dem Eigenheim im Grünen oft vorgezogen.<br />
Die Überwindung <strong>der</strong> räumlich getrennten<br />
Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsbereiche gelingt trotz neuer<br />
Technologien <strong>und</strong> flexibilisierter Arbeitsverträge<br />
nur ansatzweise. Der Doppelspagat lässt sich nur<br />
dank sozialer Wohnumfeldqualitäten bewältigen<br />
wie institutionalisierte Betreuungsangebote,<br />
gegenseitige Unterstützung durch Fre<strong>und</strong>/innen,<br />
Nachbarn <strong>und</strong> – nach wie vor – Familienangehörige.<br />
Gemeinschaftsorientierte, familienfre<strong>und</strong>liche<br />
Siedlungen kommen den Bedürfnissen junger<br />
Familien am besten entgegen, liegt doch in dieser<br />
Phase <strong>der</strong> Lebensmittelpunkt klar im Wohn-<br />
bereich. Wer später mit schulpflichtigen Kin<strong>der</strong>n<br />
den Traum vom Einfamilienhaus im Grünen realisieren<br />
kann, wohnt wohl selbstbestimmter <strong>und</strong><br />
großzügiger, vermisst aber oft gerade die aufgegebenen<br />
kleinräumlichen <strong>und</strong> sozialen Standort-<br />
qualitäten.<br />
Häufiger als früher entscheiden sich des Herum-<br />
chauffierens ihrer Teenager müde gewordene<br />
Eltern für einen Umzug in eine zentraler gelegene,<br />
pflegeleichtere Wohnung <strong>und</strong> rücken wie<strong>der</strong><br />
näher an ein differenziertes Bildungs-, Arbeitsplatz-<br />
<strong>und</strong> Kulturangebot.<br />
Die Nachfamilienphase o<strong>der</strong>: Das Nest ist selten leer<br />
Nach dem Wegzug <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> leben Paare gemäß<br />
Statistik in vergleichsweise großzügigen Platzverhältnissen;<br />
<strong>der</strong> gelebte Alltag hingegen weist auf<br />
komplexere Realitäten: Wohl lässt sich <strong>der</strong> Beginn<br />
<strong>der</strong> Familienphase präzise terminieren, seltener<br />
aber <strong>der</strong>en Abschluss. Erwachsene Kin<strong>der</strong> behalten<br />
ihr Zimmer oft weit über den Zeitpunkt ihres ersten<br />
Auszugs, sei es für Wochenendbesuche, die zahlrei-<br />
chen Übergangsphasen o<strong>der</strong> auch nur, um es als Ort<br />
<strong>der</strong> Kindheitserinnerungen aufrechtzuerhalten.<br />
Das gewachsene Autonomiebedürfnis <strong>der</strong><br />
Eltern zeigt sich oft in getrennten Schlaf- <strong>und</strong> eigenen<br />
Arbeitsräumen, einem Luxus, den man sich<br />
endlich leisten kann <strong>und</strong> will. Lebens- o<strong>der</strong> zumindest<br />
Wohnstilmetamorphosen sind nicht nur als<br />
Folge familienbiografischer Brüche – die Scheidungsrate<br />
steigt nochmals – zu beobachten, son<strong>der</strong>n<br />
auch als auseinan<strong>der</strong>driftende Perspektiven <strong>der</strong><br />
Lebenspartner: Die den Erziehungspflichten enthobene<br />
Ehefrau entwirft ihre nächste Lebensphase,<br />
orientiert sich beruflich neu, drückt ihr neues<br />
Selbstver ständnis auch mittels Neugestaltung des<br />
Wohnbereichs aus, während <strong>der</strong> meist etwas ältere<br />
Lebenspartner sich <strong>der</strong> letzten Phase seines Berufslebens<br />
nähert <strong>und</strong> zumindest im Wohnbereich<br />
am liebsten auf Gewohntem verharrt.<br />
Die vierte Lebensphase o<strong>der</strong>: Wie ich wohne,<br />
bestimm ich selber<br />
Steht die Pensionierung an, steigt die Umzugsbereitschaft<br />
erneut. Zentral gelegene, altersgerechte<br />
Wohnungen sind gefragt. Räumliche Nähe zu<br />
Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Enkeln ist erwünscht, die eigene<br />
Privatsphäre bleibt aber wichtig. Bereits erprobt<br />
die Acht<strong>und</strong>sechzigergeneration Modelle des<br />
autonomen <strong>und</strong> individuellen Wohnens in altershomogener<br />
o<strong>der</strong> -heterogener Umgebung, hält Ausschau<br />
nach Häusern, Projekten <strong>und</strong> Bauträgern. 4<br />
So viel sei vorweggenommen:<br />
Die Wohnweisen <strong>der</strong> „jungen Alten“ werden sich Altersdurchmischte<br />
weiterhin durch wachsende Vielfalt auszeichnen – Wohnsiedlungen<br />
individuell <strong>und</strong> in selbst gewählter, sich gegen-<br />
<strong>und</strong> Quartiere mit<br />
Serviceleistungen<br />
seitig unterstützen<strong>der</strong> Nachbarschaft.<br />
sind heute ebenso<br />
gefragt wie Alters- <strong>und</strong> Pflegeeinrichtungen, welche<br />
die individuellen Präferenzen <strong>und</strong> Fähigkeiten ihrer<br />
PensionärInnen respektieren.<br />
Innovative Ansätze o<strong>der</strong> Trends?<br />
Innovative Ansätze weisen zunächst auf Disfunk- Ob <strong>und</strong> unter weltionalitäten<br />
im Wohnungsmarkt <strong>und</strong> <strong>der</strong> konvenchen Bedingungen<br />
tionellen Wohnungsproduktion; sie verdienen<br />
sie sich zum „Trend“<br />
entwickeln, lässt<br />
Beachtung in ihrer Funktion als Frühindikatoren.<br />
sich erst rückblickend<br />
beurteilen. Erneut stellt sich heute die Frage:<br />
„Weiter bauen <strong>und</strong> wohnen wie gewohnt?“ Beäng stigende<br />
Staatsdefizite <strong>der</strong> öffentlichen Haushalte<br />
lassen erahnen, dass die mittels staatlicher Umverteilung<br />
finanzierte Wohnbauför<strong>der</strong>ung bald ein<br />
Ende nehmen könnte. Drohende Immobilienblasen,<br />
privatwirtschaftliche Überproduktion, Banken<strong>und</strong><br />
Wirtschaftskrise verunsichern manchen<br />
Wohnbauträger, während Wohnungssuchende sich<br />
ernsthafter als auch schon früher fragen, wie viel<br />
kann, will, muss ich kurz <strong>und</strong> mittelfristig für das<br />
Wohnen bezahlen?<br />
10 | 11 285<br />
Weiter wohnen wie gewohnt? Weiter wohnen wie gewohnt?<br />
Die alleinige Verantwortung <strong>der</strong> gemeinnützigen<br />
Bauträger für eine angemessene Wohnraumversorgung<br />
aller Bevölkerungsschichten, die marginalisierten<br />
eingeschlossen, ist zu hinterfragen. Hierin<br />
lassen sich nebst Energie- <strong>und</strong> Kosteneffizienz die<br />
sozialen Aspekte einer nachhaltigen Wohnwirtschaft<br />
am deutlichsten messen. Soll sie mehr des<br />
Gewohnten auf immer mehr Fläche pro Wohnung<br />
o<strong>der</strong> mehr Diversität in <strong>der</strong> Struktur des Wohnungsangebots<br />
produzieren? Hat sie Antworten auf die<br />
soziodemografische Entwicklung, das unübersehbare<br />
Phänomen des freiwilligen o<strong>der</strong> erzwungenen<br />
multilokalen o<strong>der</strong> temporären Wohnens, 5 <strong>der</strong> verbreiteten<br />
innerhäuslichen Erwerbsarbeit, des Wunsches<br />
nach autonomem Wohnen in Gemeinschaft<br />
in allen Lebensphasen o<strong>der</strong> Serviceleistungen<br />
à la carte?<br />
Noch sind es, zumindest in <strong>der</strong> Schweiz mit<br />
ihrer tiefen Wohneigentumsquote von 35 %, vor<br />
allem die Wohnbaugenossenschaften, welche Neues<br />
wagen, nicht selten inspiriert durch Bottom-up-<br />
Initiativgruppen auf <strong>der</strong> Suche nach Bauträgern<br />
für ihre Anliegen. Seit Kurzem zeigen sich erfreulicherweise<br />
auch einzelne Privatinvestoren <strong>und</strong><br />
Anlagestiftungen offener für neue Lösungsansätze;<br />
ein Zeichen wachsen<strong>der</strong> Sensibilität, vielleicht<br />
auch wirtschaftlicher Verunsicherung.<br />
Wer sich auf Wohnexkursion begibt, wird<br />
Anschauungsunterricht <strong>und</strong> Erfahrungen sammeln<br />
können. Bereits erwähnt sind differenzierte Wohnformen<br />
für die zweite Lebenshälfte, generationenübergreifendes<br />
Wohnen eingeschlossen. Neue<br />
Lösungen lassen sich oft dem Titel „Less is more“<br />
zuordnen. Autofreie <strong>und</strong> autoarme Siedlungen<br />
werden im Kampf gegen behördliche Vorschriften<br />
erkämpft. Zwangskomfort bezüglich üblicher<br />
Wohnflächen <strong>und</strong> -ausstattungen wird hinterfragt:<br />
Braucht wirklich jede Dreizimmerwohnung 95 m 2<br />
Nettowohnfläche <strong>und</strong> zwei voll ausgestattete Nasszellen?<br />
Genügen den Kleinsthaushalten auch flächen-<br />
<strong>und</strong> kostensparende Clustergr<strong>und</strong>risse mit<br />
Individualräumen samt Kochnische <strong>und</strong> Nasszelle<br />
bei großzügigen Gemeinschaftsflächen? 6 Kommt<br />
das Einküchenhaus in Neuauflage zurück?<br />
Auch Planungsprozesse mit verän<strong>der</strong>tem Fokus<br />
lassen sich beobachten, weg von lebensphasenspezifischen<br />
Ansätzen wie Siedlungen für junge<br />
Familien <strong>und</strong> hin zu Mehrgenerationensiedlungen,<br />
weg von <strong>der</strong> intimen, exkludierenden zur quartierökonomischen,<br />
inkludierenden Betrachtungs-<br />
ebene: eine hoffnungsvolle Entwicklung, die es zu<br />
verfolgen gilt. Das gewohnte Angebot wird <strong>der</strong><br />
verän<strong>der</strong>ten Nachfrage mit überraschenden Lösungen<br />
Platz machen, gerade auch im Umgang mit dem<br />
Erbe des Baubooms. Man darf gespannt bleiben. �
Wohnen in Österreich – Zwischen Hauseigentum <strong>und</strong> Miete |<br />
Aktuelle Wohnungsmarktstrukturen <strong>und</strong> künftige Entwicklungen<br />
Viele Jahre hindurch geisterte das Gespenst <strong>der</strong><br />
Wohnungsknappheit durch die Medien. Konnte<br />
dieses durch wohnpolitische Maßnahmen erfolg-<br />
reich gebannt werden? Faktum ist, Österreich zählt<br />
im europäischen Vergleich nach wie vor zu den<br />
durch einen hohen Level wohnungspolitischer<br />
Aktivitäten charakterisierten Staaten. Gute Wohnbedingungen<br />
<strong>und</strong> hohe Wohnzufriedenheit sind<br />
beson<strong>der</strong>e Pluspunkte. Wichtige Trends <strong>der</strong> vergangenen<br />
Dekaden manifestierten sich in einer<br />
Verbesserung <strong>der</strong> Wohnungsausstattung sowie <strong>der</strong><br />
Vergrößerung <strong>der</strong> Wohnnutzflächen.<br />
B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>spezifisch kristallisieren sich aber<br />
deutliche Disparitäten hinsichtlich <strong>der</strong> Struktur<br />
<strong>und</strong> Ausstattung des Wohnungsbestandes heraus.<br />
2010 wurde bereits ein Drittel <strong>der</strong> Wohnungen von<br />
nur einer Person benützt. Wichtige demografische<br />
Trends wie steigende Zuwan<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> die Singularisierung<br />
sind in erster Linie auf städtische<br />
Ballungszentren, allen voran Wien, beschränkt.<br />
Die Mietenpolitik sowie bestehende För<strong>der</strong>modelle<br />
haben sich auf diese Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Bevölkerungs-<br />
<strong>und</strong> Wohnungsnachfragestruktur einzustellen.<br />
Josef Kohlbacher,<br />
geboren 1958 in Lilienfeld,<br />
Studium <strong>der</strong> Soziologie,<br />
Kulturanthropologie<br />
<strong>und</strong> Geschichte an <strong>der</strong> Uni-<br />
versität Wien, seit 1988<br />
Mitarbeiter <strong>und</strong> ab 2006<br />
stv. Direktor des Instituts<br />
für Stadt- <strong>und</strong> Regional-<br />
forschung <strong>der</strong> Österreichischen<br />
Akademie <strong>der</strong><br />
Wissenschaften; inhalt-<br />
liche Schwerpunkte:<br />
Wohnintegration von<br />
Migranten, interethnische<br />
Kontakte auf <strong>der</strong> lokalen<br />
Ebene, städtische Integra-<br />
tionspolitik.<br />
Ursula Reeger, geboren<br />
1965 in Wien, Studium <strong>der</strong><br />
Geografie (Studienzweig<br />
Raumforschung <strong>und</strong><br />
Raumordnung) an <strong>der</strong><br />
Universität Wien, seit 1989<br />
wissenschaftliche Mit-<br />
arbeiterin am Institut für<br />
Stadt- <strong>und</strong> Regionalforschung<br />
<strong>der</strong> Österreichischen<br />
Akademie <strong>der</strong><br />
Wissenschaften; For -<br />
schungsinteressen:<br />
Migration <strong>und</strong> Integration<br />
(vor allem auf dem<br />
Wohnungsmarkt), interethnischesZusammenleben,<br />
Stadtentwicklung.<br />
Zudem erhebt sich die Frage, welche Gruppen auf<br />
dem Wohnungsmarkt nach wie vor benachteiligt<br />
sind <strong>und</strong> mit welchen Trends zu rechnen sein dürfte.<br />
Österreicher sind vor allem Hauseigentümer<br />
o<strong>der</strong> Mieter<br />
Die Zahl <strong>der</strong> Hauptwohnsitzwohnungen betrug in<br />
Österreich im Jahresdurchschnitt 2010 3.624.300;<br />
ein Vergleich zeigt, dass die Zahl <strong>der</strong> Wohnungen in<br />
den zweieinhalb Dekaden seit 1985 erheblich stärker<br />
(+23,5 %) gewachsen ist als die Bevölkerung (+9,8 %).<br />
Dieser Wert, dem auch die Zahl <strong>der</strong> Privathaushalte<br />
entspricht, war somit um 26.000 höher als 2009. Herr<br />
o<strong>der</strong> Frau Österreicher sind entwe<strong>der</strong> Haus eigentümer<br />
o<strong>der</strong> leben zur Miete. Beide Rechtsformen<br />
halten einan<strong>der</strong> mit fast 40 % die Waage. Hierbei<br />
kristallisiert sich aber ein deutliches Stadt-Land-<br />
Gefälle heraus. Während in Kleingemeinden des<br />
ländlichen Raums, aber auch in den Speckgürteln<br />
<strong>der</strong> suburbanen Zonen <strong>der</strong> Einfamilienhausbesitz<br />
bei Weitem dominiert, sind Hauptmieten vor allem<br />
eine Rechtsform des Wohnungsmarktes in größeren<br />
Agglomerationen, allen voran in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eshauptstadt.<br />
In Relation dazu schwächer ausgeprägt<br />
war seit 1985 die Zunahme beim Wohnungseigentum.<br />
Ein Blick auf das Alter des Wohnungsbestands<br />
lässt eine recht gleichmäßige Verteilung erkennen.<br />
Durch Abrisse stark reduziert (–11,7 %) hat sich lediglich<br />
das vor 1919 errichtete Bausegment, welches<br />
sich aber in erster Linie auf Wien konzentriert.<br />
Den hohen Scheidungsraten zum Trotz lebt das Gros<br />
<strong>der</strong> österreichischen Bevölkerung (62,6 % <strong>der</strong> Haushalte)<br />
nach wie vor in Familienhaushalten, wobei in<br />
diese Kategorie statistisch auch kin<strong>der</strong>lose Ehepaare<br />
sowie AlleinerzieherInnen inkludiert werden. Der<br />
Familienhaushalt dominiert nach wie vor im ländlichen<br />
<strong>und</strong> kleinstädtischen Kontext.<br />
Das in erster Linie urbane Phänomen <strong>der</strong> So konnte die<br />
Singularisierung hat allerdings auch vor Öster- Kategorie <strong>der</strong><br />
Einpersonenhausreich<br />
nicht haltgemacht <strong>und</strong> spiegelt sich in<br />
halte innerhalb<br />
einer Reduktion <strong>der</strong> Haushaltsgrößen wi<strong>der</strong>.<br />
von nur fünf Jahren<br />
(2005–2010) einen beachtlichen Zuwachs von 8,1 %<br />
verzeichnen! Mehr als 1,3 Mio. Österreicher leben<br />
alleine, darunter deutlich mehr Frauen als Männer.<br />
Die Zunahme bei den Familienhaushalten, in erster<br />
Linie Kleinfamilien, bleibt demgegenüber mit<br />
nicht einmal 2 % bescheiden. Die Mehrgenerationengroßfamilie<br />
gehört auch in den peripher-ländlichen<br />
Räumen bereits nahezu <strong>der</strong> Vergangenheit an.<br />
Deutliche Verbesserung des Wohnstandards <strong>und</strong><br />
Disparitäten zwischen den B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />
Die Positionierung von Haushalten auf dem Wohnungsmarkt<br />
wird in erster Linie durch die verfügbaren<br />
finanziellen Ressourcen determiniert.<br />
Schlüsselfaktoren <strong>der</strong> Wohnintegration, auch im<br />
internationalen Vergleich, sind daher die Leistbarkeit,<br />
die Größe <strong>und</strong> die Qualität von Wohnungen.<br />
Die Leistbarkeit spiegelt sich im Anteil <strong>der</strong> Wohnaufwendungen<br />
am Haushaltseinkommen wi<strong>der</strong>,<br />
die pro Person zur Verfügung stehende Wohnnutz-<br />
fläche repräsentiert ein objektiv vergleichbares<br />
Belagskriterium. Die durchschnittliche Personenzahl<br />
pro bewohnte Wohnung lag 2010 bei 2,29, wobei<br />
die Belegungsdichte in den Familienhaushalten<br />
mit 3,03 signifikant höher war. Die Wohnfläche ist<br />
in den vergangenen Dekaden kontinuierlich angestiegen.<br />
So lag die durchschnittliche Nutzfläche<br />
pro Wohnung, die 2000 noch 90,6 m² betrug, 2010<br />
bereits bei 99,1 m². Damit stehen nun jedem Österreicher<br />
im Durchschnitt 43,3 m² zur Verfügung.<br />
Krass tritt <strong>der</strong> Unterschied zwischen Familien-<br />
<strong>und</strong> Singlehaushalten zutage. Letztere können<br />
mit fast 75 m² r<strong>und</strong> doppelt so viel Wohnraum<br />
nutzen wie in Familienhaushalten lebende<br />
Personen, wobei bei Letzteren kin<strong>der</strong>lose Ehe -<br />
paare, aber auch alleinerziehende Väter deutlich<br />
besser gestellt sind als alleinerziehende Frauen<br />
<strong>und</strong> vor allem Paare mit Kin<strong>der</strong>n.<br />
Es besteht ein deutliches Land-Stadt-Gefälle in<br />
Bezug auf Wohnflächen <strong>und</strong> Wohnqualität. Überbelag<br />
ist in erster Linie ein urbanes Phänomen,<br />
ebenso standardmäßig defizitäre Wohnungsausstattung.<br />
Laut Mikrozensus fehlte 2007 nur in 1,9 %<br />
<strong>der</strong> österreichischen Hauptsitzwohnungen ein<br />
Innen-WC, in Wien war <strong>der</strong> Anteil mit 5,6 % deutlich<br />
höher (Statistik <strong>Austria</strong> 2008). Zugleich hat sich<br />
auch <strong>der</strong> Wohnstandard wesentlich verbessert.<br />
So hat die beste Ausstattungskategorie A (mit Badezimmer<br />
o<strong>der</strong> Duschnische, WC <strong>und</strong> Zentralheizung)<br />
seit 1985 um nahezu 40 % zugenommen, bei entsprechen<strong>der</strong><br />
Reduktion <strong>der</strong> Kategorien B bis D.<br />
2010 wiesen 91,4 % <strong>der</strong> Wohnungen im B<strong>und</strong>esgebiet<br />
bereits einen optimalen Standard auf – gegenüber<br />
noch 84,9 % im Jahr 2000. Stark zugenommen<br />
hat auch die Beheizung mittels Zentralheizung<br />
o<strong>der</strong> Fernwärme, gestiegen ist allerdings auch <strong>der</strong><br />
durchschnittliche Wohnungsaufwand, was zu einer<br />
Verstärkung <strong>der</strong> sozioökonomischen Polarisierung<br />
beigetragen hat.<br />
Der Vergleich zwischen den B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />
belegt auch hinsichtlich des Wohnens ausgeprägte<br />
strukturelle Unterschiede. So weist die B<strong>und</strong>eshauptstadt<br />
Wien traditionell einen vom Mietwohnungssektor<br />
geprägten Wohnungsmarkt auf. Mehr<br />
als 75 % <strong>der</strong> Wiener bewohnen Hauptmietwohnungen,<br />
etwas mehr als 13 % weisen den Status von<br />
Wohnungseigentümern auf <strong>und</strong> bloß eine kleine<br />
Min<strong>der</strong>heit von 7,9 % gehört <strong>der</strong> privilegierten Kategorie<br />
<strong>der</strong> Hauseigentümer an.<br />
In Nie<strong>der</strong>österreich liegt <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Hauseigentümer<br />
bei zwei Dritteln. Von Wien einmal abgesehen,<br />
sind es Salzburg <strong>und</strong> Tirol, wo die Anteile des<br />
Hauseigentums vergleichsweise geringer ausfallen.<br />
Naturgemäß unterscheidet sich Wien auch hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Bebauungsstruktur gravierend vom Rest<br />
des B<strong>und</strong>esgebiets. Während im Gesamtdurchschnitt<br />
bloß 13,1 % <strong>der</strong> Österreicher in Gebäuden mit<br />
20 <strong>und</strong> mehr Wohnungen leben, sind es in Wien<br />
45,8 % <strong>und</strong> im Burgenland sogar nur 1,2 %.<br />
12 | 13 285<br />
Wohnen in Österreich – Zwischen Hauseigentum <strong>und</strong> Miete Wohnen in Österreich – Zwischen Hauseigentum <strong>und</strong> Miete
Haushalte mit Migrationshintergr<strong>und</strong> beson<strong>der</strong>s<br />
benachteiligt<br />
Die mit Abstand meisten Hauseigentümer (79,3 %) Die Entwicklungen<br />
leben jedoch nicht in den wohlhaben<strong>der</strong>en west- auf dem Arbeits-<br />
lichen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n im Burgenland.<br />
markt haben nachhaltigeAuswirkungen<br />
auf den Zugang zum Wohnungsmarkt.<br />
In den letzten Jahren nahmen auch im Sozialstaat<br />
ökonomische Marginalisierung <strong>und</strong> soziale Polarisierung<br />
zu. Armutsgefährdung <strong>und</strong> die damit einhergehenden<br />
Konsequenzen für das Wohnen wie<br />
überproportionale Wohnkostenbelastung, Überbe-<br />
lag <strong>und</strong> unterdurchschnittliche<br />
Wohnqualität<br />
betreffen vor allem<br />
Haushalte von<br />
Zuwan<strong>der</strong>ern, aber auch Arbeitslose <strong>und</strong> Alleinerziehende<br />
(in erster Linie Mütter) sowie alleinlebende<br />
Frauen. Die Wohnkostenbelastung betrifft vor allem<br />
armutsgefährdete Haushalte überproportional.<br />
Laut eu-silc 2007 wenden 38 % <strong>der</strong> Haushalte in<br />
Gemeindewohnungen mehr als ein Viertel des<br />
Einkommens für Wohnkosten auf. Haushalte mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong> leben – den Beschäftigungsmöglichkeiten<br />
auf dem Arbeitsmarkt gemäß – vor<br />
allem in Städten <strong>und</strong> damit auch seltener in Ein-<br />
o<strong>der</strong> Zweifamilienhäusern, son<strong>der</strong>n vor allem im<br />
Geschoßwohnbau.<br />
Markant ist die Benachteiligung von Personen<br />
mit Migrationshintergr<strong>und</strong> auf dem Wohnungsmarkt,<br />
wobei sich aber deutliche Unterschiede<br />
zwischen eu-Bürgern <strong>und</strong> Drittstaatsangehörigen<br />
manifestieren.<br />
Soziale <strong>und</strong> ökonomische Ungleichheiten<br />
spiegeln sich auch <strong>und</strong> gerade in <strong>der</strong> Wohnversorgung<br />
wi<strong>der</strong>.<br />
Literatur <strong>und</strong> Quellen:<br />
Karl Czasny et al. (2008),<br />
Wohnzufriedenheit<br />
<strong>und</strong> Wohnbedingungen<br />
in Österreich im europäischen<br />
Vergleich, srz,<br />
Wien.<br />
Datler, G. & M. Mahidi<br />
(2009), Armutsgefährdung<br />
<strong>und</strong> Wohnsituation,<br />
Statistische Nachrichten<br />
6, S. 458–473.<br />
Donner, Ch. (o. J.), Zur<br />
Neudefinition <strong>der</strong><br />
österreichischen Wohnungspolitik.<br />
Ist die<br />
Wohnbauför<strong>der</strong>ung so-<br />
zial treffsicher <strong>und</strong><br />
ökonomisch effizient?<br />
(http://www.donner.at/<br />
christian/texte/neudef.<br />
html).<br />
Raiffeisen (Hg.)<br />
(2011), Die Wohntrends<br />
<strong>der</strong> Zukunft.<br />
Statistik <strong>Austria</strong> (Hg.)<br />
(2008), Wohnen. Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> Wohnungserhebung<br />
im Mikrozensus.<br />
Jahresdurchschnitt<br />
2007, Wien.<br />
Statistik <strong>Austria</strong> (Hg.)<br />
(2011), Wohnen. Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> Wohnungserhebung<br />
im Mikrozensus.<br />
Jahresdurchschnitt<br />
2010.<br />
Unabhängig vom Einkommen gilt, dass österreichische<br />
Staatsbürger im Durchschnitt doppelt so<br />
viel Wohnfläche (36 m²) zur Verfügung haben wie<br />
Personen ohne eu-Staatsbürgerschaft (19 m²).<br />
In Haushalten mit Kin<strong>der</strong>n tritt Überbelag überhaupt<br />
häufiger auf, beson<strong>der</strong>s bei geringem Haushaltseinkommen.<br />
Die Diskriminierung hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Wohnfläche betrifft in erster Linie die türkische<br />
(21 m²) sowie die ex-jugoslawische (26 m²) Wohnbevölkerung.<br />
eu-Bürgerinnen verfügen mit 47 m²<br />
sogar über überdurchschnittlich viel Wohnraum.<br />
Generell hat sich die Wohnversorgung im Vergleich<br />
zwischen erster <strong>und</strong> zweiter Zuwan<strong>der</strong>ergeneration<br />
zwar deutlich verbessert, bei Migranten aus <strong>der</strong><br />
Türkei allerdings am wenigsten.<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Zukunft: Immigration<br />
<strong>und</strong> demografische Alterung<br />
Wie positioniert sich Österreich im eu-Vergleich<br />
<strong>und</strong> welche wohnungspolitischen Trends sind für<br />
die Zukunft zu prognostizieren? Österreich zählt<br />
zu den durch effiziente wohnungspolitische Aktivitäten<br />
charakterisierten Wohlfahrtsstaaten. Wie<br />
die Analyse <strong>der</strong> Daten aus dem Eurobarometer, dem<br />
European Quality of Life Survey (eqls) <strong>und</strong> dem<br />
European Social Survey (ess) belegen, stellen gute<br />
Wohnbedingungen <strong>und</strong> hohe Wohnzufriedenheit<br />
einen <strong>der</strong> wichtigen Pluspunkte Österreichs im<br />
internationalen Vergleich dar. Die Alpenrepublik<br />
befindet sich hinsichtlich <strong>der</strong> allgemeinen Lebenszufriedenheit<br />
sogar im europäischen Spitzenfeld.<br />
Bei anhaltend steigen<strong>der</strong> Lebenserwartung <strong>und</strong><br />
einem Mehr an Zuwan<strong>der</strong>ung könnte die Einwohnerzahl<br />
<strong>der</strong> Meinung von H. Faßmann (Raiffeisen 2011)<br />
gemäß bis 2030 auf 9 Millionen steigen. Damit wird<br />
auch die Zahl <strong>der</strong> Haushalte wachsen.<br />
Hinzu kommt <strong>der</strong> anhaltende Trend zur Singularisierung,<br />
<strong>der</strong> sich infolge <strong>der</strong> demografischen<br />
Alterung noch verstärken wird.<br />
Doch nicht nur quantitative, son<strong>der</strong>n auch qualitative<br />
Faktoren werden zu einer Steigerung <strong>der</strong> Wohnungsnachfrage<br />
beitragen. Die Wohnansprüche <strong>der</strong><br />
Österreicher sowie auch jene <strong>der</strong> Zuwan<strong>der</strong>er sind<br />
in den vergangenen Dekaden kontinuierlich gestiegen,<br />
dies betrifft sowohl die Wohnflächen als auch<br />
die standardmäßige Ausstattung. Es ist davon auszugehen,<br />
dass sich das Wohnanspruchsniveau auch<br />
in Zukunft nicht verringern wird. In den aktuellen<br />
Zeiten <strong>der</strong> Krise steigt die Nachfrage auf dem Immobiliensektor<br />
zusätzlich durch das Bedürfnis vieler<br />
Anleger, ihr monetäres Vermögen in relativ sichere<br />
Vermögenswerte zu investieren. Aus geografischer<br />
Perspektive werden sich diese Trends aber vor allem<br />
in den urbanen Agglomerationen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Suburbia<br />
vollziehen. Diese sind die Gewinner <strong>der</strong> Internationalisierung<br />
<strong>und</strong> des Strukturwandels. Der<br />
ländliche Raum wird Wohnbevölkerung eher verlieren,<br />
leer stehen<strong>der</strong> Wohnbestand wird bestenfalls<br />
an städtische Zweitwohnsitzer abgestoßen werden<br />
können. Die Alterung wird die Umsetzung innovativer<br />
Wohnmodelle wie betreutes <strong>und</strong> altersgerechtes<br />
Wohnen erfor<strong>der</strong>n. Die anhaltende Zuwan<strong>der</strong>ung<br />
lässt auch den Bedarf an integrativen Wohnformen<br />
steigen.<br />
Die Autoren plädieren für die Fortführung einer<br />
aktiven <strong>und</strong> sozial orientierten Wohnungspolitik.<br />
Zudem erscheint es wichtig, das Volumen <strong>der</strong> Wohnbauför<strong>der</strong>ung<br />
an den infolge einer kontinuierlich<br />
hohen Migration (vor allem in den städtischen<br />
Agglomerationen <strong>der</strong> Ostregion) steigenden Wohnungsbedarf<br />
anzupassen. In <strong>der</strong> Mietenpolitik ist<br />
ein verbesserter rechtlicher Schutz gegen Wohnkostenanstiege<br />
<strong>und</strong> gegen die aufgr<strong>und</strong> verstärkten<br />
Nachfragedrucks steigenden Preise angebracht.<br />
Wohn- <strong>und</strong> Sozialpolitik sind aufgefor<strong>der</strong>t, weitere<br />
Anstrengungen zur Erhaltung des hohen Standards<br />
des heimischen Wohlfahrtssystems unter den sich<br />
verän<strong>der</strong>nden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
zu unternehmen. �<br />
Personen in Privatwohnungen nach dem Rechtsverhältnis <strong>und</strong><br />
B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n, 2010 (Quelle: Statistik <strong>Austria</strong>, Mikrozensus)<br />
Durchschnittliche Nutzfläche in m 2 pro Person nach Haushalts- <strong>und</strong><br />
Familientypen, 2010 (Quelle: Statistik <strong>Austria</strong>, Mikrozensus)<br />
0 10 20 30 40 50 60 70<br />
14 | 15 285<br />
Wohnen in Österreich – Zwischen Hauseigentum <strong>und</strong> Miete Wohnen in Österreich – Zwischen Hauseigentum <strong>und</strong> Miete<br />
Österreich<br />
Burgenland<br />
Nie<strong>der</strong>österreich<br />
Kärnten<br />
Steiermark<br />
Vorarlberg<br />
Oberösterreich<br />
Tirol<br />
Salzburg<br />
Wien<br />
0% 20% 40% 60% 80% 100%<br />
Hauseigentümer<br />
Wohnungseigentümer<br />
Hauptmieter<br />
Sonstige<br />
Familienhaushalte<br />
Einfamilienhaushalte<br />
Ehepaar ohne Kind<br />
Ehepaar mit Kind(ern)<br />
Vater mit Kind(ern)<br />
Mutter mit Kind(ern)<br />
Zwei- o<strong>der</strong> Mehrfamilienhaushalte<br />
Nichtfamilienhaushalte<br />
Einpersonenhaushalte<br />
darunter: Männer<br />
darunter: Frauen<br />
Mehrpersonenhaushalte<br />
insgesamt
Andreas Rumpfhuber ist<br />
Architekt <strong>und</strong> Forscher<br />
mit Arbeitsschwerpunkt<br />
(innen)räumlicher Orga-<br />
nisation, neue Arbeitsverhältnisse<br />
<strong>und</strong> Architektur<br />
als emanzipatorische <strong>und</strong><br />
politische Praxis. Zurzeit<br />
ist er Projektleiter des<br />
Wiener Teilprojektes des<br />
hera/esf-Projektes scibe<br />
<strong>und</strong> leitet das fwf-Einzelprojekt<br />
„Architektur <strong>der</strong><br />
Organisationskybernetik“<br />
<strong>und</strong> veranstaltet seit 2010<br />
den Theoriesalon in Wien.<br />
www.expandeddesign.org<br />
Sozialer <strong>und</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>ter Wohnbau<br />
in Zeiten des Finanzkapitalismus 1 |<br />
Über die Ökonomisierung aller Lebensbereiche<br />
Öffentlicher <strong>und</strong> sozialer Wohnbau waren einst<br />
allgemein legitimierte Mittel <strong>der</strong> westeuropäischen<br />
Politik, um in die wirtschaftlichen, sozialen <strong>und</strong><br />
kulturellen Prozesse <strong>der</strong> Gesellschaft einzugreifen.<br />
Vor<strong>der</strong>gründiges Ziel war, eine möglichst gleiche<br />
Verteilung des sich immer weiter ausdehnenden<br />
Wohlstandes für möglichst alle zu gewährleisten<br />
<strong>und</strong> damit auch pädagogisch <strong>und</strong> kulturell auf die<br />
zu erziehende <strong>und</strong> zu regierende Bevölkerung einzuwirken.<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten war <strong>der</strong> Plan die<br />
Implementierung einer toleranten, möglichst konfliktfreien,<br />
sozial-liberalen Wohlfahrtsgesellschaft,<br />
<strong>der</strong>en Ökonomie auf <strong>der</strong> Vorstellung von zyklischem<br />
Wachstum <strong>und</strong> konstantem Überfluss fußte <strong>und</strong><br />
durch staatliche Marktregulierungen <strong>und</strong> dem<br />
Ausbau sozialer Sicherheitssysteme gesteuert wurde.<br />
Eine <strong>der</strong> Architektur zugesprochene Rolle war es, Mit <strong>der</strong> aktuellen<br />
rationale Entwurfsmethoden, standardisierte Finanzkrise <strong>und</strong><br />
Design- <strong>und</strong> Raumlösungen zu schaffen, die direkt<br />
<strong>der</strong> damit einhergehenden<br />
allseits<br />
auf die allgemeine Zufriedenheit <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
gutgläubig goutier-<br />
einwirkten <strong>und</strong> ihr friedfertiges Zusammenleben ten o<strong>der</strong> zumin-<br />
sicherstellen sollten.<br />
dest für notwendig<br />
bef<strong>und</strong>enen Sparpolitik<br />
wird eine dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat<br />
gegenläufige Entwicklung des Finanzkapitalismus<br />
seit den 1970er-Jahren überdeutlich.<br />
Allgemein kann man diese postdemokratische<br />
Ideologie 2 mit <strong>der</strong> radikalen Ökonomisierung<br />
aller Lebensbereiche unseres Lebens beschreiben.<br />
Sie stellt die Raumproduktion <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e den<br />
sozialen <strong>und</strong> öffentlichen Wohnungsbau vor neue<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen, die nicht nur bloß empirisch,<br />
son<strong>der</strong>n vorerst systematisch verstanden werden<br />
müssen.<br />
Die Geschichte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen, funktional ausdifferenzierten<br />
Wohlfahrtsgesellschaft <strong>und</strong> ihres<br />
Wohnbaus war keinesfalls gleichförmig, wie sie<br />
heute mitunter mythologisiert wird. Die demokratische<br />
Gesellschaft im Allgemeinen war <strong>und</strong> ist<br />
eingebettet in ein Netz von unterschiedlichen Interessen,<br />
geprägt von gegenläufigen Dynamiken, von<br />
Brüchen, Konflikten <strong>und</strong> Protestbewegungen. Im<br />
Architekturdiskurs war es direkt nach dem Krieg<br />
zum Beispiel die Kybernetik, die eine emanzipatorische<br />
Designpraxis durch den Einsatz von Rechenautomaten<br />
<strong>und</strong> Standardisierung versprach.<br />
Mit den Protestbewegungen Ende <strong>der</strong> 1960er-<br />
Jahre wurde dann zunehmend eben diese<br />
Rationalisierung <strong>und</strong> Technologiegläubigkeit<br />
als Produktivkraft für das kapitalistische<br />
Wirtschaftssystem des Wohlfahrtsstaates<br />
offen kritisiert <strong>und</strong> im Wohnbau dann durch<br />
die partizipative Einbindung zukünftiger<br />
Be woh nerinnen <strong>und</strong> Bewohner in den Entwurf<br />
des standardisierten Fertigteilbaus erweitert.<br />
Viele dieser Experimente waren damals nicht von<br />
<strong>der</strong> öffentlichen Hand finanziert, son<strong>der</strong>n waren<br />
wie bei Ottokar Uhl durch die Kirche unterstützt<br />
o<strong>der</strong> waren, gar gleich wie im Beispiel des <strong>Architekten</strong><br />
Fritz Matzinger, komplett freifinanziert. Als<br />
Einzelunternehmer, <strong>der</strong> seit 1974 als Developer-<br />
Architekt auftrat, affirmierte <strong>der</strong> Linzer zudem einen<br />
gesellschaftlichen Umbruch, <strong>der</strong> für die heutige<br />
Finanzkrise, ihre einhergehende Sparpolitik <strong>und</strong><br />
die allgemeine Diskussion über sozialen Wohnbau<br />
maßgeblich ist. Zum einen wird dieser Umbruch<br />
durch die weitgehende Entkoppelung <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
vom Realkapital markiert. Seit <strong>der</strong> Auflösung des<br />
Bretton-Woods-Abkommens 1973 <strong>und</strong> <strong>der</strong> dadurch<br />
einhergehenden Instabilität von Wechselkursen,<br />
Rohstoffpreisen, Aktienkursen <strong>und</strong> Zinssätzen hat<br />
sich das Gewinnstreben von real- zu finanzwirtschaftlichen<br />
Aktivitäten, bei bedeutend geringerem<br />
Wirtschaftswachstum in den Jahren zuvor, ent wickelt.<br />
Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> die<br />
Staatsverschuldung erhöhte sich. Damit wurde à la<br />
longue die Position des Sozialstaats <strong>und</strong> seiner<br />
Instrumente wie den sozialen Wohnbau geschwächt. 3<br />
16 | 17 285<br />
Sozialer <strong>und</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>ter Wohnbau<br />
1 Die Forschung zu<br />
diesem Text wird vom<br />
European Science F<strong>und</strong>/<br />
heranet.info im Rahmen<br />
des Forschungsprojektes<br />
scibe – Scarcity and<br />
Creativity in the Built<br />
Environment (www.<br />
scibe.eu) geför<strong>der</strong>t. Der<br />
Autor ist Projektleiter<br />
des Wiener Teilprojektes<br />
„Modelling Vienna“.<br />
2 Vgl. Colin Crouch,<br />
Postdemokratie, Suhrkamp<br />
Verlag, 2008;<br />
Jacques Rancière, Das<br />
Unvernehmen: Politik<br />
Und Philosophie, Suhrkamp<br />
Verlag, 2002.<br />
3 Vgl. Stephan Schulmeister,<br />
Anmerkungen<br />
zu Wirtschaftspolitik<br />
<strong>und</strong> Wachstumsdynamik<br />
in Österreich seit<br />
1955, in: Physiognomie<br />
Der 2. Republik, hg.<br />
Gerbert Frodl, Paul<br />
Kruntorad and Manfried<br />
Rauchensteiner, Czernin<br />
Verlag, Wien 2005, S.<br />
333–365.<br />
4 Maurizio Lazzarato,<br />
Immaterielle Arbeit, in:<br />
Umherschweifende<br />
Produzenten, immaterielle<br />
Arbeit <strong>und</strong> Subversion,<br />
hg. Thomas Atzert,<br />
1. Auflage, ID-Verlag,<br />
Berlin 1998, S. 39–52.<br />
5 Mario Tronti, Arbeiter<br />
<strong>und</strong> Kapital, Verlag Neue<br />
Kritik, Frankfurt 1974.<br />
6 Andreas Rumpfhuber,<br />
Michael Klein and Georg<br />
Kolmayr, Hg., Das Modell<br />
Wiener Wohnbau. Vom<br />
Superblock zur Überstadt,<br />
in: Dérive, Zeitschrift für<br />
Stadtforschung, no. #46,<br />
(März 2012).<br />
7 Luc Boltanski and Ève<br />
Chiapello, Der neue<br />
Geist des Kapitalismus,<br />
Édition Discours 38,<br />
uvk Verlagsgesellschaft,<br />
Konstanz 2006.<br />
8 Friedrich Engels, Zur<br />
Wohnungsfrage, in:<br />
Werke, von Karl Marx<br />
<strong>und</strong> Friedrich Engels,<br />
Bd. 18, Dietz Verlag,<br />
Berlin 1973, http://www.<br />
mlwerke.de/me/me18/<br />
me18_209.htm.<br />
Zum an<strong>der</strong>en ist es die allgemeine Restrukturierung<br />
<strong>der</strong> Arbeitsprozesse seit den 1960er-Jahren hin<br />
zu einer heute in den westlichen Industriestaaten<br />
dominierenden Form <strong>der</strong> immateriellen Arbeit, 4 des<br />
zunehmenden Service- <strong>und</strong> Dienstleistungssektors,<br />
die den sozialen Wohnbau in seiner mo<strong>der</strong>nistischen<br />
Ausformung als reine Wohnstätte problematisiert.<br />
Für die Architektur <strong>und</strong> Wohnraumproduktion<br />
ist vor allem die vom italienischen Philosophen<br />
Mario Tronti treffend als die gesellschaftliche<br />
Fabrik bezeichnete Entgrenzung <strong>der</strong> vormals klar<br />
definierten städtischen Funktionen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne –<br />
Arbeiten, Wohnen, Freizeit – signifikant. 5<br />
Von dem abgesehen, dass auch Hausarbeit als<br />
Teil des gesellschaftlichen Produktionsprozesses<br />
mitgedacht werden muss, wird die Wohnung<br />
zunehmend auch zum Arbeitsplatz für (kreative)<br />
Einzelunternehmer <strong>und</strong> Heimarbeiter, die<br />
zudem mitunter nicht mehr im standardisierten<br />
Familienverb<strong>und</strong> Mann-Frau-Kind(er)-Haustier(e)<br />
leben, son<strong>der</strong>n alternative Lebensentwürfe<br />
praktizieren.<br />
Es hat sich also seit den frühen 1970er-Jahren eine<br />
Situation für den sozialen <strong>und</strong> öffentlichen Wohnbau<br />
herausgebildet, die die öffentliche För<strong>der</strong>ung<br />
o<strong>der</strong> Finanzierung infrage stellt <strong>und</strong> die räumliche<br />
Organisation des standardisierten Wohnraums vor<br />
neue Herausfor<strong>der</strong>ungen stellt.<br />
Auf einer gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />
Ebene reagierten die Kommunen <strong>und</strong> Län<strong>der</strong> auf<br />
die neuen Herausfor<strong>der</strong>ungen oft mit <strong>der</strong> Privatisierung<br />
des öffentlichen Wohnungsbaus. In Wien zum<br />
Beispiel wurde dagegen eine Liberalisierung <strong>der</strong><br />
Wohnbauproduktion durchgeführt, die es <strong>der</strong><br />
Stadtverwaltung bis heute erlaubte, nicht nur die<br />
Gemeindebauten weiterhin zu verwalten, son<strong>der</strong>n<br />
zudem ihren Einfluss auf die Raumproduktion<br />
durch Gr<strong>und</strong>stücksbereitstellung, städtebauliche<br />
Rahmen, die Einführung von Qualitätskriterien<br />
sogar noch auszuweiten <strong>und</strong> heute nicht nur<br />
bei nahe 50 % des Wohnraums direkt <strong>und</strong> indirekt<br />
zu steuern <strong>und</strong> damit auch weitgehend die Immobilienpreise<br />
<strong>und</strong> die Qualität des kompletten<br />
Marktes zu bestimmen. 6<br />
All diese Reaktionen spiegeln die Logik <strong>der</strong><br />
finanzkapitalistischen Ökonomie <strong>und</strong> ihren Diskurs<br />
wi<strong>der</strong>, die seit den 1970er-Jahre ein ungeahntes<br />
exponentielles Wachstum an Reichtum <strong>und</strong> Freiheit<br />
für jeden Einzelnen durch Individualisierung <strong>und</strong><br />
Privatisierung verspricht. Jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> ist von nun<br />
an für die eigenen Handlungen, für das wirtschaft-<br />
In <strong>der</strong> konkreten Raumproduktion reagierte<br />
man mit verschiedenen räumlichen <strong>und</strong> sozialen<br />
Stra te gien <strong>der</strong> Individualisierung: seien es<br />
tetrisartige Raumgefüge, die möglichst viele<br />
verschiedene Wohnungstypen in einem Geschossbau<br />
zur Ver fügung stellen, seien es Stra-<br />
tegien des Selbst(aus)baus <strong>und</strong> <strong>der</strong> Partizipation.<br />
liche Glück, das<br />
hier mit dem persönlichen<br />
Glück<br />
gleichgesetzt wird,<br />
selbst verantwortlich.<br />
Alle können<br />
sich kreativ <strong>und</strong><br />
spontan ihren<br />
Lebenstraum er-<br />
füllen, so das populäre Versprechen. Jedoch wird in<br />
dieser bekannten Erzählung unter an<strong>der</strong>em darauf<br />
vergessen, dass Kreativität, Spontaneität, Originalität<br />
nicht mehr nur <strong>der</strong> Sphäre jenseits reproduktiver<br />
Zwänge zuzuordnen sind, son<strong>der</strong>n viel mehr mit <strong>der</strong><br />
Restrukturierung <strong>und</strong> Entgrenzung unserer Arbeitswelt<br />
hin zur gesellschaftlichen Fabrik direkt verknüpft<br />
sind <strong>und</strong> heute eine wichtige Produktivkraft<br />
des aktuellen Wirtschaftssystems sind. 7<br />
Die finanzkapitalistische Ökonomie produziert<br />
nicht nur einen virtuellen Überfluss, son<strong>der</strong>n gleichzeitig<br />
auch, wie bereits oben kurz angedeutet, eine<br />
Knappheit in <strong>der</strong> Realökonomie, die die Utopien des<br />
Keynesianismus regelrecht verkehrt haben.<br />
War die Freizeitgesellschaft, o<strong>der</strong> zumindest die<br />
30-St<strong>und</strong>en-Woche in den 1960er-Jahren noch<br />
eine realistische Hoffnung aller Arbeiter <strong>und</strong><br />
Arbeitnehmer, so sind wir heute weiter denn je<br />
davon entfernt. Ähnliches trifft auch auf den<br />
sozialen <strong>und</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>ten Wohnbau zu.<br />
Anstatt weiterhin Wohnen für alle zu realisieren<br />
o<strong>der</strong> zumindest noch zu denken (zu versuchen) <strong>und</strong><br />
dabei die aktuellen räumlichen, organisatorischen<br />
sozialen <strong>und</strong> finanziellen Anfor<strong>der</strong>ungen kritisch<br />
zu reflektieren <strong>und</strong> gemeinsam an Lösungen für ein<br />
zeitgenössisches Zusammenleben aller zu arbeiten,<br />
wird das Instrument sozialer <strong>und</strong> öffentlich ge för<strong>der</strong>ter<br />
Wohnbau zum einen zunehmend durch<br />
Themen- <strong>und</strong> Baugruppenwohnbauten für ein je<br />
bestimmtes Zielpublikum <strong>und</strong> ihr bestimmtes<br />
Konsumverhalten partikularisiert <strong>und</strong> nicht individualisiert,<br />
wie so oft argumentiert wird. Zum<br />
an<strong>der</strong>en wird ganz allgemein <strong>und</strong> offen die soziale<br />
<strong>und</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>te Wohnbauproduktion<br />
zugunsten einer „maßgeschnei<strong>der</strong>ten“ <strong>und</strong> vor<br />
allem kurzfristig billigeren Subjektför<strong>der</strong>ung für<br />
die sogenannten sozialen Rän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
infrage gestellt. Genau dies aber sind Maßnahmen,<br />
die bereits un kritisch die liberale Ökonomie des<br />
Finanzkapitalismus akzeptieren, die Aktualität <strong>der</strong><br />
Wohnungsfrage 8 ignorieren <strong>und</strong> die voranschreitende<br />
Ökonomisierung unserer Gesellschaft verstärken.<br />
In dieser Situation gilt es, auf mehreren<br />
Ebenen das Design <strong>der</strong> sozialistischen Wohnbaupraxis<br />
zu aktualisieren, in dem ein ausgeweitetes<br />
Verständnis von Architektur <strong>und</strong> Design jenseits<br />
des bloß ästhetischen Objektes unabdingbar ist. �<br />
Sozialer <strong>und</strong> öffentlich geför<strong>der</strong>ter Wohnbau
wohn-ware standby |<br />
Technikkonzepte für zu Hause<br />
Renate Hammer *1969 /<br />
Seit 2011 Dekanin <strong>der</strong><br />
Fakultät für Kunst, Kultur<br />
<strong>und</strong> Bau <strong>der</strong> Donau-Universität<br />
Krems, Mitglied des<br />
Beirats für Baukultur im<br />
B<strong>und</strong>eskanzleramt.<br />
Studium <strong>der</strong> Architektur an<br />
<strong>der</strong> Technischen Universi-<br />
tät Wien <strong>und</strong> <strong>der</strong> Philoso-<br />
phie an <strong>der</strong> Universität<br />
Wien. Postgradual: Urban<br />
Engineering an <strong>der</strong> Univer-<br />
sity of Tokio, Solararchitektur<br />
an <strong>der</strong> Donau-Universität<br />
Krems.<br />
Peter Holzer *1967 /<br />
Seit 2008 Leiter des<br />
Departments für Bauen<br />
<strong>und</strong> Umwelt <strong>der</strong> Donau-<br />
Universität Krems, seit<br />
2011 geschäftsführen<strong>der</strong><br />
Gesellschafter <strong>der</strong> ipj<br />
Ingenieurbüro P.Jung<br />
GmbH.<br />
Die Autoren gründeten<br />
2009 die Kompetenzzentrum<br />
Future Building GmbH.<br />
1 Le Corbusier, Feststellungen<br />
zu Architektur<br />
<strong>und</strong> Städtebau, in: Bauwelt<br />
F<strong>und</strong>amente Nr. 12,<br />
Braunschweig/<br />
Wiesbaden 1964<br />
(2. Auflage 1987), S. 88.<br />
2 Umweltb<strong>und</strong>esamt<br />
(Hrsg.), Bericht: Treibhausgasemissionen<br />
1990–2009, Stand 2011,<br />
http://www.umweltb<strong>und</strong>esamt.at/fileadmin/<br />
site/presse/news_2011/<br />
thgemissionen2009.pdf.<br />
3 Umweltb<strong>und</strong>esamt<br />
(Hrsg.), Bericht: Treibhausgasemissionen<br />
1990–2009, Stand 2011,<br />
http://www.umweltb<strong>und</strong>esamt.at/fileadmin/<br />
site/presse/news_2011/<br />
thgemissionen2009.pdf.<br />
4 http://www.passiv.de/<br />
(Abfrage vom 02.02.2012)<br />
5 http://www.passivhaustagung.de/<br />
Passiv haus_D/Passivhaus_Definition.html,<br />
aktualisiert: 16.09.2005<br />
© Passivhaus Institut;<br />
6 http://www.igpassivhaus.at,<br />
Stand 2009,<br />
Abfrage vom 07.02.2012.<br />
1921 löst Le Corbusier mit seiner Wortschöpfung<br />
„Wohnmaschine“ die Diskussion des Wohnens in<br />
<strong>der</strong> Industriegesellschaft aus. Selbst bemerkt er<br />
dazu: „Wenn <strong>der</strong> Ausdruck Aufsehen erregt hat,<br />
so deshalb, weil er den Begriff ‚Maschine‘ enthält,<br />
<strong>der</strong> offenbar in allen Geistern die Vorstellung von<br />
Betrieb, Leistung, Arbeit, Produktion erweckt. Und<br />
<strong>der</strong> Ausdruck ‚Wohnen‘ lässt an ethische Begriffe<br />
denken, an ein Dauerndes, an die Organisation <strong>der</strong><br />
Existenz – sodass ein vollkommener Missklang<br />
entsteht.“ 1<br />
Heute leben wir unmittelbar mit <strong>der</strong> Maschine<br />
<strong>und</strong> vielfach in <strong>der</strong> Maschine,<br />
was aber so gut wie nichts mit <strong>der</strong> ingenieursmäßigen<br />
Konzeption des Wohnens an sich zu tun hat,<br />
wie sie Le Corbusier vorschwebte. Vielmehr speisen<br />
heute Einfamilienhausdach-integrierte Minikraftwerke<br />
Strom in öffentliche Netze <strong>und</strong> steuern softwarebasierte<br />
haustechnische Anlagen die Konditionierung<br />
des Innenraumklimas unserer Wohnungen.<br />
„Die Fenster kann man trotzdem aufmachen“ beschwichtigt<br />
oft <strong>und</strong> überzeugt selten in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
um das Anrecht auf Selbstbestimmtheit<br />
<strong>und</strong> die Umsetzung individueller Wohnwünsche<br />
versus maximaler Effizienz durch Technikeinsatz.<br />
Denn die Gestaltung des Wohnens ist wi<strong>der</strong> Erwarten<br />
keine Privatsache, son<strong>der</strong>n angesichts von Ressourcenknappheit<br />
speziell im Bereich <strong>der</strong> Energie <strong>und</strong><br />
des Klimawandels Gegenstand öffentlichen Interesses<br />
<strong>und</strong> politischer Lenkungsmaßnahmen.<br />
Die Aufbringung von Raumwärme <strong>und</strong> sonstiger<br />
Kleinverbrauch beim Wohnen verursacht in Österreich<br />
aktuell r<strong>und</strong> 14 % <strong>der</strong> Treibhausgasemissionen. 2<br />
Seit 1990 ist <strong>der</strong> Ausstoß um 21,8 % zurückgegangen,<br />
was die Optimierungspotenziale dieses<br />
Sektors deutlich macht.<br />
Um eine langfristige Klimastabilisierung zu erreichen,<br />
bedarf es laut Klimaexperten aber einer Verringerung<br />
um insgesamt etwa 80 % also um r<strong>und</strong> weitere<br />
60 % innerhalb <strong>der</strong> nächsten Jahrzehnte. 3<br />
Wohngebäude, die zur Erreichung dieses Wertes<br />
beitragen, müssen eine signifikant bessere Performance<br />
zeigen als <strong>der</strong> durchschnittliche Bestand.<br />
Die Umsetzung von drei gr<strong>und</strong>legenden Strategien<br />
hinsichtlich des Energiehaushaltes ist dafür unabdingbar<br />
umzusetzen: die Minimierung von Verlusten,<br />
die Maximierung passiver Gewinne <strong>und</strong> die<br />
Deckung des Restbedarfs aus regenerativen Quellen.<br />
R<strong>und</strong> um die Gewichtung dieser Strategien haben<br />
sich verschiedene Konzepte mit entsprechenden<br />
Bezeichnungen wie Aktivhaus, Passivhaus, Nullenergiehaus<br />
o<strong>der</strong> Plusenergiehaus entwickelt –<br />
begleitet von teils erbittert geführten Gr<strong>und</strong>satzdiskussionen.<br />
Die Grafik auf Seite 20 zeigt den<br />
kumulierten Energiebedarf exemplarischer Haustypen<br />
in Deutschland. 4<br />
Eine verbindliche Standardisierung <strong>und</strong> Zertifizierung<br />
liegt <strong>der</strong>zeit für das Passivhaus vor.<br />
„Ein Passivhaus ist ein Gebäude, in welchem die<br />
thermische Behaglichkeit (iso 7730) allein durch<br />
Nachheizen o<strong>der</strong> Nachkühlen des Frischluftvolumenstroms,<br />
<strong>der</strong> für ausreichende Luftqualität<br />
(din 1946) erfor<strong>der</strong>lich ist, gewährleistet werden<br />
kann – ohne dazu zusätzlich Umluft zu verwenden.“<br />
5<br />
Jede <strong>der</strong> drei Gr<strong>und</strong>strategien zur energetischen<br />
Optimierung lässt sich in Hinsicht auf die Bedürfnisse<br />
individueller Bewohner <strong>und</strong> generellen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an das Wohnen kritisch diskutieren.<br />
Die Minimierung von energetischen Verlusten<br />
aus dem Gebäudeinneren durch Transmission <strong>und</strong><br />
Lüftung hat weitreichende Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gebäudegestaltung<br />
<strong>und</strong> des Gebäudebetriebs gebracht.<br />
Um geringste Verluste zu gewährleisten, bedarf es<br />
einer kompakten Form mit reduzierten Oberflächen<br />
im Verhältnis zum umbauten Raum. Die Gebäudehülle<br />
muss luft- <strong>und</strong> winddicht sein <strong>und</strong> einen hohen<br />
Wärmedurchgangswi<strong>der</strong>stand aufweisen. Daraus<br />
resultieren je nach Konstruktionsweise Wandstärken<br />
zwischen 38 <strong>und</strong> 60 cm. Fenster sind aus Sicht <strong>der</strong><br />
Verlustminimierung die Schwachstellen des Gebäudes.<br />
Ihr Flächenanteil ist daher gering zu halten,<br />
beziehungsweise sind sie mit Bedacht auf ihre Orientierung<br />
zu positionieren <strong>und</strong> zu dimensionieren.<br />
Die Dichtheit <strong>der</strong> Gebäudehülle erfor<strong>der</strong>t in <strong>der</strong><br />
kalten Jahreszeit den Betrieb einer Lüftungsanlage,<br />
die mit Wärmerückgewinnung ausgestattet wird.<br />
Unter Einhaltung strikter Rahmenbedingungen<br />
kann das Gebäude auch ausschließlich über die<br />
Lüftungsanlage beheizt werden.<br />
Obwohl gerade in diesen Gebäuden die haustechnischen<br />
Anlagen hochgradig reduziert sind,<br />
sind es die verlustminimierenden Bauweisen, die in<br />
<strong>der</strong> Fachdiskussion häufig als die heutigen „Wohnmaschinen“<br />
kritisch diskutiert werden. Die betonte<br />
Notwendigkeit dichter Bauweise, die mechanische<br />
Lüftung, die gleichmäßige Temperaturverteilung in<br />
den Räumen, demnach ausgerechnet die von BefürworterInnen<br />
gelobten Qualitäten, stehen nach wie<br />
vor hoch in <strong>der</strong> Gunst des kritischen Fachdiskurses.<br />
Die Maximierung passiver Gewinne setzt auf die<br />
Ernte solarer Wärmeeinträge auf geeigneten<br />
Glasflächen im Zusammenspiel mit speicherwirksamen<br />
Massen.<br />
Das Prinzip ist alt. Sokrates beschrieb es vor knapp<br />
2500 Jahren. Mit <strong>der</strong> rasanten Entwicklung technischer<br />
Funktionsglasscheiben in tatsächlich den letz-<br />
ten Jahren haben sich neue Möglichkeiten ergeben.<br />
Selbst nach Norden ausgerichtete Fenster zeigen an<br />
heimischen Klimastandorten über die Heizperiode<br />
bilanziert keine schlechtere Gesamtperformance als<br />
passivhaustaug lich gedämmte Wände. Trotz ihrer<br />
Sonnenverb<strong>und</strong>en heit benötigen diese Gebäude aber<br />
vollumfängliche Heizsysteme: Wärmeerzeugung,<br />
-speicherung, -verteilung, -abgabe. Durchaus problematisch<br />
ist die Performance dieser Gebäude auch<br />
im Zusammenhang mit dem Auftreten von Überhitzung.<br />
Leben im Kollektor. Zu diskutieren sind an<br />
diesem Gebäudetyp auch die häufig vorzufindende<br />
18 | 19 285<br />
wohn-ware standby wohn-ware standby<br />
Unterordnung <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>risse an die Fassade, seine<br />
typologische Beschränkung auf tendenziell kleinvolumige<br />
Strukturen <strong>und</strong> sicherlich auch <strong>der</strong> Umgang<br />
mit dem Bedürfnis nach Uneinsichtigkeit <strong>und</strong><br />
mit <strong>der</strong> Möblierbarkeit großzügig verglaster Wohngebäude<br />
speziell im niedrigeren Preissegment mit<br />
kleinen Wohneinheiten. Dennoch sind diese Gebäude<br />
seltener Gegenstand kontroversieller Fachdiskussion,<br />
als es <strong>der</strong> zuvor beschriebene verlustminimierende<br />
Gebäudetyp ist, was sicherlich auch ihrer<br />
vorrangigen Verankerung im kleinvolumigen, privat<br />
finanzierten Segment geschuldet ist.
Altbau<br />
WSchVO 1984<br />
SB N 1980<br />
WSchVO 1995<br />
Niedrigenergiehaus<br />
Passivhaus<br />
Nullheizenergiehaus<br />
Nullenergiehaus<br />
Endenergiekennwert kWh⁄ (m 2 a)<br />
0 50 100 150 200 250 300<br />
Heizung Warmwasser Lüfterstrom Haushaltsstrom<br />
20 | 21 285<br />
wohn-ware standby<br />
18<br />
16<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
Treibhausgasemissionen Sektor Raumwärme 1990–2009<br />
in Mio. t CO2-Äquivalente<br />
Verän<strong>der</strong>ung 1990–2009: -21,8 %<br />
1990 1995 2000 2005 2008 2009<br />
2012<br />
Treibhausgasemissionen 1990–2009<br />
Klimastrategie 2007: Ziel 2008–2012<br />
Eine konsequente Umsetzung <strong>der</strong> Strategie <strong>der</strong><br />
Deckung des Restenergiebedarfs durch regenerative<br />
Energie führt schließlich zur Bereitstellung von Energie<br />
am Gebäude <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>stück selbst. Die Palette<br />
verfügbarer Technologien in unterschied lichen<br />
Entwicklungsstadien erstreckt sich mittlerweile auf<br />
vielfältige Kombinationen aus Biomasse kesseln,<br />
Erdkollektoren, Wärmepumpen, Blockheizkraftwerken,<br />
Brennstoffzellen, thermischer Solartechnik,<br />
pv-Anlagen <strong>und</strong> neu auch Kleinstwindkraftwerken.<br />
Um die Effizienz <strong>der</strong> teuren technischen Anlagen<br />
ausschöpfen zu können, ist ihre konsequente Auslastung<br />
<strong>und</strong> – im Fall <strong>der</strong> Solartechnik – eine konsequente<br />
Ausrichtung zur Sonne unerlässlich. Was<br />
aber an Strahlung für die Energiegewinnung geerntet<br />
wird, steht für die Tagesbelichtung <strong>der</strong> Innenräume<br />
nicht mehr zur Verfügung. Statt leben im<br />
Kollektor ein Leben hinter <strong>und</strong> unter dem Kollektor?<br />
Typische Herausfor<strong>der</strong>ungen bei diesen mit regenerativen<br />
Energien auf Nullenergie- o<strong>der</strong> Nullemissionsbilanzen<br />
zielenden Gebäuden liegen in ihrer<br />
gestalterischen Qualität, im hohen Finanzierungsbedarf<br />
<strong>und</strong> auch in technischen Schwierigkeiten <strong>der</strong><br />
Netzeinbindung, <strong>der</strong> Energiepufferung: Fieberhaft<br />
wird an neuen Speichertechnologien geforscht,<br />
thermisch wie auch elektrisch. Phasenwechselspeicher<br />
sollen eine kompakte Alternative zu den raumgreifenden<br />
Warmwasserspeichern bieten. Smart<br />
grids <strong>und</strong> e-mobility sind Hoffnungsträger im<br />
Management des erneuerbaren, aber unregelmäßig<br />
produzierten Stroms.<br />
Die neuen Gebäudekonzepte funktionieren,<br />
wenn sie funktionieren, belegt in zahlreichen Pilotbauten.<br />
Der Pilotphase eindeutig entwachsen ist<br />
das zuerst beschriebene Gebäudekonzept, die verlustminimierende<br />
Bauweise, mit mehr als 3000<br />
Wohnungen im Passivhausstandard bereits 2009<br />
allein in Österreich. 6<br />
Als Ursachen für ein dennoch auftretendes Auseinan<strong>der</strong>klaffen<br />
von Theorie <strong>und</strong> Praxis können im<br />
Einzelfall fast immer individuelle Fehler in Planung,<br />
Ausführung, Betrieb <strong>und</strong> Wartung benannt werden.<br />
Manchmal auch unrealistische Versprechungen<br />
an die künftigen NutzerInnen. Wie immer besteht<br />
Verbesserungsspielraum nach oben, für eine pauschale<br />
Verunglimpfung <strong>der</strong> „neuen“ Gebäudestandards<br />
besteht aber keine Gr<strong>und</strong>lage: Die NutzerInnenzufriedenheit<br />
in ihnen ist statistisch jedenfalls<br />
höher als in „herkömmlichen“ Gebäuden. Und mit<br />
einem Mindestmaß an Ergebniskontrolle, Monitoring<br />
also, kann die reale Performance fast immer an<br />
die prognostizierten Werte herangeführt werden.<br />
Kritisch zu hinterfragen sind aber tatsächlich<br />
alle erreichten Qualitäten innenräumlichen Wohnkomforts.<br />
Sie beruhen auf Normierungen, die hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> evolutionären Konzeption des Menschen für<br />
ein Leben im Außenraum nicht tauglich sind.<br />
Der menschliche Organismus ist gebaut für wechselnde<br />
Temperatur- <strong>und</strong> Strahlungsbedingungen,<br />
für klare tages- <strong>und</strong> jahreszeitliche Rhythmen, für<br />
hohe Strahlungsintensitäten <strong>und</strong> vollumfängliche<br />
Solarstrahlungsspektren, wie wir sie in unseren<br />
konditionierten Innenräumen nicht vorfinden bzw.<br />
<strong>der</strong>zeit nicht vorfinden können. Wir kennen Kriterien,<br />
die unseren Aufenthalt im Innenraum unges<strong>und</strong><br />
machen. Wir können für den de facto vorliegenden<br />
Daueraufenthalt in Innenräumen kaum eine Definition<br />
für dessen physisch <strong>und</strong> psychisch gesun<strong>der</strong>haltende<br />
Qualitäten definieren. Wir sind in den<br />
Innenraum übersiedelt <strong>und</strong> müssen aus dieser Perspektive<br />
neu denken.<br />
All die neuen Anfor<strong>der</strong>ungen sind Ideen des<br />
Neubaus <strong>und</strong> treffen zum weitaus überwiegenden<br />
Großteil ebenso zu auf gebauten Bestand. Angesichts<br />
<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wohngebäudesanierung<br />
nimmt sich die Diskussion um die Beglückung o<strong>der</strong><br />
Überfor<strong>der</strong>ung von Bewohnern durch vollautomatisierte<br />
smart homes wie eine Nebenfront aus – man<br />
ist versucht, die Stand-by-taste zu drücken.<br />
Vieles muss also weitergedacht werden im Themenkreis<br />
qualitätvollen Bauens für die Zukunft,<br />
also Bauens in <strong>der</strong> Gegenwart. Einige Eckpunkte<br />
kristallisieren sich dabei heraus:<br />
Feststeht: Die Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Klimastabilisierung<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Abkopplung von begrenzten<br />
<strong>und</strong> preislich instabilen fossilen Energieimporten<br />
sind zu real <strong>und</strong> von zu großer sozialer Tragweite, als<br />
dass die notwendige Diskussion unterschiedlicher<br />
Gebäudekonzepte zu einem Innehalten im Nutzen<br />
<strong>der</strong> Potenziale von Energieeffizienz <strong>und</strong> Ressourcenschonung<br />
missbraucht werden dürfen. Angesichts<br />
<strong>der</strong> Evidenz <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung wäre Nicht-Handeln<br />
unverzeihlich schuldhaft.<br />
Feststeht auch: Sowohl <strong>der</strong> Neubau als auch die<br />
Sanierung von Gebäuden muss angesichts <strong>der</strong> Verantwortung<br />
für <strong>der</strong>en Zukunftsfähigkeit immer als<br />
eine konzeptive Aufgabe begriffen werden, mit einer<br />
starken gestalterischen Komponente, weit über die<br />
bloße bautechnische Dimension hinaus.<br />
Feststeht auch: Neben <strong>der</strong> Effizienz <strong>und</strong> <strong>der</strong> Konsistenz<br />
muss auch die Suffizienz als ein Paradigma<br />
qualitätvoller Baumaßnahmen begriffen werden.<br />
Suffizienz im Sinne ihrer Angemessenheit, etwa<br />
hinsichtlich ihrer Dimension, hinsichtlich ihrer<br />
Einbettung in umräumliche Strukturen <strong>und</strong> nicht<br />
zuletzt hinsichtlich ihrer sensiblen Nutzung klimatischer<br />
Potenziale. �<br />
wohn-ware standby
Partizipation als Innovation im Wohnbau |<br />
Über Selbstorganisation, Urbanitätskerne <strong>und</strong> Stadtmotoren<br />
Robert Temel<br />
ist Architektur- <strong>und</strong> Stadt -<br />
forscher in Wien mit<br />
Schwerpunkt auf Wohnbau<br />
<strong>und</strong> öffentlichen<br />
Raum. 2009 Mitgrün<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Initiative für gemeinschaftliches<br />
Bauen <strong>und</strong><br />
Wohnen. Diplomstudium<br />
<strong>der</strong> Architektur an <strong>der</strong><br />
Universität für angewandte<br />
Kunst Wien,<br />
Doktoratsstudium an <strong>der</strong><br />
Technischen Universität<br />
Wien <strong>und</strong> Scholarship in<br />
Sociology am Institute for<br />
Advanced Studies Wien.<br />
Weitere Informationen<br />
zum Thema finden sich<br />
auf <strong>der</strong> Website <strong>der</strong><br />
Initiative für gemeinschaftliches<br />
Bauen <strong>und</strong><br />
Wohnen: gemeinsambauen-wohnen.org<br />
Eine vergessen geglaubte Praxis des Wohnbaus<br />
findet in Österreich seit wenigen Jahren wie<strong>der</strong><br />
starken Zuspruch: partizipatives Planen, ja sogar<br />
vollständig selbst organisierter Wohnbau – Wohnprojekt<br />
o<strong>der</strong> Baugemeinschaft genannt. Bei Letzterem<br />
handelt es sich um Gruppen von Leuten,<br />
Einzelpersonen, Paare, Familien <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Lebensformen, die gemeinsam ein Gr<strong>und</strong>stück<br />
erwerben, einen <strong>Architekten</strong> o<strong>der</strong> eine Architektin<br />
beauftragen <strong>und</strong> zusammen ihr zukünftiges Wohnen<br />
planen <strong>und</strong> bauen.<br />
Während Baugemeinschaften meist sehr weitgehend<br />
von den zukünftigen BewohnerInnen bestimmt<br />
werden, gibt es auch Mitbestimmungsprojekte, in<br />
denen etliches vorbestimmt ist <strong>und</strong> sich die Nutzer-<br />
Innen nur an Gestaltungsfragen <strong>der</strong> eigenen Wohnung<br />
<strong>und</strong> eventuell noch einiger Gemeinschaftsflächen<br />
beteiligen können. Ein Beispiel dafür, also<br />
partizipatives Planen in einem vorbestimmten<br />
Rahmen, ist das Projekt Sovieso (Sonnwendviertel<br />
solidarisch) am Hauptbahnhofareal in Wien-Favoriten.<br />
Die Architektin Cornelia Schindler (s&s <strong>Architekten</strong>),<br />
die langjährige Erfahrung mit partizipativer<br />
Planung besitzt, entwarf für den Bauträger bws<br />
<strong>und</strong> mit Betreuung von Raim<strong>und</strong> Gutmann (Wohnb<strong>und</strong><br />
Consult) einen flexiblen Rahmen, <strong>der</strong> einerseits<br />
die Notwendigkeiten des Wiener Bauträgerwettbewerbs<br />
<strong>und</strong> des Wohnungsvergabesystems<br />
durch das Wohnservice Wien erfüllt <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits<br />
jenen, die sich für eine Wohnung in diesem<br />
Projekt melden, die Möglichkeit gibt, die Anlage<br />
ihrer Wohnung weitgehend selbst zu bestimmen.<br />
Die Baukörper bestehen aus einer flexiblen Struktur<br />
mit tragenden Pfeilerreihen in den Fassaden <strong>und</strong><br />
einer Mittel-„Wand“, die auch weitgehend die Elektroinstallationen<br />
aufnehmen, sodass die nichttragenden<br />
Trennwände nicht nur zu Beginn flexibel<br />
platziert werden können, son<strong>der</strong>n auch langfristig<br />
verän<strong>der</strong>bar bleiben. Durch die Balkonkonstruktion<br />
können die BewohnerInnen in einem vorgegebenen<br />
Rahmen Lage <strong>und</strong> Größe <strong>der</strong> Balkons auswählen.<br />
Aus einem vorgegebenen Wohnungskatalog können<br />
sie ihre Variante aussuchen, adaptieren <strong>und</strong>, je nach<br />
Stand <strong>der</strong> Voranmeldungen, auch die Lage im Gebäude<br />
bestimmen.<br />
Einen ähnlichen Weg gehen einige Projekte,<br />
die zwar nicht partizipativ entwickelt werden, die<br />
jedoch frühzeitig versuchen, die zukünftigen Nachbarn<br />
miteinan<strong>der</strong> bekannt zu machen <strong>und</strong> so eine<br />
Form von Gemeinschaft zu stiften. Dazu gehören<br />
etwa die „Wohngruppen für Fortgeschrittene“ für<br />
die Zielgruppe 50+, die <strong>der</strong> Bauträger gewog/Neue<br />
Heimat mit Wohnb<strong>und</strong> Consult bisher in Wien-<br />
Ottakring <strong>und</strong> Wien-Penzing errichtet hat; diese<br />
Gruppen sind in konventionelle Wohnbauten integriert,<br />
in denen sie einzelne Stiegenhäuser o<strong>der</strong><br />
Bereiche einnehmen <strong>und</strong> somit einen Gemeinschafts-Nukleus<br />
bilden.<br />
Das neue Interesse an Partizipation <strong>der</strong> letzten Jahre<br />
trug in Wien jedenfalls auch dazu bei, dass die lange<br />
Zeit weitgehend dem Vergessen anheim gefallenen<br />
MieterInnenbeiräte <strong>und</strong> das Mitbestimmungsstatut<br />
wie<strong>der</strong> hervorgeholt <strong>und</strong> thematisiert werden. Das<br />
Statut wurde in den 1980er-Jahren ausgehend von<br />
<strong>der</strong> damaligen Konjunktur des partizipativen Wohnbaus<br />
entwickelt – doch nachdem Partizipation nach<br />
<strong>und</strong> nach seinen InteressentInnenkreis verlor, wurden<br />
auch diese fortschrittlichen Elemente im Wiener<br />
Wohnbausystem in den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt.<br />
Doch Mitbestimmung im Wohnbau kann auch<br />
weiter gehen, wenn die zukünftigen Bewohner-<br />
Innen dazu bereit sind, Zeit <strong>und</strong> Energie in die<br />
Entwicklung eines Projektes zu investieren:<br />
Baugemeinschaften, die selbstbestimmtes Wohnen<br />
bieten, werden entwe<strong>der</strong> von den BewohnerInnen<br />
selbst gestartet, das heißt diese können auch über<br />
Lage des Gr<strong>und</strong>stücks, zu beauftragende Architektin<br />
o<strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> sowie die Gr<strong>und</strong>struktur <strong>der</strong><br />
zukünftigen Gemeinschaft <strong>und</strong> des Gebäudes bestimmen;<br />
o<strong>der</strong> sie werden von ArchitektInnen o<strong>der</strong><br />
ProjektentwicklerInnen gestartet, wodurch sich das<br />
Ausmaß <strong>der</strong> Mitbestimmung reduziert.<br />
Obwohl es seit den 1960er-Jahren <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />
in den 1980ern <strong>und</strong> 1990ern eine Vielzahl österreichischer<br />
Projekte gab, von <strong>der</strong> Siedlung Halde<br />
mit Hans Purin in Bludenz bis zu Les Paletuviers<br />
mit Fritz Matzinger in Linz-Leonding, von <strong>der</strong> Baugemeinschaft<br />
Karmelitergasse (Walter Stelzhammer)<br />
bis zum bisher größten österreichischen Projekt,<br />
<strong>der</strong> Sargfabrik (bkk-2), war hierzulande zuletzt etwa<br />
zehn Jahre lang Pause beim selbstbestimmten<br />
Wohnbau, während das Thema in Deutschland <strong>und</strong><br />
in <strong>der</strong> Schweiz boomte. Unter den ersten „Neuen“<br />
waren die Wiener Projekte Frauenwohnprojekt rosa<br />
Donaustadt (Sabine Pollak), Frauenwohnprojekt<br />
[ro*sa] KalYpso im Kabelwerk (Markus Spiegelfeld)<br />
sowie das Projekt b.r.o.t. 2 in Kalksburg (Franz<br />
Kuzmich), ein Folgeprojekt des von Ottokar Uhl in<br />
<strong>der</strong> Geblergasse realisierten „Familienklosters“.<br />
Diese drei konnten 2009 besiedelt werden <strong>und</strong> seither<br />
entsteht eine Vielzahl neuer Baugemeinschaften<br />
unter an<strong>der</strong>em in Wien, darunter als beson<strong>der</strong>s<br />
interessantes Beispiel das Wohnprojekt Wien am<br />
Nordbahnhof: Die BewohnerInnengruppe zusammen<br />
mit Einszueins Architektur <strong>und</strong> Raum &<br />
Kommunikation als Projektkoordinator packte die<br />
Gelegenheit eines Bauträgerwettbewerbs für eine<br />
sehr attraktive Wohnlage in Wien-Leopoldstadt beim<br />
Schopf, tat sich mit dem Bauträger Schwarzatal<br />
zusammen <strong>und</strong> entwickelte gemeinsam ein Projekt,<br />
das schließlich gewann <strong>und</strong> demnächst realisiert<br />
wird. Die Baugemeinschaft wird nicht aus Mietwohnungen<br />
bestehen, son<strong>der</strong>n als Heim geführt, wie<br />
das bereits bei Sargfabrik <strong>und</strong> b.r.o.t. <strong>der</strong> Fall ist;<br />
die BewohnerInnen gründeten zusammen einen<br />
Verein, <strong>der</strong> das gesamte Gebäude vom Bauträger<br />
mietet <strong>und</strong> somit auch das Risiko von Wohnungsleerstand<br />
trägt.<br />
Neben den Wohnungen wird das Gebäude eine<br />
Vielzahl von ergänzenden Nutzungen enthalten,<br />
um im neu entwickelten Nordbahnhofareal<br />
einen „Urbanisierungskern“ zu bilden:<br />
Projekte wie [ro*sa]<br />
KalYpso am Areal des<br />
Kabelwerks können eine<br />
Vorreiterrolle im Rahmen<br />
großer Stadtentwicklungsprojekteeinnehmen,<br />
wenn sie von Beginn<br />
an mitgeplant werden –<br />
das Konzept <strong>der</strong> Seestadt<br />
Aspern stellte ein eigenes<br />
Baufeld für Baugemeinschaften<br />
von Anfang an<br />
zur Verfügung.<br />
e-Car-Sharing,<br />
ein Artist-in-Residence-Programm,<br />
ein Wochenmarkt,<br />
partizipative Aktionen<br />
im Viertel <strong>und</strong> Bezirk <strong>und</strong> engagierte Stadteilarbeit<br />
sind geplant. Doch das Wohnprojekt Wien ist<br />
bei Weitem nicht alleine, aktuelle Wiener Projekte<br />
sind etwa in <strong>der</strong> Ottakringer Gr<strong>und</strong>steingasse <strong>und</strong><br />
das Projekt Gennesaret in Wien-Mauer. Eine Vielzahl<br />
weiterer Projekte gibt es in Nie<strong>der</strong>österreich,<br />
<strong>der</strong> Steiermark <strong>und</strong> dem Burgenland. Und überaus<br />
aktiv ist auch die Stadt Graz, wo die rührige Gruppe<br />
wab (Wohnbau Alternative Baugruppen) seit einigen<br />
Jahren das Thema bearbeitet – im Frühjahr 2012<br />
soll eine Informationsplattform eingerichtet werden,<br />
erste Pilotprojekte sind in Planung. Ganz ähnlich ist<br />
seit zwei Jahren in Wien die Initiative für gemeinschaftliches<br />
Bauen <strong>und</strong> Wohnen aktiv, die das Thema<br />
in ganz Österreich för<strong>der</strong>n will.<br />
Wohnbauten mit partizipativen Anteilen ebenso wie<br />
Baugemeinschaftsprojekte versuchen den engen<br />
Raster des konventionellen Wohnbaus zu verlassen,<br />
sie geben sich nicht mit dem paternalistischen, von<br />
<strong>der</strong> Stadt o<strong>der</strong> dem Land <strong>und</strong> großen Wohnbauträ-<br />
gern dominierten System des geför<strong>der</strong>ten Wohnbaus<br />
zufrieden, aber ebenso wenig wollen sie ins<br />
Einfamilienhaus im Speckgürtel flüchten o<strong>der</strong> die<br />
frei finanzierte Eigentumswohnung erwerben, die<br />
Wohnraum <strong>und</strong> Anlageobjekt ist <strong>und</strong> die Bewohner-<br />
Innen somit zu Kleinst-Immobilieninvestoren<br />
macht. Vielfach versuchen diese Projekte auch den<br />
Nutzen fürs eigene Leben <strong>und</strong> eigene Wohnen zu<br />
überschreiten <strong>und</strong> auf Stadt <strong>und</strong> Umland zu wirken,<br />
wie etwa das Wohnprojekt Wien zeigt.<br />
Doch <strong>der</strong> selbst organisierte Einfluss aufs Umfeld<br />
kann darüber weit hinausgehen, wenn Projekte<br />
speziell daraufhin angelegt werden, Urbanitätsanker<br />
zu werden.<br />
Ein herausragendes österreichisches Beispiel dafür<br />
ist das Baugemeinschafts-Baufeld in <strong>der</strong> zukünftigen<br />
Seestadt Aspern: Die Entwicklungsgesellschaft<br />
Wien 3420 startete 2011 ein Vergabeverfahren für<br />
Gr<strong>und</strong>stücke in diesem Baufeld, das ausschließlich<br />
an Baugemeinschaften gerichtet war. Dadurch wurde<br />
einerseits das größte Problem für Baugemeinschaften<br />
in diesem einen Fall behoben, nämlich <strong>der</strong><br />
schwierige Zugang zu geeigneten Gr<strong>und</strong>stücken;<br />
<strong>und</strong> es wurde dadurch, dass ein ganzes Baufeld mit<br />
insgesamt etwa 160 Wohnungen ausschließlich aus<br />
Baugemeinschaften bestehen sollte, ein dichter<br />
Kern an Aktivität erzeugt, <strong>der</strong> aufs konventionell<br />
entwickelte Umfeld wirken soll – so jedenfalls die<br />
Absicht. Derzeit läuft die zweite Stufe des Verfah-<br />
22 | 23 285<br />
Partizipation als Innovation im Wohnbau<br />
Partizipation als Innovation im Wohnbau
.r.o.t. Kalksburg<br />
beweist, dass partizipative<br />
Wohnbauprojekte<br />
nicht nur ein urbanes<br />
Phänomen sind.<br />
rens <strong>und</strong> fünf Gruppen sind im Rennen. Dabei handelt<br />
es sich einerseits um b.r.o.t. 3, also ein weiteres<br />
Projekt des b.r.o.t.-Verbands nach Geblergasse <strong>und</strong><br />
Kalksburg, diesmal interkonfessionell angelegt,<br />
das wie<strong>der</strong> stark auf eine spirituelle Gemeinschaft<br />
ausgerichtet ist <strong>und</strong> von Architekt Franz Kuzmich<br />
geplant wird. Weiters um JAspern, das einzige eigentumsorientierte<br />
Projekt am Baufeld, das von pos<br />
<strong>Architekten</strong> geplant wird <strong>und</strong> am ehesten dem <strong>der</strong>zeit<br />
sehr erfolgreichen Berliner Baugemeinschaftsmodell<br />
entspricht; sowie um Orange 3, ein Ablegerprojekt<br />
<strong>der</strong> bekannten Wiener Sargfabrik <strong>und</strong> somit<br />
stark kulturbezogen-engagiert ausgelegt, geplant<br />
von dem <strong>Architekten</strong> Helmut Wimmer. Weiters gibt<br />
es die Baugruppe Pegasus, geplant von Georg<br />
Baldass, betreut von Raim<strong>und</strong> Gutmann <strong>und</strong> realisiert<br />
mit dem Bauträger Neunkirchen. Und schließlich<br />
die Gruppe Seestern Aspern, die wie<strong>der</strong> mit<br />
Einszueins Architektur <strong>und</strong> realitylab.at als Berater<br />
ein Projekt entwickelt, das <strong>der</strong> BewohnerInnenverein<br />
vom Bauträger Migra/Arwag als Gesamtes mieten<br />
<strong>und</strong> an seine Mitglie<strong>der</strong> vergeben wird. Die fünf<br />
Gruppen entwickeln ihre Projekte parallel, arbeiten<br />
in mancher Hinsicht jedoch auch zusammen, etwa<br />
indem sie den gemeinsamen Innenhof des Bau-<br />
felds kooperativ planen <strong>und</strong> betreiben <strong>und</strong> die Gemeinschaftsflächen<br />
aller Projekte aufeinan<strong>der</strong><br />
abstimmen. Damit geht hier die Kooperation zwischen<br />
Wohnbauprojekten weiter, als es gemeinnützige<br />
Bauträger im Wiener Wohnbau schaffen. Das<br />
Baufeld liegt günstig am Stadtteilpark <strong>und</strong> Schulcampus<br />
in <strong>der</strong> zukünftigen Seestadt, es liegt aber<br />
auch inmitten <strong>der</strong> Baufel<strong>der</strong> des geför<strong>der</strong>ten Wohnbaus<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Wohnbauoffensive – die Hoffnung<br />
ist, dass das Engagement <strong>der</strong> Baugemeinschafts-<br />
Bewohner Innen auf ihr Umfeld abstrahlt <strong>und</strong> sich<br />
die Initiativen so potenzieren.<br />
Ein noch ambitionierteres Projekt ist die Initiative<br />
Möckernkiez in Berlin: Auf einem drei Hektar<br />
großen Baufeld auf dem ehemaligen Anhalter Güterbahnhof<br />
in Kreuzberg, nicht mehr als einen Kilometer<br />
vom Potsdamer Platz entfernt, sollen 400<br />
Wohnungen sowie Flächen für soziales Gewerbe<br />
gemeinschaftlich errichtet werden. 2007 entstand<br />
eine Bürgerinitiative mit Unterstützung <strong>der</strong> Bezirkspolitik,<br />
die eine spekulative Bebauung durch einen<br />
Investor verhin<strong>der</strong>n wollte; bald danach entstand<br />
ein Verein <strong>und</strong> schließlich eine Genossenschaft mit<br />
weit über 400 Mitglie<strong>der</strong>n, die 2010 das Gr<strong>und</strong>stück<br />
um zehn Millionen Euro erwarb, die Wohnungen<br />
sollen 2013 bezogen werden. Den städtebaulichen<br />
Rahmen bilden Projekte von den Baufröschen <strong>und</strong><br />
Baumschlager Eberle; die Gebäude werden weiters<br />
von dem Solararchitekturpionier Ralf Disch, den<br />
Baugruppenarchitekten Roedig Schop sowie Schulte-<br />
Frohlinde <strong>Architekten</strong> geplant, allesamt Sieger<br />
eines <strong>Architekten</strong>wettbewerbs. Die Standards sind<br />
für Berliner Verhältnisse hoch, beispielsweise<br />
werden ausschließlich Passivhäuser gebaut – <strong>und</strong><br />
es werden sowohl zum Aufbau von Eigenkapital<br />
Wohnungen verkauft als auch welche an Mitglie<strong>der</strong><br />
vergeben. Eine ag Solidarische Finanzierung soll<br />
auch jenen das Wohnen im zukünftigen Möckernkiez<br />
erlauben, die sich die etwa 2000 Euro, die pro<br />
Quadratmeter zu finanzieren sind, ob nun im Eigentum<br />
o<strong>der</strong> genossenschaftlich, nicht leisten können.<br />
Und als noch weitergehend kann man den Tübinger<br />
Ansatz bezeichnen, <strong>der</strong> erstmals für das Französische<br />
Viertel in <strong>der</strong> Tübinger Südstadt gewählt wurde<br />
<strong>und</strong> seither, immer wie<strong>der</strong> leicht adaptiert, bei allen<br />
neuen Stadtentwicklungsprojekten <strong>der</strong> südwestdeutschen<br />
Universitätsstadt zum Tragen kommt:<br />
Dort werden Baugemeinschaften als zentraler Motor<br />
<strong>der</strong> Stadtentwicklung angesehen <strong>und</strong> eingesetzt,<br />
das Französische Viertel mit etwa 1000 Wohnungen<br />
wurde zwischen 1996 <strong>und</strong> 2006 fast ausschließlich<br />
mit Baugemeinschaften errichtet. Dies schien für<br />
die Stadt <strong>und</strong> ihren Stadtplaner Andreas Feldtkeller<br />
<strong>der</strong> beste Weg, um die für diesen Stadtteil angestrebten<br />
zentralen Gr<strong>und</strong>sätze umsetzen zu können,<br />
<strong>und</strong> die langjährige Erfahrung zeigt, dass sie damit<br />
recht hatten:<br />
Kleinteilige Nutzungsmischung <strong>und</strong> Parzellierung,<br />
hohe Dichte, Sanierung von Altbauten,<br />
Investition in öffentlichen Raum <strong>und</strong> öffentlichen<br />
Verkehr sowie Integration sozialer <strong>und</strong><br />
kultureller Infrastruktur –<br />
Tübingen ist damit erfolgreich <strong>und</strong> macht mit seinen<br />
Stadtentwicklungsprojekten sogar Gewinne,<br />
obwohl die Wohnungen vergleichsweise kostengünstig<br />
sind <strong>und</strong> die Mieten (die meisten Wohnungen<br />
stehen im Wohnungseigentum) vertraglich<br />
begrenzt werden.<br />
Entscheidend für <strong>der</strong>artig großmaßstäbliche Stadtentwicklungsprojekte<br />
mit Baugemeinschaften ist<br />
sicherlich, ob ein faires Verhältnis zwischen Engagement<br />
<strong>und</strong> Nutzen für die BewohnerInnen erreicht<br />
wird – die großen Hoffnungen, die teils in <strong>der</strong>artige<br />
„Urbanisierungskerne“ gesetzt werden, könnten<br />
auch leicht zu Überlastungen <strong>der</strong> Baugemeinschaften<br />
führen, die ja schon genug mit <strong>der</strong> Entwicklung<br />
ihres eigenen Projektes zu tun haben, aber auch für<br />
den Stadtraum r<strong>und</strong>um aktiv werden sollen. Tatsache<br />
ist jedoch, dass Modelle wie jenes in Tübingen<br />
zeigen, wie eine sinnvolle Balance erreicht werden<br />
kann – bisher eher im kleinstädtischen Rahmen,<br />
aber die aktuellen Projekte lassen Ähnliches in<br />
Zukunft auch in den Großstädten erwarten. Und<br />
dass das Modell Baugemeinschaft <strong>der</strong> Diversität<br />
<strong>und</strong> Varietät von Stadtentwicklungsgebieten zugute<br />
kommt <strong>und</strong> somit die viel beschworene, aber nicht<br />
leicht realisierte Urbanität för<strong>der</strong>t, kann schwerlich<br />
bestritten werden. �<br />
Elisabeth Lichtenberger,<br />
1925 in Wien geboren,<br />
wurde 1972 als erste Frau<br />
in Österreich auf ein<br />
Ordinariat für Geografie<br />
berufen, 1987 zum wirklichen<br />
Mitglied <strong>der</strong> öaw<br />
gewählt <strong>und</strong> 1999 in die<br />
Kurie für Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Kunst aufgenommen.<br />
Ihre Mitgliedschaften in<br />
<strong>der</strong> Academia Europea,<br />
<strong>der</strong> British Academy, den<br />
Geografischen Gesellschaften<br />
von Österreich,<br />
Ungarn <strong>und</strong> Italien sowie<br />
in <strong>der</strong> Royal Geographic<br />
Society zeugen von ihrem<br />
internationalen<br />
Renommee.<br />
Aristoteles differenzierte<br />
in seiner Naturphilosophie<br />
zwischen inneren<br />
<strong>und</strong> äußeren Ursachen<br />
eines Geschehens. Im<br />
Gegensatz zum Kausalprinzip<br />
werden durch die<br />
causa finalis (Finalursache)<br />
Situationen durch<br />
ihr Ziel o<strong>der</strong> ihren Nutzen<br />
beschrieben.<br />
Durch die causa efficiencia<br />
(Wirkursache) definierte<br />
Aristoteles die<br />
äußere Ursache, wodurch<br />
Verän<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Stagnation<br />
hervorgerufen<br />
wird.<br />
Mit <strong>der</strong> causa formalis<br />
(Formursache) erklärt<br />
Aristoteles die Ursache<br />
<strong>der</strong> Struktur <strong>und</strong> Form,<br />
die er zu den inneren<br />
Ursachen seiner Naturphilosophie<br />
zählte.<br />
causa materialis (Stoffursache):<br />
Die Beschaffenheit<br />
eines Materials determiniert<br />
den jeweiligen<br />
Einsatz, das Material ist<br />
somit laut Aristoteles<br />
Ursache für einen Gegenstand.<br />
In <strong>der</strong> Präambel <strong>der</strong> am<br />
4. Juli 1776 verabschiedeten<br />
Verfassung <strong>der</strong> usa<br />
ist das Streben nach<br />
Glück als eines <strong>der</strong><br />
unabdingbaren Rechte<br />
jedes Menschen festgehalten.<br />
// „We hold these<br />
truths to be self-evident,<br />
that all men are created<br />
equal, that they are<br />
endowed by their Creator<br />
with certain unalienable<br />
Rights, that among these<br />
are Life, Liberty and the<br />
pursuit of Happiness.“<br />
Wohnraum <strong>und</strong> Gesellschaft |<br />
Vergleichende Reflexionen von Europa <strong>und</strong> den USA<br />
Präambel: Leben <strong>und</strong> Wohnen<br />
Zwei Begriffe: Leben <strong>und</strong> Wohnen, seien an den Anfang gestellt. In <strong>der</strong> Weltsprache<br />
des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts, dem Englischen, fehlt interessanterweise <strong>der</strong> Begriff des<br />
Wohnens, es gibt nur den Begriff des Lebens. An<strong>der</strong>s im Französischen, Spanischen<br />
<strong>und</strong> Italienischen, wo beide Begriffe existieren <strong>und</strong> daneben noch weitere Zeitwörter<br />
für differenzierte Formen des Wohnens in Gebrauch sind.<br />
Damit ist die gr<strong>und</strong>sätzliche Thematik dokumentiert, welche die Herauslösung von<br />
mehreren Tätigkeitsfel<strong>der</strong>n des Menschen aus dem ursprünglich allumfassenden<br />
Begriff des Lebens wi<strong>der</strong>spiegelt. Es geht um den in <strong>der</strong> Stadtplanung hochstilisierten<br />
Begriff <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>daseinsfunktionen von Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Verkehr <strong>und</strong><br />
technischer Infrastruktur <strong>und</strong> die Standorte von Betrieben des sek<strong>und</strong>ären, tertiären<br />
<strong>und</strong> quartären Sektors. Von all diesen Funktionen stellt das Wohnen nur mehr eine,<br />
wenn auch wichtige Funktion dar.<br />
Beginnend mit den antiken Stadtkulturen <strong>und</strong> bis zur Postmo<strong>der</strong>ne herauf entstanden<br />
immer neue Tätigkeitsfel<strong>der</strong> <strong>und</strong> lösten sich aus dem ursprünglich die Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Lebens darstellenden Begriff des Wohnens heraus. Sodass in <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne<br />
mit Recht von Häußermann <strong>und</strong> Siebel in <strong>der</strong> Soziologie des Wohnens die Frage<br />
gestellt werden kann: Was ist eigentlich Wohnen heute? Die Antwort verweist auf<br />
das Paradoxon von steigen<strong>der</strong> Wohnfläche – in <strong>der</strong> brd 39 m 2 pro Person–, bei gleichzeitiger<br />
Herausnahme von Aktivitäten wie die Auslagerung <strong>der</strong> Alten <strong>und</strong> Kranken,<br />
die Unterbringung von Kin<strong>der</strong>n in eigenen Krippen <strong>und</strong> Tagesstätten.<br />
Die zunehmende marktkonforme beziehungsweise staatlich gesteuerte Organisation<br />
erfasst immer weitere Lebensbereiche. Ironisch vermerken die Autoren, dass am<br />
Ende eines langen Prozesses, „nur noch <strong>der</strong> Single mit einem Haufen von Sachen<br />
in <strong>der</strong> Wohnung geblieben ist, 1 welche jenseits ihrer Funktionen als austauschbare<br />
Servicestation <strong>und</strong> als Schlafstelle, als Basislager für Klei<strong>der</strong> <strong>und</strong> Freizeitgerät <strong>und</strong><br />
als Relaisstation für Telekommunikation durch wachsende Privatisierung <strong>der</strong><br />
Bedürfnisbefriedigung interessanterweise wie<strong>der</strong> an Bedeutung gewonnen hat“.<br />
Das historische Gegensatzpaar von<br />
Eigenhaus <strong>und</strong> Mietshaus<br />
Die folgenden Ausführungen beschränken<br />
sich auf das historische Gegensatzpaar<br />
von Eigenhaus <strong>und</strong> Mietshaus,<br />
welches auf die antike Stadtkultur<br />
zurückgeht. Bereits in <strong>der</strong> Antike lassen<br />
sich die Prototypen in den griechischen<br />
Stadtstaaten <strong>und</strong> in Rom, <strong>der</strong> Kapitale<br />
des Römischen Imperiums, nachweisen.<br />
Das Eigenhaus<br />
In <strong>der</strong> griechischen Polis war das Haus<br />
des Bürgers ein Eigenhaus, für dessen<br />
Errichtung Aristoteles 2 vier Ursachen<br />
angab: An erster Stelle steht die causa<br />
finalis, d. h. <strong>der</strong> Zweck, zu dem das Haus<br />
erbaut wurde. Damit wird in die Zukunft<br />
hinein gedacht, <strong>und</strong> zwar aus einem<br />
aus <strong>der</strong> Generationsfolge resultierenden<br />
Zeitbegriff. Als wissenschaftliches<br />
Problem entstand daraus die Frage<br />
nach dem gesellschaftlichen Wandel<br />
im baulichen Gehäuse, welche bis zur<br />
Schwelle <strong>der</strong> Gegenwart herauf für<br />
das Verhältnis von Wohnraum <strong>und</strong><br />
Gesellschaft in <strong>der</strong> europäischen<br />
Stadtforschung von zentraler Bedeutung<br />
geblieben ist, <strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Tatsache, dass Wohnbauten in den<br />
Städten Europas im Allgemeinen eine<br />
längere Lebensdauer besaßen als die<br />
darin wohnende Bevölkerung.<br />
Die zweite Ursache nach Aristoteles, die<br />
causa efficiencia, umfasst die Aussagen<br />
über die Mittel, d. h. über den Einsatz<br />
von Kapital <strong>und</strong> Arbeits kräften, mit<br />
denen das Haus gebaut wird. Hierbei<br />
bestehen gegenwärtig die größten<br />
Unterschiede zwischen weiten Teilen<br />
Europas, vor allem den ländlichen<br />
Räumen <strong>und</strong> <strong>der</strong> suburbanen Bautätigkeit<br />
in Nordamerika (vgl. unten).<br />
Als dritte Ursache wurde von<br />
Aristoteles die causa formalis, <strong>der</strong><br />
Bauplan, genannt, <strong>der</strong> auswählend die<br />
Materialien bestimmt, die als causa<br />
materialis ebenfalls beim Hausbau<br />
notwendig sind. Bis heute ist <strong>der</strong> Wohnungsbau<br />
in Hinblick auf die Fertigungsverfahren<br />
<strong>und</strong> Baustoffe abhängig von<br />
dem jeweiligen technologischen Stand<br />
<strong>der</strong> Bauwirtschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Baustoffproduktion.<br />
Stellt man die Konzeption des<br />
Eigenhauses hinein in die jeweilige<br />
soziale Organisation <strong>der</strong> Gesellschaft, so<br />
ist einsichtig, dass in jedem politischen<br />
System die führenden sozialen Schichten<br />
stets am besten ihre Wohnvorstellungen<br />
verwirklichen können. Als Beispiele sind<br />
in diesem Zusammenhang das Bürger -<br />
haus des Mittelalters, <strong>der</strong> barocke Adels -<br />
palast, die grün<strong>der</strong>zeitliche Villa <strong>und</strong><br />
schließlich das repräsentative Eigenhaus<br />
<strong>der</strong> Gegenwart anzuführen.<br />
24 | 25 285<br />
Partizipation als Innovation im Wohnbau Chronik<br />
Diese Identifizierung mit einem eigenen<br />
Haus ist jedoch gr<strong>und</strong>sätzlich im Verlaufe<br />
des Verstädterungsprozesses immer<br />
weniger Menschen möglich geworden.<br />
Derart zieht sich durch die Geschichte<br />
des Städtebaus die Konfrontation von<br />
Eigenhaus <strong>und</strong> Mietshaus, <strong>und</strong> es kann<br />
kein Zweifel darüber bestehen, dass<br />
in den dicht besiedelten Staaten dem<br />
Letzteren die Zukunft gehört.<br />
Ein Vergleich des Einfamilienhauses<br />
in Europa <strong>und</strong> in den USA<br />
Aufgr<strong>und</strong> folgen<strong>der</strong> Parameter bestehen<br />
gr<strong>und</strong>sätzliche Unterschiede zwischen<br />
<strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Einfamilienhäuser in<br />
Europa <strong>und</strong> in den usa. 3 Das Demokratieverständnis<br />
<strong>der</strong> usa wird getragen von<br />
<strong>der</strong> Selbstverantwortung des Bürgers,<br />
<strong>der</strong> das Recht auf Freiheit, auf persönliches<br />
Glück, Besitz <strong>und</strong> Privatsphäre für<br />
sich beansprucht. „Der gute Mann steht<br />
allein“ ist die Basisphilosophie für die<br />
Person, „das gute Haus steht allein“ lässt<br />
sich als Übertragung in die Siedlungslandschaft<br />
von Suburbia formulieren.<br />
Getragen von <strong>der</strong> enormen Mobilität <strong>der</strong><br />
Bevölkerung bewegt sich die perfekte<br />
kapitalistische Aufschließungsmaschine<br />
– getragen vom Renditedenken – hinein<br />
in den exurbanen Raum. Dem Zensus von<br />
2000 ist zu entnehmen, dass dieser damals<br />
bereits mit 27 Mio. Wohneinheiten be gonnen<br />
hat, die Kernstädte einzuholen, auf<br />
welche nur mehr 32 Mio. Einheiten entfallen<br />
sind, während in den Suburbs 53 Mio.<br />
Wohneinheiten verzeichnet wurden.<br />
Insgesamt haben sich seit <strong>der</strong><br />
Zwischenkriegszeit Großorganisationen<br />
von Baugesellschaften, Realitätenbüros<br />
<strong>und</strong> Hypothekenbanken um das Eigenhaus<br />
angenommen, ähnlich wie dies vor<br />
1914 beim kontinentaleuropäischen<br />
Mietshaus <strong>der</strong> Fall war.<br />
Das amerikanische Einfamilienhaus<br />
hat keine Funktion im Generationentransfer.<br />
Seine jeweilige Wahl entspricht<br />
dem Status im Lebenszyklus, dem beruflichen<br />
Prestige, dem Lebensstil <strong>und</strong> bei<br />
Familien mit Kin<strong>der</strong>n dem Schulstandort<br />
<strong>und</strong> einer möglichst kurzen Pendlerdistanz<br />
zum Arbeitsplatz, wobei <strong>der</strong> zeitliche<br />
Aufwand auf <strong>der</strong>zeit r<strong>und</strong> 20 Minuten<br />
abgenommen hat.
Im Vorfeld <strong>der</strong> Französischen<br />
Revolution etabliert<br />
sich <strong>der</strong> Begriff des<br />
vierten Standes im Zuge<br />
<strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach<br />
Repräsentation einer<br />
gesellschaftlichen<br />
Gruppe, die heute als<br />
Arbeitnehmer bezeichnet<br />
werden würde. Bis<br />
dahin waren lediglich<br />
<strong>der</strong> Adel, Klerus <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
dritte Stand (Großbürgertum,<br />
Handwerkerschaft<br />
bis hin zu den Bauern)<br />
politisch vertreten.<br />
Die Posse „Zu ebener<br />
Erde <strong>und</strong> erster Stock“<br />
mit Gesang von Johann<br />
Nestroy wurde am 24.<br />
September 1835 am<br />
Theater an <strong>der</strong> Wien<br />
uraufgeführt.<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Beletage<br />
(von <strong>der</strong> französischen<br />
bel étage) <strong>und</strong> des piano<br />
nobile (erstmals im<br />
Venedig des 12. Jahrhun<strong>der</strong>ts)<br />
etablierte<br />
sich in Österreich in <strong>der</strong><br />
Grün<strong>der</strong>zeit.<br />
Das Einfamilienhaus ist – last not least –<br />
<strong>der</strong> Träger des lokalen Steuersystems.<br />
Die real estate tax beträgt r<strong>und</strong> 60 % des<br />
lokalen Steuersystems.<br />
Ihre Höhe wird in Abhängigkeit<br />
vom Marktwert <strong>der</strong> Häuser jährlich festgelegt<br />
<strong>und</strong> beläuft sich im Durchschnitt<br />
auf 1,5 % desselben. Je höher <strong>der</strong> Durchschnittswert<br />
<strong>der</strong> Eigenhäuser ist, desto<br />
besser können die Schulen ausgestattet<br />
bzw. Polizeischutz gewährleistet werden.<br />
Die Verknüpfung von <strong>der</strong><br />
Immobilienökonomie mit <strong>der</strong> privaten<br />
Pensionsversicherung erklärt auch<br />
das Mitwan<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Mittelschichten<br />
mit steigenden Boden- <strong>und</strong> Immobilienpreisen.<br />
Der massive Einbruch des<br />
Immobilienmarktes durch die aktuelle<br />
Finanzkrise hat daher für den Europäer<br />
kaum vorstellbare Konsequenzen.<br />
Abschließend sei angeführt, dass<br />
aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Leichtestbauweise einer<br />
industriellen Massenproduktion aus Holz<br />
die Lebenszeit <strong>der</strong> Bauten wesentlich<br />
kürzer ist als in Europa <strong>und</strong> eine soziale<br />
Abwertung nach wenigen Jahrzehnten<br />
zur Regel gehört.<br />
Das europäische Eigenhaus<br />
unterscheidet sich in nahezu allen<br />
Aussagen vom amerikanischen. In Konti-<br />
nentaleuropa fehlen Großorganisationen<br />
<strong>der</strong> Finanzierung <strong>und</strong> Vermarktung. Die<br />
Fertigung durch relativ kleine Baubetriebe<br />
beherrscht nach wie vor die Szene.<br />
Fertighäuser gibt es zwar, sie sind jedoch<br />
noch nicht marktbeherrschend.<br />
Nicht ökonomische Variable wie Eigentumsbegriff<br />
<strong>und</strong> Generationsdenken<br />
stehen vielfach noch bei <strong>der</strong> Errichtung<br />
von Einfamilienhäusern im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>.<br />
Sie bestimmen auch das Investitionsverhalten<br />
bei Reparaturen, Erneuerung,<br />
Um- <strong>und</strong> Ausbauten, das renditefreudigen<br />
Amerikanern nur Kopfschütteln abringen<br />
kann, da die Frage, ob die Investitionen den<br />
Verkaufswert des Hauses steigern, kaum<br />
gestellt wird. Dieses fehlende Renditedenken<br />
zeigt sich beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Gastar -<br />
beiterperipherie Europas von Portugal<br />
bis Südosteuropa <strong>und</strong> bis in die Ukraine<br />
hinein, wo von den Gastarbeitern an<br />
<strong>der</strong> Peripherie großer Städte, aber auch<br />
in abgelegenen Gebieten in jahrelanger,<br />
mühevoller Arbeit sehr geräumige<br />
Einfamilienhäuser errichtet werden,<br />
<strong>der</strong>en Erbauer, wenn überhaupt, erst<br />
im Rentenalter zurückkehren. Aufgr<strong>und</strong><br />
dieses traditionellen Verhaltens<br />
besteht bisher ein gr<strong>und</strong>sätzlicher<br />
Unterschied zur nordamerikanischen<br />
Situation insofern, als die Errichtung<br />
von Einfamilienhäusern mit einer<br />
Immobilisierung <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
verb<strong>und</strong>en ist.<br />
Infolge <strong>der</strong> Substitution von<br />
Kapital durch Arbeitskraft in großen<br />
Teilen Europas, vor allem außerhalb<br />
<strong>der</strong> Stadtregionen, ist es verständlich,<br />
dass die Größe <strong>der</strong> neu erbauten<br />
Einfamilienhäuser in keinem Zusam-<br />
menhang mit <strong>der</strong> Wirtschaftskraft des<br />
jeweiligen Staates steht. Man ist<br />
daher immer wie<strong>der</strong> überrascht von<br />
den beachtlichen Dimensionen<br />
von Einfamilienhäusern bis tief in die<br />
Ukraine hinein.<br />
In manchen Teilen Europas konnte<br />
das Einfamilienhaus auch zusätzliche<br />
Funktionen gewinnen wie in den<br />
österreichischen Alpen für den Fremden-<br />
verkehr o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik durch<br />
Errichtung von Einliegerwohnungen,<br />
welche vermietet werden. In Hinblick auf<br />
den Standort son<strong>der</strong>n sich Kleinstädte<br />
<strong>und</strong> Pendlerdörfer noch immer durch<br />
das Vorherrschen des Einfamilienhauses<br />
von den großen Agglomerationen ab, in<br />
denen die Ausbreitung einer Einfamilienhausperipherie<br />
im Großen <strong>und</strong> Ganzen<br />
abgestoppt ist.<br />
Das Mietshaus<br />
Die Konzeption des Mietshauses verbindet<br />
sich in <strong>der</strong> generellen Vorstellung<br />
mit <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>zeit. Diese Auffassung ist<br />
jedoch zu revidieren, da die Anfänge des<br />
Mietshauses in Abhängigkeit von <strong>der</strong><br />
Stadtgröße bereits an die Wende vom<br />
Mittelalter zur Neuzeit zurückreichen.<br />
Dieses ältere Mietshauswesen hatte<br />
allerdings in erster Linie den Wohnungsbedarf<br />
des bürgerlichen Mittelstandes<br />
zu befriedigen, während ab <strong>der</strong> Mitte des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> Industrialisierung<br />
<strong>und</strong> sprunghaft steigenden Verstädterung<br />
<strong>der</strong> „vierte Stand“ in die Schar <strong>der</strong><br />
Wohnungssuchenden eingerückt ist. Die<br />
traditionellen Haushaltsgemeinschaften,<br />
bei denen <strong>der</strong> Gewerbeherr für die Unterbringung<br />
seiner Gehilfen <strong>und</strong> Lehrlinge<br />
verantwortlich war, lösten sich mehr <strong>und</strong><br />
mehr auf. Dem massenhaft steigenden<br />
Wohnungsbedarf konnte auch die Zunft<br />
des Baugewerbes nicht mehr genügen.<br />
Baugesellschaften bildeten sich <strong>und</strong><br />
erschlossen das Gelände, ein Heer von<br />
Agenten fungierte als Zuträger <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>stücke,<br />
Hypothekenbanken übernahmen<br />
die Finanzierung. Der kapitalistische<br />
Wohnungsmarkt setzte die Spielregeln<br />
für die Wohnungswirtschaft. Der Hausbesitz<br />
wurde zur günstigen Kapitalanlage<br />
breiter Schichten des Bürgertums.<br />
Hohe Mieten, hohe Mobilität <strong>der</strong> Mieter<br />
<strong>und</strong> das berüchtigte Wort von den<br />
„Großstadtnomaden“ kennzeichnete die<br />
an<strong>der</strong>e Seite des Systems, in dem in den<br />
Arbeiterbezirken <strong>der</strong> großen Städte ein<br />
Drittel <strong>der</strong> Mieter jährlich die Wohnung<br />
zu wechseln hatte. Standardisierte <strong>und</strong><br />
sozial differenzierte Mietshaustypen<br />
entstanden. Die Hauptstädte Paris, Wien<br />
<strong>und</strong> Berlin schufen sie. Von hier breiteten<br />
sie sich dann über das Netz <strong>der</strong> Groß- <strong>und</strong><br />
Mittelstädte aus.<br />
Das französische Modell <strong>der</strong> Wohnklassengesellschaft<br />
verdient in diesem<br />
Zusammenhang unser Interesse, welches<br />
über die Wohnkarrieren von Angehörigen<br />
des oberen Bürgertums, <strong>der</strong> Mittelschicht<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Arbeiterklasse informiert, wobei<br />
drei Stufen des potenziellen Aufstieges in<br />
<strong>der</strong> Wohnkarriere angegeben sind: 4 Hölle,<br />
Fegefeuer <strong>und</strong> Paradies. Die Gr<strong>und</strong>schicht<br />
<strong>und</strong> die Oberschicht weisen die erstaunliche<br />
Gemeinsamkeit auf: in einem freistehenden<br />
Haus <strong>und</strong> zwar einerseits in<br />
einem schlichten Einfamilienhaus <strong>und</strong><br />
an<strong>der</strong>erseits in einer schlossartigen Villa<br />
ihr Wohnideal zu sehen, während die<br />
Mittelschicht das gut ausgestattete, von<br />
<strong>der</strong> Straße zurückgerückte mehrgeschoßige<br />
Apartmenthaus als ideale Wohnform<br />
bevorzugt. 5<br />
Die vertikale soziale Differenzierung<br />
im kontinentaleuropäischen<br />
Mietshaus des frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
ist durch die Nestroysche Posse „Zu<br />
ebener Erde <strong>und</strong> Erster Stock“ in die<br />
Literaturgeschichte eingegangen. Sie<br />
kennzeichnete nicht nur Wien, son<strong>der</strong>n<br />
das kontinentaleuropäische Mietshaus<br />
schlechthin. Die Zeichnung eines<br />
französischen Mietshauses um die Mitte<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts bietet dafür eine<br />
vorzügliche Illustration. 6 Demnach übte<br />
<strong>der</strong> Concierge, <strong>der</strong> Hausbesorger, <strong>der</strong> im<br />
Erdgeschoß wohnte, eine Kontrolle über<br />
die ein- <strong>und</strong> ausgehenden Personen aus<br />
<strong>und</strong> war über das Privatleben <strong>der</strong> Mieter<br />
bestens informiert. Im Erdgeschoß<br />
befand sich ferner ein Wohnladen mit<br />
angeschlossener Wohnung. Der erste<br />
Stock war als Beletage dem Hausbesitzer<br />
vorbehalten, <strong>der</strong> den Repräsentationsstil<br />
des einstigen französischen Adels<br />
übernommen hatte <strong>und</strong> als „Kapitalist“<br />
von den Mieteinnahmen seiner<br />
Mietshäuser lebte. Auch im zweiten Stock<br />
waren noch Wohnungen für etwas<br />
bescheidenere bürgerliche Familien, im<br />
dritten Stock sieht man, dass ein Mieter<br />
gerade vom Verwalter den Kündigungsbrief<br />
erhält, im vierten Stock haben arme<br />
Leute <strong>und</strong> Künstler ihr „Obdach“.<br />
1 Hartmut Häußermann,<br />
Walter Siebel (1996),<br />
Soziologie des Wohnens,<br />
Weinheim <strong>und</strong><br />
München, S. 14.<br />
2 aristoteles (1958),<br />
Politik, übersetzt von<br />
Eugen Rolfes, 3.Auflage,<br />
Philosophische Bibliothek<br />
7, Hamburg.<br />
3 Elisabeth Lichtenberger<br />
(2002), Die Stadt,<br />
Von <strong>der</strong> Polis zur Metropolis,<br />
Darmstadt,<br />
S. 281 ff.<br />
1853 löste Elisha Graves<br />
Otis, Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Otis<br />
Elevator Company, mit<br />
<strong>der</strong> Präsentation des<br />
ersten absturzsicheren<br />
Aufzugbaus den flächendeckenden<br />
Einsatz von<br />
Personenliften in Gebäuden<br />
in den USA aus.<br />
Erst mit <strong>der</strong> Vorstellung<br />
des ersten elektrischen<br />
Lifts in Mannheim<br />
1880 durch Werner von<br />
Siemens (siehe Abbildung<br />
oben) sollte sich<br />
diese Entwicklung auch<br />
in Europa wie<strong>der</strong>holen.<br />
gentrification (im<br />
Deutschen auch Gentrifizierung)<br />
– <strong>der</strong> Begriff<br />
wurde 1964 durch eine<br />
Publikation von Ruth<br />
Glass, einer britischen<br />
Stadtsoziologin, geprägt<br />
<strong>und</strong> leitet sich von <strong>der</strong><br />
britischen Bezeichnung<br />
des niedrigen Adels<br />
(gentry) ab. Glass beschrieb<br />
damit den<br />
Zuzug wohlhaben<strong>der</strong><br />
Mittelklassefamilien in<br />
den ursprünglich ökonomisch<br />
schwachen<br />
Londoner Stadtteil<br />
Islington. Heute wird<br />
unter dem Begriff<br />
allgemein ein sozioökonomischer<br />
urbaner<br />
Umstrukturierungsprozess<br />
verstanden,<br />
<strong>der</strong> durch den Zuzug<br />
ökonomisch stärkerer<br />
Bevölkerungsgruppen<br />
in bis dahin schwach<br />
entwickelte Stadtteile<br />
charakterisiert wird.<br />
Als les grands ensembles<br />
werden die ab den<br />
1950er-Jahren erbauten<br />
suburbanen Großwohnsiedlungenfranzösischer<br />
Städte bezeichnet,<br />
die 2005 durch die<br />
Unruhen in den Banlieues<br />
international<br />
traurige Bekanntheit<br />
gewannen.<br />
4 Duby G. (1985), Histoire<br />
de la France urbaine. La<br />
ville aujourd’hui, Paris,<br />
Bd. 5, S. 452.<br />
5 Elisabeth Lichtenberger<br />
(2002), Die Stadt,<br />
S. 241/242.<br />
6 Benevolo (1993), Die<br />
Geschichte <strong>der</strong> Stadt,<br />
7. Auflage<br />
7 Elisabeth Lichtenberger<br />
(2002), Wem gehört<br />
die 3. Dimension <strong>der</strong><br />
Stadt? Mitt. Österr.<br />
Geogr. Ges. 143. Jg,<br />
Wien S. 7 – 34.<br />
8 Die Stadt, S. 284.<br />
Die Drehung des Sozialprofils im<br />
Mietshaus des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts 7<br />
Erst <strong>der</strong> Aufzugbau hat eine Egalisierung<br />
<strong>der</strong> Geschoße gebracht, <strong>und</strong> die Verkehrs-<br />
<strong>und</strong> Umweltbelastung <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte<br />
hat schließlich zu einer Drehung<br />
des Sozialprofils geführt. Gegenwärtig<br />
erfolgt eine gewisse Polarisierung<br />
zwischen Verfallsphänomenen im<br />
Erdgeschoß <strong>und</strong> „gentrification“ mittels<br />
penthouseartiger Strukturen im Dachgeschoß.<br />
Diese Akzentuierung <strong>der</strong> sehr<br />
differenzierten Bewertung <strong>der</strong> einzelnen<br />
Geschoße geht Hand in Hand mit sozialen<br />
<strong>und</strong> ethnischen Segregationsvorgängen<br />
in <strong>der</strong> Miethausstruktur von Großstädten.<br />
Mieter aus sozial schwachen Gruppen im<br />
Erdgeschoß reflektieren die Effekte des<br />
traffic blight, während an<strong>der</strong>erseits das<br />
Paradoxon besteht, dass die „ökologisch<br />
orientierte Subventionspolitik“ einer<br />
sozialdemokratischen Stadtverwaltung<br />
für den Dachausbau <strong>und</strong> die Anlage von<br />
Dachgärten indirekt Bezieher höherer<br />
Einkommen privilegiert.<br />
Vom Mietshaus zur Wohnanlage: Ein<br />
Vergleich <strong>der</strong> USA mit Europa<br />
Das kontinentaleuropäische Mietshaus<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist nicht nach<br />
Nordamerika ausgewan<strong>der</strong>t. Mietshäuser<br />
treten dort überhaupt erst spät,<br />
nämlich in <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit auf,<br />
einerseits beeinflusst von den großen<br />
City-Apartmenthäusern in London,<br />
an<strong>der</strong>erseits vom sozialen Wohnungsbau<br />
in Wien. Gleichzeitig begann eine<br />
soziale Polarisierung, d. h. die wirklich<br />
Reichen <strong>und</strong> die wirklich Armen zählten<br />
<strong>und</strong> zählen zu den Bewohnern. Beispiele<br />
für Erstere finden sich im Anschluss an<br />
die Downtowns wie längs <strong>der</strong> Gold Coast<br />
in Chicago, rings um den Central Park in<br />
New York, auf dem Russian Hill in San<br />
Francisco <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits in Suburbs<br />
wie in den Cleveland Heights. Freilich ist<br />
dieser Typ <strong>der</strong> luxuriösen Apartmenthäuser<br />
auf einige wenige Weltstädte<br />
<strong>und</strong> Millionenstädte beschränkt<br />
geblieben. Das an<strong>der</strong>e Extrem stellen<br />
die Massenmietshäuser des sozialen<br />
Wohnbaus dar, die im Zuge des urban<br />
renewal entstanden.<br />
Die Bautradition des zur Straße<br />
ausgerichteten kontinentaleuropäischen<br />
Mietshauses <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reihenhausverbauung<br />
ist mit dem Ersten Weltkrieg<br />
ebenso abgerissen wie das kapitalistische<br />
System <strong>der</strong> Bauträger. Doch haben<br />
in den sozialen Wohlfahrtsstaaten<br />
Europas große öffentliche Kapitalgeber<br />
sich des Mietshauses in <strong>der</strong> neuen Form<br />
<strong>der</strong> Wohnanlage angenommen.<br />
26 | 27 285<br />
Chronik Chronik<br />
Über den sozialen Wohnungsbau <strong>der</strong><br />
Zwischenkriegszeit reicht die Entwicklung<br />
herauf bis zum schwedischen<br />
Modell <strong>der</strong> Satellitenstädte mit Großwohnanlagen.<br />
Die zweite Hälfte des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts war über Europa hinweg in<br />
allen großen Städten durch einen breiten<br />
Vormarsch des Mietshauses einschließlich<br />
<strong>der</strong> neuen Form des Eigentumswohnbaus<br />
gekennzeichnet. Im Hinblick auf<br />
die bereits erreichten Dimensionen <strong>der</strong><br />
Wohnblöcke am Stadtrand stehen die<br />
grands ensembles in Frankreich in<br />
größenmäßiger Parallele zu den Wohnanlagen<br />
in den Metropolen <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Ostblockstaaten, Ostberlin, Prag,<br />
Budapest, Belgrad, Bukarest <strong>und</strong> Sofia.<br />
Nur in Hinblick auf die Wohnungsgröße<br />
besteht ein West- Ost- Gefälle, das von<br />
vier Zimmern in Paris-Sarcelles, über drei<br />
Zimmer in Frankfurt <strong>und</strong> Berlin bis zu<br />
zwei Zimmern in den Oststaaten reicht.<br />
Im Großen <strong>und</strong> Ganzen hat sich in<br />
<strong>der</strong> Nachkriegszeit die Entwicklung <strong>der</strong><br />
Grün<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong>holt, als man die Unterbringung<br />
<strong>der</strong> massenhaft vom Land in die<br />
Stadt ziehenden Bevölkerung nur mittels<br />
Mietskasernen bewältigen konnte.<br />
Eine Beson<strong>der</strong>heit Europas bildet<br />
das Zweitwohnungswesen. 8 Von <strong>der</strong><br />
Villa des Römischen Reiches führt die Linie<br />
herauf zur Villa <strong>der</strong> Renaissance in <strong>der</strong><br />
Toskana, zu den barocken Sommerschlössern<br />
des Adels, den Landhäusern <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
In <strong>der</strong> Nachkriegszeit haben die<br />
Niedrigmietenpolitik <strong>und</strong> <strong>der</strong> staatliche<br />
Wohnungsbau in den sozialistischen<br />
Län<strong>der</strong>n die Doppelung <strong>der</strong> Wohnstandorte<br />
mit <strong>der</strong> Arbeitswohnung im städtischen<br />
Mietshaus <strong>und</strong> dem Freizeitwohnsitz,<br />
<strong>der</strong> Datscha, im ländlichen Raum mit<br />
subventioniert. Neuerdings mit dem<br />
Begriff „Multilokalität“ ausgestattet, hat<br />
sich damit ein neuer Lebensstil in breiten<br />
Bevölkerungsschichten verankert. Die<br />
Zweitwohnungsperipherie um die großen<br />
Städte kann als das europäische Pendant<br />
zur Exurbanisierung in Nordamerika<br />
aufgefasst werden.
Meine Entscheidung:<br />
Bewusst bauen mit Sto-Fassadendämmsystemen.<br />
Eine Sto-Fassade ist mehr als das Gesicht eines<br />
Hauses. Sie beeindruckt auf den ersten Blick durch<br />
Ästhetik <strong>und</strong> weckt Lust auf mehr. Wer aber ihre<br />
inneren Werte kennt, weiß, was perfekte Fassaden<br />
ausmacht: Top-Qualität, innovative Technologien,<br />
perfekte Abstimmung von Systemen <strong>und</strong> Zubehör,<br />
erstklassige Beratung <strong>und</strong> umfassen<strong>der</strong> Service.<br />
An meine Fassade kommt nur Sto – das Beste.<br />
Die technischen Belange des mo<strong>der</strong>nen Holzbaues<br />
werden im Eurocode 5<br />
(ÖNORM EN 1995-1-1 <strong>und</strong> B 1995-1-1) geregelt.<br />
Die umfassende Erforschung des Baustoffes Holz <strong>der</strong><br />
letzten Jahrzehnte <strong>und</strong> bahnbrechende Entwicklungen<br />
in <strong>der</strong> Verbindungstechnik finden im Regelwerk<br />
ihren Ausdruck.<br />
Im Gegensatz zu Fachbüchern folgt <strong>der</strong> Inhalt dieses<br />
Arbeitsheftes strikt <strong>der</strong> Nummerierung des Normentextes.<br />
> Punkte, für die im Anhang Regelungen getroffen<br />
werden, sind zur besseren Übersicht direkt im<br />
laufenden Text eingearbeitet.<br />
> Die einzelnen fachlichen Regelungen werden<br />
durch erklärende Zeichnungen, Diagramme <strong>und</strong><br />
Hinweise auf weiterführende bzw. abweichende<br />
Regelungen (z. B. in <strong>der</strong> DIN) kommentiert.<br />
> Einige Formeln können mithilfe von kostenlosen<br />
ECXEL-Programmen berechnet werden.<br />
Die Inhalte richten sich gleichermaßen an:<br />
> Ziviltechniker <strong>und</strong> Ingenieure,<br />
> planerisch tätige, Holz verarbeitende Betriebe<br />
wie Zimmereien <strong>und</strong> Holzleimbaufirmen<br />
> <strong>und</strong> den gesamten Ausbildungsbereich.<br />
Insgesamt sollen mit dieser Arbeitshilfe diese<br />
wesentlichen Ziele erreicht werden:<br />
> Sinn erfassendes Arbeiten<br />
> sichere Anwendungen <strong>der</strong> Regeln<br />
> Vermeidung von Rechenfehlern<br />
> rationelles Arbeiten<br />
> Stärkung des Baustoffes Holz durch die gr<strong>und</strong>legende<br />
Vereinfachung in <strong>der</strong> Planung<br />
Diese Publikation ist in <strong>der</strong><br />
Service-GmbH <strong>der</strong> WKO erhältlich:<br />
Bestellservice<br />
Tel.: 05 90 900 DW 5050<br />
Fax: 05 90 900 DW 236<br />
E-Mail: mservice@wko.at<br />
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Weiters: Gentrifizierung, Nachruf Hartmut Häußermann,<br />
Guy Debord, Stadt <strong>und</strong> Angst, Kunstinsert<br />
Sonia Leimer, Besprechungen.<br />
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Bauen innerhalb <strong>der</strong> internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />
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Grün<strong>der</strong>in AoGA; Dick Urban Vestbro, Generalsekretär<br />
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Helena Sandman, Hollmen Reuter Sandman architects,<br />
Finnland; Brigitte Öppinger-Walchshofer, Geschäftsführerin<br />
ADA; Fritz Oettl, str. Vorsitzen<strong>der</strong><br />
AoGA; Carl Pruscha, Architekt; Andrea Rieger-Jandl,<br />
Prof. für kulturvergleichende Architekturgeschichte,<br />
TU Wien; Elke Krasny, Kulturtheoretikerin<br />
Architektur ohne Grenzen <strong>Austria</strong> wurde Ende 2010<br />
als Teil des internationalen Netzwerkes architecture<br />
sans frontières international gegründet. Die<br />
10-köpfige interdisziplinäre Gruppe arbeitet nunmehr<br />
an <strong>der</strong> Umsetzung von Bauprojekten innerhalb <strong>der</strong><br />
internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Auf -<br />
bauend auf Forschungsergebnissen in <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Region werden Möglichkeiten entwickelt, lokales<br />
Bauhandwerk, anonyme Bautradition, Technik<br />
<strong>und</strong> Ökologie in eine zeitgemäß gebaute Form zu<br />
übertragen. Damit leistet sie einen Mehrwert im<br />
Hinblick auf Lebensdauer, Umwelt, Energie, Komfort<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit. Durch das Zusammenspiel<br />
dieser Aspekte entsteht innovative Architektur = die<br />
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(332.821.000 € / 2009)<br />
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(2.607 / 2010)<br />
143.366.000 €<br />
(156.965 .000 € / 2009)<br />
Durchgeführt von Triconsult im Auftrag <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eskammer <strong>der</strong> <strong>Architekten</strong> <strong>und</strong><br />
Ingenieurkonsulenten (bAIK), erschienen im Januar 2012<br />
Ende 2011 untersuchte Triconsult bereits zum dritten Mal<br />
im Auftrag <strong>der</strong> bAIK den aktuellen Status <strong>der</strong> Architekt-<br />
Innen (A) <strong>und</strong> IngenieurkonsulentInnen (IK). Die TeilnehmerInnen<br />
<strong>der</strong> Umfrage (geglie<strong>der</strong>t in zwei Zielgruppen:<br />
<strong>Kammer</strong>mitglie<strong>der</strong> mit aktiver Befugnis <strong>und</strong> zt-Gesellschaften)<br />
beantworteten auch in diesem Jahr Fragen zu<br />
den Themenfel<strong>der</strong>n: Umsatz, Kosten <strong>und</strong> Ertrag, Beschäftigte<br />
<strong>und</strong> St<strong>und</strong>ensätze, zu Kalkulationsmethoden <strong>und</strong><br />
ihrer Teilnahme an Wettbewerben. Neu eingeführt wurde<br />
2011 <strong>der</strong> Fragenkomplex zum Thema <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Wohlfahrtseinrichtungen in die fsvg. In diesem<br />
Zusammenhang wurde auch die Verteilung <strong>der</strong> we-Beiträge<br />
als Kontrollgruppe erhoben, was eine Reduzierung<br />
<strong>der</strong> Umsatzzahlen gegenüber den Vorjahren mit sich<br />
brachte. Auch in diesem Jahr wurden die Ergebnisse auf<br />
<strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> <strong>Kammer</strong>mitglie<strong>der</strong> pro B<strong>und</strong>esland<br />
Wie hoch war Ihr Jahresgewinn/ Jahresverlust 2010<br />
aus Ihrem Büro/ Unternehmen – vor Steuern ?<br />
139.522.000 €<br />
(179.290.000 € /2009)<br />
789.787.000 €<br />
(1.162.982.000 € / 2009)<br />
974.448.000 €<br />
(968.709.000 € / 2009)<br />
Wie hoch war <strong>der</strong> Netto-Umsatz (ohne USt)<br />
Ihres Büros / Unternehmens im Jahr 2010 ?<br />
1.756.099.000 €<br />
(2.121.935.000 € / 2009)<br />
gewichtet <strong>und</strong> auf die Mitglie<strong>der</strong>zahlen hochgerechnet.<br />
Eine Zusammenfassung <strong>der</strong> aktuellen Standortbestimmung<br />
finden Sie auf den folgenden Seiten. Für die Gesamtsicht<br />
haben wir die Ergebnisse von Einzelziviltechniker-<br />
Innen (ezt) <strong>und</strong> zt-Gesellschaften gemeinsam dargestellt.<br />
Umsatz, Kosten <strong>und</strong> Ertrag<br />
In Summe erwirtschaften 4440 Betriebe (1706 IK <strong>und</strong><br />
2751 A) knapp 1,8 Mrd. Euro Umsatz im Jahr 2010. Die<br />
IngenieurkonsulentInnen sind daran mit knapp einer<br />
Milliarde Euro beteiligt, die ArchitektInnen mit knapp<br />
800 Mio. Euro. Allerdings überwiegt <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Büros,<br />
die Umsätze verloren haben, die Gewinner deutlich.<br />
In Summe erzielen die Betriebe (zt-Gesellschaften <strong>und</strong><br />
ezt zusammen) einen Bruttojahresgewinn von r<strong>und</strong><br />
281 Mio. Euro. 145 Mio. Euro davon entfallen auf Inge-<br />
ezt / zt-Gesellschaften – Anzahl <strong>der</strong> Beschäftigten 2011 (aktuell),<br />
Anteil an Anwesenheitsst<strong>und</strong>en 2010 (in Prozent)<br />
Wie viele Personen arbeiten in Ihrem Büro ?<br />
nieurkonsulent Innen <strong>und</strong> 140 Mio. Euro auf Architekt-<br />
Innen. Von den befragten ezt weisen 2010 bei den<br />
Inge nieurkonsulentInnen nur noch 86 % (nach 91,3 % im<br />
Jahr 2009) einen Gewinn auf. Bei den ArchitektInnen sind<br />
es relativ konstante 82,4 % mit Gewinn. zt-Gesellschaften<br />
machen bei den IngenieurkonsulentInnen in 87,7 % <strong>der</strong><br />
Fälle Gewinn, bei den ArchitektInnen beträgt <strong>der</strong> Anteil<br />
86,6 % . Im Verlustfall sind es knapp mehr als 30.000 Euro<br />
pro Gesellschaft.<br />
Beschäftigte <strong>und</strong> St<strong>und</strong>ensätze<br />
Die Branche beschäftigt 2010 knapp 24.000 Menschen.<br />
Gegenüber dem Vorjahr bedeutet das sowohl bei IngenieurkonsulentInnen<br />
als auch ArchitektInnen leichte<br />
Personalzuwächse, die sich insgesamt auf ca. 600 Mit arbeiterInnen<br />
summieren. Nach Angaben <strong>der</strong> Befragten<br />
Welcher Anteil <strong>der</strong> Anwesenheitsst<strong>und</strong>en<br />
entfällt auf … verrechenbare St<strong>und</strong>en ? … externe bzw. interne Schulung ?<br />
können IK erneut r<strong>und</strong> 73 % <strong>der</strong> Anwesenheitsst<strong>und</strong>en<br />
verrechnen, ArchitektInnen etwa 71 % (was einer leichten<br />
Steigerung entspricht). Auf Schulungen entfallen r<strong>und</strong><br />
7 % (IK) bzw. 6 % (A). An<strong>der</strong>e nicht verrechenbare St<strong>und</strong>en<br />
machen bei IngenieurkonsulentInnen ein Fünftel <strong>der</strong><br />
Anwesenheitsst<strong>und</strong>en aus, bei ArchitektInnen wie<strong>der</strong><br />
aber fast ein Viertel. Die Nettost<strong>und</strong>ensätze (im Jahr 2009)<br />
sind bei IngenieurkonsulentInnen – wie auch in den Vor -<br />
jahren – in allen Qualifikationsstufen höher als bei Architekt-<br />
Innen. Im Schnitt beträgt <strong>der</strong> Nettost<strong>und</strong>ensatz für zt<br />
80 Euro, technische AkademikerInnen werden mit 73 Euro<br />
verrechnet (5 Euro mehr als 2010), an<strong>der</strong>e Akademiker-<br />
Innen mit 72 Euro (plus 6 Euro) <strong>und</strong> Techniker Innen ohne<br />
akademischen Abschluss mit 58 Euro (plus 3 Euro). Die<br />
St<strong>und</strong>ensätze sind damit in Jahresfrist bei den MitarbeiterInnen<br />
deutlich stärker gestiegen als bei den zt selbst.<br />
32 | 33 285<br />
Wirtschaftliche Standortbestimmung <strong>der</strong> Branche Wirtschaftliche Standortbestimmung <strong>der</strong> Branche<br />
24.000<br />
22.000<br />
20.000<br />
18.000<br />
16.000<br />
14.000<br />
12.000<br />
10.000<br />
8.000<br />
6.000<br />
4.000<br />
2.000<br />
0<br />
23.639<br />
Total<br />
Ingenieurkonsulenten<br />
<strong>Architekten</strong><br />
11.189<br />
12.541<br />
72,5%<br />
Netto-Umsatzentwicklung (in Prozent) Ziviltechnikergesellschaften<br />
Wird <strong>der</strong> Netto-Umsatz 2011 höher,<br />
gleich hoch o<strong>der</strong> niedriger sein als 2010?<br />
2010 – 2011<br />
2009 – 2010<br />
3,4 %<br />
3,2 %<br />
6,7%<br />
1,1 % 5,1 %<br />
1,0% 4,9 %<br />
War <strong>der</strong> Netto-Umsatz 2010 höher,<br />
gleich hoch o<strong>der</strong> niedriger als 2009?<br />
20,9%<br />
70,8%<br />
5,9%<br />
EinzelziviltechnikerInnen<br />
… an<strong>der</strong>e nicht verrechenbare St<strong>und</strong>en ?<br />
(Urlaub, Krankenstand, Administration etc.)<br />
23,4%<br />
3,9 % 1,6 % 5 %<br />
1,9 % 3,8 %<br />
0,5 %<br />
0 %<br />
0 %
2.000<br />
1.800<br />
1.600<br />
1.400<br />
1.200<br />
1.000<br />
800<br />
600<br />
400<br />
200<br />
0<br />
ezt / zt-Gesellschaften – Teilnehmer <strong>und</strong> Teilnahmen<br />
an Wettbewerben 2010 (absolut),<br />
St<strong>und</strong>enaufwand für Wettbewerbe 2010 (absolut in Std.)<br />
Total<br />
IngenieurkonsulentInnen<br />
ArchitektInnen<br />
Hat Ihr Büro / Unternehmen 2010<br />
an Wettbewerben teilgenommen ?<br />
1.654<br />
(1.868 / 2009)<br />
6.631<br />
(7.741 / 2009)<br />
193<br />
(236/ 2019)<br />
1.326<br />
(1.893 / 2009)<br />
1.470<br />
(1.637 / 2019)<br />
5.359<br />
(5.908 /2009)<br />
An wie vielen Wettbewerben hat Ihr<br />
Büro / Unternehmen teilgenommen?<br />
Wie hoch war Ihr St<strong>und</strong>enaufwand<br />
2009 insgesamt für Wettbewerbe?<br />
1.500.000<br />
1.350.000<br />
1.200.000<br />
1.050.000<br />
900.000<br />
750.000<br />
600.000<br />
450.000<br />
300.000<br />
150.000<br />
Teilnahme an Wettbewerben<br />
32 % <strong>der</strong> ezt <strong>und</strong> 46 % <strong>der</strong> zt-Gesellschaften (nach zuletzt<br />
62 %) haben 2010 an Wettbewerben teilgenommen. Das<br />
Verhältnis nach Befugnis hat sich gegenüber dem Jahr<br />
2008 wenig verän<strong>der</strong>t: 11 % <strong>der</strong> IngenieurkonsulentInnen<br />
<strong>und</strong> 51 % <strong>der</strong> ArchitektInnen (zuletzt aber 60 %) nehmen an<br />
Wettbewerben teil. Das bedeutet, dass in Summe fast<br />
1500 an Wettbewerben teilnehmende ArchitektInnen auf<br />
r<strong>und</strong> 5400 Wettbewerbsteilnahmen kommen, bei den<br />
r<strong>und</strong> 200 IngenieurkonsulentInnen sind es etwas mehr<br />
1300 Wettbewerbsteilnahmen. Offene Wettbewerbe<br />
(mehr als 3000 Teilnahmen) sind die häufigste Form<br />
(2500 Teilnahmen durch ArchitektInnen) vor geladenen<br />
Wettbewerben (2300 Teilnahmen, davon r<strong>und</strong> 1900 durch<br />
0<br />
1.321.924<br />
(1.491.549 / 2009)<br />
136.666<br />
(74.241 / 2019)<br />
273.499.000 €<br />
(349.670.000 € / 2009)<br />
1.190.925<br />
(1.422.259 / 2019)<br />
63.221.000 €<br />
(26.209.000 € / 2009)<br />
8.593.000 € (4.196.000 € / 2009)<br />
60.317.000 € (87.042.000 € / 2009)<br />
An wie vielen Wettbewerben hat Ihr Büro / Unternehmen<br />
pro Kategorie im Jahr 2010 teilgenommen?<br />
3.022 Offene Wettbewerbe<br />
533<br />
2.491<br />
ezt / zt-Gesellschaften – St<strong>und</strong>enaufwand für<br />
Wettbewerbe 2010 (absolut in Std.),<br />
Auftragssumme aus Wettbewerben <strong>und</strong><br />
Netto-Gesamtkosten für Wettbewerbsteilnahmen<br />
2010 (in Euro)<br />
Wie hoch war die Gesamtauftragssumme Ihres<br />
Büros aus im Jahr 2010 gewonnenen Wettbewerben ?<br />
213.396.000 €<br />
(324.231.000 € /2009)<br />
2.306 Geladene Wettbewerbe<br />
421<br />
1.918<br />
52.109.000 € (83.467.000 € /2009)<br />
Wie hoch waren die Netto-Gesamtkosten<br />
für Wettbewerbsteilnahmen<br />
Ihres Büros im Jahr 2010 ?<br />
510 Bauträger-Wettbewerbe<br />
209<br />
302<br />
794 Private Auslober<br />
281<br />
649<br />
ArchitektInnen). Private AusloberInnen spielen im<br />
Wettbewerbswesen mit 800 Teilnahmen keine dominierende,<br />
aber eine nicht unbeträchtliche Rolle. Auch hier<br />
überwiegen die ArchitektInnen mit 650 TeilnehmerInnen.<br />
Der einzige Bereich, wo IngenieurkonsulentInnen <strong>und</strong><br />
ArchitektInnen in <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Teilnahmen näher<br />
beieinan<strong>der</strong>liegen, ist <strong>der</strong> Bereich <strong>der</strong> Bauträgerwettbewerbe<br />
mit insgesamt 500 Teilnahmen. Im Vergleich zum<br />
Jahr 2009 ist <strong>der</strong> Aufwand <strong>der</strong> ZiviltechnikerInnen für<br />
Wettbewerbe korrespondierend zu den rückläufigen<br />
Teilnahmen auf r<strong>und</strong> 1,3 Mio. Arbeitsst<strong>und</strong>en gefallen.<br />
In Summe sind das etwa 300.000 Arbeitsst<strong>und</strong>en weniger.<br />
Noch immer investieren ArchitektInnen mit 1,2 Mio.<br />
Arbeitsst<strong>und</strong>en den größten Anteil, allerdings mit deutlich<br />
ezt / zt-Gesellschaften – Wettbewerbsteilnahmen insgesamt<br />
2010 2009 2010 2009 2010 2009<br />
Anteile <strong>der</strong> Unternehmen, die an<br />
Wettbewerben teilnehmen (in Prozent) 35,6 43,2 10,7 13,2 51,2 63,6<br />
Unternehmen, die an Wettbewerben<br />
teilnehmen 1.654 1.868 193 236 1470 1.637<br />
Teilnahmen an Wettbewerben (insgesamt) 6.631 7.801 1.326 1.893 5.359 5.908<br />
Durchschnittliche Anzahl an<br />
Wettbewerbsteilnahmen 4,0 4,1 6,9 8,0 3,6 3,6<br />
Durchschnittlicher St<strong>und</strong>enaufwand 799 745 710 310 810 816<br />
Durchschnittlicher Kostenaufwand<br />
(in 1000 Euro) 36,5 46,6 44,6 17,8 35,5 45,6<br />
Durchschnittliches Netto-Preisgeld <strong>und</strong><br />
Aufwandsentschädigungen (in 1000 Euro) 2,9 10,7 1,0 9,7 3,3 11,0<br />
Durchschnittliche Anzahl an Aufträgen<br />
aus Wettbewerben 0,5 0,8 1,2 1,4 0,5 0,7<br />
Durchschnittliches Auftragsvolumen<br />
aus Wettbewerben (in 1000 Euro) 490 446 559 228 471 509<br />
Durchschnittliches Bauvolumen<br />
aus Wettbewerben (in 1000 Euro) 6.122 7.280 9.401 9.227 5.322 6.928<br />
rückläufiger Tendenz, während die IngenieurkonsulentInnen<br />
den St<strong>und</strong>enaufwand fast verdoppeln.<br />
Die Gesamtkosten für Wettbewerbe sind gegenüber<br />
dem Vorjahr um mehr als 20 Mio. Euro auf nunmehr<br />
60 Mio. Euro gefallen. Der Anteil <strong>der</strong> ArchitektInnen<br />
beläuft sich dabei auf r<strong>und</strong> 52 Mio. Euro. Häufiger gehen<br />
nun auch die IngenieurkonsulentInnen in <strong>der</strong> Wettbewerbssituation<br />
leer aus. Nur r<strong>und</strong> jede sechste Teilnahme<br />
bedeutet auch einen Auftrag. Damit ist die Conversion<br />
Rate bei den IngenieurkonsulentInnen gleichauf mit <strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> ArchitektInnen, bei denen jede siebte Teilnahme an<br />
einem Wettbewerb für einen Auftrag sorgt. Was allerdings<br />
die Aufträge <strong>der</strong> Büros anlangt, steigen IngenieurkonsulentInnen<br />
deutlich besser aus: WettbewerbsteilnehmerInnen<br />
im Bereich <strong>der</strong> IngenieurkonsulentInnen erzielen pro<br />
Büro im Schnitt 1,2 Aufträge, bei den ArchitektInnen sind<br />
es nur 0,5 Aufträge pro Büro. Als Aufwandsentschädigung<br />
erhalten ArchitektInnen etwa knapp 16 Mio. Euro <strong>und</strong><br />
damit über 2 Mio. Euro weniger als 2009, bei den IngenieurkonsulentInnen<br />
ist es 1 Mio. Euro. Wesentlich relevanter<br />
als die Aufwandsentschädigungen sind die aus Wettbewerben<br />
resultierenden Aufträge. Die 670 Aufträge an<br />
ArchitektInnen summieren sich zu einem Auftragsvolumen<br />
von 213 Mio. Euro. Bei IngenieurkonsulentInnen bedeuten<br />
240 Wettbewerbssiege ein Auftragsvolumen von 63 Mio.<br />
Euro. Äußerst beeindruckend sind die Gesamt baukosten,<br />
<strong>der</strong> in Wettbewerben vergebenen Planungs aufträge. In<br />
Summe beträgt das Bauvolumen <strong>der</strong> Projekte, <strong>der</strong>en<br />
Planung 2010 im Wettbewerb vergeben wurde, r<strong>und</strong><br />
3419 Mio. Euro. Etwa 1000 Mio. Euro entfallen dabei auf<br />
Pro jekte, bei denen IngenieurkonsulentInnen Wettbewerbsaufträge<br />
erhalten haben <strong>und</strong> mehr als 2400 Mio.<br />
Euro auf Bauten, die an ArchitektInnen im Wettbewerb<br />
vergeben wurden.<br />
Total<br />
IngenieurkonsulentInnen<br />
ArchitektInnen<br />
Wohlfahrtseinrichtungen (we)<br />
Angesichts <strong>der</strong> aktuellen Diskussion wurde ein umfangreicher<br />
Block r<strong>und</strong> um die Wahrnehmung <strong>der</strong> we aufgenommen.<br />
Auf die Frage „Würden Sie persönlich lieber im<br />
System <strong>der</strong> we <strong>der</strong> <strong>Kammer</strong> bleiben o<strong>der</strong> wären Sie lieber<br />
im staatlichen System <strong>der</strong> fsvg (Sozialversicherung<br />
freiberuflich selbstständig Erwerbstätiger) versichert?“<br />
bevorzugen 10 % einen Verbleib in den we <strong>und</strong> 73 % die<br />
staatliche fsvg. IngenieurkonsulentInnen, männliche <strong>und</strong><br />
ältere Befragte tendieren eher zu den we. Fast die Hälfte<br />
<strong>der</strong> Befragten ist neben <strong>der</strong> WE noch bei einer an<strong>der</strong>en<br />
Institution versichert. Mit 13 % dominiert dabei die sva;<br />
8 % sind als Angestellte versichert, 5 % als Beamte <strong>und</strong><br />
weitere 10 % in einer an<strong>der</strong>en Konfiguration. Immerhin 10 %<br />
sind freiwillig bei asvg o<strong>der</strong> gsvg weiterversichert. Je<br />
kleiner das Büro <strong>und</strong> je länger die Gründung zurückliegt<br />
bzw. je älter die Befragten sind, desto höher ist <strong>der</strong> Anteil<br />
<strong>der</strong> Befragten mit einer weiteren Versicherung neben <strong>der</strong><br />
we. R<strong>und</strong> die Hälfte <strong>der</strong> zt überlegt, bei einem Scheitern<br />
<strong>der</strong> Überführung <strong>der</strong> we in die fsvg-Maßnahmen zu<br />
setzen. In erster Linie wäre das <strong>der</strong> Versuch, ein weiteres<br />
Standbein aufzubauen (26 %). 8 % würden versuchen, als<br />
Angestellte Versicherungsschutz zu erlangen, <strong>und</strong> immerhin<br />
15 % ziehen eine Ruhendlegung <strong>der</strong> Befugnis in<br />
Betracht. Die Befugnis ruhend legen wollen vor allem<br />
Frauen <strong>und</strong> zt, die kaum Perspektiven für höhere<br />
Auftragsstände sehen. Das zweite Standbein ist vor allem<br />
für ArchitektInnen eine Option <strong>und</strong> wird eher von den<br />
jüngeren Befragten als Option gesehen. Je größer das<br />
Büro ist, je älter die Befragten sind <strong>und</strong> je positiver die<br />
Entwicklung eingeschätzt wird, desto höher ist <strong>der</strong> Anteil<br />
<strong>der</strong>jenigen, die keine Maßnahmen setzen wollen. Die<br />
persönliche Relevanz des Themas wird auch durch die<br />
Bereitschaft, die Position <strong>der</strong> <strong>Kammer</strong> durch politische<br />
Aktionen zu unterstützen, deutlich. Mehr als die Hälfte<br />
bek<strong>und</strong>en eine solche Bereitschaft. ArchtitektInnen sind<br />
dabei deutlich stärker mobilisierbar. Die we-Beiträge<br />
werden von 15 % als existenzbedrohend <strong>und</strong> von weiteren<br />
48 % als sehr hoch erlebt. 31 % betrachten die Beiträge als<br />
hoch <strong>und</strong> lediglich 6 % sehen sie als nicht zu hoch an. �<br />
34 | 35 285<br />
Wirtschaftliche Standortbestimmung <strong>der</strong> Branche Wirtschaftliche Standortbestimmung <strong>der</strong> Branche<br />
Langfassung unter: www.arching.at
Die Integrationsmaschine |<br />
Über Doug Saun<strong>der</strong>s’ bahnbrechendes Buch „Arrival City“<br />
Michael Krassnitzer,<br />
geboren 1967 in Graz,<br />
Studium <strong>der</strong> Philosophie.<br />
Lebt als freier Journalist<br />
mit den Schwerpunkten<br />
Kulturgeschichte <strong>und</strong><br />
Medizin in Wien.<br />
Das Amsterdamer Stadtviertel Slotervaart hatte alles, was<br />
des Städteplaners Herz begehrt: funktionale, nicht allzu<br />
hohe Wohnblöcke; dazwischen großzügige Grünanlagen<br />
mit ruhigen, gew<strong>und</strong>enen Fußwegen; Autos waren von<br />
den meisten öffentlichen Plätzen verbannt. Betriebe o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e Unternehmen gab es in Slotervaart keine, nur<br />
einige kleine Geschäfte, auf dass <strong>der</strong> Trubel <strong>der</strong> Konsumgesellschaft<br />
nicht die beschauliche Ruhe <strong>der</strong> Einwohner<br />
störe. Doch die vermeintliche Idylle war zu einem <strong>der</strong><br />
Problembezirke <strong>der</strong> Metropole geworden. Die Kriminalitätsrate<br />
war in erschreckende Höhen geklettert, Gangs<br />
männlicher Jugendlicher hatten die Grünanlagen zu<br />
ihrem Territorium erklärt, unter den muslimischen Ein -<br />
wan<strong>der</strong>ern des Viertels, die hier die Mehrheit stellen,<br />
hatte sich ein radikaler Islam breitgemacht. Der Mör<strong>der</strong><br />
des Filmemachers Theo van Gogh stammt von hier.<br />
Warum Slotervaart zwangsläufig zum Krisenviertel<br />
werden musste, erklärt <strong>der</strong> kanadische Publizist Doug<br />
Saun<strong>der</strong>s in seinem Buch „Arrival City“ auf verblüffend<br />
einleuchtende Weise. In seinem bahnbrechenden Werk<br />
– eine „wahre Sensation“, wie Peter Sloterdijk schwärmt –<br />
beschäftigt sich Saun<strong>der</strong>s mit dem weltweiten Phänomen<br />
<strong>der</strong> Migration <strong>und</strong> zäumt dabei das Pferd auf eine<br />
gänzlich neue Weise auf: Er richtet den Blick nämlich auf<br />
36 | 37 285<br />
Die Integrationsmaschine<br />
jene Orte, an denen Migranten am Ende ihrer Suche nach<br />
besserer Lebensqualität für sich <strong>und</strong> ihre Kin<strong>der</strong> ankommen.<br />
Von diesen Orten, so lautet Saun<strong>der</strong>s’ These, hängt<br />
es ab, ob Migration den Einwan<strong>der</strong>ern <strong>und</strong> dem Einwan<strong>der</strong>ungsland<br />
Nutzen o<strong>der</strong> Schaden bringt. Funktioniert<br />
eine Ankunftsstadt nicht, so wird sie zum sozialen Pulverfass,<br />
zur Brutstätte von Kriminalität <strong>und</strong> Extremismus,<br />
ja kann sogar das Staatsgefüge ins Wanken bringen.<br />
Die Französische Revolution 1789 <strong>und</strong> die Islamische<br />
Revolution in Persien 1979 begannen beide als Revolten in<br />
den damaligen Ankunftsstädten von Paris beziehungsweise<br />
Teheran. Funktioniert eine Ankunftsstadt hingegen,<br />
so wird sie zu einer „Integrationsmaschine“ <strong>und</strong> ermöglicht<br />
einem Teil ihrer Bewohner den ersehnten Aufstieg in<br />
die Mittelschicht <strong>und</strong> den Umzug in ein Viertel mit<br />
höherem Status.<br />
„Ankunftsstadt“ („Arrival City“): So nennt Saun<strong>der</strong>s<br />
jene Orte. Das können neue Stadtviertel sein, die von den<br />
Migranten errichtet werden o<strong>der</strong> ein engmaschiges<br />
Netzwerk von Migranten, das in einem unterprivilegierten<br />
Bezirk eine Min<strong>der</strong>heit bildet, eine „virtuelle Ankunftsstadt“.<br />
Damit die Ankunftsstadt gedeiht, das belegt<br />
Saun<strong>der</strong>s anhand zahlreicher Beispiele, müssen einige<br />
wenige Gr<strong>und</strong>bedingungen erfüllt sein. Erstens muss es<br />
Die Bebauungsdichte<br />
<strong>und</strong> die ausgeglichene<br />
Nutzungsmischung<br />
des Areals r<strong>und</strong> um den<br />
Brunnenmarkt <strong>und</strong><br />
Yppenplatz sind die<br />
besten Voraussetzungen<br />
für eine Ankunftsstadt.<br />
den Migranten möglich sein, unkompliziert Kleinunternehmen<br />
zu gründen. Mit einem kleinen Geschäft, einer<br />
Imbissbude o<strong>der</strong> einer Näherei in einem Hinterhof lässt<br />
sich Geld verdienen, das in die Ausbildung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
investiert wird o<strong>der</strong> den im Herkunftsland verbliebenen<br />
Verwandten zugutekommen. Zweitens muss <strong>der</strong> Erwerb<br />
von billigem Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Wohnungseigentum möglich<br />
sein. Der Besitz einer Hütte, einer Kleinstwohnung o<strong>der</strong><br />
eines Geschäftslokals gibt nicht nur Sicherheit, son<strong>der</strong>n<br />
ist auch ein Kapital. Drittens muss die Ankunftsstadt über<br />
eine hohe Bevölkerungsdichte verfügen, damit sich die<br />
für die Migranten wichtigen, von ihrer Herkunft geprägten<br />
sozialen Netzwerke entfalten können. Und viertens muss<br />
es den Migranten möglich sein, die Ankunftsstadt nach<br />
ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen zu gestalten.<br />
Angesichts dieser Prämissen ist klar, warum<br />
Slotervaart <strong>und</strong> ähnliche Viertel (zu den abschreckendsten<br />
Beispielen gehören die Banlieue-Siedlungen in<br />
Frankreich) nicht funktionieren: Sie sind ausschließlich<br />
zum Wohnen erbaut <strong>und</strong> bieten we<strong>der</strong> die Möglichkeit<br />
für Eigentumserwerb noch für wirtschaftliche Nutzung.<br />
Die Architektur hält die Bevölkerungsdichte niedrig <strong>und</strong><br />
unterbindet auch jede Form <strong>der</strong> Gestaltung durch die<br />
Bewohner. Mittlerweile haben die Amsterdamer Stadtverantwortlichen<br />
die Konsequenzen gezogen: In Slotervaart<br />
wurden viele Grünflächen mit dicht aneinan<strong>der</strong>stehenden<br />
Häusern verbaut, die zur Straßenseite eine geschlossene<br />
Front bildeten. Zonierungen <strong>und</strong> Nutzungsbeschränkungen<br />
wurden aufgehoben, <strong>der</strong> Erwerb von Eigentum<br />
ermöglicht. Wie in einer organisch gewachsenen Stadt<br />
befinden sich in den oberen Etagen Wohnungen, im<br />
Erdgeschoß Geschäftslokale <strong>und</strong> gewerblich genutzte<br />
Flächen. Auf den neu entstandenen engen Straßen, die<br />
nunmehr für den Fahrzeugverkehr freigegeben sind,<br />
tummeln sich die Menschen, auf verbliebenen größeren<br />
Flächen entstanden bunte Märkte. In Slotervaart wurde<br />
die irrige Vorstellung, ein beengtes, dichtes Zusammenwohnen<br />
<strong>und</strong> ein allgemeines Durcheinan<strong>der</strong> seien ein zu<br />
beseitigendes Zeichen für Elend, zu Grabe getragen.<br />
„Die erfolgreichsten Stadtviertel <strong>der</strong> Welt sind Bezirke<br />
mit einer extrem hohen Nutzungsdichte <strong>und</strong> einer stark<br />
gemischten Nutzung“, betont Saun<strong>der</strong>s.<br />
„Arrival City“ führt den Leser nach Berlin-Kreuzberg <strong>und</strong><br />
in die Pariser Vorstädte ebenso wie in die chinesische<br />
Son<strong>der</strong>wirtschaftszone Shenzhen o<strong>der</strong> ein ehemaliges<br />
Slum in Rio de Janeiro. Von Österreich ist nur an einer<br />
Stelle in Zusammenhang mit den Wiener Zinskasernen<br />
die Rede, gleichsam den Vorort-Wohnblocks <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>zeit.<br />
Dabei gibt es hierzulande natürlich auch Ankunftsstädte,<br />
wie etwa den Bezirk Gries in Graz o<strong>der</strong> das<br />
Makartviertel in Linz. In Wien ist Ottakring eine <strong>der</strong><br />
Ankunftsstädte. Der Anteil an Migranten mit ausländischer<br />
Staatsbürgerschaft im 16. Gemeindebezirk beträgt<br />
23,8 Prozent, Migranten mit österreichischer Staatsbürgerschaft<br />
sind in dieser Zahl nicht enthalten.<br />
Geht es nach <strong>der</strong> stellvertretenden Bezirksvorsteherin<br />
Eva Weißmann, so ist Ottakring eine gut funktionierende<br />
Ankunftsstadt im Sinne Saun<strong>der</strong>s’. „Ottakring ist<br />
ein lebendiger, bunter Bezirk, <strong>der</strong> in den letzten Jahren<br />
einen deutlichen Aufschwung erlebt hat“, erklärt die<br />
Sozialdemokratin. An Unternehmen, die von Migranten<br />
aufgebaut <strong>und</strong> geführt werden, besteht kein Mangel.<br />
Die größeren Straßen sind gesäumt von Imbissbuden,<br />
einfachen Restaurants, Computerquetschen, Callshops<br />
<strong>und</strong> Geschäften aller Art. Türkische Friseursalons<br />
schießen wie Pilze aus dem Boden, auch die schon<br />
beinahe ausgestorben geglaubten Än<strong>der</strong>ungsschnei<strong>der</strong>eien<br />
erfuhren durch türkische Schnei<strong>der</strong> eine Renaissance.<br />
Unter jenen, die Wohnungseigentum erwerben,<br />
befinden sich auch in <strong>der</strong> Mittelklasse angekommene<br />
Migranten, so Weißmann, vorrangig aus dem ehemaligen<br />
Jugoslawien. Von chronischer Gewalt wie in den Ankunftsstädten<br />
Berlins o<strong>der</strong> von Aufruhren, wie sie immer wie<strong>der</strong><br />
in den französischen Ankunftsstädten in den Banlieues<br />
ausbrechen, ist im 16. Bezirk nichts zu bemerken. Im<br />
Gegenteil: In <strong>der</strong> Umgebung des populären Brunnenmarktes<br />
hat bereits die Gentrifizierung eingesetzt, nachdem<br />
zuerst die üblichen Pioniere (Künstler <strong>und</strong> Kreative) <strong>und</strong><br />
dann die Investoren auf das Viertel aufmerksam geworden<br />
sind.<br />
Für den Erfolg Ottakrings sind, das lässt sich aus den<br />
in „Arrival City“ gezogenen Erkenntnissen ableiten, die<br />
städtebaulichen <strong>und</strong> architektonischen Gegebenheiten<br />
zumindest teilweise verantwortlich. Die dichte, aus dem<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t stammende Bebauung <strong>und</strong> die selbstverständliche<br />
Mischung unterschiedlicher Nutzungen boten<br />
den dort angekommenen Migranten die Voraussetzungen,<br />
den Weg in die Mitte <strong>der</strong> österreichischen Gesellschaft<br />
anzutreten. Mögen möglichst viele dort ankommen. �<br />
Die Integrationsmaschine
Hör- <strong>und</strong> Linkempfehlung<br />
Gleich ob Szenen aus dem Wurstelprater um<br />
1900, ZeitzeugInnen-Berichte zum Staatsvertrag<br />
o<strong>der</strong> Einblicke in das Schellackarchiv des<br />
legendären Radiomo<strong>der</strong>ators Günther Schifter,<br />
auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Österreichischen Mediathek<br />
(OeM), einer Außenstelle des Technischen<br />
Museum Wien, werden Sie fündig. Sie<br />
gewährt mit ihrem äußerst vielfältigen <strong>und</strong><br />
r<strong>und</strong> 1,5 Millionen Einzelaufnahmen fassenden<br />
Bestand einen einmaligen Einblick in die<br />
audiovisuelle Kultur- <strong>und</strong> Zeitgeschichte Österreichs.<br />
Dank zunehmen<strong>der</strong> Digitalisierung<br />
von analogen Trägern kann man nun von zu<br />
Hause o<strong>der</strong> unterwegs u. a. <strong>der</strong> einzigen (!)<br />
Tonaufnahme Sigm<strong>und</strong> Freuds (1939) lauschen,<br />
Erwin Schrödingers Erläuterungen zur<br />
Linkempfehlung<br />
Spätestens als mtv 1981 mit dem Track „Video<br />
killed the Radio Star“ von the Buggles on air<br />
ging, wurde <strong>der</strong> Songtitel Realität – ein neues<br />
populärkulturelles Leitmedium war geboren.<br />
Knapp 31 Jahre später ist dieser soziotechnologischen<br />
Tragödie längst ein weiteres Kapitel<br />
angefügt, „Internet killed the Video Star“<br />
von the Limousines klingt denkbar unoriginell,<br />
diagnostiziert dennoch unumstritten, was<br />
offensichtlich ist: mtv wurde von einer globalen<br />
Musik- <strong>und</strong> Lifestylemaschine zu einem<br />
Bezahlsen<strong>der</strong> äußerst begrenzter Relevanz<br />
<strong>und</strong> das Internet zum viralen Netz <strong>der</strong> Ideen.<br />
Materie folgen (1952) o<strong>der</strong> Heinz Zemaneks<br />
Ausführungen zu den Gefahren <strong>und</strong> Chancen<br />
des Computers (1997) aus heutiger Perspektive<br />
reflektieren.<br />
Ihre Archivbestände macht die OeM im<br />
Marchettischlössl, zentral im sechsten Bezirk<br />
gelegen, für BesucherInnen zugänglich. Neben<br />
analogen Playern, die für Schellacks,<br />
Schallplatten, Tonbän<strong>der</strong> etc. benutzt werden<br />
können, bietet die OeM ihrem Publikum<br />
ein beson<strong>der</strong>es Feature an: „Ihr Wort für die<br />
Ewigkeit“. Zwei Minuten stehen jedem/je<strong>der</strong><br />
zur Verfügung, um seine/ihre akustische Botschaft<br />
für immer im digitalen System <strong>der</strong> OeM<br />
zu archivieren. Aktuell entwickelte die OeM<br />
eine Free- Software-Applikation zur Videodigitalisierung,<br />
die international richtungsweisend<br />
ist. „DVA-Profession“ ist eine Gesamtlö-<br />
Adapter-Empfehlung<br />
Design ist, was man nicht verwenden kann.<br />
Diese populäre Definition wi<strong>der</strong>spricht zwar<br />
den Absichten fast aller Designer, hat aber auch<br />
den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en guten Gr<strong>und</strong>. Als Ikone<br />
des von schnö<strong>der</strong> Zweckmäßigkeit befreiten<br />
Designs hat die spinnenbeinige Zitronenpresse<br />
von Philippe Starck Weltruhm erlangt.<br />
Mit ihr hat die Skulptur Eingang ins mo<strong>der</strong>ne<br />
Wohnen gef<strong>und</strong>en. Kaum eine teure Küche<br />
kommt aus ohne ihre Zier, seit 22 Jahren.<br />
Wer je versucht hat, mit dem Wun<strong>der</strong>ding<br />
Zitronen zu pressen, wurde vom Design<br />
alsbald eines Besseren belehrt. Man vergreift<br />
sich nicht an Standbil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> luxuriösen Verschwendung!<br />
Doch wir wollen <strong>der</strong> Spinne nicht unrecht<br />
tun. Ihre Arbeitsverweigerung gegenüber<br />
dem Küchenalltag hatte doch ursprünglich<br />
einen guten Zweck: Mit ihren dünnen<br />
Beinchen stellte sie sich stolz erhobenen<br />
Hauptes <strong>der</strong> rigiden Ideologie des Funktiona-<br />
Es scheint daher nicht überraschend, dass<br />
sich dem neuen Medium nun auch die Inhalte<br />
anpassen. Chris Milk, gefeierter Musikvideoregisseur,<br />
nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein.<br />
In Kooperation mit Google kon zipierte er ein<br />
personalisierbares Musikvideo zu dem Song<br />
„We Used To Wait“ von Arcade Fire. Der Betrachter<br />
bestimmt den Schauplatz, an dem<br />
sich die Handlung <strong>der</strong> „Videocollage“ entfaltet.<br />
Am Bildschirm greifen sodann Ansichten<br />
aus Google Earth <strong>und</strong> -Streets, Animationen<br />
<strong>und</strong> ein konventionelles Musikvideo ineinan<strong>der</strong>.<br />
Die Abbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> realen Welt korrespondieren<br />
durch Kameraschwenks <strong>und</strong> Überlagerungen<br />
mit <strong>der</strong> fiktiven Narration.<br />
40 | 41 285<br />
Empfehlungen<br />
sung für die Digitalisierung von Videoma-<br />
terial für den Archivgebrauch <strong>und</strong> steht<br />
kostenfrei inklusive ausführlicher Dokumentation<br />
zum Download bereit.<br />
www.mediathek.at Maja Sito �<br />
lismus entgegen. Und wurde zum Wappentier<br />
des „Emotional Design“, jener Bewegung, die<br />
<strong>der</strong> Devise „Form follows Emotion“ zum<br />
Durchbruch verhalf.<br />
Untätig <strong>und</strong> verstaubt harrte Starcks<br />
Spinne in allen Luxusküchen ihrer Rettung,<br />
bis endlich im Jahre 2000 die Berliner Designer<br />
Adam <strong>und</strong> Harborth sich ihrer erbarmten<br />
<strong>und</strong> einen Adapter entwarfen, den man bloß<br />
aufstecken muss, <strong>und</strong> schon werden die Kerne<br />
aufgefangen. Damit ist die Funktion zurückgewonnen,<br />
nichts steht mehr einer dem<br />
Namen Zitronenpresse entsprechenden Verwendung<br />
entgegen.<br />
„Dies ist keine sehr gute Zitronenpresse“,<br />
schrieb Großmeister Philippe Starck einst<br />
persönlich an Alberto Alessi, „meine Idee war<br />
es, damit beim Auspacken <strong>der</strong> Hochzeitsgeschenke<br />
Gesprächsstoff <strong>und</strong> Freude zu erzeugen.“<br />
Das sind immerhin klar definierte Funktionen!<br />
Den Adapter sollte man daher erst<br />
aufstecken, wenn die Flitterwochen vorbei<br />
sind. Wolfgang Pauser �<br />
Vielleicht zeigt dieses Experiment tatsächlich<br />
die Gr<strong>und</strong>züge morgiger Medien inhalte<br />
auf o<strong>der</strong> ist einfach nur ein interessantes Kuriosum,<br />
in jedem Fall ist www.thewil<strong>der</strong>nessdowntown.com<br />
einen Besuch wert.<br />
Sebastian Jobst �<br />
Achtung, Falle!<br />
Eignungskriterien können im Leistungsverzeichnis<br />
versteckt sein.<br />
Der Verwaltungsgerichtshof (kurz: VwGH)<br />
hatte die Vergabe von Bautischlerarbeiten im<br />
Rahmen eines Sanierungs- <strong>und</strong> Dachgeschoßausbaus<br />
zu beurteilen. Die zweitgereihte Bieterin<br />
bekämpfte die Zuschlagsentscheidung<br />
mit <strong>der</strong> Begründung, das Angebot <strong>der</strong> erstgereihten<br />
Bieterin sei unvollständig <strong>und</strong> daher<br />
auszuscheiden gewesen. Die ag hätte im Leistungsverzeichnis<br />
betreffend die Wohungseingangstüren<br />
Folgendes festgelegt: „Zum Nachweis<br />
<strong>der</strong> Einbruchs- <strong>und</strong> Brandhemmung sind<br />
[…] Prüfzeugnisse vorzulegen.“ Die erstgereihte<br />
Bieterin habe ihrem Angebot jedoch keine<br />
Zeugnisse beigelegt.<br />
Die Erstgereihte hielt dem entgegen, die<br />
Verpflichtung zur Vorlage <strong>der</strong> Zeugnisse sei in<br />
den relevanten Positionen des Leistungsverzeichnisses<br />
enthalten gewesen. Die ag habe<br />
ausdrücklich nicht verlangt, die Zeugnisse mit<br />
dem Angebot vorzulegen. Die Zeugnisse bei<br />
Raum, verschraubt mit <strong>der</strong> Zeit<br />
– Space, Twisted with Time /<br />
Architekturjahrbuch Graz<br />
Steiermark 2010<br />
Hubertus Adam<br />
Hg. von Eva Guttmann,<br />
HDA Haus <strong>der</strong> Architektur Graz<br />
Birkhäuser Verlag, Basel 2011<br />
„Kaum eine Buchgattung ist langweiliger<br />
als das typische Architekturjahrbuch<br />
mit <strong>der</strong> monotonen<br />
Reihung von Bil<strong>der</strong>n, Projektbeschreibung<br />
<strong>und</strong> Plänen“, schreibt<br />
Hubertus Adam, Architekturkritiker<br />
<strong>und</strong> Kurator des Architekturpreises<br />
des Landes Steiermark –<br />
<strong>und</strong> das ausgerechnet im Archi -<br />
tekturjahrbuch Graz Steiermark<br />
2010. Auf dieses sein Werk freilich<br />
bzw. nach Herstellung <strong>der</strong> Wohnungseingangstüren<br />
erstellen zu lassen <strong>und</strong> vorzulegen<br />
sei branchenüblich <strong>und</strong> im Einklang mit<br />
<strong>der</strong> ÖNORM B 2110.<br />
Der VwGH bestätigte die Ausscheidung:<br />
Die Zeugnisse seien Nachweis <strong>der</strong> technischen<br />
Leistungsfähigkeit. Beachtenswert ist,<br />
dass <strong>der</strong> VwGH dies nicht näher begründet,<br />
obwohl die Verpflichtung zur Vorlage nur im<br />
Leistungsverzeichnis enthalten ist. Er betrachtet<br />
die Verpflichtung zur Vorlage <strong>der</strong><br />
Zeugnisse als Eignungsnachweis gem. § 75<br />
Abs 5 Z 5 BVergG 2006. Dort heißt es: „Bescheinigungen,<br />
die von zuständigen Instituten o<strong>der</strong><br />
amtlichen Stellen für Qualitätskontrolle ausgestellt<br />
wurden, mit denen bestätigt wird,<br />
dass die durch entsprechende Bezugnahmen<br />
genau bezeichneten Waren bestimmten Spezifikationen<br />
o<strong>der</strong> Normen entsprechen“.<br />
Für die Praxis wird es damit erfor<strong>der</strong>lich,<br />
das Leistungsverzeichnis von Ausschreibungsunterlagen<br />
genau auf Verpflichtungen zur<br />
Vorlage von (nunmehr) gemäß § 75 Abs 5 bis<br />
Abs 7 BVergG 2006 zulässigen Nachweisen <strong>der</strong><br />
trifft das vernichtende Verdikt<br />
nicht zu. Im Gegenteil: „Raum, verschraubt<br />
mit <strong>der</strong> Zeit“ wurde mit<br />
einem Preis beim Wettbewerb<br />
„Schönste Bücher Österreichs<br />
2011“ <strong>und</strong> <strong>der</strong> Goldmedaille im<br />
Wettbewerb <strong>der</strong> schönsten Bücher<br />
aus aller Welt, die erstmals<br />
nach Österreich geht, ausgezeichnet.<br />
Klappt man den schlichten<br />
Leineneinband auf, so erscheinen<br />
ein Text- <strong>und</strong> ein Bildteil, die sich<br />
jeweils wie ein eigener Band öffnen<br />
lassen. Die bewusst in einem<br />
subjektiven Ton gehaltenen Essays<br />
des ersten Teils sind übersichtlich<br />
<strong>und</strong> grafisch ansprechend<br />
mit den Überschriften,<br />
Fußnoten <strong>und</strong> sparsam eingesetzten<br />
Zeichnungen verzahnt,<br />
nein: verschraubt. Der zweite Teil<br />
enthält einen klassischen Fotoessay<br />
in Schwarz-Weiß von Hertha<br />
Hurnaus, <strong>der</strong> die für den Architekturpreis<br />
nominierten Projekte unprätentiös<br />
präsentiert, darunter<br />
das schließlich preisgekrönte Einfamilienhaus<br />
efh_surplus value<br />
01 von weichlbauer / ortis in Laufnitzdorf,<br />
dessen Fassaden <strong>und</strong><br />
Flachdächer mit Kunstrasen überzogen<br />
sind.<br />
Ignaz Gridl<br />
Eisenkonstruktionen<br />
Alfred Fogarassy (Hg.),<br />
Nora Schoeller (Fotos)<br />
Christian Brandstätter Verlag,<br />
Wien/München 2011<br />
Kaum ein Großbau <strong>der</strong> ausgehenden<br />
Donaumonarchie, an dem<br />
nicht die Firma Ignaz Gridl beteiligt<br />
war. Ein prächtiger Band mit<br />
erhellenden Textbeiträgen sowie<br />
historischen <strong>und</strong> aktuellen Fotografien<br />
setzt sich mit jenem Wiener<br />
Unternehmen auseinan<strong>der</strong>,<br />
das gegen Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
österreichischer Marktführer<br />
in Sachen Eisen- <strong>und</strong> Stahlkonstruktion<br />
war. Wenn es um den<br />
Bau von Kuppeln, Dächern, Brücken,<br />
Gewächshäusern o<strong>der</strong> Stern warten<br />
ging, war Ignaz Gridl zur Stelle.<br />
Die Firma errichtete unter ande-<br />
technischen Leistungsfähigkeit zu durchsuchen.<br />
Besteht auch nur <strong>der</strong> geringste Zweifel,<br />
ob eine Festlegung im Leistungsverzeichnis<br />
ein solcherart verstecktes Eignungskriterium<br />
o<strong>der</strong> ein bloßer Nachweis <strong>der</strong> Erfüllung eines<br />
Leistungskriteriums darstellt, empfiehlt es<br />
sich für Bieter, eine Auskunft des Auftraggebers<br />
zu dieser Frage einzuholen.<br />
Im vorliegenden Fall war das Angebot<br />
aus Sicht des VwGH mit einem unbehebbaren<br />
Mangel behaftet, da die technische Leistungsfähigkeit<br />
zum (im offenen Verfahren<br />
entscheidenden) Zeitpunkt <strong>der</strong> Angebotsöffnung<br />
nicht vorgelegen ist.<br />
(VwGH 22.11.2011, 2006/04/0056; VKS Wien<br />
23.01.2006, VKS-3922/05)<br />
Jüngste Entscheidung | Krassnitzers Lektüren<br />
Johannes Schramm/Michael Weiner<br />
(Schramm Öhler Rechtsanwälte) �<br />
rem das Palmenhaus im Park von<br />
Schönbrunn, die Dachkonstruktionen<br />
zahlreicher Ringstraßenbauten<br />
(Parlament, Rathaus, Universität,<br />
Burgtheater, Kunsthistorisches<br />
Museum), die Überdachung<br />
des Salzburger Hauptbahnhofes,<br />
die Donaubrücke zwischen Stein<br />
<strong>und</strong> Mautern <strong>und</strong> den Mozartsteg<br />
in Salzburg. Ebenso wie die<br />
Eisenkonstruktionen in historistischen<br />
Prachtbauten hinter Mauerwerk<br />
<strong>und</strong> Stuck verborgen blieben,<br />
verschwindet normalerweise<br />
auch <strong>der</strong> Konstrukteur hinter<br />
dem Namen des planenden <strong>Architekten</strong>.<br />
Das von Alfred Fogarassy<br />
herausgegebene Buch „Ignaz Gridl.<br />
Eisenkonstruktionen“ entreißt<br />
den führenden Eisenkonstruktionsbetrieb<br />
Österreich-Ungarns,<br />
<strong>der</strong> 1934 von <strong>der</strong> Waagner-Biró ag<br />
geschluckt wurde, dem Vergessen.<br />
Zugleich ist es ein spannen<strong>der</strong><br />
Beitrag zur Geschichte <strong>der</strong><br />
Eisenkonstruktion in Österreich.<br />
Michael Krassnitzer �
Die schönen Künste konservieren,<br />
mit <strong>der</strong> Präzision des Technikers |<br />
Josef Linsinger im Porträt<br />
Magdalena Klemun<br />
studierte Elektrotechnik<br />
an <strong>der</strong> Technischen<br />
Universität Wien <strong>und</strong> ist<br />
als freie journalistische<br />
Mitarbeiterin für „Die<br />
Presse“ tätig.<br />
Im Tempel von Shuilu<br />
in Xian, China, galt es,<br />
hochempfindliche<br />
Terrakottastatuen zu<br />
dokumentieren.<br />
42 | 43 285<br />
Die Exaktheit mit <strong>der</strong> Leidenschaft für Ästhetik zu ver -<br />
binden, täglich als Techniker <strong>und</strong> als Fre<strong>und</strong> <strong>der</strong> schönen<br />
Künste zugleich tätig sein zu können – so könnte man das<br />
Privileg einer beruflichen Laufbahn beschreiben, wie sie<br />
Josef Linsinger hinter sich hat: 1965 schloss <strong>der</strong> Salzburger<br />
an <strong>der</strong> tu Graz das Studium des Vermessungswesens ab<br />
<strong>und</strong> begann Erfahrungen im Kraftwerksbau zu sammeln.<br />
Lange sollte es ihn dort nicht halten. Es war die Architektur<br />
<strong>und</strong> ihre Dokumentation, die so starke Anziehung auf<br />
Linsinger ausübte, dass er sich in den 1970er-Jahren<br />
spontan eine fotogrammetrische Ausrüstung zulegte –<br />
das gr<strong>und</strong>legende Werkzeug, um fotografische Messbil<strong>der</strong><br />
<strong>und</strong> daraus möglichst realitätsgetreue Pläne dreidimensionaler<br />
Objekte erzeugen zu können. „Ich habe in<br />
meinem Leben viele wichtige Entscheidungen in wenigen<br />
Minuten getroffen“, so Linsinger, <strong>der</strong> sein renommiertes<br />
Salzburger Büro 2010 an seinen Sohn Stefan übergab,<br />
„aber es waren letztlich die richtigen“. Heute ist das Büro<br />
in St. Johann im Pongau, das Linsinger aufgebaut hat, über<br />
Salzburgs Grenzen hinaus für präzise Kulturgutvermessung<br />
bekannt. 2006 wurde das Unternehmen mit dem<br />
Österreichischen Staatspreis für Technisches Consulting<br />
ausgezeichnet.<br />
Aber zunächst noch einmal ein Blick zurück zu den<br />
ersten Zentimetern am Lebensweg des Vermessers Josef<br />
Linsinger: Ähnlich kurzfristig wie <strong>der</strong> Kauf <strong>der</strong> Ausrüstung<br />
kam eine noch frühere Entscheidung zustande, Linsingers<br />
Studienwahl. „In <strong>der</strong> Nähe vom Bauernhof meiner Familie<br />
sind eines Tages Techniker aufgetaucht, die die Waldrän<strong>der</strong><br />
dokumentiert haben“, erzählt er, „ich habe ihnen<br />
ein paar Minuten zugesehen, dann wusste ich, das ist<br />
mein Beruf.“ Enttäuscht hat ihn <strong>der</strong> Studienplan anfangs<br />
dennoch, da war zunächst viel Mathematik <strong>und</strong> wenig<br />
Geodäsie zu lernen. Doch das Durchhalten habe sich<br />
ausgezahlt. Später, mit etwas Erfahrung <strong>und</strong> <strong>der</strong> „leichtsinnig“<br />
erworbenen Ausrüstung im Gepäck, war es seine<br />
Frau, die auf Akquisitionsreisen erste Aufträge an Land zog.<br />
Die Vermessung von Fachwerkshäusern im deutschen<br />
Tübingen war ein frühes Projekt, später folgten Aufträge<br />
zur Dokumentation von Burgen in Luxemburg <strong>und</strong><br />
Detail aufnahmen im Wiener Stephansdom. 2007 führte<br />
ein Auftrag Josef Linsinger sogar über den Atlantik, bis<br />
nach Bolivien: Fußabdrücke von Dinosauriern sollten<br />
dort dokumentiert werden. Verwendet wurden dafür<br />
Verfahren wie Laserscanning, bei <strong>der</strong> ein Laserstrahl<br />
das zu vermessende Objekt abtastet <strong>und</strong> so ein digitales<br />
Erfassen <strong>der</strong> Oberflächengeometrie ermöglicht.<br />
Das Verfahren <strong>der</strong> Fotogrammetrie, das Erstellen<br />
spezieller Aufnahmen von Objekten <strong>und</strong> Landschaften,<br />
die die Rekonstruktion <strong>der</strong> geometrischen Lage einzelner<br />
Punkte zueinan<strong>der</strong> ermöglichen, hat Josef Linsinger von<br />
<strong>der</strong> Geburtsst<strong>und</strong>e an begleitet: „Mich hat ein Besuch<br />
bei Hans Foramitti, dem Pionier <strong>der</strong> Fotogrammetrie am<br />
B<strong>und</strong>esdenkmalamt in Wien, so begeistert, dass ich auch<br />
so arbeiten wollte“, erzählt Linsinger, „dabei bin ich damals<br />
auf <strong>der</strong> Suche nach Aufträgen oft auf taube Ohren ge stoßen,<br />
weil die Methode noch unbekannt war.“ Mittlerweile hat<br />
sich <strong>der</strong> Name Linsinger zu einer Marke in <strong>der</strong> europäischen<br />
Kulturgutvermessung entwickelt, Aufträge am Schloss<br />
Neuschwanstein, dem Opernhaus in Bayreuth o<strong>der</strong> dem<br />
Tempel Shuilu im chinesischen Xian gehören zum inter -<br />
nationalen Alltag des Büros.<br />
Ob <strong>der</strong> Rückzug aus dem Berufsleben bei so viel Erfolg<br />
nicht schwierig gewesen sei? Linsinger antwortet gelassen:<br />
„Ich habe das Glück, ab <strong>und</strong> zu noch gerne im Büro gesehen<br />
zu werden, den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Tipp geben zu können.“<br />
Doch abseits all <strong>der</strong> Leidenschaft scheut Linsinger sich<br />
nicht, Härten anzusprechen, seine Arbeit auch als „widrig,<br />
kompliziert <strong>und</strong> lästig“ zu beschreiben. Doch es wirkt bei<br />
Linsinger bestenfalls bodenständig, nie wirklich negativ,<br />
wenn er vom schwierigen Aufbau <strong>der</strong> Messgeräte in<br />
verwinkelten Gassen erzählt. O<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Verantwortung,<br />
ein Büro zu leiten: „Mit <strong>der</strong> Pension ist mir auch eine<br />
Last genommen worden, es gibt ja immer ein Problem,<br />
das <strong>der</strong> Chef lösen muss.“ Aber vielleicht war es auch die<br />
Vorstellung <strong>der</strong> Konservierung architektonischer Ideen,<br />
dieser technische Schritt in Richtung Ewigkeit, <strong>der</strong><br />
Linsinger die Freude am Beruf erhalten hat: „Wenn ein<br />
Gebäude verschwindet, dann haben wir es im Archiv<br />
erhalten.“ Aber abgesehen von den großen Fragen <strong>der</strong><br />
Vergäng lichkeit kann sich Linsinger in <strong>der</strong> Pension<br />
leichterem Zeitvertreib widmen – <strong>der</strong> Fütterung von<br />
Rehen im Gebirge etwa. �<br />
Porträt Josef Linsinger