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DR. MED. SAMUEL PFEIFER<strong>BASISWISSEN</strong><strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>PSYCHIATRIEPSYCHOTHERAPIEFÜR DIESEELSORGEEIN HANDBUCH AUS DER KLINISCHEN PRAXIS


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGECOVER-FOTO: Ruth Schmidhauser,Olivenbäume auf Zakinthos, GriechenlandSamuel Pfeifer<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜRDIE SEELSORGE. EIN HANDBUCH AUS DERKLINISCHEN PRAXISPUBLIC DOMAINOnline-Veröffentlichung als PDF 2013mit ausdrücklicher Erlaubnisdurch den Autor, Dr. Samuel PfeiferDiese Erlaubnis schliesst mit ein, dass das Werkauf andern Servern zum Download gespeichertund freigegeben werden darf.DIGITALE BIBLIOTHEKPSYCHIATRIE & SEELSORGEWWW.SEMINARE-PS.NET1


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGEVORWORT Dr. med. Samuel PfeiferSeelische Nöte nehmen zu. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation)geht davon aus, dass Depressionen balddie führende Krankheit der Zivilisation sein werden,noch vor Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen. Keine andereKrankheitsgruppe überschattet ein Leben mehr mit Einschränkungen,Arbeitsunfähigkeit und menschlichem Elend(sog. DALY). Das gilt nicht nur für den gestressten Westen,sondern wird zunehmend auch zur Erfahrung in den Schwellenländern,entlegenen Provinzen und überfüllten Städtender dritten Welt.Und seelische Nöte machen nicht Halt vor Menschen,denen der Glaube eigentlich viel bedeutet. Der Glaube alleinschützt nicht vor Depression. Weshalb das so ist, darauf werdeich noch eingehen.Über 25 Jahre habe ich nun schon als Chefarzt der Klinik«Sonnenhalde», einer christlich orientierten Klinik für Psychiatrieund Psychotherapie mit meinem Team von Ärztenund Psychologinnen Tausende von Menschen durch ihreseelischen Erkrankungen hindurch begleiten dürfen. Ganzam Anfang habe ich ein Manifest für die Verbindung vonmoderner Psychiatrie und biblischer Seelsorge verfasst, dasunter dem Titel «Die Schwachen tragen» bis heute erhält-1


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGElich ist. Die Werte, die darin entwickelt wurden, bewährensich bis heute.Dann habe ich aber festgestellt, dass es eine vertiefteWissensvermittlung braucht, was eigentlich psychischeKrankheit ist, wie sich die Medizin die Ursache, Entstehung,den Verlauf und die Therapiemöglichkeiten vorstellt.Doch eine integrierte Sicht versucht auch zu verstehen, wasgläubige Menschen bewegt und wie die Seelsorge ihnen begegnenkann. So sind die «Riehener Seminare» entstanden.Wir luden klinische Fachleute, Mediziner, Psychologen ein,nicht wenige unter ihnen Koryphäen ihres Fachs an größerenUniversitäten, und vertieften in Workshops die verschiedenstenAspekte von Psychiatrie, Psychologie, Pflegeund Seelsorge. Die Mischung kam offenbar an. Manchmaldurften wir über 500 Teilnehmende aus allen psychosozialenBerufen bei uns begrüßen.Neuland:Borderline, Internetsucht, SensibilitätMehrfach wagten wir uns auf Neuland vor und wurdenso zu Vordenkern für unser Fachgebiet. Ich denke noch gernezurück an Diskussionen über den «Borderline»-Begriff.Ein christlicher Professor tat das Thema ab, dies sei dochnur eine Modeerscheinung. Wir packten das Thema dennochan, im Seminar, in einem Seminarheft (das Teil diesesHandbuchs ist) und in einem Buch, das schon bald die 10.Auflage erreicht.2


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGEwerden. Oft ist es für gläubige Patienten schon eine grosse Ermutigung,dass sie in ihrem Glauben angenommen werden, inseiner ganzen Breite von Schattierungen und Ausprägungen.Was bedeutet Psychiatrie in christlicherGrundhaltung?» Annehmen des Menschen in seiner besonderen religiösenAnnahmen- und Wertewelt» Wertschätzung für stabilisierende Faktoren des persönlichenGlaubens und der Gemeinschafts-Strukturen, indenen ein Mensch Halt sucht.» Hilfe geben zum Verstehen schwerer psychischer Krisenim Rahmen des Glaubens und der Erkenntnisse wissenschaftlicherPsychiatrie; z.B. Depression trotz Glaube:Beispiele depressiver Verstimmungen in der Bibel; z.B.wahnhafte Verzerrung religiöser Werte in einer Psychose» Unterstützung der Angehörigen zur Verbesserung desVerständnisses und des Tragens eines schwachen Familienmitgliedes.Sie fördert ein geduldiges und mittragendesBegleiten in der Therapie.» Wissen um krankmachende Einflüsse fehlgeleiteterund einengender Religiosität und Verzerrung desGottesbildes. Einfühlsame Aufarbeitung unter Berücksichtigungvon Persönlichkeit und ihrem kulturellenHintergrund. Stärkung der stabilisierenden Anteile einerreligiösen Gemeinschaft.» Ermutigung zur Inanspruchnahme von Hilfe durch ver-7


We have significantly high levels ofmental ill health as well as low levels ofmental wellbeing in Brighton & HoveBrighton & Hove residents have higherlevels of mental ill health than the averagefor England, across a range of indicators. Athird more people have a diagnosis of severemental illness and nearly 10% more (aged18 and over) have a diagnosis of depressionrecorded by their GP. Twice as many peopleare admitted to hospital following self-harmand approximately a third more die by suicide.Increasing numbers of children and youngpeople are being referred to Child andAdolescent Mental Health Services andpresenting with self-harm at A&E, where rateshave doubled over the past few years.City residents also report lower self-reportedwellbeing in the Office for National Statisticsannual survey.• The proportion of people reportinghigh levels of anxiety the previous dayis significantly greater than the nationalaverage for 2012/3.• Slightly higher proportions of people alsoreport a low score for the things they dobeing worthwhile and how happy theywere yesterday, but this difference is notstatistically significant.A wide range of information is available onthe risk of poor mental health associated withdemographic variables, geographic wardsand life circumstances. The national strategyfor mental health No Health Without MentalHealth lists high risk groups. In addition, thelocal Health Counts survey gives us rich detailon mental health, physical health and a rangeof lifestyle factors in Brighton & Hove.We have different levels of mental healthand wellbeing across groupsBrighton & Hove has disproportionatenumber of people in groups nationallyidentified as having a higher risk of mentalill health, including:• Homeless & insecurely housed• Rough sleepers• Lesbian, Gay & Bisexual (LGB) people• Transgender (trans) people• Vulnerable or looked after children andyoung people• Victims of violence includingsexual violence• Older people living alone andsocially isolatedOther groups identified nationally as athigher risk include offenders, some Blackand Minority Ethnic (BME) groups, militaryveterans, gypsies & travellers, vulnerablemigrants, people approaching the end of life,bereaved people and people with learningdisabilities. These groups may also find itharder to access services.We know from the 2012 Health Countssurvey that the following groups havesignificantly worse self-reportedmental wellbeing:• People with limiting long-term illnessor disability• Single, separated or divorced people• People who are unemployed and lookingfor work or unable to work due to caringfor home and family• People who rent from a housing associationor local authorityWe know from our Safe and Well insecondary schools survey that some groupsare more likely to be vulnerable to a range ofhealth risks and issues. Those that self-reportpoor mental wellbeing are more likely to:• Be older (in years 9, 10 and 11 atsecondary school)• Be receiving extra help in school• Identify as LGB or unsure• Have truanted• Been bullied• Have tried alcohol or drugs• Be current smokers• Be sexually active• Be from some specific BME groups10


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGEinhaltsverzeichnisIteil I:Grundlagen, Symptome und Auslöserseelischer erkrankungenHEFT 1:HEFT 2:HEFT 3:HEFT 4:HEFT 5:Wenn Sensibilität zur Krankheit wirdStress und BurnoutPsychosomatik - Wie können wir die Sprache desKörpers verstehen?Schlafen und TräumenTrauma - Die Wunden der GewaltIITeil II:Psychische Krankheiten im engeren SinneHEFT 6:HEFT 7:HEFT 8:HEFT 9:HEFT 10:DepressionAngstBorderline-StörungenZwang und ZweifelSchizophrenieIIITeil III:Soziale Phänomene und SpannungsfelderHEFT 11:HEFT 12:Internetsucht - Die dunkle Seite des NetzesSpannungsfeld Alternativmedizin, Psyche undGlaube1


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTWenn Sensibilitätzur Krankheit wird3


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTZwei BetrachtungsweisenAnalytisch-Dyna misch-Pathogenetisch— Beziehungs– und Motivationsmuster— (negative) Rolle der Mutter— (unbewusste) Konflikte— sexuelle Triebkonflikte in der Kindheit alsUrsache— Abwehrreaktionen auf Beziehungsängste— Bedeutung der Symptome— Erkrankungsgewinn oder -funktionGefahr: Vokabular oft kausal, «weil –darum» – Hineininterpretieren ohnesyndromal -beschreibend— körperliche und psychische Symptome— Auswirkung auf Befinden und Leistungsfähigkeit— aktuelle Lebenssituation— ausserordentliche Belastungen (Stress)— konflikthafte Beziehungsmusterbewusster Verzicht auf Kausalzusammenhänge,Ernstnehmen der Lebensumstände des Betroffenen,Ernstnehmen in der existenziellen Not,die durch die vegetativen und psychischenSymptome entsteht.Gefahr: Reine Symptombeschreibung ohneZusammenhang mit Lebensgeschichte undinnerer Verarbeitung.In der Seelsorge: Grundfrage: Wie kann ichdiesen Menschen begegnen, ohne ihn bereits zurichten? – Welches sind seine Nöte? – Wo sindseine Möglichkeiten und Stützen? – Wo kann erselbst durch innere und äussere Veränderungenzur Verbesserung der Situation beitragen? – Wosind seine Grenzen?ausreichende Grundlage und ohne Bezug zuraktuellen LebenssituationIn der Seelsorge: Grundfrage: wo ist dieUrsache? – Wo liegt die okkulte Belastung? –Welche Sünde ist noch nicht bereinigt? – Welcheunbewusste Verletzung aus der Kindheit hatnoch Macht über den Patienten?Warum die Suche nachUrsachen oft nichtweiterhilftDie Suche nach Ursachen führt oft dazu,dass man den Menschen und ihren Angehörigenletztlich eine Schuld an ihrem Leidengibt, auch wenn man das vielleicht nichtwill. Es kommt zu einer negativen Wertung,die therapeutisch in eine Sackgasse führt.Wenn man nur das Krankmachende betont,verliert man die stützenden Anteile (z.B. derFamilie) aus dem Gesichtsfeld. Heute strebtman deshalb eine umfassende Beschreibungder Problematik an, die weitgehend auf Wertungenverzichtet.2


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTSensible MenschenMarilynMonroeErfolgreiche Schauspielerin und Sexsymbol,innerlich voller Ängste, häufige depressiveVerstimmungen, zunehmend medikamentenabhängig;als sie an einer Überdosis starb, hattesie noch den Telefonhörer in der Hand.PrinzessinDianaDie unvergessliche «Rose von England» hatteein weiches Herz, liebte die Menschen undwurde in den Zwängen des Hofes nicht glücklich.Wegen ihrer Verstimmungen suchte siebei vielen Therapeuten Hilfe.Yves SaintLaurentEiner der bekanntesten Modeschöpfer derWelt, enorm kreativ und doch völlig vereinsamt.«Mein einziger Begleiter ist die Angst.»Henri J.M.NouwenDer bekannte Professor für Spiritualität kamseelisch immer wieder an seine Grenzen. Mitetwa 50 stieg er aus einer glanzvollen Karriereaus um in einer kleinen Gemeinschaft vonbehinderten Menschen mitzuleben und seinLeben mit ihnen zu teilen.vincentvan goghKaum ein Maler konnte die Natur so sensibelwahrnehmen und eindringlich auf dieLeinwand bannen. Wurde einmal als «Persönlichkeitmit leicht erregbaren Affekten»beschrieben.3


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTSensibilität – Gabe und LastDiskussion«Ich bin sensibel» – positiv— feinfühlig— intensives Empfinden— tiefes Wahrnehmen und Erleben— angesprochen von der Schönheit in Natur,Kunst, Musik, Dichtung, Film undBeziehungen— nicht unberührt vom Leid andererMenschen— sensitiv für das ÜbernatürlicheTragen Sie in Gruppen von ca. vier Personenweitere Beispiele für das Erleben von Sensibilitätzusammen!Positive Aspekte der Sensibilität: ...........................................................................................................................................................................................................................................................«Ich bin sensibel» – negativ— überempfindlich— verletzlich / vulnerabel— liest (und spürt) zwischen den Zeilen— denkt zuviel nach— introvertiert und schüchtern— ängstlich— nicht belastbar / keine Reserven— schnell an meinen Grenzen— mir kommt alles zu nah— ich kann mich nicht wehren— oft von Eindrücken so überwältigt,dass ich nichts mehr sagen kann— ich lese zuviel in jedes Verhaltens desGegenübers hinein und verarbeite esnegativ— Neigung zur Überreaktion— rasch gereizt, verstimmt— körperlich rasch erschöpft— Gefühle schlagen mir raschauf den Magen etc...........................................................................................................................................................Negative Aspekte der Sensibilität.......................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................4


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTFragebogen zur Erfassung der SensibilitätAussage1. Ich nehme feine Veränderungen in meiner Umgebung wahr.2. Die Stimmungen anderer Menschen beeinflussen mich.3. Ich reagiere eher empfindlich auf körperlichen Schmerz.4. Ich habe an geschäftigen Tagen das Bedürfnis, mich zurückzuziehen – entwederin ein dunkles Zimmer oder an einen anderen Ort, wo ich allein sein kann.5. Auf Koffein reagiere ich heftiger als viele andere Menschen.6. Ich fühle mich schnell überwältigt von Dingen wie grellen Lichtern, starkenGerüchen, rauhen Textilien auf meiner Haut oder Sirenen (Polizei, Krankenwagen)in meiner Nähe.7. Laute Geräusche bereiten mir Unbehagen.8. Kunstvolle Musik bewegt mich tief.9. Manchmal liegen meine Nerven derart blank, dass ich nur noch alleine seinmöchte.10. Ich bin ein gewissenhafter Mensch.11. Ich bin schreckhaft.12. Es bringt mich leicht aus der Fassung, wenn ich in kurzer Zeit viel erledigenmuß.13. Wenn andere Menschen sich in einer Umgebung unwohl fühlen, weiß ich eherals manch andere, was notwendig ist, um Wohlbefinden herzustellen (z.B. durcheine Veränderung der Beleuchtung oder der Sitzordnung).14. Ich werde ärgerlich, wenn man von mir erwartet, zu viele Dinge gleichzeitigzu tun.15. Ich gebe mir grosse Mühe, Fehler zu vermeiden oder nichts zu vergessen.16. Fernsehsendungen und Spielfilme mit Gewaltszenen meide ich.17. Ich fühle mich unangenehm erregt, wenn sich um mich herum viel abspielt.18. Hungergefühle stören nachhaltig meine Konzentration und beeinträchtigenmeine Stimmung.19. Veränderungen in meinem Leben treffen mich sehr heftig.20. Ich bemerke und genieße feine Düfte, Geschmäcker, Klänge oder Kunstwerke.21. Ich empfinde es als unangenehm, wenn ich mich mit mehreren Dingen gleichzeitigbeschäftigen muß.22. Für mich ist es sehr wichtig, mein Leben so zu organisieren, dass ich Situationenvermeide, in denen ich mich ärgern muß oder die mich überwältigen.23. Laute Geräusche, chaotische Szenen und ähnlich starke Reize stören mich.24. Wenn ich mit anderen Menschen konkurrieren muß oder beobachtet werde, währendich eine Aufgabe erfülle, macht mich das so nervös und unsicher, dass ichweitaus schlechter abschneide als ich eigentlich könnte.25. Als Kind haben meine Eltern und Lehrer mich als sensibel oder schüchternangesehen.Hinweise zur Auswertung: Seite 75


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDie Rolle der Kindheitsimon ist hochsensibelimon kam in der Primarschule einfach«Snicht zurecht. Die Schulpsychologinstellte fest, dass Simon hochsensibel sei. Bereitskleine Unstimmigkeiten riefen bei ihmkörperliche Leiden wie Migräne und Asthmahervor. Um im Unterricht bestehen zu können,brauche er eine geordnete Tagesstruktur mitMittagstisch und Aufgabenbetreuung. Ausserdemsei der Musikunterricht sehr wichtig. DasKlavier helfe ihm, Stress abzubauen.Die Schulpsychologin kam zum Schluss, dassSimon in einer staatlichen Schule nicht bestehenkann.» Die Eltern schickten ihn deshalb aneine freie Schule, wo sich sein Gesundheitszustanddeutlich verbessert hat.(aus einer Zeitungsmeldung)FRÜHE UNTERSCHIedeStudien zeigen, dass es schon in den erstenTagen unterschiedliche Verhaltensmuster beiNeugeborenen gibt (z. B. Saugverhalten beimWechsel von normalem Wasser zu gesüsstemWasser = neuer Stimulus); zwei Jahre spätererwiesen sich diejenigen Kinder, die am stärkstenreagiert hatten, auch am sensibelsten derganzen Gruppe.In der Abbildung auf Seite 16 wird die Kindheitunter den weiteren Begriff «PsychosozialesUmfeld» gefasst. Damit wird angedeutet, dassdie Kindheit allein nicht ausreicht, um spätereÄngste, Hemmungen und Depressionen zu erklären.Dennoch ist die Kindheit natürlich einewesentlich prägende Zeit für das spätere Leben.Erfährt ein Kind Geborgenheit und Förderung, sowird die Basis für die Entwicklung von Selbstvertrauenund Sicherheit im Leben gelegt.Muss es aber Ablehnung, Abwertung und Lieblosigkeiterleben, so kann es gerade bei sensiblenKindern zu schweren seelischen Wunden kommen.Dennoch begegnen uns immer wiederübersensible oder «neurotische» Menschen,die eine geordnete Kindheit ohne traumatischeErfahrungen hatten. So muss man mit demUmkehrschluss: «Wenn jemand neurotisch ist,dann ist die Mutter schuld!» ausserordentlichvorsichtig sein.Literatur: U. Nuber: Der Mythos vom frühen Trauma.Über Macht und Einfluss der Kindheit. Fischer, Frankfurt. — A.Pfeifer: Mütter sind nicht immer schuld. SCM-Brockhaus, Haan.Gehemmte Kinder haben eine intensivereReaktion vom limbischen zum sympathischenNervensystem als ungehemmte Kinder. Ihre Reaktionauf Ungewohntes ist schon mit 3 JahrenZurückhaltung, Vermeiden, Verstummen undmanchmal Weinen.Ungehemmte Kinder «beginnen das Leben miteiner Physiologie, die es ihnen leichter macht,spontan, entspannt und eifrig im Erkunden vonneuen Situationen zu sein.»Literatur: Kagan J.: Die drei Grundirrtümer der Psychologie.Beltz.Neue Entdeckungender GenetikStichwort «Epigenetik»: Entgegen früherenVorstellungen eines stabilen genetischenCodes gibt es heute Hinweise auf einen prägendenEinfluss von Traumata, die zur Veränderungder Genexpression führen.Literatur: Murgatroyd C & Spengler D (2011).Epigenetics of early child development. Frontiers in Psychiatry2:1-15. - Nestler E (2011). Hidden Switches in theMind. Scientific American, December 2011, 57-63.Paslakis G et al (2011). Epigenetische Mechanismen derDepression. Nervenarzt 82:1431–1439.6


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTZehn häufige Vorurteile1.2.Alle Menschen leiden in irgendeiner Forman einer Neurose.Neurosen sind keine Krankheit, sondernfehlgeleitete Verhaltensmuster, für dieder Betroffene letztlich auch Verantwortungträgt.3.Der Neurotiker versucht mit seinen Symptomeneinen (vielleicht unbewussten)Vorteil zu erreichen.4.Neurosen entstehen in der frühen Kindheit.Die Ursachen liegen hauptsächlichin Erziehungsfehlern der Mutter.5.Neurotiker haben ein (verdrängtes) sexuellesProblem.6.Christen sind neurotischer als Nicht-Christen. Ihre Neurosen entstehen durchden bedrückenden Einfluss ihres Glaubens bzw.durch die Kirche («ekklesiogen»).7.Neurotische Menschen sind unfähig,etwas Rechtes zu leisten oder eine befriedigendeBeziehung aufzubauen.8.9.Neurosen lassen sich durch Psychotherapieheilen.Wenn sich ein neurotischer Mensch nurfrei machen würde von den Anforderungenund Bindungen seiner Umwelt, dann könnteer sich selbst verwirklichen.Wenn ein neurotischer Christ nur richtig10. glauben würde, dann könnte er vonseinen Komplexen und Ängsten frei werden.Gemeinsame Eigenschaftensensibler (oder neurotischer)MenschenIn Untersuchungen an übersensiblen Menschenhat sich immer wieder gezeigt, dass siesechs Eigenschaften gemeinsam haben (vgl.Abbildung). Wenn diese dazu führen, dass einMensch— in seiner Lebensfreude(Genussfähigkeit),— in seiner Beziehungsfähigkeit und— in seiner Leistungsfähigkeiteingeschränkt wird, dann wird Sensibilität zurKrankheit.9


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDas vegetative NervensystemDas vegetative oder unwillkürlicheNervensystembegleitet alle Blutgefässe,Muskeln, Drüsenund inneren Organe undreguliert deren Funktionmit Hilfe von Hormonen.Besonders wichtig ist dabeidie sogenannte Stressachse:Das Gehirn löst viaHypothalamus und Hypophysedie Ausschüttungvon Stresshormonen in derNebenniere und an den Endigungender Nerven aus.Dadurch kann es zu raschenVeränderungen kommen,aber auch zu langfristigenStörungen der Funktion.Diese nennt man dannpsychosomatischeStörungen.ÜBUNGTragen Sie anhand der obigen Zeichnungverschiedene psychosomatische Störungenzusammen!..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................10


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTFunktionelle StörungenBefindensstörungen ohne organischenBefund werden als funktionelleStörung bezeichnet. Zu den häufigsten gehörenMagen-Darm-Beschwerden (vgl. Abbildung).Etwa 15 – 20 Prozent der Bevölkerung leidendaran.Die Beschwerden reichen von Unpässlichkeitbis zu schwerem Leiden. Sie schränkenalso die Lebensqualität oft empfindlich ein,nicht selten führen sie auch zu Arbeitsausfällen.Schliess lich können die Beschwerden auchnegativ auf Beziehungen wirken: Wer z.B. unterMagenkrämpfen leidet, ist oft so auf sich selbstgeworfen, dass er nicht mehr auf die Wünscheund Erwartungen anderer eingehen kann. Ofttreten die Beschwerden auch in angespanntenBeziehungen auf.Damit wird Sensibilität zur Krankheit.Es entsteht ein zerstörerischer Kreislauf: diefunktionellen Beschwerden führen zu vermehrterAngst bzw. Depression. Diese ziehen wiedereine körperliche und psychische Verspannungnach sich.In anderen Kulturen werden psychosomatischeStörungen als Beschreibungfür Ängste und Depressionen verwendet. («Estut überall weh — ich fühle mich schwach,obwohl ich nicht arbeite — Schwächegefühloder Brennen in der Herzgegend — Druck aufder Brust — als ob der Kopf zerspringen würde»etc.) Schöne Beispiele finden sich auch in denPsalmen.«Letzthin hatte ich Streit mit meinerMutter. Ständig kritisiert sie mich, weilich meine Kinder nicht richtig erziehe. IhreVorwürfe tun mir weh. Ich werde verspanntund kann nicht mehr richtig schlafen. MeinMagen krampft sich zusammen und ichfühle mich ständig gebläht.»11


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDer sensible MenschUnter diesem Titel veröffentlichte derfrühere Aachener Psychiatrie-ChefarztProf. Dr. Wolfgang Klages 1978 ein faszinierendeskleines Buch. Es folgen einigewesentliche Leitgedanken daraus.Sensible Menschen führen ein Eigenlebenzwischen Normalpsychologie undPsychopathologie; sie überschreitendas psychologisch Verstehbare, abererreichen nicht den Grad einer psychischenKrankheit im engeren Sinne.sensiblewahrnehmungals Auslöser für intensive Gefühle und Reaktionen(nach Klages)Geruchssinn: Geruch (z.B. frische Wäscheoder Krankenhausgeruch) ruft intensive Gefühle,Erinnerungen wach, die die Person alsGanzes stark beschäftigen; aber auch: «Ichkann dich nicht riechen.» Enge Koppelungzwischen Sinneswahrnehmung und Gefühlen.«Jeder Geruch ist die Überschrift einesLebenskapitels».Geschmacksempfindung: «Den süssen,fast bitteren Geschmack von Honig vertrageich nicht. Er lähmt geradezu meine Zunge undich empfinde den Geschmack so intensiv, dasses mich quält.» (Proust)Gehörssinn: übermässige Lärmempfindlichkeit:selbst leise Geräusche werden alsständige Lärmbelästigung bis zum physischenSchmerz erlebt. Aber auch im übertragenenSinne: «Sie hört das Gras wachsen.»Gesichtssinn: intensives Erleben von Farbenund Formen; Farben lösen oft intensivsteAssoziationen aus (rot = Blut!)Tastsinn: so wichtig für Kontaktaufnahme(z.B. Zärtlichkeiten);Unterschiede:Empfindung von Seide oderFrotteetuch auf der Haut.Synästhesien: Das Hinüberwirkenvon Sinneseindrücken inandere Sinnesgebiete: Malerei vonChagall löst das innere Hören vonBach-Musik aus.Schreckreflex: Übermässige Reaktion(Zusammenzucken, Aufspringen, Schreckensschrei,ZIttern) auf Geräusche, Licht,Berührung.ANMERKUNG: Bereits 1945 veröffentlichte der ArztDr. E. Schweingruber ein Büchlein mit dem Titel «Der sensibleMensch» (Rascher Verlag Zürich)weitereBesonderheitenEmpfindlichkeit: «Wegen eines härterenWortes konnte er die ganze Nacht überschluchzen» (Proust). Von diesen Empfindlichkeitengegenüber einem unglücklichen Wortsind die Sensiblen meist selbst sehr gequält.Sie können nicht «abschalten» und geltendeshalb oft als nachtragend.Ringen mit Worten: «Man kann das Wortnicht wieder einfangen, es ist sozusagen verlorenund ich kann es nicht wieder einfangen.»Im Ringen um das richtige Wort entsteht ofteine abgehackt-unsicher wirkende Sprechweise,bis zum Verstummen.12


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTModerne SyndromeErschöpfbarkeit: Sensible Menschen leidenunter einer deutlich erhöhten Ermüdbarkeit.«Durch die vielen Eindrücke des Tages binich abends so kaputt, dass ich froh bin, wennich mich zurückziehen kann. Ich kann dannauch kein Fernsehen mehr sehen. Ich bin froh,wenn die Dämmerung eintritt.»Verstimmungen: Die Stimmungslage istdeutlich störanfälliger, labiler, verletzbarer.Es kann ein rascher Stimmungswechsel einsetzen,der für Aussenstehende nur schwernachvollziehbar ist. Oft werden die Betroffenenals «launisch» erlebt.Körpergefühle werden oft sehr intensivund eigenartig wahrgenommen und blockierendas normale Empfinden. Beispiel FranzKafka: er empfand «eine Spannung, die sichmir über die linke Schädelhälfte öfters legt,die sich wie ein innerer Aussatz anfühlt.»Sexualität: auf der einen Seite grosse Erlebnistiefe;auf der andern Seite Störungendes Sexualverhaltens, die aus mangelndem«Sich-Fallen-Lassen», Unsicherheit und Zaghaftigkeitentstehen. vgl. auch S. 29EKEL: wird von sensiblen Menschen oft besondersintensiv wahrgenommen. Gerücheoder äussere Merkmale anderer Menschenkönnen zu intensiver Abneigung führen. Darausresultiert eine Kontaktstörung, die rationalnicht einfühlbar ist.Chronic Fatigue Syndrome (CFS)Ein Syndrom mit andauernder Müdigkeit,die die körperliche und psychische Funktionbeeinträchtigt und die Leistungsfähigkeit(beruflich und privat) herabsetzt.Multiple Chemical Sensitivity(MCS) inkl. vermutete Krankheiten durchAmalgam und Elektrosmog (z.B. vonHandys)Sick building syndrome (SBS)Erschöpfung durch vermutete giftigeAusdünstungen von Kunststoffen, Baumaterialien,Farben etc.paranormaleSensitivitätBei sensiblen Menschen ist «eine besondereAufgeschlossenheit für sensible Eindrückeund Empfindungen aus parapsychologischen,esoterischen Bereichen zu beobachten, allerdingsbei absolut kritischer Distanz und Erhaltungdes Realitätsgefühls.»«Zweifellos ist es von der blossen Aufgeschlossenheitbis zu echten parapsychologischenFähigkeiten noch ein weiter Schritt.»Beispiel: Eine sehr künstlerisch begabteFrau verliert ihre 31-jährige Tochter durchein Krebsleiden. Sie erzählt: «Wir hatten vorihrem Tod eine intensive Zeit des Abschiednehmens.Sie ist zwar nicht mehr da, aber ichhabe oft den Eindruck, ich spüre ihre Nähe inder Wohnung, als wäre ihr Geist unsichtbar inmeiner Nähe.»13


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDepressiveStörungenAlte Systeme ICD-10 DSM-IVNeurotische Depression Anhaltende affektive Affektive Störungen:Störungen:– Zyklothymie– Dysthymia– Dysthyme StörungAngststörungenAngstneurosePhobiePhobische Störungen:– Agoraphobie mit/ohne Panikstörung– soziale Phobie– isolierte PhobienSonstige:– Panikstörung– generalisierte Angststörung– Angst u. DepressiongemischtAngststörungen:– Panikstörung mit /ohne Agoraphobie– Soziale Phobie– PosttraumatischeBelastungsstörung– generalisierte AngststörungZwangsstörungenWeitereFormen derneurosenpersönlichkeitsstörungenZwangsneuroseHysterische NeuroseNeurotisches DepersonalisationssyndromHypochondrische Neur.Körperliche FunktionsstörungenpsychischenUrsprungsNeurasthenieParanoide P.Schizoide P.Soziopathische P.Erregbare P.Hysterische P.Anankastische P.Asthenische P.Zyklothyme P.Zwangsstörung– mit Zwangsgedanken– mit ZwangshandlungenReaktionen auf schwereBelastungen:– Akute Reaktion– posttraumatischeBelastungsstörung– reaktive Störungen mitDepression und AngstDissoziative Störungen(Konversationsstörungen)Somatoforme StörungenNeurasthenieParanoide P.Schizoide P.Dissoziale P.Emotional instabile P.– impulsiver Typus– Borderline-TypusHistrionische P.Zwanghafte P.Ängstlich-vermeidendeP.Abhängige P.OCDObsessiv-CompulsiveDisorder (Zwangsstörung)Anpassungsstörungen– mit Depression– mit AngstDissoziative StörungenSomatoforme StörungenParanoide P.Schizoide P.Schizotypische P.Antisoziale P.Borderline-P.Histrionische P.Zwanghafte P.Selbstunsichere P.Dependente P.Passiv-aggressive P.Narzisstische P.14


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTNeue BegriffeDer Begriff «Neurose» ist zwar heute in derPsychiatrie nicht mehr aktuell, aber die Problemebestehen nach wie vor.andere begriffe— Subklinische Störungen— Atypische Depression— Maskierte Depression— Subsyndromale Störung— Spectrum Disorders— Subthreshold Disorders— Psychovegetative DystonieKennzeichen— Die Kriterien für eine klassische Störungsind nicht voll erfüllt— Zeitlich begrenzte oder isolierte Symptome,verbunden mit einer depressivenVerstimmung— führen zu einer deutlichen Einschränkungin Beziehungen, im Beruf oder anderenwichtigen Lebensbereichen— Es entstehen «emotional aufgeladene Beziehungen»mit der Gefahr der Abhängigkeit.Beispiel DianaPrinzessin Diana litt an vielfältigenseelischen und psychosomatischen Beschwerdenund suchte unzählige Ärzte,Psychotherapeuten und Alternativheiler auf.Aus ihrer Biographie sind folgendeProbleme bekannt: starke Stimmungsschwankungen,Depressionen, Suizidversuche,Essstörungen, Ängste, seelischeAbhängigkeit.Literatur: S.B. Smith (1999). Diana insearch of herself. Portrait of a troubled princess.New York: Times Books.Spectrum DisordersZwangsstörungAngststörungenPhobienHyperaktivitätReizbarkeitDysthymieDepressionErschöpfungSensibleGrundpersönlichkeitSomatisierungEmotionaleInstabilitätAnorexieBulimievegetativesSyndromMigräneReizdarmStudien haben gezeigt, dass eineAngststörung oder eine Depressionnur ganz selten in «reiner» Formauftritt. Fast immer findet sich beider gleichen Person eine Palette vonanderen Problemen. Aus diesemGrund spricht man deshalb heute von«Spectrum Disorders».Medikamente gegen Depressionenführen deshalb oft auch zu einer Verbesserungbei anderen Störungen desSpektrums (vgl. S. 38).15


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTWie entstehen sensible Syndrome / Neurosen?16


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTWann wird Sensibilität zur Krankheit?In der Literatur spricht man von einer«Schwelle» (engl. threshold).Solange eine Person mit ihren Kräften dieAufgaben meistert, die an sie herangetragenwerden, solange ist die Sensibilität «unterschwellig».VerlaufsformenSensibilität wird dann zur Krankheit, wennfolgende Lebensbereiche beeinträchtigtsind:GenussfähigkeitBeziehungsfähigkeitLeistungsfähigkeitWenn bei einem Menschen eine neurotischeStörung auftritt, wenn also die Sensibilitätzur Krankheit wird, so gibt es folgendeHeilungsverläufe:20 ProzentHeilung:einmalige Krise60 ProzentBesserung:mehrfache Krisen,allmähliche Abflachung20 ProzentChronI fizierung:langdauernder Verlauf mitdeutlicher Einschränkungdes ganzen Lebens17


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTPersönlichkeitDefinitionenPersönlichkeitszüge sind überdauernde– Muster der Wahrnehmung– Muster des Beziehungsstils– Muster des Denkens über die Umwelt undüber sich selbstAus diesen drei Haupt-Elementen entsteht inkomplexer Weise die Lebens– und Beziehungsgestaltung,die wir mit dem Begriff Persönlichkeitumschreiben.Die Grundzüge der Persönlichkeit werden auchals Temperament bezeichnet. Dieses wirdvererbt, dann aber durch Lebenserfahrungen(Umwelt) geprägt. So entsteht der Charakter,der durch das Leben herangebildet wird.Beschreibungen derPersönlichkeitEs gibt viele Persönlichkeits-Typologien, vondenen nur zwei Beispiele aufgeführt werden.A) Griechische Typologie:melancholisch,sanguinisch,cholerischphlegmatischWährend die Griechen ein Ungleichgewicht der«Säfte» für die Charakterunterschiede verantwortlichmachten, spricht man heute eher vonden Genen. Insgesamt hat aber die griechischeLehre von den Temperamenten bis heute wichtigeImpulse gegeben, die auch in der Forschungbestätigt wurden.Literatur: M. Zentner: Die Wiederentdeckung des Temperaments.Junfermann Verlag.sanguinikermelancholikerCholerikerphlegmatikerstärkengesprächig, extrovertiert,begeisterungsfähig, warmherzig,angenehm, freundlich, mitfühlendtiefgründig, analytisch, empfindsam,perfektionistisch,ästhetisch, idealistisch, treu,aufopferndwillensstark, entschlossen,unabhängig, optimistisch,praktisch, produktiv, führungsbegabtruhig, zuverlässig, konservativ,leistungsfähig, praktisch, diplomatisch,humorvoll, führungsbegabtschwächenwillensschwach, ruhelos,undiszipliniert, übertreibendunzuverlässig, egozentrisch,lauttheoretisch, unpraktisch, ungesellig,mürrisch, negativ,kritisch, rachsüchtig, steifdominant, zornig, grausam,stolz, selbstzufrieden, unemotional,sarkastischgeizig, ängstlich, unentschlossen,beobachtend, auf eigenenSchutz bedacht, selbstsüchtig,unmotiviert.18


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTB) MehrdimensionaleBeschreibungen:Die moderne Persönlichkeitsdiagnostik versucht,den Menschen in Dimensionen zubeschreiben.z.B. zwölf Skalen nach dem FreiburgerPersönlichkeitsinventar (FPI)z.B. 10 Standardskalen beim MMPI (aus550 Fragen!)z.B. 16 Skalen nach dem 16-PF-Testz.B. 5 Dimensionen nach dem NEO-FFIFünf Dimensionen derPersönlichkeit (Neo-ffi):1. Extraversion versus Introversion2. Emotionale Stabilität versus emotionaleLabilität3. Grad der Offenheit für Erfahrungen (Intelligenz,aber nicht im Sinne von IQ-Tests)4. Grad der Gewissenhaftigkeit5. Grad der Verträglichkeit (Wie angenehmist ein Mensch im Umgang?)Neun Dimensionen des Temperaments(Chess und Thomas):1. Aktivität2. Regelmässigkeit3. Annäherung – Rückzug4. Anpassungsvermögen5. Sensorische Reizschwelle6. Stimmungslage7. Intensität8. Ablenkbarkeit9. Ausdauereinige Testfragen für«Neurotizismus»Brauchen Sie oft verständnisvolle Freundezur Aufmunterung?Fällt es Ihnen schwer, ein «Nein» als Antworthinzunehmen?Wechselt Ihre Stimmung häufig?Werden Sie plötzlich schüchtern, wenn Siemit einem Fremden sprechen wollen, derfür Sie attraktiv ist?Grübeln Sie oft über Dinge nach, die Sienicht hätten tun oder sagen sollen?Sind Ihre Gefühle verhältnismässig leicht zuverletzen?Schäumen Sie manchmal vor Energie über,während Sie das andere Mal ausgesprochenträge sind?Verlieren Sie sich oft in Tagträumereien?Werden Sie oft von Schuldgefühlen heimgesucht?Würden Sie sich als innerlich gespannt undempfindlich bezeichnen?(aus dem Eysenck-Persönl.-Inventar)Drei Persönlichkeits-Konstellationen:1. einfach (easy)2. langsam auftauend (slow-towarm-up)3. schwierig (difficult): Unregelmässigkeitbiologischer Funktionen, Rückzugsreaktionenangesichts neuer Situationen undMenschen, langsames Anpassen an Veränderungen,hohe Intensität von Reaktionen,negative Stimmlungslage, unregelmässigeEss– und Schlafgewohnheit.Unterscheiden: hat jemand nur Schwierigkeiten,warm zu werden in fremder Umgebung,oder ist jemand auch schüchternin einer bekannten Umwelt?literatur: W. Möller-Streitbörger: Die «Farbe» derPersönlichkeit. Die Psychologie hat das Temperament wiederentdeckt.Psychologie Heute, März 1995, S. 20–29.19


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTPersönlichkeitsstörungenDEFINITIONMenschen mit Persönlichkeitsstörungen weisenfolgende Merkmale auf:— Deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungenund im Verhalten in mehrerenFunktionsbereichen wie Gefühlsausdruck,Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmenund Denken sowie in den Beziehungen zuanderen.— Das auffällige Verhaltensmuster ist andauerndund gleichförmig und nicht auf Episodenpsychischer Krankheit beschränkt.— Das auffällige Verhaltensmuster ist tiefgreifendund in vielen persönlichen undsozialen Situationen eindeutig unpassend.— Die Störungen beginnen immer in derKindheit oder Jugend und manifestierensich auf Dauer im Erwachsenenalter.— Die Störung führt zu deutlichem subjektivemLeiden, manchmal jedoch erst imspäteren Verlauf.Merke:1. Persönlichkeitsstörungen sind nach heutigerAuffassungen nicht Neurosen im engerenSinne, können aber vom Schweregrad hernicht immer klar davon abgegrenzt werden.(vgl. S. 17: fliessender Übergang zwischenPersönlichkeitsproblemen und ausgeprägtenAngststörungen)2. Die folgenden Stichworte sind rein beschreibend.Sie sollen nicht werten. Oftmalssind die letzten Ursachen nicht bekannt,auch wenn aus der Lebens-geschichte mancheVerhaltens– und Reaktionsweisen besserverständlich werden.3. Die Typologie ist nicht Ausdruck vonHoffnungslosigkeit – «so bin ich eben!» – Diepositive Veränderung einer Persönlichkeitist in günstigen Fällen durch Nachreifungoder bewusste Bearbeitung störender Reaktionsmusterin Therapie und Seelsorgemöglich. In manchen Fällen muss man aberden Betroffenen helfen, konstruktiv mitden Grenzen zu leben, die ihnen durch ihrePersönlichkeitsproble matik gesetzt sind.— Die Störung ist meistens mit deutlichenEinschränkungen der beruflichen und sozialenLeistungsfähigkeit verbunden oder siekann zu intensivem Leiden führen.20


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDas Spektrum der PersönlichkeitsstörungenIntroversionDesorganisationVerträglichkeitSensibilitätim engerenSinneselbstunsicherdependentzwanghaftschizoidNeurotizismusparanoidpassivaggressivBorderlinehistrionischantisozialnarzisstischAggressivitätDie dunkleSeite derSensibilitätExtraversionGewissenhaftigkeitOffenheitDimensionen der PersönlichkeitAbbildung: Persönlichkeitsstörungen haben viele Facetten. Im Zentrum steht ein Grundmuster,das sich Neurotizismus (S. 19) nennt.Die obige Abbildung versucht, die unterschiedlichenPersönlichkeitsstörungenin einen Gesamtzusammenhang zu bringen.Im Zentrum steht das verbindende Elementdes «Neurotizismus» vgl. S. 19). Menschenmit dieser Eigenschaft zeigen emotionaleSchwankungen, innere Unruhe und Nervosität,erhöhte Ängstlichkeit und Störbarkeit (Ärger),verstärkte und lang dauernde Stressreaktionen,vermehrte Unsicherheit und Verlegenheit,Klagen über körperliche Beschwerden(z.B. Kopfweh, Bauchbeschwerden, Schwindelanfälle)sowie vermehrte Traurigkeit beikleinem Anlass. Sie neigen dazu, alltäglicheSituationen als bedrohlich, und kleine Frustrationenals problematisch zu erleben; dasAushalten von Wünschen und Strebungensowie das Aufschieben von Bedürfnissen fälltihnen schwer. Nun gibt es zwei grosse Gruppen:» Menschen mit einer Sensibilität im engerenSinne wecken Mitgefühl und Verständnis,weil ihre Eigenschaften «sozialverträglich»sind.» Anders Menschen mit den Eigenschafteneiner extremen Introversion, Desorganisation,Aggressivität oder demonstrativen(evtl. auch provokativen, selbstbezogenen)Verhaltensweisen. Auch sie reagieren sensibel,aber in einer Art, die an andern Anstossnimmt und andere verletzt. Sie repräsentierendaher «die dunkle Seite» derSensibilität.21


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTPersönlichkeitsstörungen — ihre FormenPARANOIDE PERSÖNLICHKEIT– sehr empfindlich auf Misserfolg und vermeintlicheDemütigung– verdreht neutrale und freundliche Handlungenund deutet sie als feindlich oderverächtlich– streitbar für «Recht» und «Wahrheit» – überhöhtesSelbstwertgefühl bei gleichzeitigemEindruck, ständig gedemütigt und ausgenutztzu werden.Synonyme: Fanatische oder QuerulatorischePersönlichkeitSCHIZOIDE PERSÖNLICHKEIT– auffallender Rückzug von sozialen und emotionalenKontakten– autistische Vorliebe für Phantasie und introspektiveZurückhaltung– exzentrisches Verhalten– geht Konkurrenzsituationen aus dem Weg– wirkt kühl, zurückhaltendSCHIZOtypische PERS.– Beziehungsideen (aber nicht Wahn), magischesDenken und ungewöhnliche Wahrnehmungenbzw. Illusionen– extreme soziale Ängstlichkeit, keine engenFreunde oder Vertraute– Verhalten und äussere Erscheinung wirkenoft seltsam und exzentrischAntisoziale PERS.– ist unfähig, über längere Zeit eine dauerhafteTätigkeit auszuüben– mangelnde Anpassung an gesellschaftlicheNormen, fehlendes Verantwortungsgefühlund Wahrheitsempfinden– mangelnde Rücksichtnahme– oft reizbar und aggressiv, mit unangemessenerGewalttätigkeit und Gefühlskälteohne Gewissensbisse– Impulsivität und niedrige FrustrationstoleranzSynonyme: Dissoziale, soziopathischePersönlichkeitBORDERLINE-PERSÖNLICHKEITauch «emotional instabile Persönlichkeit».Angst vor dem Alleinsein, instabile Beziehungen,intensive Stimmungsschwankungen,Impulsivität, häufig Suizidalität undSelbstverletzungen, chron. Gefühlder Leere, «Ich hasse dich – verlassmich nicht!»Hinweis: diesem Thema ist eineigenes Heft gewidmetHISTRIONISCHE PERS.– sehnsüchtiges Verlangen nach Anerkennungund Aufmerksamkeit– übertrieben attraktiv, verführerisch– zeigt übertrieben ihre Gefühle– rasch wechselnde und oberflächliche Gefühle– sexuelle Unreife: Frigidität oder übermässigesAnsprechen auf sexuelle Reize– unter Stress — Konversions-Symptome (Lähmungen,Stimmlosigkeit etc.)Synonyme: Hysterische oder Infantile (unreife)PersönlichkeitNarzisstische Pers.– Muster von Grossartigkeit, Mangel an Einfühlungsvermögen– reagiert auf Kritik mit Wut, Scham oder Demütigung;leicht kränkbar– nützt Beziehungen für seine eigenen Zweckeaus– übertriebenes Selbstwertgefühl– meint, seine Probleme seien einzigartig– hohe Ansprüche und übermässige Erwartungenan andereD r . MED. SAMUEL p FEIFErBorDErLINEEMo TIo NAL INSTABILEp E r SÖNLICHKEITSSTÖr UNgDIAg N o SE – THEr A p IESEELSorgEp SYCHIATr IE SEELSorgESEMINAr HEFT22


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTselbstunsichere PERS.– durch Kritik oder Ablehnung leicht verletzt– Beziehungen nur, wenn sie sicher ist, akzeptiertzu werden– in Gesellschaft zurückhaltend aus Angst,etwas Unpassendes oder Dummes zu sagenoder eine Frage nicht beantwortenzu können– befürchtet, sich vor andern zu blamieren– häufig vegetative Symptome vor gesellschaftlichenVerpflichtungenABHÄNGIGE PERSÖNLICHKEIT– unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen,ohne ständig den Rat anderer einzuholen– wenig Eigeninitiative, schwache Reaktionauf Anforderungen des täglichen Lebens,leidet unter Energiemangel– Willfährigkeit gegenüber Wünschen andererMenschen, Abhängigkeit vonanderen– fühlt sich alleine meist unwohl und hilflos,sucht dies zu vermeiden– wenig Fähigkeit, sich zu freuenSynonyme: Dependente, asthenische, inadäquatePersönlichkeitZWANGHAFTE PERS.– ständige Unsicherheit, Selbstzweifel, Gefühlder eigenen Unvollkommenheit– übertriebene Gewissenhaftigkeit, Kontrollieren,Eigensinn, Vorsicht– Perfektionismus, Sammelwut, Bedürfnisnach ständiger Kontrolle– geistige Unbeweglichkeit (Rigidität) undZweifelsucht.Hinweis: ausführliche Beschreibungen imHeft «Zwang und Zweifel»Passiv-aggressive Pers.– passiver Widerstand gegenüber Forderungennach angemessenen Leistungen im Berufund Privatleben– schiebt ständig Dinge auf und verpasstFristen– wird mürrisch und reizbar, wenn etwas verlangtwird, was er nicht möchte– glaubt, besser als andere zu sein und wertetderen Bemühungen ständig ab.Hinweis:die obigen Beschreibungen lehnen sich an andas DSM-IV (=Diagnostisches und StatistischesManual Psychischer Störungen, 4. Revision)ÜBUNGTragen Sie in Gruppen von etwa vier Personenzusammen, wie unangepass tes Verhaltenanderer Menschen auf Sie gewirkt hat .– Welchen Einfluss hatte dieses auf Ihre Beziehungenzu diesen Menschen?– Wie sind Sie Menschen mit diesem unangepasstenVerhalten begegnet?23


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTBiblische Aspekte vonPersönlichkeits-störungenDie Bibel ist kein Psychopathologie-Buch imengeren Sinne. Daher finden sich auch keineausführlichen Beschreibungen der oben genanntenPersönlichkeitsstörungen darin.Einzelne Stellen deuten aber doch darauf hin,dass es Menschen in den biblischen Berichtengab, deren Verhalten oder deren Grundeinstellungzu Schwierigkeiten im Zusammenlebenführten:– schwaches Gewissen (Römer 14,1. Kor. 8, 1. Kor. 10)– «kleinmütige», «schwache» Menschen (1.Thess. 5:14)– Menschen mit einem «Brandmal im Gewissen»(1. Tim. 4:2)literatur: Gute Beschreibungen mit seelsorglichenHilfestellungen finden sich in demBuch von D. Seamands: Heilung der Gefühle.Edition C. — L. Parrott: Einfach nervig.Vom Umgang mit anstrengenden Mitmenschen.Schulte & Gerth.ÜBUNGBilden Sie Gruppen von etwa vier Personen:Lesen Sie die angegebenen Bibelstellen undversuchen Sie diese mit den erwähnten Persönlichkeitsproblemenin Bezug zu bringen.Kommen Ihnen noch weitere Personen in derBibel in den Sinn, die unangepasstes Verhaltenhatten?EMPFEHLUNGEN FÜRDIE BEHANDLUNG VONPERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN(nach Andreasen, Lehrbuch derPsychiatrie, S. 309)1. Manche Menschen mit Persönlichkeitsstörungenkönnen schwierig sein. Stellen Siesich darauf ein.2. Die Betroffenen haben seit langer Zeit Problemeund die Therapie wird wahrscheinlichebenso lange dauern. Jahrzehnte langdauerndes unangepasstes Verhalten istnicht leicht zu verstehen oder zu verändern.3. Halten Sie Grenzen ein. Sie sind nicht seinFreund oder Mitarbeiter, sondern seinTherapeut / Seelsorger.4. Legen Sie Grundregeln fest (feste Termine,klare Aufgaben, klare Regeln bei Krisen)5. Vermeiden Sie die Phantasie, sie könntenden Betroffenen «retten». Wenn die Persönlichkeitsstörungschon längere Zeitbesteht, hat der Patient sicher auch schonandere Therapeuten ohne Erfolg aufgesucht.Warum sollten Sie eine Ausnahmesein?6. Suchen Sie Unterstützung bei Kollegenund in der Supervision.24


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTLebensstil und GlaubensstilschizoidnarzissT.Persönlich -keitenglaubensinhalt frömmigkeitsstil gemeinschaftsverhaltenAbgehobene Gottesbeziehung;Angst vorAbhängigkeit undSelbsthingabe, Ablehnungvon KorrekturÜbermässige Abgrenzung:«Wir und die andern.»Selbstbezogen,welt– und realitätsfremd.Neigung zu Tagträumenund MystikÜbermässige Empfindlichkeitohne Einfühlungin andere. Distanziert,wenig spürbar, raschesGefühl der BedrohungdepressivängstlichePersönlich -keitenAngstbetonte Gottesbeziehung;Angst vorVerurteilung durchGott und Menschen.Schuld– und Minderwertigkeitsgefühle.Negatives GottesbildLeben als Opfer fürGott und Mitmenschen,Märtyrer-Rolle;Unsicherheit, Angst;Schutzwall gegen aussen.Melancholie, Pessimismus,Freudlosigkeit,Rückzug, Energiemangel,Selbstzweifel;Hemmung oder anklammerndeAbhängigkeitZwanghaftePersönlichkeitenRigide Gottesbeziehung,Angst vor Veränderungund Regelverletzung.Neigung zu grüblerischemZweifel.Gesetzlichkeit,UnfreiheitAbsicherung durchstarre Regeln und Riten.Mangelnde Anpassungsfähigkeit;zwingtandern seine Regeln auf,Rechthaberei aus tieferUnsicherheit.hysterischepersönlichkeitenInstabile Gottesbeziehung,Angst vorFestlegung, vor demEndgültigen; Neigungzur Oberflächlichkeitdramatisch, gefühls–und ausdrucksstark,übermässig abhängigvon GefühlenNeigung zur Selbstdarstellung.Hohe Erwartungenan andere;Propheten-Rolle oderdramatische Abhängigkeit.Einschränkung: Sowohl die Typen als auch die Auswirkungen auf den Glauben sindmodellhaft und unvollständig. Oft kommt es zu Überschneidungen und Mischformen. Dennochkönnen die obigen Hinweise hilfreich zum besseren Verständnis sensibler Menschen mit Persönlichkeitsproblemensein.25


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTKonfliktverarbeitungein BeispielEine Kindergärtnerin erzählt. «Mein Berufbedeutet mir enorm viel. Aber jetzt habe icheinen Mann kennengelernt. Wie soll ich michentscheiden? Wenn ich heirate, muss ich umziehenund die Stelle aufgeben! Oft bin ichso angespannt, dass ich unser Zusammenseinnicht geniessen kann.»Was ist ein Konflikt?Wenn zwei Strebungen von vitaler Bedeutungwidersprüchlich oder unvereinbar werden,und sich die betroffene Person unter Entscheidungsdruckbefindet, so spricht man voneinem Konflikt. Ein solcher Konflikt bestehtnicht nur zwischen Innen und Aussen, zwischenTrieb und gesetzlicher Ordnung, sondernauch im Inneren (verinnerlichter Konflikt).Oft handelt es sich nicht nur um gegensätzlicheStrebungen, sondern auch Strebungen,die nicht gleichzeitig verwirklicht werden kön-Ein faszinierendes Bild der seelischenKonflikte eines jüdischen Jungen zeichnetder Autor Chaim Potok. Einerseits möchteAsher am Glauben und an den Bräuchenseiner Eltern festhalten, andererseits spürter das Bedürfnis, seine Gefühle im Malenauszudrücken, was bei den Chassidim verbotenist.nen. Schliesslich kann ein Konflikt durch Frustrationentstehen, also durch die Versagungeiner vitalen Strebung (Wie geht jemand damitum? – Frustrationstoleranz, Resignation,Aggression?).Konflikte entstehen oft auch in einer Versuchungssituation:Es besteht ein Anreiz, einBedürfnis auszuleben, obwohl dies von derUmwelt abgelehnt wird oder sogar den eigenenIdealen widerspricht.Vitale Strebungen, die zu Konfliktenführen können:— Bedürfnis nach mitmenschlicher Näheund Liebe— Bedürfnis nach Anerkennung— Sexuelle Wünsche und Triebe— Aggressionsregungen— Machtstreben— Streben nach Genuss, Besitz, Wissen— Streben nach Versorgung und SicherheitIch, Es und Über-IchOft fühlt sich eine Person (ICH) hin– undhergerissen zwischen grundlegenden Wünschen,Bedürfnissen, Trieben und Versuchungen(ES), die gegen die Ideale verstossen,die eine Person für ihre Lebensgestaltunghat (Ich-Ideal oder »ÜBER-ICH«).Diese Spannung löst dann Angst mit allenBegleiterscheinungen aus. Dabei stehen zweiÄngste im Vordergrund: Die Angst vor Ablehnungund die Angst vor Versagen (vgl. Abbildungauf S. 27)literatur: Chaim Potok: Mein Name ist Asher Lev.Rowohlt. — Chaim Potok: Die Erwählten. Rotbuch.26


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTAngst als Hindernis auf dem Weg zum ZielABB. 1:uNSERE äNGSTE WERDEN VON UNSERENbEDÜRFNISSEN GEPRÄGT.Der Mensch wird von zwei Haupt ängsten geplagt,die sich aus seinen Grundbedürfnissenableiten.Angst vor Abwertungund VersagenAngst vor Ablehnungund LiebesverlustAbb. 2:KONFLIKTE AUF DEM wEG ZUM zIEL.Der Pfeil zeigt den Weg zum Ziel (z.B. alleinean eine Einladung gehen). Aber nach einigenSchritten steigt allmählich die Angst auf(durchbrochene Linie) und wird immer stärker,bis der sensible Mensch es vorzieht, vonseinem Vorhaben abzulassen. Die punktierteLinie zeigt die (z.B. durch bewusste Entspannungoder durch Medikamente) gedämpfteAngst, die das Erreichen des Ziels ermöglicht.Weg zum Ziel«Neurotische»Verhaltensweisen:Abwehr, BewältigungLerneffektHindernisFrustrationTraumaAbb. 3:Das darf mir nicht mehr passieren!Wenn ein Ziel nicht auf direktem Weg erreichtwerden kann, entwickelt der Mensch Formen,das Hindernis zu umgehen. Er schützt sichdurch dieses Abwehrverhalten vor der Angst vorAblehnung oder Versagen. Gleichzeitig handelter sich durch sein Vermeidensverhalten neueProbleme ein (z.B. Verlust von zwischenmenschlichenKontakten, Abnahme der beruflichenChancen etc.).27


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTAbwehr und BewältigungBewältigungEs handelt sich um reife Formen des Umgangsmit schweren Erfahrungen, Verletzungenund Konflikten.Kennzeichen: realitätsgerecht, Konfliktbleibt bewusst, wird rational verarbeitet— schöpferische Lösung— Verzicht— Durchsetzung— Humor— Glaube, NächstenliebeAbwehrmechanismenSie dienen der Abwehr gegen Angst vor Ablehnungund Versagen und zur Dämpfungseelischen Schmerzes.Beispiele:— Verschiebung (Schreibmaschine ist schuld,dass Arbeit nicht fertig wurde)— Sublimierung (andere, «höhere» Tätigkeitstatt «niederer» Strebungen)— Verdrängung (von Strebungen, Gefühlen)— Verleugnung (von Grenzen oder z.B. schwererKrankheit)— Isolierung, Abspaltung (von Gefühlen, vonfalschem Verhalten)— Wendung ins Gegenteil (Überfürsorglichkeittrotz Ablehnung eines Kindes)— Projektion (eigener Probleme auf andereMenschen)— Identifizierung (ohne Eingestehen von unerfülltenBedürfnissen)Flucht in phantasieSie sei die klassische Fluchtform der Sensiblen(Klages). Drei Formen der Phantasie: schöpferischePhantasie – Spielphantasie des Kindes– Wunsch– und Furchtphantasie. «Bei solchenFormen wird häufig der Boden normalpsychologischerSpielbreiten verlassen und es kommtzu dem Ausbau von ausgeprägten Phantasiewelten,in denen der Betreffende als AkteurMERKE:1. Abwehrmechanismen sind nicht immernegativ zu bewerten. Oftmals sind sie vielleichtder einzige Weg, wie jemand in drängendeninneren Konflikten überleben kann.Die Abwehrmechanismen wirken dann wieder Panzer einer Rüstung, der seinen Trägervor Verletzungen schützt, aber ihn auchbeschwert und weniger beweglich macht.2. Therapeutisch ist daher die Durchbrechungder Abwehr nicht immer hilfreich,insbesondere‐ wenn die Person nicht genügend «Ich‐Stärke»hat‐ wenn die dadurch geweckten Gefühle undÄngste nicht aufgefangen werden können‐ wenn die Bewusstmachung des Konfliktesneue Konflikte hervorbringt3. Die Bearbeitung von Konflikten setzt einetragende und vertrauensvolle Beziehungzum Threapeuten voraus.häufig im Mittelpunkt stehen kann und dieWünsche nun sich ihm erfüllen, die er sonst imLeben zu vermissen meint.»prinzip maskeDie Sensibilität wird hinter der Maske von Stärke,Unnahbarkeit und Überlegenheit versteckt.Das «Demaskieren würde zum Zusammenbruchführen.» (Klages)innere emigrationa) resigniert-verbittert: mutlos, resigniert,passiv, leidend, in Stille getragen.b) die selbstgeschaffene Einsamkeit: oft «intellektuellverbrämt»; durchaus glücklicheElemente (z.B. Wissenschaftler im «Elfenbeinturm»)28


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTSexuelle Störungen und ihre EntstehungWohl kein Bereich des menschlichen Lebenslässt uns so eindringlich die Verwobenheitvon Leib und Seele, von Hormonen und Gedankenverspüren, wie die Sexualität. Es ist deshalbnicht verwunderlich, dass es bei übersensiblenMenschen gerade in diesem Bereich oft zuausgeprägten seelischen Konflikten, Ängstenund Hemmungen kommt. Das untenstehendeDiagramm zeigt, welche Einflussfaktoren zusexuellen Störungen führen können.29


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTAngst und Paniksensible Menschen neigen vermehrtzu Angst. Man versteht darunterverschiedene Kombinationenkörperlicher oder psychischerAngstsymptome, die keiner realenGefahr zugeordnet werden könnenund entweder als Angstanfälleoder als Dauerzustand auftreten.Die Angst ist meistens diffus undkann sich bis zu Panikattackensteigern.Panikstörung und Agoraphobie:Es treten unerwartet starke Angstgefühleauf, die nicht direkt im Zusammenhang miteiner aktuellen angstauslösenden Situationstehen. Diese sind begleitet von vegetativenBegleiterscheinungen (vgl. S. 10). Agoraphobieumschreibt Angst, sich an Orten oder in Situationenzu befinden, in denen beim plötzlichenAuftreten von Symptomen eine Flucht nurschwer möglich (oder peinlich) ist oder in denenkeine Hilfe verfügbar wäre (z.B. im GeschäftSchlange stehen; im Lift stecken zu bleiben;Ängste im Zug oder Tram; aber auch: z.B. Angst,in einem Theater plötzlich die Kontrolle überBlase oder Darm zu verlieren; in der Kircheplötzlich angesprochen zu werden). Folgen:Einschränkungen bei vielen Aktivitäten, Reisen;häufige Notwendigkeit von Begleitpersonen.Generalisierte Angststörung: Unrealistischeoder übertriebene Angst und Besorgnisbezüglich verschiedener Lebensumstände(Angst, dem Kind könnte etwas zustossen,obwohl keine Gefahr besteht; Geldsorgen ohnetriftigen Grund) über längere Zeit (min. sechsMonate). Neben den vegetativen Symptomenfinden sich besonders folgende Zeichen:ständige Anspannung, übertriebene Schreckreaktion,Konzentrationsschwierigkeiten oder«Blackout» aus Angst, Ein– und Durchschlafstörungensowie Reizbarkeit.«Einfache» Phobie: Angst vor ganz bestimmtenSituationen oder Objekten (Spinnen-,Hunde– oder Katzenphobie; Angst vor demAnblick von Blut etc. etc.). Konfrontation mitdem Auslöser ruft sofort heftige und überschiessendeAngst hervor. Solche Situationenwerden entweder vermieden oder nur untergrösster Angst und Anspannung durchgestanden.Die Person erkennt, dass ihre Angst übertriebenoder unvernünftig ist. Die Angst oderdas Vermeidensverhalten stören den normalenTagesablauf der Person, die üblichen sozialenAktivitäten oder Beziehungen, oder die Angstverursacht erhebliches Leiden.Soziale Phobie: Anhaltende Angst vor Situationen,wo eine Person im Mittelpunkt derAufmerksamkeit anderer steht und befürchtet,etwas zu tun, was demütigend oder peinlichsein könnte. z.B. Angst, in der Öffentlichkeitzu sprechen; sich vor anderen beim Essen zuverschlucken; in einer öffentlichen Toilettezu urinieren; etwas Lächerliches zu sagen etc.Konfrontation mit dem Auslöser ruft sofortheftige und überschiessende Angst hervor. SolcheSituationen werden entweder vermiedenoder nur unter grösster Angst und Anspannungdurchgestanden. Die Person erkennt, dass ihreAngst übertrieben oder unvernünftig ist. DieAngst oder das Vermeidensverhalten störenden normalen Tagesablauf der Person, die üblichenAktivitäten oder Beziehungen, oder dieAngst verursacht erhebliches Leiden.30


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTPosttraumatische Belastungsstörung(PTSD): Die Person hat ein Ereigniserlebt, das ausserhalb der üblichen menschlichenErfahrung liegt und für fast jedenstark belastend wäre (z.B. Vergewaltigung,Ausgeraubtwerden, Miterleben eines plötzlichenTodesfalles, Zerstörung des eigenenZuhauses, Kriegserlebnisse, Folter). Die Folge:Das Ereignis wird ständig auf mindestens eineder folgenden Arten wiedererlebt: Wiederholtesich aufdrängende Erinnerungen; wiederholtestark belastende Träume; plötzliches Gefühl,das Ereignis wieder zu erleben (Flashback);intensives psychisches Leiden bei der Konfrontationmit Ereignissen oder Jahrestagen,die an das traumatische Erlebnis erinnern.Vermeiden von Situationen und Auslösern,die mit dem Trauma in Verbindung stehen:Verdrängen der Gedanken daran; Erinnerungslücken;Entfremdungsgefühl; Einschränkungder Gefühlswelt (z.B. Verlust von zärtlichenEmpfindungen); Gefühl der Sinn– und Zukunftslosigkeit.Anhaltende Symptome einer erhöhtenErregung: Schlafstörungen, Reizbarkeit,Konzentrationsschwierigkeiten, Überwachheit(Hypervigilanz), Schreckhaftigkeit, vegetativeSymptome).Weitere InformationenDem Thema Angst ist eineigenes Heft der Reihe «Seelsorge und Psychiatrie»gewidmet. Dort finden Sie auchausführlicheLiteraturangaben.Erhöhte SensibilitätStudien haben gezeigt, dass erste Paniksymptome,selbst wenn es sich nicht um eine vollausgeprägte Störung handelte, später zu einerdeutlich erhöhten allgemeinen Sensibilitätführen können.— Paniksymptome im engeren Sinne— Ängstliche Erwartung von neuenSymptomen.— Ängstliche Vermeidung von Situationen,die Symptome auslösen könnten.— Abhängigkeit von ständigerBestätigung: starkes Bedürfnis nachAbsicherung, Trost, Ermutigung.— Überempfindlichkeit auf Substanzen,z.B. auf Kaffee.— Allgemeine Stress-Sensibilität:jede Zusatzbelastung, jede schlechteNachricht führt zu seelischer Anspannung.— Überempfindlichkeit / Angst beidrohender Trennung: starke Abhängigkeitvon anderen Menschen. Drohteine Trennung, treten starke Ängste auf.Quelle: Cassano, G.B. et al. (1997). The panic-agoraphobicspectrum: A descriptive approach to the assessmentand treament of subtle symptoms. American Journalof Psychiatry 154 (Suppl 6):27-37.31


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDysthymie (neurotische Depression)definitionICD-10: Leichte depressive Verstimmung, die(mit kurzen Unterbrechungen) mindestens 2Jahre lang andauert. Die Patienten fühlen sichmüde und depressiv; alles ist anstrengend. VerminderteGenussfähigkeit, Grübeln, schlechterSchlaf, mangelndes Selbstwertgefühl; Mühe mitder Bewältigung des Alltags.DSM-IV: Oftmals werden im Vorfeld einerDysthymie andere Störungen beobachtet, wiez.B. Anorexia Nervosa, vermehrte körperlicheBeschwerden ohne organischen Befund, Medikamentenabhängigkeit,Angststörungen oderrheumatoide Arthritis.erbliche Belastung mit Depressionen,bipolaren Störungenfrüher Beginn der Symptome (ca. 12-j), allmählichzunehmend; Männer und Frauen gleichhäufig betroffen; ein Drittel hat nie geheiratet;67 % der Frauen klagten über PMS (vgl. S. 34)Zusatzprobleme:17 % Alkoholmissbrauch12 % Koffeinmissbrauch14 % Bulimie19 % Soziale Phobie10 % Panik-AttackenDOUBLE DEPRESSION: oft zusätzlich depressivePhasen im engeren Sinne.NEURASTHENIEEin Syndrom mit allgemeiner Schwäche, Reizbarkeit,Kopfweh, Depression, Schlaflosigkeit,Konzentrationsschwierigkeiten und Mangelder Fähigkeit, Freude zu empfinden. Es kanneiner Infektionskrankheit oder einer Erschöpfungfolgen oder sie begleiten oder aus eineranhaltenden Belastungssituation hervorgehen.Heute wird zunehmend der Begriff des "ChronicFatigue Syndrome" verwendet. Bedingungen:Es besteht keine andere Krankheit, diedie Müdigkeit erklären könnte. Die Müdigkeitmuss ausserordentlich schwer sein und mindestens6 Monate dauern. Begleiterscheinungenkönnen sein: leichtes Fieber, Halsschmerzen,leichte Lymphknotenschwellungen, Kopf-,Muskel– und Gelenkschmerzen, gestörterSchlaf, Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten,depressive Verstimmung.Hua ByungIn Korea gibt es ein Syndrom,das übersetzt«Aufgestautes Feuer» heisst. Hauptsymptomesind: multiple Schmerzen, Hitzegefühl,Druck im Oberbauch, Herzklopfen, Seufzenund Weinen, Impulsives Herumwandern oder-fahren, Gefühlsausbrüche, exzessives Bitten,allgemeine Angst und depressive Zustände.Reizbarkeit und Zornsind häufige Symptome bei übersensiblen unddysthymen Menschen. Oft werden dadurchBeziehungen extrem belastet und es kommtzu weiterer Isolation.32


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTAndere «neurotische» Syndromesomatoforme störungenSomatisierung: Bei inneren Spannungenkommt es zu ausgeprägten, z.T. dramatischenkörperlichen Beschwerden (starke Bauch– undUnterleibsbeschwerden*, Lähmung, Zittern,Verlust der Schmerzempfindung, Blindheit,Taubheit, Anfälle und ähnliches). Oft entstehtder Eindruck, die Betroffenen wollten durchihren Zustand einen psychologischen Vorteil(Krankheitsgewinn) erreichen, der ihnen abernicht bewusst ist. Manche Patienten entwickelnhartnäckige Rücken– und Gliederschmerzen, fürdie es keine Erklärung gibt. Oft steht dahinterein psychosozialer Konflikt.HYPOCHONDRIE: übermässige Beschäftigungmit der eigenen Gesundheit im allgemeinenoder der Unversehrtheit und der Funktion voneinzelnen Körperorganen oder weniger häufigdes eigenen Verstandes, meist verbunden mitAngst oder Depression.Dissoziation: Sensible Personen reagierenauf schwere Erfahrungen (z.B. sexueller Missbrauch)oder auf innere Spannungen mit einerstarken Einengung des Bewusstseins ("hysterischerDämmerzustand" mit anschliessenderErinnerungslücke). Sie spüren sich nicht mehrund verlieren den Bezug zu ihrem Körper (Depersonalisation)und erleben diesen oder einzelneKörperteile als verändert, unwirklich, fremd.Eine Patientin erlebt sich z.B. wie in einem Film,in dem sie mitspielt. Im übrigen ist die Realitätskontrolleintakt (Gegensatz: Psychose). Sehrselten auch «Dissoziative Identitätsstörung»,früher «Multiple Persönlichkeit».ANDERE NEUROSEFORMENDazu zählen verschiedene seltene Syndromeund vor allem unklare Mischbilder. Besondershäufig:Sexuelle Störungen gehen oft mit denSymptomen einer allgemeinen Sensibilitäteinher und können intensives Leiden verursachen.Beispiele: verminderte oder übermässigesexuelle Erregbarkeit, Erektions– oder Orgasmusstörungen,als ich-fremd erlebte Störungder sexuellen Orientierung (z.B. ich-dystoneHomosexualität, Pädophilie).Störungen der sexuellen Präferenz: Sogenannte"Perversionen" wie z.B. Exhibitionismus, Fetischismus,sexueller Masochismus / Sadismus,Voyeurismus.Störungen des Ess-Verhaltens: Diesesind in unserer Kultur besonders verbreitet underfahren durch die oft dramatischen Auswirkungengrosse Aufmerksamkeit. Eine ausführlicheBeschreibung ist hier nicht möglich.— Anorexia nervosa (Magersucht)— Bulimie (Fress-Brechsucht)Neben der spezifischen Störung des krankhaftenKörperbildes und Essverhaltens findetman häufig neurotisch geprägte Verhaltens–und Beziehungsmuster.33


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTDas prämenstruelle Syndrom (PMS)Der weibliche Zyklus ist oft eng mit der psychischenBefindlichkeit verbunden. Etwa30 — 40 Prozent der Frauen im gebärfähigenAlter leiden an mässigen bis mittelschwerenprämenstruellen Symptome (PMS). Ca. 5 %zeigen ausgeprägte Symptome mit schwererStörung des Berufs– und Privatlebens (PMDS =Prämenstruelle Dysphorische Störung)Beispiel:«Mehrere Tage vor meiner Periode fühle ichmich emotional ausser Kontrolle. Dinge, dieich normalerweise problemlos löse, erscheinenmir überwältigend. Ich breche wegen nichts inTränen aus. Ich habe keine Nerven und schreiemeine Kinder an. Wenn die Mens vorbei ist,dann bin ich wieder wie normal.»DEFINITIONBezeichnung für eine Reihe unterschiedlicherkörperlicher und psychischer Symptome, dieregelmässig 1 bis 10 Tage vor dem Beginn derMonatsblutung auftreten, mit dem Beginnder Monatsblutung oder kurz danach verschwinden.Es folgt eine unterschiedlich langebeschwerdefreie Zeit, bis die Beschwerden vorder nächsten Periode wieder auftreten.SYMPTOME— Stimmungsschwankungen; Anspannung,Angst– oder Panikattacken— Depression, «Gefühl der Hoffnungslosigkeit»,«Weinen ohne Grund»— Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen— Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Energielosigkeit— Ärger, Empfindlichkeit— Schlafstörungen— Körperliche Symptome: Brustempfindlichkeitoder Schwellung; Kopfschmerzen;Gelenk– oder Muskelschmerzen; Völlegefühlund Gewichtszunahme; Herzrasen,Schwindel.UrsachenPMS ist mit dem weiblichen hormonellen Zyklusverbunden, aber die genauen Ursachen sindnoch unbekannt. Hormonelle, psychologische,kulturelle und soziale Faktoren und Ernährungsgewohnheitensind vermutlich beteiligt.PMS kann bei normaler Funktion der Eierstöckeauftreten.DIAGNOSE— Sorgfältige Beobachtung und Notieren derSymptome im Beziehung zum Zyklus (übermindestens 2 Zyklen)— Die Symptome müssen schwer genug sein,um ein normales «Funktionieren» zu stören— PMS kann nicht nachgewiesen werdendurch Bluttests oder andere Untersuchungen.BEHANDLUNGIn vielen Fällen hilft bereits das Führen einesSymptomkalenders und die Aufklärung überdas Krankheitsbild. Das Verstehen, dass es sichum eine hormonelle Störung handelt und nichtum eine psychische Krankheit oder um «Einbildung»,kann die Patientin bereits erleichtern.34


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTÄnderung der LebensweiseNormalgewicht — gesunde Lebensweise:regelmässig Sport (z.B. Aerobic) — ausgewogeneKost — genug Schlaf — verbessertes Stressmanagement— BeziehungsberatungHeilmittel— pflanzliche Heilmittel: Nachtkerzenöl,oder Mönchspfeffer-Extrakt (AgnusCastus)— Vitamin E oder B6— Mineralstoffe: Magnesium und Calcium.— Diuretika bei WassereinlagerungFür Frauen mit schweren Symptomenoder wenn obige Massnahmen nichthelfen:— Schmerzmittel helfen bei Krämpfen, Gliederschmerzen,Brustspannen etc.— Ovulationshemmer, Gestagene (hier istallerdings anzumerken, dass sehr sensibleFrauen mit starken Nebenwirkungen aufreine Gestagene reagieren können).— Antidepressiva während der symptomatischenZeit helfen bei 60% der Patientenmit überwiegend psychischen Symptomen.verhaltensanalyseTherapeutische Auswirkungen:— Hoffnung: Jemand nimmt mich ernst— Aktivierung: Ich bin nicht hilflos— Selbstwahrnehmung: So funktioniere ich— Kontrolle: Ich kann vorsorgen— Eingrenzung des Problems: Es geht mirnicht immer schlecht— Verständnis: Die Anderen können meinProblem einordnenTagesplan / Aktivitätenkalender— Allgemeine Abmachungen: z.B. Pauseneinlegen, kleine Mahlzeiten, mit dem Radzur Arbeit fahren usw.— Genauer Tagesplan: bei starken Symptomen,gibt Struktur— Angenehme Tätigkeiten einplanen— Stresserzeugende Umstände vermeidenÄnderung des Denkens— Wie sehe ich mich selbst?— Was erwarte ich von den Anderen?— Welche unbewussten Ziele verfolge ich?— Welche Methoden wähle ich, um mitSchwierigkeiten umzugehen?— Wie kann ich besser mit Anforderungenumgehen?— Wie kann ich mich schützen?ANREGUNGEN FÜR PARTNER UNDFREUNDE— Informieren über die Ursachen und Auswirkungender Krankheit— Der Krankheit die Schuld geben, nicht derFrau— Sich in den psychischen Zustand der Fraueinfühlen— Negative Haltung der Frau nicht persönlichnehmen— Die schwierigen Tage als Teil der Beziehungakzeptieren35


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTWenn der Glaube zum Problem wirdStichwort:Ekklesiogene NeuroseDefinition (nach Hark): «Die ekklesiogene Neurosebenennt in dem vielschichtigen Bereichder Seelenkrankheiten jene, die im religiösenGewande einhergeht und durch übertriebeneReligiosität ausgelöst wird. Ob Frömmigkeitund Glaube als Seelengift krank machen oder alsHeilmittel zur Seligkeit wirken, ist eine Frage derDosis und der religiösen Erziehung von Eltern,Schule und Kirche.»Studie von Hark über religiöse Neurosen:Er verglich anhand eines ausführlichen Fragebogens139 Patienten, die aufgrund ihrerseelischen Schwierigkeiten um Therapie nachsuchten,mit 234 Personen einer «gesunden»Kontrollgruppe.Macht der Glaube krank?In einer eigenen Studie (Pfeifer & Waelty1995) konnten wir nachweisen, dass es keinenstatistischen Zusammenhang zwischen demGrad des Neurotizismus und der Glaubensintensität(Religiosität) gibt. Allerdings scheinenreligiöse Menschen den Glauben öfter alsQuelle von inneren Spannungen zu erleben.Trotzdem lehnen sie die Aussage, der Glaubesei eher eine Bürde, deutlich ab.Schlussfolgerung: Es ist nicht derGlaube, der krank macht, aber übersensibleMenschen mit Ängsten und Depressionenneigen eher dazu, sich am Glauben und anBeziehungen mit gläubigen Menschen wundzu reiben.Schlussfolgerungen: «Bei der genanntenPatientengruppe konnte ein Zusammenhangzwischen den psychoneurotischen Schwierigkeitenund der religiösen Orientierungermittelt werden. Es liess sich statistischbelegen: Je ausgeprägter die psychische Problematikist, desto geringer ist das Ausmassder religiösen Orientierung und Frömmigkeit.Im umgekehrten Fall liess sich ermitteln, dasseine ausgewogene religiöse Orientierung diepsychischen Schwierigkeiten vermindert.Unsere Untersuchung bestätigt damit die imEinzelfall gemachte Erfahrung, dass die Neurosedas Glaubensleben beeinträchtigt und stört,während eine positive Frömmigkeit zur Heilungder Störungen beiträgt.»Das Glaubensleben wirdim Rahmen der PersönlichkeitsstruktureinesMenschen ausgelebt. Esist also «ein Schatz in irdenenGefässen.» (2. Kor 4:7)QUELLEN:Pfeifer S. (1993) Neurose und Religiosität – Gibt es einenkausalen Zusammenhang? Psychotherapie – Psychosomatik– medizinische Psychologie 43:356-363.Pfeifer S. & Waelty U. (1995): Psychopathology and religiouscommitment. A controlled study. Psychopathology 28:70-77.Pfeifer S. & Waelty U. (1999): Anxiety, depression and religiosity– a controlled study. Mental Health, Religion & Culture2:35-45.36


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTSpannungsfelder Neurose und ReligiositätSieben KonfliktbereicheDie früher beschriebenen Schwierigkeiten dessensiblen Menschen wirken sich auch aufdas Glaubensleben aus. Dabei kommt es oft zueiner derart engen Verbindung zwischen einereng-geführten Frömmigkeit und psychischenSymptomen, dass nicht immer klar zwischen Ursacheund Wirkung unterschieden werden kann.Es ergeben sich die folgenden Konfliktbereiche:5. Schuldgefühle als allgemeines menschlichesPhänomen6. Übernahme von eigenständiger Verantwortungbei gleichzeitigem Wunsch nachgöttlicher Führung7. Menschliche und kirchliche Gesetzlichkeitund Morallehre im Gegensatz zu persönlicherchristlicher Freiheit1. Allgemeine übersensible Konflikthaftigkeit,auch in Glaubensfragen2. Konflikte zwischen Familienloyalität undsubjektiv erlebten Verletzungen bzw. Ungerechtigkeiten3. Konflikte zwischen Glaubens-Idealen undder Alltags-Wirklichkeit4. Generell erhöhte Ängstlichkeit (auch inGlaubensfragen)Weitere Informationen:Diesem Thema ist ein ganzes Buch gewidmet.S. Pfeifer: Wenn der Glaube zum Konflikt wird. BrunnenverlagBasel.Download als e-book (PDF) von www.seminare-ps.net.37


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTWas bringen Medikamente?«Neurotische» Störungen galten lange Zeit alsDomäne der Psychotherapie.HIRNBIOLOGIE WESENTLICH: Die moderneForschung sieht hinter einer seelischen Übersensibilitätaber auch eine Veränderung desbiochemischen Gleichgewichts im Gehirn.In einer Studie (*) wurde untersucht, ob antidepressiveMedikamente auch bei Dysthymieund PMS wirksam sind. Die Ergebnisse warenüberraschend.Einige Eckdaten:— Die Betroffenen warteten durchschnittlich15 Jahre lang bevor sie Hilfe suchten (viellänger als bei schwere Depressionen).— Manche hatten jahrelange Psychotherapiengehabt, ohne Besserung.Nach sorgfältiger diagnostischer Abklärungerhielten die Patienten folgende Behandlung:— Antidepressiva vom Typ SSRI— unterstützende Psychotherapie, kognitiveTherapie, PaargesprächeBEHANDLUNGSRESULTATE:— deutliche Stabilisierung: Funktionsniveauvon 50 auf deutlich über 70 %— deutliche bessere Bewältigung von Stress.— Nicht mehr durch kleinere Störungen desAlltags überwältigt.— Die Patienten brauchten nach Einsetzeneiner vernünftigen medikamentösen Therapieviel weniger Psychotherapie«3 von 4 Patienten, die jahrelang unter Schwermut(gloom) gelitten hatten, erreichten erstmalsin ihrem Leben eine gutes bis sehr gutesFunktionsniveau, das über 5 Jahre anhielt.»«Erst seit ich Medika men tehabe, kann ich die Dingeumsetzen, mit denen ich inder Psychotherapie konfrontiertwerde.»Zitat einer PatientinVERÄNDERN MEDIKAMENTE DIEPERSÖNLICHKEIT?Manche Patienten erleben eine deutliche Veränderungihrer Grundstimmung. Vorteil oderNachteil? Hier einige Gedanken:— Was ist die wirkliche Grundpersönlichkeit?— Lethargie, Verdriesslichkeit und sozialerRückzug sind krankhafte Persönlichkeitszüge— Medikamente legen die eigentlichen Persönlichkeitszügewieder frei, die durch dieDysthymie verdeckt waren.— Medikamente reduzieren Reizbarkeit, sorgenvollesGrübeln, Neurotizismus, depressiveVerstimmung, und Ängstlichkeit undverbessern die Bewältigung des Alltags.Die behandelten Patienten haben wiedermehr Energiereserve für Kontakte und Aktivitäten.— Manche haben aber auch Mühe mit einersolchen Veränderung. «Das bin nicht mehrich» oder auch «jetzt verlangt man zuvielvon mir».Quelle:Haykal RF & Akiskal HS (1999). The long-term outcome ofdysthymia in private practice: clinical features, temperamentand the art of management. J Clin Psychiatry 60:508–51838


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTPsychotherapie – Chancen und GrenzenGemeinsam Keiteneiner erfolgreichenPsychotherapie:1. Eine intensive, gefühlsbetonte,vertrauensvolle Beziehung zurhelfenden Person.2. Eine nachvollziehbare Begründungoder ein mythologischerZusammenhang, der die Gründefür die Schwierigkeiten desPatienten erklärt und ihn vomTherapeuten überzeugt.3. Darlegung neuer Informationen über dieUrsache und Dynamik der Probleme desPatienten. Aufzeigen neuer alternativerWege zum Umgang mit diesen Schwierigkeiten.4. Hoffnung wecken: Stärkung der Erwartungendes Patienten auf Hilfe.5. Vermittlung eines Erfolgserlebnisses, dasihm das Vertrauen und den Glauben gibt,seine Schwierigkeiten meistern zu können.6. Anteilnahme und Engagement des TherapeutenReduziert man diese sechs Punkte, sokommt man auf den grundlegenden Dreiklangchristlicher Seelsorge:LIEBE ‐ GLAUBE ‐HOFFNUNGGrenzen derPsychotherapie1. Grenzen der Vergangenheitsbewältigung:Das Rad der Lebensgeschichte kann nichtzurückgedreht werden. Manche Wundenwerden immer weh tun.2. Der Rahmen der Gemeinschaft (Familie,Ehe, Beruf, Kirche): Gemeinschaft tutwohl, aber sie kann auch einengen.3. Die Grenzen der Ethik: Themen wieaussereheliche Beziehung, Scheidung,unerwünschte Schwangerschaft oderabgrundtiefe Feindschaft sind oft sehrkonflikthaft.4. Freiheit und Verantwortung des einzelnen:Der Therapeut kann einer Person nicht alleEntscheidungen abnehmen.5. Leben mit Schwachheit: Auch die besteTherapie kann Sensibilität nicht völligwegnehmen. Vielmehr geht es darum zulernen, mit Grenzen zu leben.als Basis einer wirksamen Therapie.39


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTHinweise für Seelsorge und BeratungSeelsorglichtherapeutischesZiel:REIFEPersönliche und geistliche Reife bedeutet, miteinem Mass von Ungewissheit zu leben. Reifebedeutet auch, Spannungen zwischen Ideal undRealität, zwischen Wunsch und Wirklichkeitauszuhalten. Es ist die Verantwortung jedesEinzelnen, Entscheidungen in den Spannungsfeldernseines Lebens zu treffen.Nicht immer kann Nächstenliebe und persönlichesWohlergehen in völligem Einklangstehen. Jeder geht das Risiko ein, von andernmissverstanden zu werden. Im Zusammenlebenist oft eine «Kompromissbildung» zwischenBeziehung und Bedürfnisbefriedigung nötig.Reife bedeutet, dass man sich im Zusammenlebenanpassen kann, in dem subtilen Gleichgewichtvon Durchsetzung und Nachgeben.Und der reife Mensch wird nicht nur seinenunerfüllten Wünschen nachtrauern, sondernErfüllung in anderen Bereichen seines Lebenssuchen. Reife ist nicht Selbstverwirklichung,sondern Leben in der Realität dieser Welt imWissen um Gottes Durchtragen und Begleiten.Praktische Rat Schläge fürSensibleDie schwache Seite als Teil desLebens akzeptierenGenügend Ruhezeiten einplanenNicht zuviel VerantwortungübernehmenPrioritäten setzenNicht alles persönlich nehmenDie eigenen Gefühle nicht aufdie anderen übertragenSensible Menschen können einen grossen innerenReichtum weiterschenken – doch dieserkann sich nur in einem geschützten Rahmenentfalten. Wählen Sie Ihr Betätigungsfeld undIhre Beziehungen sorgfältig aus. Sie könnenund müssen nicht die ganze Welt retten.Setzen Sie sich dort ein, wo es Ihren Gabenentspricht und überlassen Sie alles andere Gottund den anderen Menschen.(nach A. Pfeifer in LYDIA)Sechs SchritteSich selbst besser kennen lernenAushalten von UnterschiedenSelbstwert in Abhängigkeit von GottWissen um die Unvollkommenheit dieser Welt und der MenschenFreiheit in Verantwortung: Leben mit Regeln ohne Abhängigkeitdie «Gezeiten des Lebens» kennen – weniger Angst vor Veränderung40


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTInspiration durch BilderHenri Nouwen über Vincent van Gogh:«Ich spürte die Verbindungen zwischen demKampf von Vincent van Gogh und meinemeigenen, und ich realisierte, dass Vincent meinverwundeter Heiler wurde.Er hatte gemalt, was ich vorher nicht zu betrachtenwagte, er stellte in Frage, worüber ichzuvor nicht zu sprechen gewagt hatte und erbetrat Räume meines Herzens, denen ich michnicht zu nähern gewagt hatte. So brachte ermich meinen Ängsten näher und gab mir denMut, meine Suche nach dem Gott zu vertiefen,der uns liebt.»Vincent vanGogh:DrohenderHimmel«Der verwundete Heiler»über Henri Nouwen:«Seine Worte sprachen mit besonderer Sensibilitätzu denjenigen Menschen, die in ihremLeben seelisch gelitten hatten. Er entdeckte,dass er aus seinen eigenen Verwundungen dieVerletzungen anderer Menschen erreichenkonnte.»Aus Michael Ford: WOUNDEDPROPHET. A Portrait of HenriJ.M. Nouwen. Doubleday 1999.41


DR. SAMUEL PFEIFER: SENSIBLITÄTEmpfehlenswerte BücherDie folgenden Bücher enthalten weitereInformationen zur Thematik dieses Arbeitsheftes.Aron E.N. Sind Sie hochsensibel? Wie Sie IhreEmpfindsamkeit erkennen, verstehen undnutzen. München: MVG-Verlag.Aron E.N. The Highly Sensitive Person in Love.New York: Broadway.Andreasen, N. und Black, D.: Lehrbuch Psychiatrie.Weinheim: Beltz.Bräutigam W. et al.: Psychosomatische Medizin.Stuttgart: Thieme.Eareckson-Tada J.: Wie das Licht nach derNacht. Giessen / Basel: Brunnen.Fiedler P.: Persönlichkeitsstörungen. Weinheim:Beltz.Fiedler P.: Integrative Therapie bei Persönlichkeitsstörungen.Göttingen: Hogrefe.Fiedler P.: Dissoziative Störungen und Konversion.Weinheim: Beltz.Hell D.: Die Sprache der Seele verstehen. DieWüstenväter als Therapeuten. Freiburg:Herder.Frank J.D.: Die Heiler. Wirkungsweisen psychotherapeutischerBeeinflussung. Stuttgart:Klett-Cotta.Frankl, V.E.: Ärztliche Seelsorge. Frankfurt:Fischer TB.Gray J.: Männer sind anders, Frauen auch.München: Goldmann.Hart A.: Lust oder Last: Wie Mann mit seinerSexualität glücklich werden kann. Asslar:Gerth.Josuran R.: Mittendrin und nicht dabei. MitDepressionen leben lernen. Berlin: Ullstein.Klages W.: Der sensible Mensch. Stuttgart:Enke.Kreisman J.J. & Straus H.: Ich hasse dich – verlassmich nicht. Die schwarz-weisse Welt derBorderline-Persönlichkeit. Kösel, München.Lamertz C. et al.: PMS – Probleme vor derRegel. Das Prämenstruelle Syndom erkennen,behandeln, überwinden. München:Mosaik.Lauster P.: Selbstbewusstsein – sensibel bleiben,selbstsicher werden. Düsseldorf: Econ.Mentzos S.: Neurotische Konfliktverarbeitung.Frankfurt: Fischer TB.Nouwen H.J.: Nimm sein Bild in dein Herz.Freiburg: Herder.Nuber U.: Der Mythos vom frühen Trauma.Über Macht und Einfluss der Kindheit. Frankfurt:Fischer.Parrott L.: Einfach nervig! Vom Umgang mitanstrengenden Mitmenschen. Asslar: Gerth.Parlow, G.: Zart Besaitet. Wien: Festland.Pfeifer S.: Der sensible Mensch. Leben zwischenBegabung und Verletzlichkeit. Holzgerlingen:SCM Hänssler.Pfeifer A.: Bring dein Leben zum Klingen. Sensibilitätals Stärke. Basel: Brunnen.Schorr B.: Hochsensibilität. Empfindsamkeitleben und verstehen. Holzgerlingen: SCMHänssler.Schulz vonThun F.: Miteinander reden I und II.Berlin: Rowohlt.Selin R.: Wenn die Haut zu dünn ist: Hochsensibilität- vom Manko zum Plus. München:Kösel.Shapiro D.: Neurotische Stile. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht.Shorter E.: Moderne Leiden. Zur Geschichteder psychosomatischen Krankheiten. Berlin:Rowohlt.Skaric M.: Sensibel kompetent. Wien: Festland.Trappmann-Korr B.: Hochsensitivität: Einfachanders und trotzdem ganz normal. Freiburg:VAK-Verlag.Zimbardo P.G.: Nicht so schüchtern! München:MVG-Verlag.42


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTSTRESS UNDBURNOUTVerstehen, Beraten, BewältigenAS


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTInhaltGibt es Kulturen ohne Stress?................................................................................. 2Vier Begriffe: Stress, Strain, Eustress, Distress..................................................... 3Trauma und extremer Stress ..................................................................................4Belastende Lebensereignisse.................................................................................. 5Körperliche Symptome von Stress ......................................................................... 6Unterschiede zwischen Frauen und Männern ...................................................... 7Stresskrankheiten - Psychosomatik....................................................................... 8Resilienz - Schutzfaktor gegen Stress ................................................................. 10Burnout - Notbremse der Seele ............................................................................1324 Fragen zur Erfassung von Burnout ..................................................................15Faktor 1: Arbeitsplatz .............................................................................................17Faktor 2: Privatleben und Familie .........................................................................18Faktor 3: Persönlichkeitsmuster ...........................................................................19Faktor 4: Wenn der Körper nicht mehr mitmacht...............................................20Müdigkeit und Erschöpfung..................................................................................21Der Burnout-Kreislauf........................................................................................... 23Burnout bei Lehrpersonen ...................................................................................24Burnout bei Pflegeberufen................................................................................... 26Compassion Fatigue - Leiden an der Not der andern ......................................... 28Burnout und Stress in der Bibel ...........................................................................30Work-Life-Balance.................................................................................................. 32Burnout-Vorbeugung am Arbeitsplatz ................................................................34Die innere Einstellung verändern ........................................................................ 36Burnout als Chance ............................................................................................... 38Was hilft gegen Burnout? ..................................................................................... 39Weiterführende Literatur und Internetadressen................................................ 40AT


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTStress - neue Krankheit des Jahrhunderts?STRESS – dieses Schlagwort fand man vor100 Jahren noch nicht im Lexikon. Heuteaber gibt es niemand, der nicht zeitweise«gestresst» ist. Hans Selye (1907 - 1982),der in Wien geborene Kanadier, fasste seinLebenswerk in einem einzigen Satz zusammen:«Ich habe allen Sprachen ein neuesWort geschenkt – Stress!»Zu den Auswirkungen von Stress gehörennicht nur Gefühle der Anspannung sondernauch körperliche Symptome, die die Lebensfreudetrüben, Beziehungen belasten unddie Arbeitsfähigkeit vermindern können.BurnoutWenn Stress zu einem Zustand körperlicher,emotionaler und geistiger Erschöpfungführt, so spricht man von «Burnout».Erstmals wurde der Begriff von demamerikanischen Psychotherapeuten HerbertFreudenberger beschrieben. Er beobachtete,wie aus engagierten HelfernMenschen wurden, die nicht mehr die Krafthatten, anderen mit der nötigen Einfühlungund Professionalität zu begegnen.Es handelt sich nicht um eine gewöhnlicheArbeitsmüdigkeit, sondern um einenZustand, der mit wechselhaften Gefühlender Erschöpfung und Anspannung verbundenist. In einem destruktiven Kreislaufkommt es zu ausgeprägten VeränderungenHerkunft: engl. STRESS =«Anspannung, Druck,Belastung, Beanspruchung»bei der betroffenen Person. Dadurch wirddie Atmosphäre in einem Team empfindlichgestört. Auch im Privatleben kommtes zum Rückzug und zu strapazierten Beziehungen.Wie kann man Stress verstehen? Wiekann man Herausforderungen positiv nutzen(«Eustress») ohne an einer Überlastungzu zerbrechen («Distress»)? Wie erkenntman die Warnzeichen? Und wie kann mansein Leben so gestalten, dass es nicht ausden Fugen gerät?Das Seminarheft will Anregungen gebenund auf weitere Literatur verweisen.Ziel der Informationen ist es, sich selbstund betroffene Menschen besser zu verstehenund sie fachgerecht und einfühlsamzu begleiten.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTGibt es Kulturen ohne Stress?Der englische PsychiatrieprofessorDavid Mumford stellte sich die Frage: Gibtes vielleicht Gegenden der Welt, wo die Menschenweniger gestresst sind? Hat die reineBergluft, die Abgeschiedenheit von der Zivilisation,das Fehlen von Telefon und Hektiksowie das naturnahe Leben in einem Hochtaldes Himalaja-Gebirges positive Auswirkungenauf die Gesundheit der Bewohner?Die Ergebnisse überraschten dieForscher: Das scheinbar idyllische Lebenohne Zivilisationsstress birgt andere Belastungen:Die Männer müssen sich weitentfernt gefährliche Arbeit (z.B. Holzflössenauf den wilden Flüssen) suchen und sind oftwochenlang abwesend; es gibt kaum medizinischeVersorgung, die Kindersterblichkeitist hoch. Im harten Winter gibt es oft Nahrungsmittel-Knappheit.Dies führt dazu, dass gerade die inden abgelegenen Dörfern lebenden Frauenin über 40 % unter deutlichen Stress-Symptomenmit Ängsten und Depressionen litten.Körpersprache als Ausdruckvon Stress in der Dritten Welt:Fühlten Sie in letzter Zeit einenEnergiemangel?Spürten Sie Schmerzen im ganzenKörper?Fühlten Sie sich müde, auch wenn Sienicht arbeiteten?Hatten Sie Schmerzen auf der Brustoder tat Ihnen das Herz weh?Spürten Sie häufig Herzklopfen?Hatten Sie ein Zittern oder Schlottern?Hatten Sie ein Gefühl wie «Magenflattern»?Haben Sie oft starkes Kopfweh?War es Ihnen als ob Ihr Kopf zusammengepresstwürde?Hatten Sie ein Erstickungsgefühloder einen Kloß im Hals?Mussten Sie häufiger Wasser lösen?Spürten Sie Mundtrockenheit?Haben Sie oft einen schweren Kopf?Hatten Sie Verstopfung?Litten Sie unter Blähungen?Hatten Sie Schmerzen / Verspannungenin Schulter und Nacken?Hatten Sie kalte Hände oder Füße?Litten Sie unter vermehrtem Schwitzen?(Bradford Somatic Inventory; BSI)BILD: Eine Familie in Papua-Neuguineasitzt um das Feuer in der Hütte.Leiden die Menschen in ursprünglichenKulturen weniger an Stress?Der obige Fragebogen wurde für die Beschreibungder Depression in der DrittenWelt entwickelt und zeigt, wie stark diepsychische Befindlichkeit mit körperlichenSymptomen verwoben ist. (Mumford 1996)2


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTVier Begriffe: Stress, Strain, Eustress, DistressÜBUNGTragen Sie Beispiele fürStress und Strain zusammen!Stress = äußere Ereignisse undLebensbelastungen.................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Stress ist ein Modewort unserer Zeit.Doch jeder versteht darunter etwas anderes,vom harmlosen Ärger über eine vorübergehendeHektik bis hin zu dauerndenBelastungen, die die Gesundheit schädigen.Unter Stress versteht man einen vorübergehendenoder einen anhaltenden Zustandvon Anspannung und Erregung.Der Stressforscher Hans Selye unterschiedzwischen «Eustress» und «Distress».EustressNeues kann aufregend, herausfordernd,stimulierend sein. Körper und Geist werdengefordert, aber der Mensch genießt dieseHerausforderung (Beispiele: Sport, Abenteuer,Prüfungen). Die Stresshormone erzeugeneinen «Kick», der als anregend erlebtwird. Aus der Holmes-Rahe Skala (S.5) wird ersichtlich, dass auch positive Lebensereignissewie etwa Heirat oder Ferienrecht stressig sein können.Strain = innere Konflikte, Befürchtungen,Kränkungen und belastende Vorstellungen..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................DistressDieses Wort wird für negative Formender Belastung verwendet. Wenn Anforderungenund Konflikte als dauernder Druckerlebt werden, wenn Zeitnot und übermäßigeForderungen verbunden sind mit Kritikund mangelnder Anerkennung; wenn eineSituation auswegslos erscheint — dannwird Stress zerstörerisch.3


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTTrauma und extremer StressWarum kann es nach dem frühen Verlustder Mutter oder nach schweremsexuellem Missbrauch lebenslang zu einerDepressionsneigung kommen? Welches istdie Verbindung zwischen einem emotionalenErlebnis und der Veränderung derNeurobiologie im Gehirn?Cortisol als Zellgift?Manche Forschungen weisen daraufhin, dass die Ausschüttung von Stresshormoneneine toxische Wirkung auf Zellenim Gehirn haben können. Besonders betroffenist dabei das limbische System, indem die Gefühle eines Menschen gesteuertwerden. Hier befindet sich auch der Hippocampus,der eine wichtige Rolle beim Gedächtnisspielt.Die gleichen Hormone, die in einer plötzlichenBedrohung die nötigen Energien mobilisieren,um dem Stress zu begegnen,wirken bei lang dauernder Ausschüttungals langsames Zellgift. Wer ständig unterStress steht, kann weniger gut lernen undneue Gedächtnisinhalte speichern.SENSIBILISIERUNG im GehirnDauerstress führt zu einer Sensibilisierungim Gehirn. Es kommt zu einemKreislauf von Überlastungsgefühlen undErschöpfung, zum Eindruck, nichts mehrim Griff zu haben, zu Gefühlen von SinnundHoffnungslosigkeit – kurz zu einer Depression.Diese ist wiederum begleitet vonkörperlichen Beschwerden.Untersuchungen haben gezeigt, dass derStresshormonpegel bei Depressiven deutlichgesteigert ist, selbst wenn sie sichschon völlig zurückgezogen haben. Adrenalinund Cortisol führen zu dem Gefühlder inneren Unruhe, das für Depressive soquälend ist.Mehr noch: Die Hirnzellen werden aufZellkernebene (DNA und RNA) so umprogrammiert(sensibilisiert), dass es späterschon aus viel kleinerem Anlass wieder zueiner depressiven Phase kommen kann.Bremner J.D. (1999): Does stress damage the brain? BiologicalPsychiatry 45:797-805.Post R.M. (1992): Transduction of psychosocial stressinto the neurobiology of recurrent affective disorder.American Journal of Psychiatry 149:999-1010.Braun K. & Bogerts B. (2001). Erfahrungsgesteuerte neuronalePlastizität. Bedeutung für Pathogenese und Therapiepsychischer Erkrankungen. Der Nervenarzt 72:3-10.Charney D.S. (2004). Psychobiological mechanisms of resilienceand vulnerability: Implications for successful adaptationto extreme stress. American Journal of Psychiatry161:195-216.4


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBelastende Lebensereignisse (Holmes & Rahe)PunkteEreignis / Problem100 Tod eines Ehepartners73 Scheidung65 Trennung vom Ehepartner63 Gefängnisstrafe63 Tod eines Familienangehörigen53 Eigene Verletzung oder Krankheit50 Heirat47 Verlust des Arbeitsplatzes45 Eheliche Aussöhnung45 Pensionierung44 Krankheit in der Familie40 Schwangerschaft39 Sexuelle Schwierigkeiten39 Familienzuwachs39 Arbeitsplatzwechsel38 Erhebliche Einkommensveränderung37 Tod eines Freundes36 Berufswechsel35 Streit in der Ehe31 Aufnahme eines grösseren Kredits30 Kündigung eines Darlehens29 Neuer Verantwortungsbereich im Beruf29 Kinder verlassen das Elternhaus29 Ärger mit angeheirateten Verwandtschaft28 Grosser persönlicher Erfolg26 Anfang oder Ende der Berufstätigkeit der Ehefrau26 Schulbeginn oder -abschluss25 Änderung des Lebensstandards24 Änderung persönlicher Angewohnheiten23 Ärger mit dem Chef20 Änderung von Arbeitszeit und -bedingungen20 Wohnungswechsel20 Schulwechsel19 Änderung der Freizeitgewohnheiten19 Änderung der kirchlichen Gewohnheiten18 Änderung der gesellschaftlichen Gewohnheiten16 Änderung der Schlafgewohnheiten15 Änderung der Häufigkeit familiärer Kontakte15 Änderung der Essgewohnheiten13 Urlaub12 Weihnachten11 Geringfügige GesetzesübertretungenDie amerikanischen AutorenHolmes und Rahe haben eineSkala zusammengestellt, dieLebensereignissen ein Punktzahlzuordnen.Wenn Sie mehr als 120 Punkteerreichen, sind Sie gesundheitlichgefährdet.Quelle: Holmes T.H. & Rahe R.H.(1967): The social readjustment ratingscale. Journal of Psychosomatic Research11:213–218.5


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTKörperliche Symptome von StressDas vegetative Nervensystemkann nicht durch den Willen gesteuertwerden (unwillkürlich).begleitet alle Organe, Drüsen,Gefässe, Muskeln.steuert ihre Funktion (Muskelspannung,Sekretion, Durchblutung).erzeugt unter Stress Beschwerdenohne organisch fassbaren Befund.Das Bild zeigt die wichtigsten Organe,die durch das vegetative Nervensystemgesteuert werden.6


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTFrauenstress - MännerstressFrauen fühlen sich stärker gestressT alsMänner. Dies er-gab eine Studie, die imJahre 2006 von der American PsychologicalAssociation (APA) in Auftrag gegeben wurde.51 Prozent der befragten Frauen gaben an,gestresst zu sein, verglichen mit 43 Prozentder Männer.Frauen spüren - noch eher als MännerStress durch körperliche Symptome. GestressteFrauen fühlten sich oftmals nervös,energielos und dem Weinen nahe.Männer hingegen waren eher gereizt, ärgerlichund neigten zu Schlafstörungen.Frauen suchen öfter eine Behandlungfür ihre Probleme auf und zeigen mehrStörungen, die durch Stress verursachtsind. Männer hingegen sterben häufigeran stress-bezogenen Krankheiten, wie etwaHerzinfarkt.(Quelle: Monitor on PsychologyVolume 37, No. 4 April 2006)Von den Befragten, die sich gestresst fühlten,berichteten> 59 Prozent über Nervosität oder Traurigkeit> 51 Prozent über Erschöpfung> 56 Prozent über Schlafstörungen> 55 Prozent über Interesselosigkeitund Energiemangel> 48 Prozent über Muskelverspannungen> 46 Prozent über Kopfschmerzen> 37 Prozent über zu viel oder zu wenigAppetit> 32 Prozent über Magen- oder Verdauungsprobleme> 29 Prozent über Benommenheit undSchwindel> 26 Prozent über Engegefühle imBrustraum> 23 Prozent über Probleme mit der Libido.Vier Funktionen des vegetativen NervensystemsFunktionRhythmusTonusSekretionDurchblutungFehlregulationBeispieleHerz, DarmperistaltikMuskeln (Atmung, Kehlkopf, Rücken, Blase etc.)Speichel, Darm, SexualorganeHände, Füsse, InnenohrMissempfindungSchmerz, Verspannung, Übelkeit, MagenbrennenSchwindel, Schwächegefühl, Ohrgeräusch etc.7


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTStresskrankheiten - PsychosomatikPsychosomatische Störungensind oftmals Stresskrankheiten.Dabei kann grundsätzlich jedes Organ betroffensein. 40 Prozent aller Arztbesuchewerden durch vierzehn Symptome ausgelöst.Nur 10 bis 15 Prozent davon haben eineorganische Ursache. Häufig durch Stressbedingt oder zumindest durch Stress verschlimmertsind folgende Störungen (immervorausgesetzt, dass eine Untersuchungkeine organischen Befunde ergibt):> Spannungskopfschmerzen, Migräne> Hörsturz, Tinnitus, Schwindel> Stimmverlust (Aphonie)> Herzbeklemmung, Druck auf der BrustHörsturz«Seit seinem Amtsantritt als Stadtpräsidentvon Zürich hat ElmarLedergerber vier Hörstürze erlitten,zum letzten Mal, als er in die aufreibendenVerhandlungen um das ZüricherSchauspielhaus involviert war.Ein Hörsturz ist ein plötzlicher, meistenseinseitig auftretender Hörverlust,der durch eine akute Durchblutungsstörungim Innenohr verursachtwird... Er schließt nicht aus,dass der Stress eines Amtes zu denHör stürzen geführt hat: «Der Jobist zum Teil sehr beanspruchend,und die 80-Stunden-Wochen häufensich».Sein Amtskollege in Winterthurmußte sich unlängst wegen Herzbeschwerdenfür eine Woche in Spitalpflegebegeben.»(aus einer Zeitungsmeldung)> Hautreaktionen, Neurodermitis> Magen-Darm-Störungen> Rückenschmerzen> Fibromyalgie und andere allgemeineSchmerzsyndrome (Somatisierung)> Unterleibsbeschwerden und Verlustvon Libido und Potenz> Schlafstörungen> Allgemeine ErschöpfungCAVE: Es wäre vereinfacht, die obigenStörungen auf die Formel «Stress machtkrank!» zu reduzieren. Oftmals kommt eszu einem komplexen Kreislauf von individuellerSensibilität, äußeren Belastungenund anstrengenden Beziehungen, dieschließlich im Körper eine Reaktion auslösen.Weitere Informationen:aus der Reihe Psychiatrie und Seelsorge:S. Pfeifer: Psychosomatik - Wie können wir die Sprache desKörpers verstehen?8


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTUnser Denken beeinflußt den Stress«Nicht die Dinge selbst beunruhigendie Menschen, sondern dieMeinungen und die Beurteilungenüber die Dinge.»(der griechische Philosoph Epiktet)Das Denken beeinflusst die Biologiedes Körpers. Wie man eine Situationwahrnimmt und wie man sie einordnet,bestimmt die persönliche Bedeutung.Je nachdem resultiert ein völlig unterschiedlichesGefühlsmuster. Depressionund Angst führen zudem zu einer «dunklenBrille», die vermehrt negative Bewertungennach sich zieht.Weitere Informationen:Rüegg J.C.: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn.Schattauer.Charney D.S. (2004). Psychobiological mechanisms of resilienceand vulnerability: Implications for successful adaptationto extreme stress. American Journal of Psychiatry161:195-216.9


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTResilienz - Schutzfaktoren gegen StressWarum zerbricht der eine an seinenLebensbelastungen, während der anderedie gleichen Probleme ohne ersichtlicheStressreaktion meistert? Immer mehrwird in der Forschung die Frage nach denSchutzfaktoren gestellt.Resilienz beschreibt die Fähigkeit, unterStress angemessen zu handeln und die Fähigkeit,sich von Verletzungen und Widrigkeitenzu erholen.Die stärksten Faktoren für dieResilienz eines Kindes sindein unbeschwertesTemperament, dauerhaftefamiliäre Beziehungen,kompetente Bezugspersonen,die Entwicklung von Selbstachtungund ein Gefühlemotionaler Sicherheit.Resilienz bei KindernKindheit muss kein Schicksal sein. SelbstKinder aus armen Risikofamilien haben dieChance, sich zu erfolgreichen und ausgeglichenenErwachsenen zu entwickeln,wie die Langzeitforschungen von EmmyWerner gezeigt haben. In der Folge habenverschiedene Forscherteams Faktoren füreine resiliente Entwicklung herausgearbeitet,die sich gegenseitig unterstützenund fördern:Ein unbeschwertes Temperament:> Die Fähigkeit, Probleme zu lösen.> Gutes Selbstwertgefühl.> Eigeninitiative.> Ein Sinn für Humor.Intelligenz und Bildung> Höheres Intelligenzniveau.> Gute (Aus-) Bildungs-Chancen.Stabile Bezugspersonen> Dauerhafte familiäre Beziehungen> Kompetente, präsente und warmherzigeBezugspersonen.Stabiles Wertesystem> Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft.> Respekt, Fürsorge und Mitgefühl fürandere Menschen.Weitere Informationen:R. Welter-Enderlin: Resilienz. Gedeihen trotz widrigerUmstände. Carl-Auer.M. Rampe: Der R-Faktor. Das Geheimnis unserer innerenStärke. Eichborn.10


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTResilienz entwickelnResilienz bedeutet Widerstandskraftund Durchhaltevermögen in schwierigenSituationen, in Schicksalsschlägen,Bedrohungen und Beziehungsproblemen.Jeder Mensch hat in sich Faktoren, die ihn«resilient» machen - der eine mehr, derandere weniger.Doch Resilienz kann bewusst aufgebautund entwickelt werden. Dies bedeutetnicht ein problem-freies Leben. Oftmalssind es gerade seelische Schmerzenund Verlusterlebnisse, die eine Person inihrer Lebensbewältigung stärker machenkönnen.Ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmt,wie Misserfolge und Lebenskrisenverarbeitet werden. Die neuere Forschungzeigt deutlich, dass der wesentlichste Faktorgute und tragfähige Beziehungen (Familie,Freunde) sind. Dazu kommt natürlichdie eigene Grundhaltung, Problemlöseverhaltenund ein gutes Selbstvertrauen.Hier sind zehn Wege zum Aufbau vonResilienz (*).1. Pflegen Sie BeziehungenGute Beziehungen mit Familie undFreunden sind wichtig. Wer Hilfe und Unterstützungvon Menschen annimmt, diesich um ihn kümmern und ihm zuhören,wird dadurch gestärkt. Jugendgruppe,Hauskreis und andere Gruppen können einegroße Hilfe sein. Wer andern hilft, erlebtauch selbst Unterstützung.2. Krisen sind nicht unüberwindbarAuch wenn Sie einen Schicksalsschlagnicht verhindern können, so können Siedoch beeinflussen, wie Sie die Ereignisseeinordnen und damit umgehen. Krisen werdennicht als unüberwindliches Hindernisgesehen. Der Glaube kann dabei eine wichtigeHilfe sein (Beispiel Hiob). Schauen Sieüber die Gegenwart hinaus.3. Veränderung gehört zum LebenSchwere Erfahrungen gehören zu unseremLeben. Auch resiliente Menschensind vor der Opferrolle nicht gefeit. Nacheiner gewissen Zeit gelingt es ihnen jedoch,anders über die Situation zu denken.Nehmen Sie die neue Lebenssituation an.Indem man das Unveränderliche loslässt,kann man sich auf diejenigen Dinge konzentrieren,die sich ändern lassen.4. Setzen Sie sich ZieleEntwickeln Sie kleine, aber realistischeZiele für jeden Tag. Halten Sie einen geordnetenTagesablauf ein. Streben Sie nichtnach grossen Zielen, sondern fragen Siesich: «Was kann ich heute tun, das michin die Richtung führt, die ich erreichenmöchte?»5. Mutig handelnPacken Sie das an, was zu tun ist. LassenSie sich nicht gehen, in der Annahme,die Dinge lösten sich von allein. Überlegtesund mutiges Handeln gibt Ihnen das Gefühlzurück, wieder selbst am Ruder zu sein undin die Zukunft zu schauen.6. Was kann ich aus der Situation lernen?Viele Menschen haben erlebt, dass siegerade in schweren Ereignissen innerlichgewachsen sind. Sie berichten, dass sie bessereBeziehungen entwickelten, ein größeresSelbstvertrauen, eine vertiefte Spiritualitätund eine neue Wertschätzungfür das Leben.7. Trauen Sie sich etwas zu!Entwickeln Sie ein positives Selbstver-* In Anlehnung an eine Leitlinie der APA, www.apahelpcenter.com11


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTtrauen: Sie können Probleme lösen und dürfenIhrem Instinkt vertrauen – das stärktdie Resilienz.8. Bewahren Sie die richtige Perspektive!Auch wenn Sie durch sehr schwere Erfahrungengehen, so versuchen Sie das Ereignisin einem breiteren Zusammenhang zusehen. Welchen Platz hat es in Bezug aufIhre gesamte Lebenssituation und auf langeSicht? Vermeiden Sie, ein Ereignis übermäßigzu gewichten.9. Geben Sie die Hoffnung nicht auf!Eine optimistische Lebenseinstellungstärkt die Resilienz entscheidend. Es wirdauch in Ihrem Leben wieder bessere Zeitengeben. Leben Sie nicht unter dem DiktatIhrer Ängste, sondern setzen Sie sich neueZiele.10. Achten Sie auf sich selbst!Spüren Sie, was Ihnen gut tut. NehmenSie Ihre Bedürfnisse und Ihre Gefühle ernst.Machen Sie Dinge, die Ihnen Freude bereitenund zur Entspannung beitragen. BewegenSie sich und gehen Sie an die frischeLuft. Wenn Sie im guten Sinne fürsich selbst sorgen, so bleiben Körper undGeist fit und können besser mit den Situationenumgehen, die Durchhaltevermögenund Widerstandskraft brauchen – eben:Resilienz.Der Glaube als Kraftquelle der ResilienzDie eben aufgeführten zehn Punkte zurBildung einer gesunden Resilienz lassensich nicht aus eigener Kraft erreichen. Diepsychotherapeutische Erfahrung zeigt,dass Menschen mit einer tiefen Glaubensbeziehungzusätzliche Kräfte entwickeln.Für gläubige Menschen sind Optimismus,Hoffnung und Perspektive eingebettetin den Glauben. Ihr Selbstvertrauenwächst durch Gottvertrauen und Gebet.Das bewahrt sie nicht vor Zweifelnund Konflikten – aber gerade im Ringenmit Gott kann eine Resilienz heranwachsen,die tiefer greift als jede oberflächlichepsychologische Selbstsuggestion.Raum für Notizen12


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout13


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout - Notbremse der SeeleBurnouT kommt nicht von einem Tagauf den andern. Meist künden sich dieSymptome schleichend an, klopfen nurleise an die Tür, ziehen sich dann am Wochenendewieder etwas zurück, bis einneues Ereignis wie ein Donnerschlag insLeben einbricht.Burnout ist eine körperlicheund emotionaleErschöpfung aufgrunddauernder Anspannung,ständiger sozialerBegegnungen, täglichenStresses.Burnout ist besonderstiefgreifend, wennaufreibende Arbeit unddauernde Belastung vonwenig Anerkennung undmitmenschlicherUnterstützung begleitetsind.Betroffene braucheneindrückliche Bilder:«Wie eine Raketenstufe, dieausgeglüht und nutzlos insMeer fällt.»«Wie ein Haus, das ausgebranntist, aber die Fassadesteht noch.»«Wie ein Marathonläufer inder Wüste. Ich kann wedervorwärts noch rückwärts.»«Wie ein leerer Akku.»«Bankrott: Bei meinem Energiebudgethabe ich dauerndauf Pump gelebt, permanentüberbucht. Ichmuss ein neues Budget machenund abbezahlen.»«Ich fühle mich wie einWolf in der Falle: SchmerzhafteNeuorientierung, dienicht ohne Verluste geht.»14


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUT24 Fragen zur Erfassung von BurnoutWenn Sie mehr als 10 — 12 Fragen mit «Ja» beantworten, so weist dies auf ein Burnout hin:JANEINO O Fühlen Sie sich in letzter Zeit häufig müde?O O Sind Sie körperlich erschöpft, ohne dass sich ein medizinischer Grund findet?O O Fühlen Sie sich manchmal einfach leer, ohne neue Ideen?O O Wächst Ihnen die Arbeit zunehmend über den Kopf?O O Denken Sie oft, dass ihre Mitmenschen schwieriger geworden sind als früher?O O Sind Ihre Gefühle leichter zu verletzen als früher?O O Erleben Sie frühere Herausforderungen im Beruf heute als Strapaze?O O Wirken Sie manchmal gedankenverloren und hören Sie andern nicht zu?Verlieren Sie sich in Tagträumereien?O O Haben Sie den Eindruck, dass sie von Kollegen und Vorgesetzten keineUnterstützung bekommen?O O Sind Sie rasch gekränkt, wenn andere an Ihnen oder Ihrer Arbeit etwasbemängeln?O O Trinken Sie öfter als früher Alkohol, um sich zu beruhigen?O O Haben Sie Ihren früheren Optimismus und Ihr Engagement verloren?O O Haben Sie Mühe mit Veränderungen bei der Arbeit und beim Einsatz neuerTechnologien?O O Gehen Ihnen so viele Gedanken durch den Kopf, dass Sie nicht abschaltenkönnen?O O Möchten Sie manchmal einfach keinen andern Menschen mehr sehen?O O Haben Sie manchmal den Eindruck, es gebe keinen andern Ausweg als denAusstieg aus Ihrem Beruf oder die Kündigung?O O Vernachlässigen Sie Dinge, die Ihnen früher wichtig waren?O O Sorgen Sie sich schon am Tag zuvor, wie es am nächsten Tag wohl bei derArbeit laufen wird?O O Werden Sie vermehrt von Schmerzen geplagt?O O Erleben Sie ein Nachlassen von Lebensfreude oder sexuelle Lustlosigkeit?O O Haben Sie Minderwertigkeitsgefühle, die Sie früher nicht kannten?O O Machen Sie sich Sorgen um Ihre Gesundheit?O O Nehmen Sie vermehrt Aufputschmittel wie etwa Kaffee zu sich?O O Haben Sie den Eindruck, viel zu wenig Zeit für Ihre Familie und für IhreFreizeit zu haben? Entfremden Sie sich Ihren Freunden?O O Leiden Sie an Schlaflosigkeit?zusammengestellt aus verschiedenen Quellen und aus der eigenen klinischen Erfahrung15


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTVier Faktoren bei der EntstehungBurnout ist nicht nur ein Problem derArbeit. Nach klinischer Erfahrung spielenmindestens vier große Faktoren beider Entstehung eines Burnouts mit (vgl.Abbildung). Oftmals schaukeln sich diesegegenseitig hoch und führen dannzum emotionalen Ausbrennen.Fachartikel zum Thema:Maslach C., Schaufeli W.B. & Leiter M.P. (2001): JobBurnout. Annual Review of Psychology 52:397-422.16


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTFaktor 1: ArbeitsplatzOrganisationspsychologische Burnoutforschersehen Burnout in Zusammenhangmit den Arbeitsbedingungen1. WORKLOAD: Überforderung und Zeitdruck.2. Große Verantwortung ohneausreichende Kompetenz.3. Unklare Erfolgskriterien.4. Fehlendes Feedback.5. Mangel an Autonomie / Handlungsspielraum.6. Allgemeine Arbeitszufriedenheit.7. Gefühl ständiger Kontrolle.8. Diskrepanz zwischen humanitärenWerten und Arbeitsalltag.9. Rollenstruktur:> Rollenkonflikte.> Rollenambiguität (ungenaues Berufsbild,unklare Arbeitsziele).> Rollenarmut: wenig motivierendesPotential, gleichförmige Routine, wenigMöglichkeiten zur Selbstentfaltung.10. Fehlende Rückzugsmöglichkeiten.11. Schlechtes Image des Berufs.12. Mangelnde soziale Unterstützung.EINIGE Beispiele«Morgenwill ichdiesen Bericht auf meinem Schreibtisch!Wie Sie das machen,ist mir egal»«Letzten Monathaben Sie wieder 4 Stundenfür Gespräche verwendet, die wir nicht nötigfinden.»«Wir sindzwar ein Pflegeheim, aberunsere Aktionäre wollen Gewinnesehen!»«Pro Tag erwarteich mindestens 11 Patientenkontaktevon Ihnen. Ihre Aufgabe ist die Medikamentenabgabe.Gespräche überlassen Sie andern!»«Lehrersind faule Säcke!»WAS MERKEN KOLLEGENUND VORGESETZTE?> Klagen über Arbeitsunlust und Überforderung> Keine neuen Ideen und Projekte, die diePerson früher auszeichneten> Vermehrt Fehlleistungen und Konzentrationsprobleme.> Negative Grundeinstellung, Dienst nachVorschrift> Widerstand gegen Veränderungen> Weniger Kontakt mit Kollegen> Vermehrt krankheitsbedingte Absenzen> «Innere Kündigung»«Seit diesem Frühjahr bin ich ständigkrank. Mal habe ich ein Grippe,dann fühle ich mich wieder fiebrig,habe leichte Lymphknotenschwellungenoder Halsweh. Der Arzt findetnichts Richtiges. Er hat mich nurgefragt, ob ich viel Stress am Arbeitsplatzhabe. Seit letzten Herbsthaben wir einen sehr forderndenChef. Für ihn zählt nur die Leistung,nicht die Person. Manchmal möchteich am liebsten den Bettel hinschmeissen»17


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTFaktor 2: Privatleben und FamilieLeidet das Privatleben, so reduziert sichauch die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz.Letztlich ist die Arbeit – und sei sienoch so interessant – kein ausreichenderErsatz für erfüllende persönliche Beziehungen,vitalisierende Bewegung und Lebensgenussabseits des Schreibtisches.Folgende Faktoren erweisen sich alsBurnout-fördernde Belastung:> Konflikte mit Partner / Partnerin> Konflikte mit Kindern> Konflikte mit Freunden> Mehrfachbelastungen(Haushalt / Erziehung / Beruf)> Mangel an Kontaktmöglichkeiten> Aufgeben von Hobbys, Musik odersportlichen Aktivitäten> Vernachlässigung des Privatlebens.Der Spillover-EffektEine Studie des deutschen PsychologenJoachim Lask hat gezeigt, dass das Privatlebenmehr zur Arbeitszufriedenheit beiträgtals bisher gedacht. Die Befindlichkeitim Privatleben schwappt also in dieArbeit über (engl. spillover). Einige Befundeder Studie:> 63 % der Befragten gaben an, dasssich der Familienstress auf das Berufslebenauswirkt.> Je intensiver anhaltende Probleme beiKindern bestehen, desto höher ist dieberufliche Belastung in der letztenWoche.> Das Ausmass an Fröhlichkeit bei derArbeit wird von 87 % der Befragtenhauptsächlich auf die Familie zurückgeführt.> Konzentrationsstörungen, Deprimiertheitund Angst am Arbeitsplatz werdenzu über einem Drittel hauptsächlichauf die Familie zurückgeführt.PrivatlebenBurnout – Der private Faktor«Privat geht es nicht so gut. MeineFrau entzieht sich mir, liest am Abendlieber, als sich einen romantischenAbend zu gönnen. Unsere Beziehungist nicht mehr, was sie einmal war.Vor kurzem habe ich gehört, dasssich Freunde von uns scheiden lassen– das macht mir Angst und mein Herzzieht sich zusammen. Dabei wollten wirdoch miteinander glücklich werden.Wir haben Streit über kleine Dinge:eine Einladung; die Dekoration;Geld . . .Vor kurzem ist ein väterlicherFreund von mir gestorben. Das hatmich wirklich getroffen. Er hat mirzu meiner Karriere verholfen und michimmer wieder unterstützt. Jetzt ist ernicht mehr da. Ich bin im Alter, woman an vorderster Front steht.Meine Frau und ich hatten noch garkeine Zeit, so richtig über das zu reden,was uns bewegt. Wir haben versuchtNormalität zu leben; aber unterder Oberfläche brodelt es.»(ein 42-jähriger Manager)Quelle: www.workfamily-institut.de18


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTFaktor 3: PersönlichkeitsmusterDie Persönlichkeitsforschung hat typischeMuster ergeben, die zu einemBurnout führen können.Hier sind einige Hinweise:> Hohes persönliches Engagement imtäglichen Umgang mit anderen Menschen.> Hoher Anspruch an sich selbst: «Ichwill gut sein – Ich will erfolgreich sein– Ich will es den andern zeigen!» –«Geht nicht gibt’s nicht!»> Gefühl der Unentbehrlichkeit: «Ohnemich geht es nicht!»> Hohe Sensibilität für Mitarbeiter undSituationen.> Ethisches Verantwortungsgefühl: «Ichkann sie doch nicht im Stich lassen!»> Schlechte Abgrenzungsfähigkeit.> Labiles Selbstwertgefühl.DAS HELFERSYNDROMHierzu gehören alle Fragen, die sichauf die Biographie, die beruflichen Erwartungenund Ideale der Helfer beziehen. Mangeht davon aus, dass die «Diskrepanz zwischenErwartungen und Wirklichkeit» einengroßen Teil von Burnout ausmacht.Helfer gehen häufig zu idealistisch an ihrenBeruf heran. Zwei Drittel der Altenpflegerinnenzeichnen sich durch einen sehrgrossen beruflichen Idealismus-Wert aus.Personen mit dem Helfersyndrom versuchen,ihr labiles Selbstwertgefühl durch dieAufopferung an eine grosse Aufgabe undder damit verbundenen Dankbarkeit vielerHilfsempfänger zu stabilisieren. NachWolfgang Schmidbauer sind Helfer mit dieserPersönlichkeitsstruktur besonders gefährdet,da ihr emotionelles Defizit und somitihr Bedürfnis nach Zuwendung so grossist, dass es kaum gestillt werden kann.Persönlichkeit. Die Thematik der Helferpersönlichkeitwird im deutschsprachigenRaum hauptsächlich unter demSchlagwort „Helfersyndrom“ diskutiert.TYP-A-VerhaltenTyp A Verhalten ist gekennzeichnet durchfolgende Eigenschaften:> Starke Wettbewerbsorientierung: diszipliniert,tüchtig, verantwortungsbewusst,dominierend, aggressiv, vielleichtsogar feindselig.> Neigung zu extremer Verausgabung:verspannt, überlastet, gestresst, immerin Zeitnot, ungeduldig.> Erhöhte Reizbarkeit und Gereiztheit imZusammenhang mit Kränkbarkeit undTendenzen zu Angst und Depression.> Psychophysisches Risikoverhalten:unregelmässige Ernährung, mangelndeKörperbewegung im Wechsel mitsportlichen Höchstleistungen, wenigkontrollierter Genussmittelkonsum,Schlafdefizite.19


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTFaktor 4: Wenn der Körper nicht mehr mitmachtStress hat nicht nur gesundheitliche Folgen– Gesundheitsprobleme können auchselber zum Stress werden.Körperliche Krankheiten, die mit grosserErschöpfung einhergehen können:> Grippe> Rheumatoides Fieber> Hepatitis> Malaria und andere Infektionen.Auch scheinbare Bagatellunfälle könnensich als grosser Belastungsfaktor erweisen:Eine Muskelzerrung lässt einen altaussehen; eine Handverletzung verhindertdas Musizieren oder das Schreiben.«Gesundheitlichangeschlagen zu seinwird in der Politikals Schwäche eingestuft.Man schleppt sich weiter,solange es geht.»Wenn wir gesund sind, so fühlen wir unssicher in unserem Körper. Fallen einzelneFunktionen aus oder plagen uns Schmerzen,so fällt eine wichtige Stütze weg, dieunser Selbstwertgefühl und unsere Leistungsfähigkeitwesentlich beeinflusst.Die Gesundheit ist ein Geschenk – aberder Mensch kann auch selbst dazu beitragen– durch gesunde Ernährung, durch regelmässigenSport und durch gesunde Lebensgewohnheiten.Neben einem gutenTagesrhythmus ist auch die Bewegungsdisziplinam Arbeitsplatz wichtig: Wer immernur vor dem Bildschirm sitzt, der wirdZitate aus einem Interview mit demdeutschen Politiker Horst Seehofer:«Gesundheitlich angeschlagen zusein wird in der Politik als Schwächeeingestuft. Man schleppt sich weiter,solange es geht. Ich war so weit, dassich den Termin, den ich eigentlichnoch ansteuern wollte, nach Meinungdes Arztes nicht mehr erreichthätte.»«Man hält sich bis zu einer solchenErkrankung für unentbehrlich, auchwenn man das nie öffentlich einräumenwürde. Wenn dann der Blitzeingeschlagen hat, stellt man plötzlichfest, dass das politische Lebenreibungslos weiterläuft, ohne dassman dabei ist.»Der Spiegel 18 / 2006, S. 34sich bald Rückenschmerzen, Augenbrennenund andere Probleme einhandeln.Nehmen Sie bewusst die Treppe undnicht den Lift. Jede Treppe ist eine Chancefür mehr Bewegung!20


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTMüdigkeit und ErschöpfungEin Kernsymptom des Burnout-Geschehenssind Müdigkeit und Erschöpfung.So weit verbreitet ist diese Befindlichkeitin unserer Gesellschaft, dass sie bereitsals Signatur der Epoche gedeutet wird.«Lähmende Gefühle der Erschöpfung undder Unzulänglichkeit gehören zu ihrenErkennungszeichen, verbunden mit derletzten Hoffnung, dass die Medizin dieserUnerträglichkeit abhelfen könne,» schreibtdie ZEIT über die Depression.Körperliche UrsachenDabei fand man bis heute keinen biochemischenMarker für die Müdigkeit. Natürlichgibt es vielfältige körperliche Erkrankungen,die Müdigkeit und Erschöpfungauslösen können, von der Blutarmutbis hin zu Krebsleiden, die in bis zu 80 %der Fälle von großer Müdigkeit begleitetsind, die in der Fachliteratur als «Fatigue»bezeichnet wird.Ein bekannter Fussballspielererkrankt an einem Pfeiffer’schenDrüsenfieber. Monatelang hat erkeine Energie zu Spielen. Er fühltsich minderwertig, geht nicht ansTraining, zieht sich vom Teamzurück. Er schaut Fernsehen undernährt sich von Fast Food. DasÜbergewicht vermindert weiter diesportliche Leistung. Versuche, wiedereinzusteigen, sind enttäuschend.Es beginnt eine Abwärtspirale, die inein Burnout mit einer ausgeprägtenDepression mündet. Dank professionellerHilfe kann er 14 Monate nachseinem Ausfall wieder spielen.Länger dauernde Erschöpfungszuständekönnen auch von Viruserkrankungenverursacht werden. Besonders häufigsind grippe-artige Erkrankungen und dasPfeiffer‘sche Drüsenfieber, das vom Epstein-Barr-Virus(EBV) hervorgerufen wird.Die Bewegung der Selbstverwirklichungund die Leistungsgesellschafthaben dem Menschenneue Lasten auferlegt.Thesen von Alain EhrenbergDas erschöpfte SelbstUm so befremdlicher ist es für die Betroffeneneines Burnouts, dass bei ihnenkeine körperliche Ursache gefunden wird.Ist es möglich – so fragen sie – dass manallein von seelischer Anstrengung derartausge laugt und erschöpft werden kann?Offenbar ja. Die Bewegung der Selbstverwirklichungund die Leistungsgesellschafthaben dem Menschen neue Lastenauferlegt: Bei vielen Frauen sei sie eineunangenehme Nebenwirkung der Emanzipationder letzten vierzig Jahre: Die Erschöpfungund Überforderung des befreitenSelbst.Der heutige Mensch ist zwar freier, aberer trägt schwer an seinen neuen Freiheitenund an seiner Verantwortung. Er kannzwar nicht mehr schuldig werden, aber erkann an den neuen Herausforderungenscheitern und versagen.»Weitere Informationen:Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression undGesellschaft in der Gegenwart. Campus Verlag21


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTVeränderung der PersönlichkeitBurnout trifft nicht selten die begabtestenund engagiertesten Mitarbeiter in einemBetrieb.Neben den bereits genannten Symptomenfällt bei ihnen die Veränderung des Verhaltensbesonders auf, weil es sich so sehr vomfrüheren Einsatz unterscheidet.Folgende Eigenschaften werden beschrieben:in guten ZeitenSchwungvoll, spritzigInitiativ, hat neue Ideen und KonzepteGelassen, geduldig, aufbauendAnpassungsfähig, flexibelMitfühlend, menschen-orientiertDenkt ganzheitlichSetzt Prioritäten, denkt klar undkonzeptuellTeamplayer: gibt sich ins Team einPositive Persönlichkeitseigenschaftensind das«Schmieröl» in derZusammenarbeit einesTeams.im BurnoutVerlangsamt, humorlosLethargisch, resigniert, läßt Dinge schlittern.Gereizt, ungeduldig, fordernd, kritisierendWiderstand gegen VeränderungenSarkastisch, «depersonalisiert», reizbarWirkt ich-zentriert, egoistisch, kümmertsich nicht mehr um das Wohl von Betriebund MitarbeiternBleibt an Nebensächlichkeiten hängen,«sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht»Rückzug: zieht sich zurück und nimmt nichtan gemeinsamen Aktivitäten teil.Gründe für VeränderungenWie die Abbildung auf Seite 23 zeigt, erfolgendie Veränderungen in einem allmählichenKreislauf.Wir können unsere positiven Persönlichkeitseigenschaftennur dann ausleben bzw.zum Einsatz bringen, wenn wir genügendEnergiereserven haben. Diese werden aberdurch einen ständig erhöhten Einsatz zunehmendaufgebraucht. Die Oberfläche von positivemVerhalten wird abgewetzt und lässtnegative Eigenschaften durchbrechen, die zuneuen Problemen führen können.Der verstärkte Einsatz (Stadium 2) raubtKräfte und führt dazu, dass die eigenen Bedürfnissesubtil vernachlässigt werden (Stadium3).Es kommt zu Konflikten im Team oderim Privatleben, die aber mit Ausreden bzw.oberflächlichen Hoffnungen verdrängt werden(Stadium 4).Gerade in Berufen, die Menschen dienensollen, schleicht sich das Gift des Zynismus(Stadium 5) besonders destruktiv ein(«Hauptsache, der Umsatz stimmt!» «We-22


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTDer Burnout-Kreislaufnach Freudenberger & Northnigstens haben wir eine gute Statistik!»).Weil die eigenen Reserven aufgebrauchtsind, kann man auch den anderen Menschennicht mehr mit der nötigen Achtung,Fürsorge und Professionalität begegnen.Diese Werteverschiebung erfordert immermehr «Verleugnungs-Arbeit» – ein kräfte-raubenderDoppelstandard, der schließlichumkippt in resignierenden Rückzugund Abstumpfung.Die betroffene Person verletzt anderemit ihrem Verhalten und macht sich selbstVorwürfe für ihr negatives Verhalten. Studienhaben gezeigt, dass es vom Beginnder ersten Symptome etwa neun Monatebis zum Vollbild eines Burnouts braucht,wenn man nichts dagegen tut.«Die ersten Berufsjahre ging ichunbekümmert mit viel Schwung undBegeisterung an. Ich sprühte geradezuvor Ideen. Glückliche Jahre,in denen ich nicht spürte, wenn ichmich an der Grenze meiner Belastbarkeitbewegte. Es gab auch Probleme,aber weil ich mit einemgesunden Selbstvertrauen ausgestattenwar, mochte ich meiner Seelenicht viel Zeit lassen, darüber nachzudenken.Zu spät merkte ich, dassich zum Beispiel den Sport vermisste,das Spiel und die pure Freude amLeben. Die Droge Anerkennungwirkte und bediente ein Defizit meinerSeele ...»Arne Völkel23


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout bei Lehrpersonen«Wir Lehrerinnen und Lehrersollen für jeden Wunsch derGesellschaft, der Wirtschaftund jedes Problem der Politikein entsprechendes Angebotvorhalten, erhalten aber so gutwie gar keine Unterstützung. »Lehrerinnen und Lehrer gehören zu denBerufen, die am meisten von einemBurnout gefährdet sind. Von der Öffentlichkeiterhalten sie oft nur wenigAnerkennung. Oft fühlen sie sich als«Prügelknaben der Nation»; der früheredeutsche Bundeskanzler bezeichnete sieeinmal als «Faule Säcke». Und das MagazinFACTS schrieb: «Mit Unterstützungim Volk können die Lehrer kaum rechnen.Dort geistert noch das Bild des gutbezahlten Ferientechnikers mit krisensicheremJob herum, der gern jammert.»Verschiedene Studien haben aber gezeigt,wie gestresst Lehrpersonen sind:> In Deutschland erreichen nur ca. 4 %aller PflichtschullehrerInnen die normaleDienstaltersgrenze.> Das Durchschnittsalter für krankheitsbedingteFrühpensionierungen liegtbei ca. 58 Jahren.> Etwa 50% der Frühpensionierten habeni.w.S. eine Erschöpfungsdiagnose.Die Hälfte davon suchte deshalbschon in den ersten fünf Dienstjahrenden Arzt auf!> Jeder zweite Lehrer fühlt sich durchden Stress in seinem Beruf im Übermaßbelastet, jeder dritte zeigt Anzeichenvon Selbstüberforderung undResignation und schwebt in Gefahr,eines Tages auszubrennen und dauerhaftkrank zu werden.Ein Schweizer Lehrer kümmertesich intensiv um einen schwierigenSchüler. Dabei kam er auf 114 StundenEinsatz – fast drei Arbeitswochen.Dazu gehörten Telefongespräche,außerplanmäßige Elternbesuche, Lehrersitzungen,Treffen mit der Schulkommission.Ein Viertel seiner Zeit nahm alleinder Schüler Esteban L. in Anspruch,ein 15-jähriger Albaner. WennEsteban die Schule schwänzte, fuhrer mit ihm zum Arzt, damit der seineGesundheit abklärte. Wenn EstebanMädchen betatschte, führte derLehrer stundenlange Telefone mit denempörten Eltern. Er organisierte fürden renitenten Schüler einen Arbeitseinsatzbei einem Malermeister undmusste anschließend die Arbeiter desBetriebs beruhigen, die sich über EstebansManieren aufregten.Inzwischen ist der Schüler aus derSchule ausgeschlossen worden. DerLehrer aber kann nicht mehr ...24


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTStressoren in der Schule> Desinteressierte und störendeSchüler> Hohe Erwartungen der Eltern> Ständige Schulreformen und Veränderungen> Isolation im Klassenzimmer> Zu viele Projekte> Keine bzw. negative Rückmeldungen> Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten> Verantwortungsgefühl für dieSchüler und Schülerinnen> Vorbereitungsarbeiten in Ferienund Freizeit> Erhöhte Gewaltbereitschaft derSchüler15 Wege zum sicheren Burnout1. Lächeln Sie nicht – Unterricht ist ein ernstes Geschäft!2. Machen Sie alles 150-prozentig – nur der perfekte Lehrer ist ein guter Lehrer!3. Trauen Sie keinem – Kontrollieren Sie alles!4. Zeigen Sie Qualitätsbewußtsein – fordern Sie Leistung!5. Schaffen Sie neue Lehrmaterialien – erfinden Sie das System neu!6. Setzen Sie Prioritäten – die Schule ist das Wichtigste im Leben!7. Bedauern Sie sich und Ihre aussichtslose Lage!8. Decken Sie die Schwachstellen Ihrer Schule auf!9. Lassen Sie nichts ungestraft – finden Sie den Schuldigen!10. Seien Sie nicht nur Lehrer, sondern vor allem auch Erzieher!11. Unterricht allein ist zu wenig, übernehmen Sie Zusatzaufgaben!12. Nutzen Sie das Wochenende und die Ferien zur Unterrichtsvorbereitung!13. Engagieren Sie sich im Freizeitbereich außerhalb der Schule!14. Als Lehrer verdienen Sie zu wenig – schaffen Sie sich einen kleinen Nebenverdienst!15. Setzen Sie sich ein Denkmal – Hinterlassen Sie Spuren!Quelle: www.tresselt.de25


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout bei PflegeberufenAusstiegswünscheLaut einer internationalen Studie (NEXT)denken zwischen 18,5 und 36 % der Pflegendenhäufig daran, aus ihrem Berufauszusteigen. Auch wenn nur ein Teil aufBurnout zurückzuführen ist, zeigt die Studiedoch die schwierigen Arbeitsbedingungenauf, wie etwa unregelmäßige Arbeitszeiten,schwierige Patienten, Zeitdruck,unbefriedigende Organisation und mangelndeAufstiegs-Chancen. 30-50% der befragtenPflegefachkräfte zweier internationalerStudien waren mit ihrer jetzigen Arbeitunzufrieden. 30% – 50% der Befragtenwiesen „Burnout-Scores“ auf, die über denfür medizinische Personen rapportiertenNormwerten lagen.Menschen, die in Krankenhäusern, Altenheimenoder in der häuslichenPflege arbeiten, werden besonders häufigwegen psychischer Leiden krankgeschrieben.Das geht aus Gesundheitsreporten derKrankenkassen hervor (DAK). Die Zahlensind ein wichtiger Indikator für die wirtschaftlicheBelastung von Unternehmen,Krankenkassen und der Gesellschaft durchKrankheitsausfälle.Während 2001 im Gesundheitswesenauf 100 DAK-Mitglieder 158 Arbeitsunfähigkeits-Tagewegen psychischer Störungenkamen, waren es im Handel lediglich80 Tage und in der Datenverarbeitungsogar nur 65 Tage.Magnet HospitalsManche Einrichtungen haben Rekrutierungsprobleme.Dem gegenüber stehensogenannte «Magnet-Spitäler», die überdurchschnittlichattraktiv erscheinen. EineUntersuchung zeigte folgende Eigenschaftenauf:DimensionFührungsstilOrganisationsstrukturManagementstilPersonalplanung &-entwicklungProfessionellesPflegemodellPflegequalitätBeratungund RessourcenEigenschaftenAutonomieLokale AufstellungPflegende als LehrendeImage der PflegeInterdisziplinäreZusammenarbeitProfessionelle Entwicklungfachlich und administrativBildquelle: AOK-Mediendienst26


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTSpannungsfelder der PflegeDie moderne Pflege ist in einem enormenSpannungsfeld. Die Medizin wirdimmer komplexer und erfordert immermehr Fachwissen auf Pflegestufe. Gleichzeitigwird sie immer teurer. Während dieKosten weiter steigen, wurde die Anzahlder Pflegekräfte um 12 bis 14 Prozent abgebaut.Die sinkende Anzahl von Pflegefachkräftenzeigt negative Auswirkungenauf die Pflegequalität.Aufgrund von Personalmangel und einerZunahme der Pflegeintensität und«Kümmern Sie sich optimalum die Menschen − ABER:denken Sie daran, Ihre Arbeitszeitist kostbar und wirmüssen Kosten senken!»-komplexität ist überall ein Anstieg derArbeitsbelastung zu beobachten. Das Berufsbildwird zunehmend weniger attraktivund durch häufige Änderungen der Ausbildungsmodalitätenweiter kompliziert.Teamprobleme und PersönlichkeitDie Strukturprobleme des Gesundheitswesensdürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,dass auch in den Pflegeberufenalle vier Faktoren des Burnoutgeschehenszusammenwirken, also Arbeitsplatz, Privatleben,Persönlichkeitsstruktur und Gesundheitsfaktoren.Ein Begriff, der in der Pflege besondershäufig auftaucht, ist der des MOBBING(vgl. Kasten).Weitere Informationen:B. Schmidt: Burnout in der Pflege. Risikofaktoren –Hintergründe – Selbsteinschätzung. Kohlhammer.Untersuchungen am Institut für Pflegewissenschaft,Universität Basel. http://nursing.unibas.chMobbingDer Begriff leitet sich ab von «mob»(=feindselige Menge) und bezeichnetganz allgemein Handlungen, die von derbetroffenen Person als feindselig, demütigendoder einschüchternd erlebt werden.Die Angriffe dauern über einen längerenZeitraum an und kommen häufigvor. Die betroffene Person sieht sich außerstande,ihnen aus dem Weg zu gehenoder sich angemessen zur Wehr zusetzen.Eine genauere Analyse von Mobbingfällenzeigt oft ein komplexes Geflechtvon eigenen MinderwertigkeitsgefühlenBerufsspezifischeund problematischen Verhaltensweisen,Burnoutprophylaxedie bei andern Teammitgliedern ebenfallsschwierige Abwehrreaktionen auslösen.Schwierige BewertungB. Schmidt schreibt in ihrem Fachbuch«Burnout in der Pflege» folgendes: «Dahinterstehen unsichtbare und schwernachvollziehbare Eigeninteressen. Häufigwerden Verhaltensweisen benutzt,die beide Parteien normalerweise verurteilenwürden, wobei keine Seite die Verantwortungfür die Eskalation übernehmenwill. Ein rationaler Streitpunkt istim fortgeschrittenen Verlauf kaum nocherkennbar. Die Auseinandersetzung erfolgtauf einer emotionalen Basis, aufder sich beide Parteien nicht mehr mitSachargumenten begegnen können.»In der Bewertung von Mobbingvorwürfensolle man sich die Beziehungskonstellationund den Prozess genau ansehen,bevor man Täter-Opfer-Zuschreibungenvornehme. «Meistens sind dieZusammenhänge viel komplizierter undvielschichtiger, als dass man rasch einenSchuldigen finden könnte.»27


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTCompassion Fatigue – SekundärtraumaLeiden an der Not der andernTrauma ist ansteckend. Das Anhörenvon traumatischen Erlebnissen oderdas Mitfühlen mit Opfern traumatischerErfahrungen führt zu ähnlichen Reaktionenwie beim direkt betroffenen Opfer selbst.> Vegetative (körperliche) Übererregung> Intrusion (Sich-Aufdrängen von Bildern,Gefühlen, Ängsten, Tagträumen,Albträumen etc.)> Konstriktion (Rückzug von Beziehungen,Aktivitäten, Freuden des Lebens).In den letzten Jahren wurde vermehrt dasAugenmerk auf die Befindlichkeit derjenigenHelferinnen und Helfer gelegt, diein Kriegs- und Katastrophengebieten imEinsatz sind – Entwicklungshelfer, UNO-Beobachter, Ärzte, Psychologen, Pflegende,– um nur einige Beispiele zu nennen. Siesehen menschliches Leid in seiner extremstenForm, nicht als seltene Ausnahme imfriedlichen Alltag, sondern als «täglichenWahnsinn».Weitere Informationen:www.interhealth.org.ukwww.peopleinaid.orgwww.humanitarian-psy.orgMögliche Auswirkungen> Das Erzählte weckt eigene Erinnerungen.> Das Gehörte löst Bilder aus (in TagoderNachtträumen).> Man wird sich der eigenen Verwundbarkeitbewusst.> Es erschüttert das eigene Grundvertrauenin das Gute; Vorwürfe anGott?> Man hat Gefühle der Wut, der Verzweiflung.Vorwürfe an Polizei, anschlechte Regierung, an alle möglichen«verantwortlichen Leute».Gefahren für die BetreuungVermeidungsverhalten des Therapeuten:Er/sie will nicht mehr von denTraumata hören, obwohl die betroffenePerson darüber reden möchte.Intrusion: Der Therapeut beharrt aufDetails des Traumas, obwohl die betroffenePerson jetzt nicht darüber sprechenwill.Allgemeiner Rückzug: Weil der Therapeutunter Schlafstörungen und Alpträumenleidet, ist er für Anliegen der betroffenenPerson nicht mehr offen.28


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTDie folgenden Symptome wurden vonKrankenschwestern zusammengestellt,die in Südafrika mit freigelassenen Gefangenenin einer speziellen Abteilung fürPsychotrauma arbeiteten.Denken> Verminderte Konzentration> Vermindertes Selbstwertgefühl> Apathie> Zerstreutheit> Perfektionismus, Rigidität> Bagatellisieren> Ständige Beschäftigung mitdem Trauma> Gedanken, sich selbst oder andernetwas zu Leide zu tunGefühle> Ohnmacht, Hilflosigkeit> Angst> Schuld> Zorn / Wut> Überlebensschuld> Abkapselung, Gefühlstaubheit> Traurigkeit, Depression> Stimmungsschwankungen> Erschöpfung> Übermäßige SensibilitätVerhalten> Ungeduld, Reizbarkeit> Rückzug> Launisch> Schlafstörungen, Alpträume> Appetitveränderung> Überwachheit, Schreckhaftigkeit> Verlegen von Dingen (Zerstreutheit)Spiritualität> Infragestellung des Lebenssinnes> Sinnverlust> Verlust der inneren Zufriedenheit undGelassenheit> Durchgehende Hoffnungslosigkeit> Zorn auf Gott> Infragestellung all dessen, was manfrüher geglaubt hat> Verlust des Glaubens an eine höhereMacht, die uns schütztBeziehungen> Rückzug, Isolation, Einsamkeit> Vermindertes Interesse an Zärtlichkeitoder Sex> Misstrauen> Überbehütendes Verhalten gegenüberden Kindern.> Projektion von Zorn und Schuldzuweisung,Intoleranz> Vermehrte zwischenmenschlicheKonflikteKörpersymptome> Schwitzen, Herzklopfen> Atembeklemmung, Schwindel> Schmerzen> Vermehrte Krankheitsanfälligkeit> Häufige körperliche Beschwerden> Verminderte ImmunabwehrArbeit> Wenig Antrieb und Motivation> Vermeiden von Aufgaben> Beharren auf Details> Apathie, Erschöpfung> Negativismus> Mangel an Wertschätzung> Mangelndes Engagement> Teamkonflikte> Vermehrte Abwesenheit> Reizbarkeit> Rückzug von KolleginnenGekürzt nach Pelkovitz, zitiert bei C. Figley.Weitere Informationen:C. Figley, ed.: Treating Compassion FatigueBrunner Routledge 2002.People-in-aid Code of Good Practice - Download von:www.peopleinaid.org29


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout und Stress in der BibelBURNOUT-PROTOTYPEN DER BIBELZwei klassische Beispiele für Burnoutfinden sich bereits im Alten Testament.In beiden Fällen paaren sich Sendungsbewusstseinund Überengagement. Allerdingswaren die Umstände ganz unterschiedlich.Beispiel 1: MoseEr führte das Volk Israel aus der ägyptischenGefangenschaft. In seiner Führungsaufgabewar er ein anerkannter Ratgeberund Richter. Aber er war schlecht organisiert.Sein Schwiegervater Jethro, derihn im Wüstencamp besuchte, erkanntedas sofort:«Als aber sein Schwiegervater alles sah,was er mit dem Volk tat, sprach er: Was tustdu denn mit dem Volk? Warum musst du ganzallein da sitzen, und alles Volk steht um dichher vom Morgen bis zum Abend? ... Es ist nichtgut, wie du das tust. Du machst dich zu müde,dazu auch das Volk, das mit dir ist. DasGeschäft ist dir zu schwer; du kannst es alleinnicht ausrichten.» (2. Mose 18)Beachte: Ausgebrannte Leiter sindnicht nur selbst ermüdet, sondern sie machenauch die Menschen, die sie motivierensollen, müde und setzen sie unnötigenBelastungen aus.Beispiel 2: EliaDer Prophet kämpfte im Auftrag Gottesgegen das diktatorische Regime von Ahabund Isebel, das von einer Propagandatruppefalscher Propheten unterstützt wurde.Endlich gelang ihm der große Durchbruch,der vernichtende Schlag gegen diePriesterkaste und die dramatische BestätigungGottes durch das Einsetzen des langersehnten Regens. Doch Königin Isebel gibtnicht auf, bedroht ihn mit dem Tod undIch versinke in tiefemSchlamm, wo kein Grundist; ich bin in tiefe Wassergeraten, und die Flut willmich ersäufen. Psalm 69,3hetzt ihm ihre Gestapo auf den Hals.Plötzlich verwandelt sich sein Mut inAngst. Eine unendliche Müdigkeit brichtdurch, eine Verzweiflung ungekanntenAusmaßes und das Gefühl von Gott undMenschen verlassen zu sein. Später sagt er:«Ich habe geeifert für den Herrn, denn Israelhat deinen Bund verlassen ... und ichbin allein übriggeblieben, und sie trachtendanach, dass sie mir mein Leben nehmen.»(1. Könige 19)Beachte: In der Erschöpfung scheinenalle bisherigen Werte und Glaubenskräftenicht mehr zu greifen. Es kommt zu einertiefen depressiven Verstimmung, in der alleHoffnung auf Gott, alles Vertrauen in seineLeitung verloren erscheint.Prototypisch ist nicht nur diese emotionaleReaktion der Erschöpfung, sondernauch die darauf folgende Gottesbegegnung:Drei Dinge sind es, die Elia erfährt: 1. Schlafen,2. Essen, und dann wieder Schlafen.Schliesslich führt ihn Gott auf eine 40-tägigeWanderung durch die Einsamkeit derWüste. Und hier kommt es zum drittenwichtigen Element der Begegnung, zumGespräch. Gott macht ihm keine Vorwürfe,aber er gibt ihm einen neuen Auftrag undein neues Gottesbild: Er ist nicht im Sturm,sondern in der Stille.30


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUT«Ausgebrannt für Gott?»Hohes Engagement für andere Menschenist auch im christlichen Umfeld gefragt.Kein Wunder, dass Burnout auchbei Pastoren, Missionaren und kirchlichenEntwicklungshelfern weit verbreitet ist.Ein amerikanischer Pastor schreibt:«Die aktive Gemeinde ist mittlerweilezur Norm geworden und mit ihr der hastigePastor. Es mutet schon fast seltsaman, wenn der Gemeindekalender Lückenaufweist und die Mitglieder sich nicht anmindestens drei oder vier Gruppen aktivbeteiligen. Sogar Unterhaltungen, Sitzungenoder die Anbetungszeiten müssenzügig vonstatten gehen. Die Erwartungender Gemeinde sind hoch aber noch höhersind die Erwartungen, die Pastoren an sichselbst stellen... Diese Überlastung machtesich bei mir auf drei verschiedene Weisenbemerkbar: Viel Zeit für die Gemeinde,sehr wenig Zeit für die Familie und keineZeit für mich selbst.» (Dr. Kirk Byron Jones)Drei Faktoren:a) Hohe Erwartungen der Gemeindegliederan den Pastor (vergleichbar allenHelferberufen): Verfügbarkeit, Einfühlung,Engagement, effektive Beratung,aktive Vermittlungstätigkeit etc.b) Geistliche Erwartungen: Gute Predigten,wohlgesetzte Gebete, geistlicherDurchblick, hohe Standards in der eigenenGottesbeziehung, Vertreten christlicherIdeale und Standpunkte in schriftlicherForm, hohe Ansprüche an die Familie etc.c) Persönlichkeitsfaktoren: Pastoren habenauch hohe Erwartungen an sich selbst.Sie möchten gut sein und leben von derResonanz der Gemeinde. Es kommt zu einerfatalen Mischung aus eigener Suchtnach Anerkennung und dem christlichenSendungsbewusstsein.«Manchmal fühle ich mich wieein verdurstender Wasserschöpfer:jemand, der anderen zu trinkenreicht und darüber selbst auszutrocknenbeginnt. Eine Ursache dafür istein zu eng gesteckter Zeitplan mitzu vielen Terminen und Verpflichtungen.Schwerer wiegt aber, wennman das eigene Auftanken vernachlässigt.Geben kann ich nur, was ichselber zuvor genommen habe. Jesussagt von sich: «Ich bin das lebendigeWasser!» Aus eigener Substanz kannich zwar einiges weitergeben. Dochdie Erschöpfung folgt auf den Fuß,wenn ich es vernachlässige, aus dereinen unerschöpflichen Quelle zutrinken, die mir Christus anbietet.»Aus dem Buch von Arne Völkel: Ausgebrannt fürJesus. Brockhaus 2006.Vorbild Jesus:Ruhen, Beten, FeiernMarkus 6,31: Und er sprach zu ihnen: Gehtihr allein an eine einsame Stätte und ruhtein wenig. Denn es waren viele, die kamenund gingen, und sie hatten nicht Zeit genugzum Essen.Obwohl er seinen göttlichen Auftraghatte und sich mit intensiven Gefühleninvestierte, nahm Jesus immer wieder Zeitzum Ruhen, zur Stille und zum Gebet. DasWegfahren mit dem Boot ist beinahe einSymbol für diese bewusste Distanzierungvon den drängenden Aufgaben und den Erwartungender Menschen.Essen und Feiern: Doch Jesus war nichtnur der entrückte Mystiker. Er feierte mitden Menschen und ermutigte seine Jünger– entgegen den asketischen Pharisäern– mit Freude zu essen und zu trinken.31


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTWir brauchen ErholungLeistung und Effizienz lassen sich nichtbeliebig steigern. Jeder Mensch hat seineLeistungsgrenze, die er mit vernünftigemAufwand erreicht. Doch dann flacht dieKurve ab. Man mag noch so viel zusätzlicheEnergie investieren – das Ergebnis istenttäuschend: Denken und Handeln werdenlangsamer, die Konzentration sinkt.Körperliche Beschwerden machen sich bemerkbar,oder unangenehme Persönlichkeitseigenschaftenim Team. Schließlichneigt sich die Leistungskurve trotz hohenEinsatzes sogar nach unten.Nur wer rechtzeitig aus dieser fatalenKurve aussteigt und wieder auftankt, hatam nächsten Tag wieder die Energie zumEinsatz.Jeder Mensch braucht eine Balance vonArbeit und Freizeit, von Einsatz und Ruhe,von arbeitsbezogenen Kontakten und privatenBeziehungen. Diese Balance nenntman WORK-LIFE-BALANCE.Die Förderung der WORK-FAMILY-BALANCE nützt auchdem Unternehmen.«Vielen Unternehmen ist bewusst geworden,dass im ausserberuflichen Lebenbedeutende Schlüsselkompetenzenerworben werden. ‚Wer den Haushaltschmeißt, qualifiziert sich.‘ Mitarbeitende,die erfolgreich einen Haushaltführen und Kinder erziehen, verfügenüber Kompetenzen wie Kommunikations-und Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit,Belastbarkeit, OrganisationsundPlanungsfähigkeit und Flexibilität.Diese ‚soft skills‘ oder sozialen Kompetenzenwerden als genauso wichtig angesehenwie das fachliche Wissen undKönnen, die ‚hard skills‘.»(Zitate nach einem Vortrag von Urs Klingler, DirectorHR, PriceWaterhouseCoopers, an einer Burnout-Tagungin Zürich 2005).32


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTWork-Life-BalanceGesundheit, ErnährungErholung, Entspannung,Fitness, LebenserwartungKörperSinn/WerteLebenserfüllungAntwort auf grundlegendeFragen,Liebe, Glaube.ZeitBalanceLeistung/ArbeitSchöner Beruf, GeldErfolg, KarriereKontaktFreunde, Familie, ZuwendungAnerkennung> Was ist mir wirklich wichtig? Wo willich meine Schwerpunkte setzen?> Was raubt mir Kraft? Wo verzettle ichmich?> Was will ich erreichen in der Arbeit /in der Zukunft?> Welche Kontakte will ich vermehrtpflegen?> Was tue ich für meine Gesundheit?Habe ich Zeit zum Entspannen, zumWandern, für Fitness?> Welcher Sinn trägt mein Leben?Nehme ich Zeit zum Nachdenken, zurStille, zum Gebet?«Die Kunst des Ausruhensist ein Teilder Kunst des Arbeitens.»Wesentlich für die Vorbeugungvon Stress und psychosomatischenBeschwerden ist eineausgewogene Lebensführung,eine Balance zwischen den viergrossen Bereichen des Lebens. Dienebenstehenden Fragen könnendabei helfen.Weitere Informationen:L. J. Seiwert & B. Tracy: Lifetime-Management. MehrLebensqualität durch Work-Life-Balance. Gabal.33


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout-Vorbeugung am ArbeitsplatzArbeitsbedingungen verändern«Der Ausfall vonLeistungsträgern stelltein hohes unternehmerischesRisiko dar.»Immer stärker werden sich Unternehmenbewußt, dass Mitarbeiter ein «humanesKapital» darstellen. Wichtigster«Rohstoff» seien die Menschen, ihre Kreativität,ihre Ideen, ihre Leistungsfähigkeitund ihre Leistungsbereitschaft. «Hiervonhängt die Wettbewerbsfähigkeit einesUnternehmens ab.» Ein sorgfältiger Umgangmit Menschen fördert das Imageeines Unternehmens.Unternehmen können die Verantwortungfür «Burnout» nicht ausschließlichden Mitarbeitenden delegieren. Verantwortungsbewusste,nachhaltige Unternehmenstellen Konzepte und Maßnahmenbereit, welche den Fitnessgrad derMitarbeitenden aufmerksam überprüfenund wo nötig Einfluss nehmen («caring»).(Zitate nach einem Vortrag von Urs Klingler, DirektorHR, PriceWaterhouseCoopers, an einer Burnout-Tagungin Zürich 2005).Was nützt es, immer nur derjenigenPerson Unterstützung zu geben, die geradeein Burnout hat? Müsste man nichtviel mehr die Arbeitsbedingungen ändern?Burnoutforscher haben diesbezüglichvielfältige Vorschläge zur Burnoutprophylaxein der Organisation zusammengestellt.Hier einige Beispiele:> Festlegung von realistischen undkonkreten Zielen, die eine Effizienzkontrolle,Feedback und die damitverbundenen Erfolgserlebnisse erstmöglich machen.> Verbesserte Planung und Abbau vonZeitdruck.> Vermeidung von Verantwortungsdiffusiondurch Festlegung von Arbeitsinhalten,Zielen und Verantwortlichen.> Verlagerung der Verantwortung inTeams.> Erweiterung der Handlungsspielräume> Teambesprechungen: Zeit für gegenseitigenAustausch sollte gegebensein, so dass sich Teammitglieder gegenseitigunterstützen können.> Schaffung der Möglichkeit eines Sabbatjahresbzw. Sabbatmonate (unbezahlterUrlaub).Große Bedeutung für die Vermeidungvon Burnout hat auch die Aus- und Fortbildung.Unsicherheiten bei neuen Programmenund Konzepten führen zu einem innerenStress, der mehr Energie verbrauchtals die Arbeit selbst. Bei der Ausbildungsollte neben der Vermittlung von Fachwissenund Fertigkeiten auch darauf vorbereitetwerden, wie man mit beruflichenBelastungen umgehen kann.34


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTWie kann man wieder einsteigen?WAS MACHT DIE BEZIEHUNG ZUBETROFFENEN SCHWIERIG?> Die Person fühlt sich isoliert> Sie schämt sich> Sie sieht sich als Versager> Sie ist durch jede kleine Anstrengungund Begegnung sehr erschöpft> Sie wagt sich nicht nach draußen, weilman ihn/sie erkennen / sehen könnte> Begegnung mit Bekannten läßt auslösendeKonflikte wieder aufleben> Angst vor WiedereinstiegWas erleichtert den Einstieg?> Verständnisvolle Vorgesetzte> Anpassung des Arbeitspensums> Dazu stehen, dass man eine Krise hatte> Veränderung der inneren Einstellung> Stufenweiser Aufbau der Leistung> Anpassung der Arbeit an die Grenzendes Betroffenen («Job-fitting»)Spannungsfeld zwischen Selbstschutzund Informationsbedürfnis> Eine offene Mitteilung ist besser alsAusreden> Selbstschutz: keine Details über persönlicheAngelegenheiten> Keine Schuldzuweisungen> Ansprechperson benennen, die denKontakt hältLangfristige PräventionEin Burnout ist als «Weckruf» zu verstehen,als Alarmsignal, seine Grenzen rechtzeitigzu spüren und zu respektieren.> Behalten Sie gesunde Gewohnheitenbei: Schlafen, Essen, Fitness, Lachen.> Pflegen Sie Ihre Beziehungen!> Behalten Sie Ihre Erwartungen im Auge:Sind sie zu hoch oder zu niedrig?> Lassen Sie Unsicherheiten nicht anstehen,sondern klären Sie sie möglichst.> Dämpfen Sie Stress nicht mit untauglichenMitteln: Alkohol, Nikotin,Schmerzmittel, Porno, übermäßigemEssen oder Süßigkeiten.> Sprechen Sie Probleme rechtzeitig mitIhrem Vorgesetzten an.35


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTDie innere Einstellung verändernEine andere Art von HilfeIn der Diskussion um die Vorbeugungund Behandlung von Burnout kommen immerwieder Forderungen nach neuen Strukturenund Empfehlungen von effizienteremZeitmanagement, Vorschläge einer besserenWeiterbildung und Konzepte einer vermehrterBetreuung durch Vorgesetzte. Allediese Dinge sind einem guten Arbeitsklimasicher förderlich und können Burnout zueinem wesentlichen Teil reduzieren helfen.Wesentlicher aber noch ist die Entwicklungeiner neuen Grundhaltung gegenüberLeben und Leistung.Herr, schenke mirdie Gelassenheit, Dingehinzunehmen,die ich nicht ändern kann;den Mut Dinge zu ändern,die ich ändern kann;und die Weisheit,das eine vom andernzu unterscheiden1. DankbarkeitDer Stress-Forscher Hans Selye arbeitetein seinen späteren Jahren an einer «Philosophieder Dankbarkeit». Wie steht es mitIhrer eigenen Dankbarkeit? Da ist so vieles,das uns geschenkt ist, und das wir achtlosfür selbstverständlich nehmen. Aberwir können auch Dankbarkeit bei andernauslösen, schon durch kleine Gesten derFreundlichkeit. Wann haben Sie letztes Maleinem Menschen zugelächelt, einfach so?2. ZufriedenheitDie Werbung unserer Zeit überflutet unsauf allen Kanälen mit neuen Bedürfnissen.Dabei ist letztlich viel weniger zu einemglücklichen Leben nötig, als wir meinen.In der Bibel findet sich folgender Hinweis:«Lasst euch genügen an dem, was da ist.Denn der Herr hat gesagt ‚Ich will dichnicht verlassen und nicht von dir weichen‘.«(Hebr. 13,5)3. AbgrenzungGerade in helfenden Berufen ist die Gefahrdes Helfersyndroms groß. Aber dürfenwir uns den Nöten der Menschen soeinfach verschließen?Wer sich nicht abgrenzt, gerät früheroder später an den Rand seiner Kräfte. Soschadet man nicht nur sich selbst, sonderngerade auch den Menschen, denen man helfenwill. Ein Nein ist oft der einzige Weg,die Energien so einzuteilen, dass sie langfristigverfügbar bleiben.4. BescheidenheitDer bescheidene Mensch muss nicht immerim Vordergrund stehen und nicht immerder Beste sein. Er weiß, dass Gelingennicht nur von seinen Anstrengungen abhängt,sondern aus dem Zusammenspielvieler günstiger Faktoren entsteht – nichtzuletzt auch im Team.5. Spirituelle VerankerungAllein schon der Blick auf den Sternenhimmelmacht uns klein in der Ehrfurchtvor dem Schöpfer – klein nicht im Sinne vonMinderwertigkeitsgefühlen, sondern kleinim Wissen, dass wir Teil eines viel größerenGanzen sind. Wer im Glauben an einegöttliche Führung verankert ist, der gehtmit Gelassenheit durchs Leben.36


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTAnti-Stress-RitualeDen Alltag unterbrechenBurnout-Prophylaxe beginnt im Alltag,nicht erst in den Ferien. Wir müssen alsolernen, den Alltag so zu unterbrechen, dasswir immer wieder neue Kraft schöpfen. DieMediziner Gerd und Kirsten Schnack habendafür den Begriff der «Anti-Stress-Rituale»geprägt. Sie schreiben:«Rituale sind Lichtsignale im täglichenEinerlei, die uns die Richtung zu mehr Gesundheit,Leistung, Elastizität und Ausdauerweisen. Sie bringen eine rhythmischeStruktur ins Leben und bewirken ein achtsamesBewußtsein, das uns in die Lage versetzt,eigenverantwortlich mit unserer Gesundheitumzugehen.»Diese Rituale können ganz unterschiedlichsein: Muskeldehnungen im Bürosessel— ein kurzer Spaziergang zwischen zweiSitzungen — ein Power-Nap über Mittag— einige Minuten der Andacht in der nahegelegenen Kirche.Das Aufsuchen der Stille in Entspannungund Meditation ist oft wirksamer als hektischesportliche Aktivitäten. In solchen Ri-«Ohne Rituale ist das Lebenleer und sinnlos,alles ist nur noch banal,alles dreht sich ausschließlichum Arbeit, Freizeitund Vergnügen.Der Mensch braucht für seineGesundheit etwas,das größer ist als er selbst,er braucht die leuchtende Kraftder Rituale.»C. G. Jungtualen der bewussten Achtsamkeit geht esnicht um Leistung und Anstrengung, sondernvielmehr um ein inneres geistiges undkörperliches Loslassen, ein Fokussieren vonKörper und Geist.37


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTBurnout als ChanceKrisen rütteln auf und können demLeben eine neue Perspektive vermitteln.Drei Chancen sehe ich immer wieder imBurnout:a) Erkennen, dass wir auchwertvoll sind, wenn wir anunsere Grenzen geraten sind.b) Neue Weichenstellung fürdie Gestaltung des Lebens.c) Mehr Verständnis für andereMenschen.In der Krise eines Burnout liegt also eineChance: Eine Burnout-Krise stellt denSelbstwert eines Menschen zutiefst in Frage.Wer bin ich überhaupt, wenn nichts leiste?Es ist ein Geschenk, wenn man tiefereQuellen entdeckt als alle vordergründigenMaßstäbe der Arbeitswelt.Ein Zusammenbruch fordert oft heraus,neue Weichenstellungen für die Gestaltungdes Lebens vorzunehmen – neue Schwerpunkte,neue Inhalte, eine neue Aufgabe.Und schließlich hat so mancher in seinereigenen Krise gelernt, andere Menschenbesser zu verstehen. Wer früher hart imUrteilen war, konnte sich mit einem Malbesser in die Probleme anderer einfühlen.So gesehen kann Burnout auch zu einemNeuanfang werden, der dem Leben eineneue, bessere Wendung gibt.Buchtipp:Ebbe und Flut des Lebens«Von Jesus können wir lernen,dass ständiges Arbeitenkein christliches Idealist. Anstrengung und Entspannung,sich investierenund sich zurückziehen gehörenin unserem Lebenzusammen wie Ebbe undFlut.Diesen natürliche Rhythmusvon Geben und Nehmen,Bewegen und Ruhen,Ausströmen und Einkehrenlehrte Jesus seine Jünger.»Arne VölkelZusammenarbeitvon Seelsorger und ArztUnerklärliche Schmerzen sollten nie nurpsychologisch oder geistlich gedeutet werden.In jedem Fall empfiehlt sich eine engeZusammenarbeit mit einem Arzt, der diekörperlichen Anteile abklären kann.Bei einem «Burnout» ist oft auch eineKrankschreibung notwendig, um einenMenschen zu entlasten, bis die Symptomenachlassen und er wieder einsatzfähigwird. Dabei ist gleichzeitig eine seelsorglicheBetreuung von grossem Wert.F. Flach: In der Krise kommt die Kraft. Das Geheimnisunserer seelischen Ressourcen. Herder.38


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTWas hilft gegen Burnout? – Acht Tipps1. Bedenken Sie, dass jeder Mensch nur begrenzteEnergie hat. Sie können ihrenseelischen Akku schnell herunterfahrenoder aber Ihre Kräfte gezielt einsetzen.2. Bauen sie bewusst Atempausen in denAlltag ein – eine halbe Stunde an die frischeLuft, ein kurzer Spaziergang zumnächsten Park oder vielleicht ein «Power-Nap»zum Auftanken?3. Lernen Sie NEIN zu sagen – freundlich,aber bestimmt! Wenn Sie zuviel geben,reicht die Kraft weder für Sie selbst nochfür die andern.4. Wenn es zu hektisch wird: Halten Sie inneund fragen Sie sich: «Was kann passieren,wenn ich die Arbeit aufschiebe? Sinddie Folgen wirklich so schlimm?» MancheArbeiten erledigen sich von selbst,indem man sie einmal liegen lässt.Was macht es aus, wenn Sie einmal nichtan vorderster Front in perfektem Einsatzstehen? Wenn Sie ausbrennen, dankt Ihnenniemand dafür.5. Setzen Sie Grenzen: Verlagern Sie beruflicheProbleme nicht ins Privatleben.Kein Mensch ist unersetzlich. Aber dieScherben zerbrochener Beziehungenlassen sich kaum mehr nahtlos zusammensetzen.6. Nehmen Sie sich Zeit – etwa für Hobbys,Entspannung, Sport, Musik oder einenlustigen Film. Überprüfen Sie ihren Tagesrhythmus.Sind Sie ein Morgen- oderein Nachtmensch? Passen Sie Ihren Arbeitsalltagan, dann ergeben sich neueZeitfenster!Sei nicht allzu gerechtund allzu weise,damit du dich nichtzugrunde richtest. Prediger 7,16„Ich rate, lieber mehr zukönnen, als man macht,als mehr zu machen,als man kann“. Berthold Brecht7. Spitzenleistungen sind manchmal nötig.Aber Sie dürfen dann auch ein Gegengewichtsetzen: Nehmen Sie sich Zeit,Wochenendarbeit, Jetlags oder Übermüdungauszukurieren. So kommen Siewieder frisch und mit neuen Ideen zurArbeit.8. Wenn Sie den Eindruck haben, der Job macheSie kaputt, so seien Sie konsequent:Haben Sie schon an ein Time-out (Sabbathical)gedacht? Überlegen Sie, ob esSinn machen kann, sich versetzen zulassen, die Stelle zu kündigen oder garden Beruf zu wechseln.Weitere Informationen:W. Küstenmacher & L. Seiwert: Simplify your life.Campus. – M. Grabe: Zeitkrankheit Burnout. Francke–L. Seiwert: Die Bären-Strategie. In der Ruhe liegt dieKraft. Ariston.39


DR. SAMUEL PFEIFER: STRESS UND BURNOUTLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitereInformationen zur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersichtist es jedoch nicht möglich, alle Aspekteausreichend zu beleuchten.Benkert O.: Stress-Depression. Die neueVolkskrankheit und was man dagegentun kann. C.H. Beck.Burisch M.: Das Burnout-Syndrom. Theorieder inneren Erschöpfung, Springer.Cherniss C.: Jenseits von Burnout undPraxisschock. Hilfen für Menschen inlehrenden, helfenden und beratendenBerufen, Beltz.Domnowski M.: Burnout und Stress inPflegeberufen, Kunz Verlag.Flach F.: In der Krise kommt die Kraft.Das Geheimnis unserer seelischen Ressourcen.Herder.Grabe M.: Zeitkrankheit Burnout. Francke.Hagemann W.: Burn-Out bei Lehrern. Ursachen,Hilfen, Therapien. C.H. Beck.Hillert A. & Marwitz M.: Die Burnout-Epi-demie. oder: Brennt die Leistungsgesellschaftaus? C.H. Beck.Kernen H.: Burnout-Prophylaxe im Management,Paul Haupt Verlag.Kretschmann R.: Stressmanagement fürLehrerinnen und Lehrer. Ein Trainingsbuchmit Kopiervorlage, Beltz.Küstenmacher W. & L. Seiwert: Simplifyyour life. Campus.Pfeifer S.: Der sensible Mensch. Lebenzwischen Begabung und Verletzlichkeit.Brockhaus.Pines A.M. u. a.: Ausgebrannt. Vom Überdrusszur Selbstentfaltung, Klett-Cotta.Rush M.: Brennen ohne auszubrennen.Das Burnout-Syndrom − Behandlungund Vorbeugung. Schulte & Gerth.Schnack G. & K.: Anti-Stress-Rituale. Kösel.Seiwert L.J. & Tracy B.: Lifetime-Management.GABAL.Völkel A.: Ausgebrannt für Jesus? WasChristen auslaugt und was sie aufbaut.Brockhaus.Internet-RessourcenAllgemeiner Hinweis: Das Internetist ein kurzlebiges und sehr mobiles Medium.Websites kommen und gehen. Tip-pen Sie deshalb Ihre Frage einfach beiwww.google.de ein und Sie werden aktuelleInformationen finden!Das grösste Lexikon im Netz findet manunter http://de.wikipedia.org.40


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKPSYCHOSOMATIKWIE KÖNNEN WIRDIE SPRACHE DES KÖRPERS VERSTEHEN?3


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKInhaltPsychosomatik in anderen Kulturen.........................................................2Symptome nicht erklärbar ........................................................................3Was ist eigentlich Stress? ..........................................................................424 Fragen zur Erfassung von Burnout ......................................................5Das vegetative Nervensystem ..................................................................6Funktionelle Störungen .............................................................................7Stress und Immunsystem .........................................................................8Deutungen in der Psychosomatik...........................................................10Entstehung - Die Rolle der Kindheit .......................................................11Somatoforme Störungen .........................................................................13Depression und Schmerz .........................................................................14Therapieprogramm bei Rückenschmerzen ............................................17Wetterfühligkeit - Kopfschmerzen ........................................................18Herzbeschwerden ....................................................................................21Hypochondrie und Gesundheitsängste .................................................22Magen-Darm-Störungen .........................................................................23Mund-Nase-Hals (ORL) - Tinnitus und Hörsturz....................................24Asthma und Allergien - Neurodermitis ..................................................26Männerprobleme - Frauenprobleme.......................................................28Chronische Müdigkeit / Fibromyalgie ....................................................31Trauma - der Körper erinnert sich............................................................32Symptome und Beziehung ......................................................................34Psychosomatik in den Psalmen ..............................................................37Was hilft gegen Burnout? ........................................................................39Vom Umgang mit Körpersymptomen ....................................................40Weiterführende Literatur und Internetadressen....................................424


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKDie Sprache des Körpers verstehen lernenhabe immer gedacht, wenn man«Isich nur zusammennimmt, so kannman erreichen, was man will. Aber dannhat mein Körper nicht mehr mitgemacht.»So und ähnlich beginnen viele «psychosomatischeGeschichten».Leib und Seele sind untrennbar miteinanderverwoben. Gefühle werden erst spürbar,wenn sie sich auch in körperlichen Empfindungenausdrücken. Daraus hat sich auchunsere «Sprache des Körpers» entwickelt:Es liegt uns etwas auf dem Magen, eine Notbricht uns das Herz, man spürt Schmetterlingeim Bauch, man könnte weinen vorGlück oder man bekommt kalte Füsse vorAngst.Rund 30 oder mehr körperliche Bildergibt es für menschliche Gefühle in unsererSprache. Auch die Psalmen sind reich anMetaphern, die diesen Zusammenhang unterstreichen.Spaltung zwischen Leib und SeeleWenn der Mensch sich aber nur auf denKörper konzentriert (und die moderne Medizinihn darin noch kräftig unterstützt),dann kommt es zu einer Spaltung zwischenKörper und Seele, die oft zu neuen Problemenführt.Weil psychosomatische Krankheiten injedem Körperteil auftreten können, bildensie ein eigenartiges Schattenland, das nurschwer fassbar ist und sich allen Versuchender Hi-Tech-Medizin entzieht, sie zu lokalisierenund auf Bildern oder Kurven deutlichabzubilden. Ihre Unfassbarkeit sind sowohlihr Kennzeichen als auch Quelle von immerneuem Rätselraten.Dabei ist es auch gefährlich, alle unerklärlichenStörungen einfach als «psychosomatisch»abzutun. Die sieben klassischenPsychosomatosen der 50-er Jahre— rheumatoide Arthritis, Colitis ulcerosa,Bronchialasthma, Neurodermitis, Bluthochdruck,Magengeschwüre und Hyperthyreose— sind heute viel besser erforscht. Oft istes die Krankheit, die psychische Folgen hatund nicht umgekehrt.Andererseits sind wir mit unerklärlichenSymptomen konfrontiert, die die Lebensfreudetrüben, Beziehungen belasten undDie Schmachbricht mir mein Herz,und macht michkrank. Psalm 69,21die Arbeitsfähigkeit vermindern können.Das Seminarheft will Anregungen gebenund auf weitere Literatur verweisen.Ziel der Informationen ist es, sich selbstund betroffene Menschen besser zu verstehenund fachgerecht und einfühlsamzu begleiten.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKPsychosomatik in andern KulturenIn anderen Kulturen werden körperlicheStörungen oft als Beschreibung fürÄngste und Depressionen verwendet. («Estut überall weh — ich fühle mich schwach,obwohl ich nicht arbeite — es ist, als ob eineSchlange in mein Herz beissen würde — wieein grosser Stein auf der Brust — als ob derKopf zerspringen würde» etc.). KlassischeBeispiele finden sich auch in den Psalmen(vgl. S. 34).Die indische Schriftstellerin Chitra BanerjeeDivakaruni (*) beschreibt in ihrenRomanen anschaulich die Körperspracheder Seele:«Tausend Fragen quälen mich, bis ichdas Gefühl habe, als würden in meinemganzen Körper Nadeln stecken.»«Und plötzlich schneidet die Tatsache,dass wir einander verlassen, wie ein Peitschenschlagin mein Fleisch»«Ich denke verzweifelt nach. Mein Kopffüllt sich mit einem Brüllen, wie ein entfernttosendes Feuer. Das Innere meinesMundes ist mit Staub überzogen. Staubziert den Saum meiner Lungen. Er saugtmeine Stimme auf...»FRAGEBOGENWelche der folgenden Beschwerden verspürtenSie in den letzten vier Wochen?Fühlten Sie in letzter Zeit einen Energiemangel?Spürten Sie Schmerzen im ganzen Körper?Fühlten Sie sich müde, auch wenn Sienicht arbeiteten?Hatten Sie Schmerzen auf der Brust odertat Ihnen das Herz weh?Spürten Sie häufig Herzklopfen?Hatten Sie ein Zittern oder Schlottern?Hatten Sie ein Gefühl wie «Magenflattern»?Haben Sie oft starkes Kopfweh?War es Ihnen als ob Ihr Kopf zusammengepresstwürde?Hatten Sie ein Erstickungsgefühl oder einenKloss im Hals?Mussten Sie häufiger Wasser lösen?Spürten Sie Mundtrockenheit?Haben Sie oft einen schweren Kopf?Hatten Sie Verstopfung?Litten Sie unter Blähungen?Hatten Sie Schmerzen / Verspannungenin Schulter und Nacken?Hatten Sie kalte Hände oder Füsse?Litten Sie unter vermehrtem Schwitzen?(Bradford Somatic Inventory; BSI)Der obige Fragebogen wurde für die Beschreibungder Depression in der DrittenWelt entwickelt. (Mumford 1996)* Quelle: Chitra Banerjee Divakaruni: Die Prinzessin imSchlangenpalast. Diana Verlag, München-Zürich.2


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKSymptome nicht erklärbarIn einer Studie bei1000 Patienten, dieein Ambulatoriumaufsuchten, wurdendie körperlichen Beschwerdengenauerabgeklärt. Häufigfand sich keine organischeUrsache.Oft dauerten die Beschwerdenschon jahrelang.(Kroenke & Mangelsdorff1989, Am. J. Medicine)Ursache eindeutig(Prozent)Symptome Organisch Psychogen UnklarBrustschmerz 11 6 83Müdigkeit 13 21 66Schwindel 18 2 80Kopfweh 10 15 75Oedeme 36 0 64Rückenweh 10 0 90Atemnot 24 3 73Schlafstörungen 3 50 47Bauchweh 10 0 90Gefühllosigkeit 19 4 77Impotenz 21 4 75Gewichtsabnahme 5 28 67Husten 40 0 60Verstopfung 0 0 1001. Die Mehrheit körperlicher Symptomein der Hausarztpraxis sind nicht mit einerorganischen Krankheit verbunden.2. Psychologischer Stress oder psychischeStörungen erhöhen die Inanspruchnahmevon medizinischen Leistungenund die Invalidität.3. Faktoren wie die frühe Familienumgebung,frühere Krankheitserfahrungen undspezifische Persönlichkeitsfaktoren könneneine Person dazu disponieren, medizinischunerklärte körperliche Symptomezu entwickeln.4. Je intensiver Patienten in spezifischenmedizinischen Settings abgeklärt werden,desto häufiger entwickeln sie unter StressKrankheiten, die mit unerklärbaren Symptomeneinhergehen.5. Medizinisch unerklärte Symptomesind für einen wesentlichen Teil der Gesundheitskostenverantwortlich.6. Medizinisch unerklärte Symptome habeneinen wesentlichen Einfluss auf dieQualität der Arzt-Patienten-Beziehung.40 Prozent aller Arztbesuche werdendurch 14 Symptome ausgelöst. Nur 10 bis15 Prozent hatten eine organische Ursache.Eine andere Studie hat gezeigt, dass in25 bis 50 Prozent aller Hausarztbesuchekeine ernsthafte medizinische Störungfestgestellt werden konnte. Häufigste Diagnose:«worried well» (= besorgte Gesunde).Patienten mit Depressionen und Ängstenhaben deutlich häufiger medizinischunerklärbare Symptome als Menschen ohnepsychische Krankheit.20 bis 30 Prozent der Hausarztpatientenerfüllen die Kriterien für mindestens einepsychische Störung nach DSM. Rund zweiDrittel von ihnen kommen zuerst mit derKlage von Kopfweh oder Müdigkeit. In rund50 Prozent wird die psychiatrische Diagnosenicht gestellt. (Katon & Walker 1998)3


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKWas ist eigentlich Stress?ÜBUNGTragen Sie Beispiele fürStress und Strain zusammen!Stress = äußere Ereignisse und Lebensbelastungen..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Strain = innere Konflikte, Befürchtungenund belastende Vorstellungen..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Auslöser oder Ursache?Auslöser: Es bestanden schon andereAnspannungen im Vorfeld einer Störung.Das Ereignis ist sozusagen «der Strohhalm,der dem Kamel den Rücken bricht.»Ursache: Ständige Sorgen, dauernde Belastungund mangelnde Erholung führen zueiner Störung.Stress ist ein Modewort unserer Zeit.Doch jeder versteht darunter etwas anderes,vom harmlosen Ärger über eine vorübergehendeHektik bis hin zu dauerndenBelastungen, die die Gesundheit schädigen.Unter Stress versteht man einen vorübergehendenoder einen anhaltenden Zustandvon Anspannung und Erregung.Der Stressforscher Hans Selye unterschiedzwischen «Eustress» und «Distress».EustressNeues kann aufregend, herausfordernd,stimulierend sein. Körper und Geist werdengefordert, aber der Mensch geniesst dieseHerausforderung (Beispiele: Sport, Abenteuer,Prüfungen). Die Stresshormone erzeugeneinen «Kick», der als anregend erlebtwird.DistressWenn Anforderungen und Konflikte alsdauernder Druck erlebt werden, wenn Zeitnotund übermässige Forderungen verbundensind mit Kritik und mangelnder Anerkennung;wenn eine Situation auswegsloserscheint — dann wird Stress zerstörerisch.Das Gehirn schüttet Stresshormone aus,der Körper steht unter Daueralarm, und dashält kein Mensch lange aus.Stress am Arbeitsplatz stellt einehohe Gefahr für die Gesundheit dar. Rundsieben Prozent aller vorzeitigen Pensionierungengehen auf psychischen Stress amArbeitsplatz zurück. Oft spricht man in diesemZusammenhang von «Burnout».Stress macht anfälliger für Unfälle am Arbeitsplatz.In Deutschland rechnet manmit 10.000 vermeidbaren Fällen von Herzinfarkt.Die sozialen Kosten für die Krankenkassenund die Pensionskassen sindimmens.4


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIK24 Fragen zur Erfassung von BurnoutWenn Sie mehr als 10 — 12 Fragen mit «Ja» beantworten, so weist dies auf ein Burnout hin:JANEINO O Fühlen Sie sich in letzter Zeit häufig müde?O O Sind Sie körperlich erschöpft, ohne dass sich ein medizinischer Grund findet?O O Fühlen Sie sich manchmal einfach leer, ohne neue Ideen?O O Wächst Ihnen die Arbeit zunehmend über den Kopf?O O Denken Sie oft, dass ihre Mitmenschen schwieriger geworden sind als früher?O O Sind Ihre Gefühle leichter zu verletzen als früher?O O Erleben Sie frühere Herausforderungen im Beruf heute als Strapaze?O O Wirken Sie manchmal gedankenverloren und hören Sie andern nicht zu? VerlierenSie sich in Tagträumereien?O O Haben Sie den Eindruck, dass sie von Kollegen und Vorgesetzten keineUnterstützung bekommen?O O Sind Sie rasch gekränkt, wenn andere an Ihnen oder Ihrer Arbeit etwasbemängeln?O O Trinken Sie öfter als früher Alkohol, um sich zu beruhigen?O O Haben Sie Ihren früheren Optimismus und Ihr Engagement verloren?O O Haben Sie Mühe mit Veränderungen bei der Arbeit und beim Einsatz neuerTechnologien?O O Gehen Ihnen so viele Gedanken durch den Kopf, dass Sie nicht abschaltenkönnen?O O Möchten Sie manchmal einfach keinen andern Menschen mehr sehen?O O Haben Sie manchmal den Eindruck, es gebe keinen andern Ausweg als denAusstieg aus Ihrem Beruf oder die Kündigung?O O Vernachlässigen Sie Dinge, die Ihnen früher wichtig waren?O O Sorgen Sie sich schon am Tag zuvor, wie es am nächsten Tag wohl bei der Arbeitlaufen wird?O O Werden Sie vermehrt von Schmerzen geplagt?O O Erleben Sie ein Nachlassen von Lebensfreude oder sexuelle Lustlosigkeit?O O Haben Sie Minderwertigkeitsgefühle, die Sie früher nicht kannten?O O Machen Sie sich Sorgen um Ihre Gesundheit?O O Nehmen Sie vermehrt Aufputschmittel wie etwa Kaffee zu sich?O O Haben Sie den Eindruck, viel zu wenig Zeit für Ihre Familie und für IhreFreizeit zu haben? Entfremden Sie sich Ihren Freunden?O O Leiden Sie an Schlaflosigkeit?5


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKDas vegetative Nervensystemkann nicht durch den Willen gesteuertwerden (unwillkürlich).begleitet alle Organe, Drüsen, Gefässe,Muskeln.steuert ihre Funktion (Muskelspannung,Sekretion, Durchblutung).erzeugt unter Stress Beschwerden ohneorganisch fassbaren Befund.Das Bild zeigt die wichtigsten Organe, diedurch das vegetative Nervensystem gesteuertwerden.6


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKVier FunktionenFunktionRhythmusTonusSekretionDurchblutungFehlregulationBeispieleHerz, DarmperistaltikMuskeln (Atmung, Kehlkopf, Rücken, Blase etc.)Speichel, Darm, SexualorganeHände, Füsse, InnenohrMissempfindungSchmerz, Verspannung, Übelkeit, MagenbrennenSchwindel, Schwächegefühl, Ohrgeräusch etc.Funktionelle StörungenVon funktionellen Störungen sprichtman, wenn nicht das Gewebe, sondern dieFunktion eines Organs so sehr verändertist, dass dies als störend wahrgenommenwird.BEISPIELE: Wenn der Magen mehr Säureund gleichzeitig weniger schützendenSchleim für die Magenschleimhaut produziert,so erlebt man dies als Magenbrennen.«Ich mache mir so Sorgen um meinen12-jährigen Sohn. Seine Lehrerinhat kein Verständnis für ihn. Wenn erschlechte Noten macht, dann kann ernicht in die höhere Schule. Jeden Tagmache ich mir Sorgen, was er wohl fürNoten nach Hause bringt. Ich werdedann so angespannt, dass ich ständigaufs Klo muss.»Wenn sich der Rhythmus und die Tiefeder Atmung verändern, dann wird das alsHyperventillation mit Atemnot erlebt, diestarke Angst auslöst (dazu kommen durchdie Veränderung der Blutgase zusätzlicheEffekte wie z.B. Krämpfe in den Muskeln).In den Sexualorganen kann eine mangelhafteSchleimbildung oder eine mangelhafteDurchblutung zu einer empfindlichenStörung des Liebeslebens führen.Funktionelle Magen-Darmstörungenliegen vor, wenn sich beim Verdauen derRhythmus der Darmbewegungen verändert,Enzyme nicht in der richtigen «Dosierung»ausgeschüttet werden, Darminhaltnicht mehr mit der richtigen Menge Flüssigkeitversetzt wird.Am Herzen kann die Veränderung desPulses zum unangenehmen Gefühl vonHerzklpfen führen, das manchmal bis inden Hals oder in die Ohren ausstrahlt.7


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKStress und Immunsystemhirn. Die Botschaft der Abwehrzellen imBlut wird via Vagus an das Gehirn weitergegeben,wo ein Notfallprogramm ausgelöstwird. Im Hypothalamus wird Interleukinausgeschüttet. Ziel ist es, die Kräfte desKörpers ganz auf die Abwehr des Infektsauszurichten.Der Kranke fühlt sich krank, fiebrig, müde,lustlos, verliert den Appetit. Er wird gezwungen,möglichst wenig Stress zu haben,um sich der Aufgabe der Abwehr zuwidmen.Diese Beobachtung erklärt auch, warummanche Menschen nach einer Grippeviel weniger seelische Abwehrkrafthaben und eine schwere Depression entwickelnkönnen.Stress löst im Gehirn eine Kaskadevon Hormonen aus. Im Hypothalamus(einem Zentrum, das eng mitden Gefühlen des Menschen verbundenist) wird das Hormon CRH gebildet. Diesesaktiviert in der Hypophyse die Ausschüttungvon ACTH (Adeno-Corticotropes Hormon),das wiederum die Ausschüttung vonStresshormonen in der Nebenniere (NN)aktiviert.Hier wird für schnelle Wirkungen Adrenalinund Noradrenalin gebildet (im NN-Mark). Dieses verändert innert Sekundendie Durchblutung, erhöht den Puls undbringt den Körper in den Alarmzustand,der notwendig ist, um einer Bedrohung zubegegnen. Als länger wirkendes Hormonschüttet die NN-Rinde das Cortisol aus,das das Immunsystem hemmt.Auch Infektionen bedeuten Stress.Eine Grippe bedeutet nicht nur körperlicheKrankheit, sondern auch Stress für das Ge-Stress kann Fieber auslösenund vermindert die Abwehr. MancheMenschen erleben unter psychischemStress eine Erhöhung der Körpertemperatur;oft haben sie unter Stress vermehrtgrippale Infekte, Angina, Allergien oderEkzeme. Das Gehirn erlebt die psychischenReize wie eine körperliche Krankheit undfördert die Ausschüttung von Cortisol, dasseinerseits die Immunantwort vermindert.Körperliche Krankheit kannpsychische Symptome reduzieren.Aus diesem Grund hat man früherbei Schizophrenie-Patienten Malariakurenangewendet. Der Schock des Fieberanfallsführte (wenigstens für einige Zeit) zumdeutlichen Nachlassen der Psychose.Weitere Informationen:Rüegg J.C.: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn.Schattauer.8


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKFühlen mit dem KörperGefühlGefühle finden nicht nur im Kopf statt.Ja, sie wären gar nicht als Gefühle erlebbar,wenn da nicht die «Begleitmusik»des Körpers wäre. Ohne körperliche Reaktionbliebe nur «ein kalter und neutralerZustand intellektueller Wahrnehmung»(William James).Neuere Forschungen haben gezeigt,dass Neurotransmitter, wie etwa Serotonin,nicht nur im Gehirn ausgeschüttetwerden, sondern auch in den inneren Organen.Heute spricht man in Bezug auf dieEingeweide auch von einem «zweiten Gehirn»(Gershon).Herr B. erlebt die Arbeit im Großraumbüroeiner Bank als stressig: Telefonatein Fremdsprachen, Kollegen platzen herein,Bürokollegen führen andere Gespräche,der Computer stürzt ab. «Wiehaben Sie reagiert?» - «Es beginnt mitMagenkrämpfen. Dann bekomme ichdieses einseitige Kopfweh, fast wie eineMigräne. Und dann muß ich plötzlichaufs Klo. Der Durchfall kommt wie angeworfenund dauert etwa eine Stunde.Wenn es mir dann auch noch schwindligist, kann ich mich nicht mehr konzentrieren.Oft finde ich kaum mehr dierichtigen Worte. Dann macht mir jedesTelefon Angst. Ich habe mich schonmehrmals von der Arbeit abmelden müssen,weil ich den Stress nicht mehr ausgehaltenhabe!»Organisch oder psychisch?Es ist nicht mehr länger sinnvoll zu unterscheidenzwischen organischen Hirnerkrankungenmit veränderter Hirnstrukturund so genannten funktionellen Krankheitenwie Neurosen oder Psychosomatosen.Die moderne Hirnforschung hat gezeigt,dass jeder Gedanke und jedes Gefühl ganzeNetzwerke von Nervenzellen aktiviert.Unser Gehirn verfügt über ca. 10 MilliardenNervenzellen. Jede Nervenzelle hat ihrerseitswieder bis zu 100 Fortsätze, diemit ihren Synapsen Verbindung mit anderenZellen aufnehmen.Jeder Nervenimpuls löst an den Synapsendie Ausschüttung von chemischen Botenstoffenaus, die neue Nervenimpulseerzeugen. Somit ist auch ein Gedanke oderein Gefühl ein chemischer Vorgang.Angstgefühle lösen Stresshormone aus,die Veränderungen der Muskeln und derDurchblutung bewirken. Ein tröstendesWort hingegen führt dazu, dass die Angstgefühlenachlassen und es zu einer Verminderungvon Alarm-Botenstoffen kommt.Somit finden Neurobiologie und Psychotherapieauf zellulärer und molekularerEbene zusammen. Psychotherapie (oderSeelsorge) wirkt nicht nur auf die Seele,sondern auch auf die biologischen Grundlagender Psyche.Weitere Informationen:Damasio A.R.: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken unddas menschliche Gehirn. DTV.9


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKDeutungen der PsychosomatikPsychogeneseDie einseitige Betonung seelischer Ursachenist heute veraltet. Der PsychoanalytikerFranz Alexander behauptete beispielsweise,dass jeder psychosomatischenKrankheit eine spezielle Problemkonstellationzu Grunde liege.So liege der Hauptkonflikt bei Bronchialasthmain der Angst des Kindes, die Zuneigungseiner Mutter zu verlieren. Das asthmatischeGiemen sei nichts anderes alseine Art Weinen, das die Zuwendung derIst die Mutter schuld?In einem psychoanalytischen Lehrbuchfinden sich folgende Gedanken zur Entstehungvon Neurodermitis bei Kindern:«Mütter emotional unterentwickelt –Kinder unerwünscht – Mütter reagierennicht auf Schreien und Tränen derKinder – Mütter berühren ihre Kinderkaum – insgesamt: fehlende mütterlicheZuwendung – Spitz (1967): UngeeigneteMutter-Kind-Beziehung («psychotoxisch»),«Feindseligkeit in Form vonÄngstlichkeit». Mütter infantil bis debil,wenig Hautkontakt, unbewußte Feindseligkeit.»Tabelle: Faktoren, die im modernenVerständnis psychosomatischer Beschwerdenzusammenspielen.Mutter erwirken solle. «Die Mütter asthmatischerPatienten zeigen eine ambivalenteHaltung, die häufig gleichzeitig besitzergreifend,ja verführerisch und ablehnendist.»Finale BetrachtungsweiseIm systemischen und individualpsychologischenDenken wurde die Frage gestellt,welche Bedeutung das Symptom im Konfliktfeldder Familie hat. Welcher Appellliegt im Asthmaanfall, was wiederholt eran früh-kindlichen Interaktionen mit derMutter? Welche Formen bewusster oderunbewusster Botschaften (Symbole) undverdeckter Kommunikationsweisen liegendem Ausbruch einer Allergie in einem Ehekonfliktzugrunde? «Was will eine Personmit ihrem Symptom erreichen?» In dieserForm ist nach heutigem Verständnis dieFrage nicht zu beantworten.Moderne PsychosomatikSie betont die multifaktorielle Entstehungpsychosomatischer Erkrankungen.Körperliches und Seelisches, Anlage- undUmwelteinflüsse, belastende Lebensereignisseund persönliche Verarbeitung spielenineinander und lassen unter Anspannungkörperliche Symptome zum Ausdruck derinneren Not werden. Die «Wahl des Organs»liegt in der ganz individuellen Dispositioneines Menschen begründet.1) Disposition: Individuelle Symptommuster des Körpers2) Persönlichkeit: übermässige Ängstlichkeit, Gewissenhaftigkeit3) Lebensgeschichte: frühe Belastung z.B. durch Jähzorn des Vaters4) Auslösersituationen: z.B. öffentliche Blamage, Streit, Enttäuschung5) Bewältigungsmuster: übermäßige Absicherung, Vermeidung etc.6) Biologische Aspekte: körperliche Krankheit, Immunsystem, Neurotransmitter10


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKWie entstehen die Beschwerden?Die Rolle der KindheitZwei Aspekte der Kindheit können beider Entwicklung von somatoformen Störungeneine Rolle spielen:1. Wie erlebte das Kind den Umgangmit kleineren Schmerzen und Beschwerden?Wurde es sofort zum Arzt geschleppt?Erlebte es nur dadurch Aufmerksamkeit?Wurde es übermässig geschont? Oder wurdees harsch abglehnt und abgewertet?(vier negative Haltungen). Positiv wäre:Wurde es ernst genommen, gleichzeitigaber auch sachlich beruhigt?2. Erlebte das Kind schwere körperlicheoder emotionale Misshandlung?Manchmal kann dies zum Auftreten vonkörperlichen Symptomen führen, die sichnicht organisch erklären lassen. Häufigbei Migranten aus sozial vernachlässigtenSchichten zu beobachten.Vorsicht: Nur aus somatisierendenSymptomen allein kann man nicht ohnezusätzliche Angaben einen Rückschluss aufdas Verhalten der Eltern machen.Es war der Fehlschluss der psychoanalytischenSchulen, dass man selbst bei körperlichenKrankheiten mit psychischen Begleiterscheinungen(wie z.B. Asthma oderNeurodermitis) auf ein schweres Fehlverhaltender Eltern schloss (vgl. S. 10).die genetische Anlage kann beimKind bereits eine somatisierende Reaktionsweisebei seelischen Belastungen vorzeichnen.Gerade bei einer ängstlichenGrundpersönlichkeit sind angstbesetzteKörperreaktionen deutlich gehäuft (Herzklopfen,Enge-gefühl, Schwindel, kalte Füsse,Harndrang usw.)11


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKSchmerzverarbeitung und SymptomUNTERSCHWELLIGE SYMPTOMESIND HÄUFIG:Wir erleben tagtäglich kleinere Beschwerden:Muskelverspannungen, einkleiner Stich im Rücken, ein Schmerz ineinem Gelenk, ein Druck im Kopf.Durchschnittlich erleben wir alle 5 bis 7Tage ein neues Symptom. Da es normalerweisevorübergehend ist, erzählen wir demArzt nichts davon.Diese unterschwelligen Symptome erreichennicht den Grad von Beschwerden,die uns Sorgen machen.SchwelleBewusste WahrnehmungUnterschwellige (kleine)MissempfindungenWANN FÜHREN SYMPTOME ZUMARZT?Psychologischer Stress ist immer mitkörperlichen Symptomen verbunden(Schwitzen, Herzklopfen, rasche Atmung,Stuhldrang etc.). Unser emotionaler Zustanderhält dann mehr «Spitzen», die vonkleineren somatischen Symptomen ausgehen.Es kommt zu einer Fokussierung derAufmerksamkeit auf die Beschwerden. Oftführen die medizinischen Untersuchungenzusätzlich zur Überzeugung, dass es sichum ein körperliches Leiden handelt.Dabei kann es zu einem fatalen Kreislaufkommen: Weil man sich Sorgenmacht, verspannt man sich noch mehr –die Schmerzen nehmen zu – man machtsich noch mehr Sorgen – die Beschwerdenführen zu Einschränkungen – man meldetsich krank – die Schmerzen werdenzum Zentrum ängstlicher Beobachtungund führen zu einer immer stärkeren Umstellungdes Lebens (Vermeiden von normalenBelastungen, ängstliche Rücksichtnahmedurch die Angehörigen, Verzichtenauf Dinge, die früher das Leben schön gemachthaben).DepressionStressSchwelleSchmerz!Die Schwelle der Schmerzempfindungschwankt von Person zu Person, aberauch je nach der Befindlichkeit. Geht eseinem Menschen seelisch gut, so hält ermehr aus, ist er «gestresst», so wird er nichtnur psychisch reizbar, sondern kann auchschneller an die Grenze der Schmerzempfindungkommen.12


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKSomatoforme StörungenStörungstypen1. Funktionelle Störungen:Seelische Spannungen führen zu Funktionsveränderungen(reversibel): z.B.Durchfall, Muskelverspannungen, Schwindel,Hautreaktionen.2. Psychosomatische Krankheiten:Psychische Konflikte führen zu bleibendenOrganveränderungen (z.B. Bluthochdruck,Magengeschwüre, Asthmaetc.). Die moderne Forschung hat diesesKonzept nicht ausreichend belegen können.3. Somatopsychische Probleme:Eine körperliche Krankheit muss seelischverarbeitet werden (z.B. Krebs, Diabetes,Dialyse etc.)Neue BegriffeSomatisierung:«Tendenz, körperliche Beschwerdenund Symptome – ohne Befund – zu erlebenund auszudrücken, sie körperlichenKrankheiten zuzuschreiben und medizinischeHilfe für sie in Anspruch zu nehmen.»(Lipowski)Somatisierungsstörung:Körperliche Symptome im Sinne der früherenHysterie: Kurzatmigkeit, Menstruationsbeschwerden,Brennen in den Geschlechtsorganen,Kloßgefühl im Hals, Erbrechen,Amnesie, Schmerzen in den Gliedmassen.Somatoforme Störungen:«Die Störungen sehen wie körperlichverursachte aus, sind es aber nach demgegenwärtigen Erkenntnisstand nicht.»(Hoffmann)Klassifikation dersomatoformen störungenSomatisierungsstörung (F 45.0)Hypochondrische Störung (F 45.2)Somatoforme autonomeFunktionsstörung (F 45.3)- Herz-Kreislauf- Oberer Gastrointestinaltrakt(Mund, Hals, Speiseröhre, Magen)- Unterer Gastrointestinaltrakt(Darm, Anus)- Atmungsorgane- Urogenitalsystem- Andere OrgansystemeAnhaltende somatoformeSchmerzstörung (F 45.4)Dissoziative Störungen (F 44)Neurasthenie (F 48) nach ICD-10WEITERE BEGRIFFE... die in Fachgebieten außerhalb derpsychotherapeutischen Medizin häufig gestelltwerden und eine deutliche Überlappungmit somatoformen Störungen aufweisen:- Fibromyalgie- Pelvipathie- Chronische Prostatitis (Prostatodynie)- Tinnitus- Spannungskopfschmerz- Schwankschwindel-Attacken- Multiples Somatoformes Syndrom- Depressive Somatisierung- Unfallreaktive Somatisierung- Umweltbezogene Somatisierung(Multiple Chemical Sensitivity)- Chronic Fatigue Syndrome13


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKDepression und SchmerzSchmerz und Depression sind zwei zentraleEmpfindungen. Depression ist stärkeremotionsgefärbt. Chronischer Schmerzwird oft von Depression begleitet. Die Psychodynamikund die Therapie unterscheidensich deutlich trotz Ähnlichkeiten.Definition des Schmerzes«Schmerz» ist eine grundlegend unangenehmeEmpfindung, die dem Körperzugeschrieben wird und dem Leiden entspricht,das durch die psychische Wahrnehmungeiner realen, drohenden oder fantasiertenVerletzung hervorgerufen wird.Schmerz und Selbstwertgefühl– Patient fühlt sich schwach, kompensiertaber durch hohe Leistung.– Stolz auf besondere Leistungsfähigkeit,soziales Ansehen.– Schmerz als Preis der Leistungen (Passivität= Verzicht), aber Wut auf Körper,der versagt.Selbstwertgefühl bei Depression– Schwach, durch Leistungen kaum wirklichkompensiert.– Unerfüllbar hohe Ansprüche (nie gut genug),Aussenseiter.– Depression als Folge des Versagens, Wutauf sich selbst und eigenes Versagen.Azra H., eine 50-jährige Frau aus Ex-Jugoslawienist die einzige, die in den Westengegangen ist. Daheim leben der Ehemann,der als Akademiker einen Hungerlohn verdient,dessen Mutter und zwei Söhne, diebeide im Studium sind. Frau H. soll alleunterstützen.Obwohl sie gelernte Krankenschwester ist,kann sie nur als Zimmermädchen in einemHotel arbeiten, weil ihr Deutsch mangelhaftist. Sie verdient 3000.– SFr., zahlt500.– für die Miete, 500.– für Telefonateund lebt vom absoluten Minimum, um denRest an ihre Familie zu schicken.Beim Heben eines schweren Bettes hat sieRückenschmerzen entwickelt und kannnicht mehr arbeiten. Es folgt ein Kreislauf:Schmerz – Arbeitsunfähigkeit – Angstvor Arbeitslosigkeit – Angst die Angehörigennicht mehr unterstützen zu können– Angst vor Ablehnung und Wertlosigkeit– seelische Verspannung – Depression –Verhärtung der Rückenschmerzen etc.Der Ehemann zum Arzt: «Schauen Sie,dass meine Frau wieder funktioniert. Wirbrauchen sie.»Umgang mit Schmerz– Verleugnung– Schmerzstillung mit allen Mitteln, umleistungsfähig zu bleiben (schmerzhafteBehandlungen!)– Antidepressiva schlecht ertragen– Übereifrig, hyperaktivnach Prof. Dr. med. Peter Keel14


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKPositive und negative DenkmusterErhöhte Schmerzanfälligkeitbei BelastungSchmerzKonditionsverlustSchonungInaktivitätDepressionGefühl derNutzlosigkeitnach KeelVerminderte sSelbstwertgefühlUngünstige Reaktionen(Dysfunktionale Denkmuster)Es sind schreckliche Schmerzen im Nacken!Ich bin in einem schrecklichen LochOb ein Nerv eingeklemmt ist?Ich gerate in eine furchtbare Depression.Es wird immer schlimmerIch rutsche immer tiefer in die Depression.Ich muss zum ArztIch muss wieder Antidepressiva nehmen.Ich muss mich schonen.Ich bin ein Versager, nichts wert.Günstige Reaktionen(Aktive Bewältigung)Ich habe wieder diese Nackenschmerzen,es spannt.Ich bin bedrückt, wie ab und zu.Ich bin verspannt wegen dieser Reise. Ichhabe Angst, etwas könnte schief gehen.Ich bin enttäuscht, weil ich diesen Fehlergemacht habe.Wenn es mir gelingt, mich zu entspannen,wird der Schmerz erträglicher werden.Wenn ich es nicht so tragisch nehme,wird es besser.Ein warmes Bad und ein paar Entspannungsübungenwerden helfen.Am besten erledige ich etwas und verschaffemir einen kleinen Erfolg.Ich sollte wieder regelmässig schwimmengehen.Fehler machen alle, ist nicht schlimm.Ich habe sonst viel Positives erreicht.15


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKWo ist die Grenze?Eine Gefahr des psychosomatischen Denkensliegt darin, dass organische Störungen,die behandelbar wären, als psychischbeurteilt werden. Daraus erklärtsich auch der Widerstand vieler Menschengegen eine seelische Erklärung ihrer Beschwerden.Schmerz ist eine Wahrnehmung, dieletztlich nur der Leidende beschreibenkann. Er lässt sich nicht objektiv messen,sondern nur indirekt aus den Reaktionen(verzerrtes Gesicht, Muskelverspannung)ableiten.Für den Patienten ist Schmerz ein Gefahrensignal.Was steht dahinter? Was mussman abklären? Was kann man tun? DieseFragen sind vom Arzt Ernst zu nehmen.Wenn aber eine gründliche Abklärungkeine Ursache ergibt, so beginnt die Phasedes Umdenkens (vgl. S. 17).Akuter SchmerzSignalGefahrInterpretation: Verletzung / Störung?Chronischer Schmerz?Reaktion: Klärung, Hilfe suchennach KeelENDESchmerz geht vorbeiJaUrsacheklarBehandlungmöglichNeinSchmerz bleibtPhysiotherapieBei chronischen Rücken- und Nackenschmerzenkann die Physiotherapie einenwichtigen Beitrag zur Schmerzbekämpfungleisten. Allerdings geht es nicht nurum passive Massage sondern um folgendeSchwerpunkte:HaltungsschulungEntlastungsstellungenLockerung und Kräftigungder MuskulaturMan geht nicht nur in die Physiotherapie,sondern man erlernt neue Muster derBewegung. Dazu dienen Instruktionen fürein Programm, das zuhause durchgeführtwerden kann.Ganz allgemein wird das Wohlbefindenverbessert durch:Schulung des KörpergefühlsKonditionstrainingFreude an Bewegung16


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKTherapieprogramm bei RückenschmerzZehn Schritte zu einem besserenSchmerzmanagement1. Schaffen Sie eine positive Erwartungshaltungbei Ihren Patienten. Bleiben Siedabei aber realistisch.2. Fokussieren Sie mehr auf die Funktionals auf die Schmerzen. Fragen Sie beispielsweise«Was konnten sie tun?» anstatt «Wiestark sind die Schmerzen?».3. Motivieren Sie die Patienten, aktiv zubleiben und weiterzuarbeiten. GestehenSie ein, dass dies schwierig sein kann.4. Schaffen Sie eine positive Kooperationzwischen Patient, Angehörigen, Arbeitgeberund den Therapeuten. Polarisieren Sienicht.5. Stellen Sie klar, dass die Wahrscheinlichkeit,wieder arbeitsfähig zu werden mitjedem Tag der Arbeitsunfähigkeit sinkt.6. Werden Sie hellhörig, wenn Ihr Patienterst bei «vollständiger Heilung» wieder arbeitenwill.7. Fördern Sie die Selbständigkeit und EigenverantwortungIhrer Patienten.8. Geben Sie lieber zu, die genaue Ursacheder Schmerzen nicht zu kennen, als spekulativeErklärungen abzugeben.9. Vermischen Sie körperliche Symptomenicht mit psychischen Problemen. BedenkenSie aber auch: Eine rein symptomatischeTherapie kann nicht helfen, wennpsychische Probleme nicht angegangenwerden.10. Versuchen Sie den Patienten von Beginnan zu vermitteln, dass der Schmerzbeherrscht werden kann und dass auch mit(leichten) Schmerzen ein normales Lebenmöglich ist.(nach Prof. H. Sprott,Rheumaklinik Universitätsspital Zürich)Lange Abwesenheit von der Arbeit birgtdie Gefahr der Entwöhnung von der Arbeitund Gefahr des Stellenverlustes.Ziele der Therapie:Nicht Schmerzfreiheit, sondern «Lebenmit Schmerz».Aktivierung trotz Schmerz: Belastungsschmerzist ungefährlich.Absprache Unter den Behandlern:Zusammenarbeit von Hausarzt, Spezialisten,Physiotherapeuten.Gleiche Ziele, Koordination der Informationenund Massnahmen.Ein integriertes Therapieprogramm beichronischen Rückenschmerzen: Hintergründe,Prävention, Behandlung; entwickeltvon Prof. Dr. med. Peter Keel.Eine Aktion der FMH (SchweizerischeÄrztegesellschaft).17


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKWetterfühligkeitFöhn, Hitzewellen, drückende Luft, dasplötzliche Einbrechen von Sommergewitternführen bei etwa 30 Prozent zudeutlichem Unwohlsein. Es handelt sichnicht um Einbildung, sondern um eine Reaktiondes Körpers auf atmosphärischeUmweltreize. Wir unterliegen ständig demEinfluss von wechselnder Luftfeuchtigkeit,Temperatur, UV-Strahlung, verändertemLuftdruck und Spherics.Körperliche ReaktionenUnser vegetatives Nervensystem nimmtWetterreize oder plötzliche Luftdruckveränderungenwie eine Antenne auf. UnserOrganismus reguliert dann über Blutkreislaufund Stoffwechsel den notwendigenTemperaturausgleich, um die Kerntemperaturvon etwa 37 Grad zu halten. Erst wennwir schwitzen, frieren oder zittern, nehmenwir etwas von dieser Arbeit bewusst wahr.WetterfühligkeitWir beginnen die eigentlich natürlichenReaktionen des Körpers , die wirsonst kaum wahrnehmen, unmittelbar zuspüren. Das Nervensystem meldet die Anstrengungender Umstellung an das Gehirnweiter. Die Folge: Kopfschmerzen, Müdigkeit,mangelnder Konzentrationsfähigkeitund Schlafstörungen.Bei manchen Menschen können sich bestehendeKrankheiten so verstärken, dasssie zu einem quälendem Leiden werden.Insbesondere ältere Menschen, Herz- undKreislaufkranke, Asthmatiker und chronischeBronchitiker reagieren empfindlich.Man geht aber davon aus, dass der Menschnicht am Wetter erkrankt, sondern die Fähigkeitverliert, durch eigentlich unmerklicheKörperreaktionen mit den natürlichenKlimaveränderungen fertig zu werden.Psychische ReaktionenWetterfühlige Menschen klagen überschlechte Laune, Antriebslosigkeit oderReizbarkeit, obwohl sie sich körperlich gesundfühlen. Je schwieriger die aktuellepsycho-physische Situation eines Menschenerscheint, desto stärker lässt er sichdurch bestimmte Witterungseinflüsse irritieren.Allgemeine Wetterfühligkeit kann einHinweis auf schwelende Krankheitsherdeoder ungelöste seelische Spannungen sein.Spherics«Atmospherics» (Spherics) sind kurzeelektromagnetische Impulse. Luftmassenreiben sich aneinander bis zur elektrischenEntladung. Vor SchlechtwetteroderSchönwetterfronten, wenn kalte undwarme Luft aufeinander treffen und vorGewittern häufen sich die Spherics. MitLichtgeschwindigkeit eilen sie dem eigentlichenWettergeschehen voraus. UnserKörper ist Leiter für elektromagnetischeImpulse und so führen Spherics bei empfindlichenPersonen zu den typischen Symptomen.18


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKKopfschmerzenNicht weniger als 71 Prozent der Bevölkerungleiden an Kopfschmerzen, 27.5Prozent an Migräne und 38.3 Prozent anSpannungskopfschmerzen, 5.6 Prozent ananderen Formen. Oft bestehen Migräneund Spannungskopfschmerzen nebeneinander.Viele Betroffene kennen die Auslöser fürihre Kopfschmerzen. Insbesondere bei derMigräne reichen oft kleine Reize, wie etwaZigarettenrauch oder ein Glas Rotwein, umeinen Anfall auszulösen. Oft spielen auchseelische Spannungen mit.Psychosomatisch besonders bedeutungsvollsind Auslöser wie Erwartungsangst,Entlastung nach Stress, Wochenendeoder innere Zyklen wie etwa die Mensoder der Schlaf-Wach-Rhythmus.Ursachen von KopfschmerzenDas Auftreten von Kopfschmerzenwird bedingt durch eine Erniedrigung derSchmerzschwelle im Gehirn (vgl. S. 12). DieSchmerzschwelle ist auch an anderen Teilendes Körpers erniedrigt.Bei der Migräne werden schmerzverstärkendeund gefäßerweiternde Überträgerstoffe(Neurotransmitter) im Bereich derHirnhäute und Blutgefäße des Kopfes freigesetzt,die den Kopfschmerz verstärken.Kopfschmerz wird zum Notfallbei folgenden Symptomen:− Hohes Fieber− Meningismus (steifer Nacken)− Epileptische Anfälle− Erbrechen− Bewusstseinstrübung, Verwirrtheit− Mydriase (weite Pupillen)− Atmungsstörungen«Letzte Woche hatte ich häufig Kopfweh.Ich weiss nicht, war es der Wetterumschwung,der Kälteeinbruch, oderdie Mens. Ja, und dann habe ich michnoch über eine freche Bemerkung meinerTochter geärgert. Ich habe richtiggespürt, wie der Schmerz vom Nackenhochkroch, und die ganze linke Kopfseitezusammenzog!»systematische Anamnese− Beginn der Kopfschmerzerkrankung− Verschiedene Formen nebeneinander?− Häufigkeit und Dauer− Tageszeitliche Abhängigkeit− genauer Anfallsablauf− Ankündigungszeichen− Neurologische Begleitstörungen (Aura)− Besondere Eigenschaften / Lokalisation?− Begleitsymptome des Kopfschmerzes− Auslösefaktoren− Verhaltensmassnahmen− Bisherige Behandlung− Weitere Erkrankungen, Medikamente− Familienanamnese− Beruf und LebensgewohnheitenDer Schwerpunkt in diesem Heft liegtauf Spannungskopfschmerzen. Mehr Informationüber Migräne findet sich in zahlreichenBüchern und auf vielen Internetseiten.Weitere Informationen:O. Sacks, Migräne. Rowohlt.A. Peikert: Migräne und Kopfschmerzen verstehen -behandeln - bewältigen. Trias.19


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKSpannungskopfschmerzenKopfschmerzdauerSchmerzcharakteristika(mind. zwei)Weitere BedingungenAttackenzahl− unbehandelt 30 Minuten bis 7 Tage; in 40 bis 60 Prozenttritt er episodisch auf, nur in 3 Prozent wird er chronisch.− drückend bis ziehend, nicht pulsierend− übliche Aktivität nicht nachhaltig behindert− beidseitiger Kopfschmerz− körperlicher Aktivität verstärkt Kopfschmerz nicht− keine Übelkeit− kein Erbrechen− von folgenden zwei Symptomen max. eines:Lichtüberempfidlichkeit, Lärmüberempfindlichkeit− zehn vorangegangene Attacken− weniger als 15 Kopfschmerztage pro MonatTherapieSpannungskopfschmerzen sprechen nurunvollständig auf Medikamente an. Meistwird nur eine Verminderung der Kopfschmerzintensitätvon 30 − 50% erreicht.Starke Analgetika wie Opioide sind nichtwirksam, oft jedoch «ganz normale» Mittelwie Aspirin oder Paracetamol. Auch Antidepressivakönnen helfen, weil sie dieSchmerzschwelle heraufsetzen.Nichtmedikamentöse Therapieverfahren(wie etwa Entspannungsübungen, einBad, Massage etc.) sind deshalb elementar.Moderne Migränemittel blockieren dieFreisetzung und Wirkung der schmerz-verstärkendenNeurotransmitter an den Gefässenim Gehirn.Gibt man solche spezifischen Medikamente,so sollten diese langsam einschleichenddosiert werden. Dabei ist auch dieInformation über Nebenwirkungen wesentlich.Medikamenteninduzierter DauerkopfschmerzHäufiges oder täglich konstantes Auftretenvon Kopfschmerzen, die verschlechtertoder induziert werden durch die regelmässigeEinnahme von Schmerzmittelnund/oder spezifischen Migränemitteln.Die einzige Möglichkeit, den medikamenteninduziertenDauerkopfschmerz zubehandeln, ist der Medikamentenentzug!Um Rückfall in die häufige Medikamenteneinnahmezu verhindern, ist nach Entzugregelmässige Nachbetreuung notwendig.20


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKHerzbeschwerdenSitz der GefühleDas Herz ist das zentrale Organ unseresKörpers. Auch wenn wir heute wissen, dasses in erster Linie als Pumpe für die Verteilungdes Blutes im Körper zuständig ist, sozeichnen wir nach wie vor ein Herz, wennwir von Liebe sprechen. Das Herz ist seitJahrtausenden der Sitz der Gefühle.«Herzangstneurose»So nannte man früher Angststörungen,bei denen die Angst um das Herz im Mittelpunktsteht. Angst verursacht nicht dieAussenwelt, sondern die Innenwelt desKörpers: Angst vor einem Herzinfarkt,Angst vor einer anderen Herzkrankheit,oder Angst, «das Herz könnte stehen bleiben.»Wenn eine Person in der Angst einenSchmerz auf dem Herzen und Herzrasenverspürt, so wird dies oft von weiteren vegetativenBeschwerden begleitet (Schwitzen,Mundtrockenheit, kalte Hände undFüsse).Dies löst ein Alarmgefühl aus: Die Betroffenensuchen den Arzt auf, lassen einEKG anfertigen, klammern sich an Bezugspersonenan, geraten in Panik bis hin zu Hyperventillationoder Ohnmacht.Angst vor TrennungEs kommt zu einer Dramatik, häufigin Situationen, wo sich eine Person davorfürchtet, allein gelassen zu werden, beiTrennungen und Verlusten. Ängste könnenauch dann ausgelöst werden, wenn ein Bekannteran einem Herztod gestorben ist.Der Angstanfall kann dazu führen, dassAngehörige um das Leben der betroffenenPerson fürchten. Oft entsteht eine dramatischeAbhängigkeit. «Ich kann meineMutter nicht allein lassen, sonst geht esihr schlecht!»Psychosomatik des Herzens«Das bricht mir das Herz.»«Das wärmt mein Herz.»«Eine Herzensangelegenheit»Was spricht gegen Herzinfarkt?jugendliches Alter (zwischen 30 und45)normales EKGvegetative BegleitsymptomeStress, Verlusterlebnisse, Trennungsängste.drängendes, dramatisches Verhalten.Begleitsymptom bei Stressund DepressionEin Druckgefühl auf der Brust oder einStechen in der Herzgegend wird oft beiStress und Depression beklagt. Die Beschwerdensprechen auf Tranquilizer anund gehen mit der allgemeinen Besserungzurück. Eine Patientin erlebte dieseBeschwerden als «eiserne Faust, die nachmeinem Herzen greift.»«Meine Arbeit ist mir einfach zu anstrengendgeworden. Dazu kommt nochder Haushalt, die Kinder, mein Mann.Aber mein Chef ist so ehrgeizig, der zeigtkein Verständnis. In den letzten Wochenlitt ich immer mehr an Erschöpfung.Jeden Morgen hatte ich Angst, wie eswohl gehen wird. Und dann kam dieserZusammenbruch: Ich kriegte keine Luftmehr, mein Herz raste und ich hatteernsthaft Angst vor einem Herzinfarkt.Ich war panisch. Die Untersuchung inder Poliklinik zeigte aber ein normalesEKG. Dieser Stress macht mich krank!»(eine Chefsekretärin)21


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKHypochondrie / GesundheitsängsteSymptomatikIm Vordergrund steht bei der Hypochondriedie anhaltende Befürchtung, an einerschweren körperlichen Erkrankung zu leiden.Normale körperliche Erscheinungenoder minimale somatische Veränderungen,wie z.B. leicht erhöhter Puls beim Treppensteigen,vorübergehende Verdauungsbeschwerdenwerden als krankhaft eingeschätztund als Belege für diese Krankheitangesehen.Auch ergebnislose medizinische Untersuchungenkönnen den Betroffenen nichtvon dieser Überzeugung abbringen. FehlendeUntersuchungsergebnisse werdenvon den Betroffenen meist als Anzeichendafür gesehen, dass sie an einer bisher unbekanntenKrankheit leiden oder dass derArzt sich irrt.In der Folge werden oft eine ganze Reihevon Ärzten aufgesucht («doctor-shopping»);in manchen Fällen unterziehen sichdie Betroffenen sogar risikoreichen operativenEingriffen, von denen sie sich Hinweiseauf die Ursache ihrer Beschwerdenerhoffen.Generell ist die Abgrenzung zu anderensomatoformen Erkrankungen schwierig.Am ehesten lässt sich sagen, dass beider Hypochondrie das Hauptmerkmal dieFurcht vor einer Krankheit ist, währendbei den anderen Störungen das körperlicheSymptom selbst im Vordergrund steht.EntwicklungVor dem Ausbruch der Erkrankung sinddie Betroffenen meist mit Informationenüber Krankheiten in Kontakt gekommen,z.B. dadurch, dass eine Person aus dem Umfeldschwer erkrankt ist. Oft besteht schonvor Krankheitsbeginn eine hohe psychophysiologischeReaktivität, d.h. zum Beispiel,dass sie auf Reize besonders schnellmit erhöhtem Herzschlag reagieren.Oft wird im Vorfeld über vermehrtenStress oder anstehende Veränderungenberichtet. Unter diesen Umständen führtdie Wahrnehmung körperlicher Erscheinungen,wie unregelmäßiger Herzschlag,Schwindelgefühle, Verdauungsproblemeoder Kopfschmerzen, die als vorübergehendeBeschwerden völlig normal sind, zuder Annahme, dass diese Symptome Zeicheneiner schweren Erkrankung sind.Die Betroffenen beobachten nun ihr körperlichesBefinden sehr genau. HypochondrischePatienten neigen dazu zu «katastrophisieren»,d.h. Ereignisse extrem negativzu bewerten. So sehen sie die wahrgenommenenSymptome nicht als die einzelnenBeschwerden, die sie sind, sondernals Zeichen einer schweren Erkrankung.22


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKMagen-Darm-StörungenAm wohlsten fühlen wir uns, wenn unserVerdauungssystem seinen Dienst stillund leise im Hintergrund tut, ohne dasswir etwas davon spüren.Dabei handelt es sich um ein hochkomplexesSystem, das aus einer leckeren Pizzaall diejenigen Bausteine des Lebens herausholt, die unser Körper zum Funktionierenund unser Gehirn zum Denken braucht.Wir können nur klar denken und uns am Lebenfreuen, wenn unsere Eingeweide klaglosihre Aufgabe erfüllen.Das Reizdarm-SyndromWenn sich aber die Därme verkrampfenund eine Person imperativ auf die Toiletterufen, dann vergehen Lebensfreude undklares Denken. Das Leben reduziert sich aufden Bauch, der ein unheimliches Eigenlebenentwickelt.Funktionelle Magen-Darmstörungenliegen vor, wenn sich beim Verdauen derRhythmus der Darmbewegungen verändert,Enzyme nicht in der richtigen Dosierungausgeschüttet werden, Darminhaltnicht mehr mit der richtigen Menge Flüssigkeitversetzt wird. Die Folgen: unangenehmeKrämpfe, Blähungen, Durchfall oderVerstopfung und letztlich eine deutlicheEinschränkung des Wohlbefindens; nichtselten führen sie auch zu Arbeitsausfällen.Etwa 15 – 20 Prozent der Bevölkerungleiden an einem «Colon irritabile» oder«Reizdarmsyndrom».«Letzthin hatte ich Streit mit meinerMutter. Ständig kritisiert sie mich, weilich meine Kinder nicht richtig erziehe.Ihre Vorwürfe tun mir weh. Ich werdeverspannt und kann nicht mehr richtigschlafen. Mein Magen krampft sich zusammenund ich fühle mich ständig gebläht.»Besonders faszinierend: Im «zweitenGehirn» spielt der gleiche Neurotransmittereine Rolle, der im Gehirn bei einer Depressionaus dem Gleichgewicht gerät: dasSerotonin.Dies erklärt, weshalb Antidepressivanicht nur auf die Psyche, sondern auchauf die Verdauung positive Auswirkungenhaben können (allerdings auch Nebenwirkungen!).Das zweite Gehirn im BauchNeue Forschungen haben gezeigt,dass für die Steuerung der Verdauung ein«zweites Gehirn» zuständig ist. Mit feinstenFasern durchdringt es alle Organe undkoordiniert die komplexe Aufgabe der Verdauung.In unserem Bauch haben wir mehrNervenmasse als im Gehirn!23


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKMund, Nase, HalsDer Bereich von Hals, Nase und Ohrenist reich an Drüsen, Schleimhäuten undOrganen, die durch das unwillkürliche Nervensystemgesteuert werden. Es verwundertdaher nicht, dass dieser Bereich auchbei funktionellen Beschwerden stark betroffensein kann. Es folgen einige klassischeSprachbilder der Körpersprache:Psychosomatik des Mundes«Mir bleibt die Spucke weg!»«Die Zunge klebt mir am Gaumen.»(Psalm 22,16)«Jemanden auf den Zahn fühlen.»Gerade das Austrocknen des Mundeskann gravierende Folgen für den Mundgeruchhaben: Die Bakterien können sichstärker ausbreiten und erzeugen im Verdauenvon Speiseresten Fäulnisprodukte.Zu vermehrter Mundtrockenheit kommtes auch als Nebenwirkung von vielen Psychopharmaka.Psychosomatische Probleme gibt esauch in der Zahnheilkunde. Zahnsanierungenlösen oft nicht die Beschwerden.Psychosomatik der NAse«Ich habe die Nase voll!»«Sie ist verschnupft.»Diese Sprachbilder weisen darauf hin,dass eine vermehrte Produktion von Nasenschleimauch im Zusammenhang mitpsychischen Spannungen auftreten kann.Oft geschieht dies über eine Allergie.Die Beschreibung des Immunsystems(vgl. S. 8) hat gezeigt, dass Menschen unterStress vermehrt anfällig auf Erkältungensind und Beschwerden im Nasen-Rachenbereichentwickeln können (bis hin zu einerSinusitis mit ausgeprägten Kopfschmerzen).Aber auch hier gilt: Keine einseitigenpsychosomatischen Deutungen!Verlust der StimmeEine 40-jährige Lehrerin kann plötzlichnur noch flüstern. «Ich kann mich genauan den Augenblick erinnern. Es warmitten im Unterricht. Eine Schülerinschwatzte wieder. Ich wollte sie zurechtweisen,aber plötzlich versagte mir dieStimme. Ich war schon beim ORL-Facharzt,aber es hat nichts genützt. OhneStimme kann ich nicht unterrichten, janicht einmal telefonieren.»Die Vorgeschichte zeigte mehrere einschneidendeErfahrungen: Tod derSchwester, Unterleibsoperation wegenBlutungen, Schlaganfall des Vaters, Zerbrucheiner längeren Beziehung. Bereitsvor 20 Jahren hatte sie anlässlich derPrüfungen während drei Monaten dieStimme verloren.Psychosomatik der Stimme«Es verschlug ihm die Sprache.»Das kann bei einer Überraschung einmalgeschehen, doch in Kürze findet sichdie Fähigkeit zum Reden wieder. Andersbei einer Aphonie (Stimmverlust), wo diebetroffene Person nur noch flüstern kann.Psychosomatik der Kehle«Es schnürt mir die Kehle zu.»«Probleme herunterschlucken.»«Mir platzt der Kragen.»Besonders häufig wird gerade währendeiner Depression ein Globusgefühl inder Kehle beklagt («wie ein Kloss im Hals»).Dies läßt sich durch eine vermehrte Anspannungder Muskeln im Bereich des Kehlkopfeserklären. Das Symptom vergeht mitdem Abklingen der Depression.24


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKTinnitus und HörsturzHörsturzSeit seinem Amtsantritt als Stadtpräsidentvon Zürich hat Elmar Ledergerbervier Hörstürze erlitten, zum letzten Mal,als er in die aufreibenden Verhandlungenum das Züricher Schauspielhaus involviertwar. Ein Hörsturz ist ein plötzlicher,meistens einseitig auftretenderHörverlust, der durch eine akute Durchblutungstörungim Innenohr verursachtwird... Er schliesst nicht aus, dass derStress eines Amtes zu den Hör stürzengeführt hat: «Der Job ist zum Teil sehrbeanspruchend, und die 80-Stunden-Wochen häufen sich».Sein Amtskollege in Winterthur, ErnstWohlwend, mußte sich unlängst wegenHerzbeschwerden für eine Woche in Spitalpflegebegeben.(aus einer Zeitungsmeldung 2002)TinnitusTinnitus ist ein Geräusch im Ohr, dasoft als hohes Pfeifen, Klingen oder Piepsenwahrgenommen wird.Ursachen: Durchblutungsstörung inder Hörschnecke, Anspannung der glattenMuskulatur, die die «Saiten» im Hörorgananspannt; raschere Entladung von Signalen,auch ohne äussere Gehörsreize.Unterscheiden:Tinnitus als Krankheit im engerenSinne, geht oft einher mit psychischemLeiden durch das dauernde Ohrgeräusch.Eine psychosomatische Ursache ist hiernicht gesichert.Tinnitus als Ohrenklingen, das unterStress deutlich stärker wird und als ein Signalzum Erkennen von psychischer Überbeanspruchungbzw. Arbeitsüberlastungdienen kann.Eine Studie ergab bei Patienten mit Tinnituseine erhöhte Neigung zur psychosomatischenSymptombildungweniger gut ausgeprägte Stressbewältigunggehäufte Überlastungen bei der Arbeitund im familiären Umfeld.«Ich habe gemerkt,dass es mir aufs Gehör schlägt,wenn ich mir zu viel zumute.Der Hörsturz war deshalb wie einWarnschuss.»SchwindelSchwankschwindel kann unterseelischem Stress auftreten. Die betroffenePerson hat den Eindruck, der Bodenbewege sich unter ihr und der Raum drehesich um sie. Erklärbar ist das Phänomenals eine Durchblutungsstörung im Gleichgewichtsorgan.Der Schwindel führt zu ausgeprägterAngst und als Folge zu Vermeidensverhalten.Oft ist die Arbeitsfähigkeitdeutlich eingeschränkt, die sozialen Kontaktewerden reduziert. Seelische Aufregungenkönnen wieder zu den gefürchtetenSchwindelanfällen führen.Umgang: Entlastung, Beruhigung,Überprüfung des Lebensstils.25


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKAsthma und AllergienAsthma ist die erhöhte Empfindlichkeitder Atemwege gegen verschiedenartigeReize (Hyperreagibilität) und eine Behinderungder Atmung, die entweder spontanoder als Folge von Behandlung variabel ist.Biologische GrundlagenDie Auskleidung der Bronchien ist einekomplexe und empfindliche Welt für sich.Staubpartikel werden aus der Luft gefiltertund wieder nach draussen geschafft.Gefährliche Stoffe oder Erreger werdendurch Immunzellen aufgespürt und unschädlichgemacht. Für diese Aufgabenverfügen die Bronchien über ein ausgeklügeltesSystem von Schleimzellen, feinstenHärchen und eine Armada von Immun-Abwehrstoffen. Asthma ist letztlich einechronische Entzündung mit Immunzellen.Jede Verdickung der Schleimhaut verengtdie Öffnung der Bronchien und erschwertdas Atmen. Es kommt zum typischenGiemen und zum Gefühl, keineLuft zu bekommen, was mit starkenAngstgefühlen verbunden sein kann.«Um den Asthma-Anfall war ich dochrecht froh. Mein Freund wollte mit mirnach Prag reisen, aber mir war bei demGedanken einfach nicht wohl. Ich kamzunehmend in eine Enge und konntenicht mehr richtig atmen. Als er gemerkthat, wie schlimm es war, hat er es verstandenund wir haben die Reise abgesagt.»Alles psychisch?Es wäre zynisch und fachlich unkorrekt,jedes Asthma auf psychische Konflikte zurückzuführenoder Asthma-kranken Menschenein verdecktes Ziel zu unterstellen.Allerdings können seelische Spannungendie bereits vorhandene körperliche Anlageder Asthmaneigung anregen und zu einerSchwellung der Bronchialschleimhautund damit zu einem Asthma-Anfall führen.Psychische AuslöserNicht nur physische Reize, sondern auchpsychische Auslöser – unterdrückter Ärgeroder zwischenmenschliche Konflikte– können eine asthmatische Symptomatikhervorrufen. Es handelt sich nicht umdie ursache, sondern um Auslöser.Psychische KonditionierungDie Verbindung von Leib und Seele kannallerdings auch ungewöhnliche Folgen haben.So erlitt ein Patient einen allergischenAnfall, als er im Winter im Fernsehen einwogendes Getreidefeld sah. Es handeltesich also um einen konditionierten Reflexin Abwesenheit eines Allergens. In seinemGedächtnis war offenbar das Bild desGetreidefeldes eng vernetzt mit dem somatischenReaktionsmuster eines allergischenAnfalls.26


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKNeurodermitisDer Name sagt es schon: Bei der Neurodermitis– auch endogenes Ekzem oderatopische Dermatitis genannt – spielendie Nerven eine wichtige Rolle.Biologische GrundlagenDie überempfindliche Haut reagiert aufAllergene und andere Reize mit Rötung,Entzündung, ausgeprägtem Juckreiz undSchmerzhaftigkeit.Durch das Kratzen wird der Juckreiz vorübergehendgelindert, aber es kommt zueiner weiteren Schädigung der Haut mitblutigen, schuppigen Schrunden. Oftmalsist durch den Juckreiz das Wohlbefinden,der Schlaf sowie die Konzentrationsfähigkeitdeutlich eingeschränkt.Rein biochemisch handelt es sich um eineallergische Störung der Immunabwehr.Die krankhafte Ausschüttung von Immunglobulinenund Histaminen erweitert dieBlutgefässe und reizt die Schmerzsensorenin der Haut. Als Trigger reichen oftschon kleine Reize (Nahrungsmittel, Kosmetika,Gewebe, Schmuck).Psychische FaktorenViele Patienten kennen psychische Zusammenhänge:«Immer wenn ich vor einerPrüfung stehe, dann verschlechtert sichdie Haut», oder «Damals als mein Vaterstarb, ist es zum ersten Mal gekommen.»Emotionale Spannungen können einenneuen Schub auslösen, eine allgemeineEntspannung kann fast schlagartig zu einerunerwarteten Besserung führen.Als Auslöser beobachtet man nicht nurgrosse Lebenskonflikte, wie etwa Prüfungen,Umzug oder Trennung, sondernauch kleine Alltagsärgernisse, denen sichdie betroffene Person hilflos ausgeliefertfühlt.«Schon als Kind litt ich ständig unterHautausschlägen. Es juckte schrecklichund oft kratzte ich mich völlig wund.Meine Mutter hat mich zu unzähligenHautärzten und Heilpraktikern gebracht,aber es hat nicht viel geholfen.Oft fühlte ich mich schuldig, dass ich ihrso viel Mühe machte. Nach der Pubertätwurde meine Haut viel besser. Aber vorzwei Monaten, als mein Freund mit mirSchluss machte, da trat das Ekzem in allerHeftigkeit wieder auf.»Belastung der Mutter-Kind-Beziehung durch ein EkzemKinder leiden besonders und bringenmit ihrem Kratzen und Schreien dieMutter oft an den Rand ihrer Kräfte. Oftkommt es zu einem belastenden Kreislaufzwischen dem leidenden Kind und der erschöpftenMutter, die durch ihren Ärgeroder die eigenen Schuldgefühle wiederneue Spannungen erzeugt (vgl. S. 33)Psychosomatik der Haut«Das geht mir unter die Haut.»«Sie ist dünnhäutig»«Es ist zum Aus-der Haut-fahren!»Psychische Belastungdurch ein EkzemDie schuppende und gerötete Haut wirdals hässlich erlebt. Die Angst vor sozialerAblehnung führt zu Vermeidensverhaltenund zum sozialen Rückzug.Juckreiz und Schmerz stören den Schlafund können durch die Müdigkeit zu beruflichenProblemen führen. Juckreiz undHautausschläge stören oft auch die Partnerschaftund die Sexualität.27


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKMännerproblemeSexuelle Potenz ist naturgemäss ein besonderswichtiger Bereich des Mannes.Lust und Frust liegen nahe beieinander.Die Sexualfunktion ist wie kaum einanderer Ablauf im Körper abhängig voneinem ausgewogenen Funktionieren desvegetativen Nervensystems, das sich nurbegrenzt steuern lässt.Sexualität:Für eine Erektion braucht es eine genaueSteuerung des Blutflusses.Die Prostata liefert das notwendigeGleitmittel, verschliesst den Harnflussund fügt dem Samen das notwendigeSekret bei.Der Cremaster-Muskel steuert die Ausstossungdes Samens, die Ejakulation.Das subtile Empfinden von Hautreizen,von Rhythmus und Lustkontrolle steuertletztlich den Zeitpunkt des Orgasmus.ImpotenzEine Erektionsstörung liegt vor, wennder Penis trotz sexuellem Wunschnicht ausreichend stark oder genügendlang steif wird, um den Koitus zu vollziehen.Die moderne Forschung hat gezeigt,dass die Erektion ein komplexer Vorgangist, der nicht nur psychisch, sondernauch organisch beeinflusst werdenkann.An eine organische Störung muss gedachtwerden, wenn die Dysfunktion«total» ist.Die Behandlung einer Erektionsstörungmit einem Medikament (z.B. Viagra)kann oft eine deutliche Verbesserungbringen, die sich auch positivauf das psychische Erleben auswirkt.Blasenschmerz beim Mann(Prostatodynie)Unterleibsschmerzen, v.a. im Damm,ausstrahlend in die Hoden.häufiger Harndrang ohne grosseHarnmenge.kein organischer Befund: keine Infektion,keine kritische Prostatavergrösserung,kein Restharn etc.Dauer mindestens 6 Monate.Therapie:Umfassende urologische Untersuchungenund operative Eingriffe verschlechterndie Situation.Antidepressiva haben sich als sehrwirksam erwiesen (Erhöhung derSchmerzschwelle).Eine sexuelle Dysfunktionkann ein gesundes Zeichendafür sein,dass das Verhältniszum Partner gestört ist.Männer im Stress erleben oft aucheine Störung der Sexualität: MangelndeLust; Anspannung und Störanfälligkeit,Angst und Hemmungen in der Begegnungmit einer Frau; mangelhafte Erektion; Unfähigkeit,den Höhepunkt zu steuern (vorzeitigeEjakulation).Dies führt oft zu einem Kreislauf vonMinderwertigkeitsgefühlen, Reizbarkeitoder Flucht in die Arbeit («Sublimation»).28


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKFrauenproblemeSexualität zeigt wie kaum eine menschlicheFunktion das enge Zusammenspielvon Psyche und Körper, von seelischerLust und körperlichem Empfinden. Aber siezeigt auch die Anfälligkeit des empfindlichenGleichgewichts von Hormonen, Gefühlenund körperlichen Reaktionen.Sexualstörungen bei FrauenErregungsstörung: mangelndesFeuchtwerden der Scheide, mangelndeMehrdurchblutung der Genitalregionals Zeichen der Lust.Orgasmusstörung: Der Höhepunktwird nicht erreicht.Vaginismus: Verkrampfung der Scheidebeim Geschlechtsverkehr. DerScheideneingang verengt sich derart,dass der Penis nicht eingeführt werdenkann.Dyspareunie: Schmerzen beim Geschlechtsverkehr.Komplikationen: Harnwegsinfekt,«Blasenkatarrh», Unterleibsschmerzenohne Befund.Meistens lässt sich kein spezifischerGrund für das Auftreten einer solchenStörung finden. Oft wirken eine vorbestehendeSensibilität, eine allgemeinepsychische Verspannung sowie Partnerschaftsproblemein einem komplexenWechselspiel zusammen.Frauen (und Männer) mit einer ängstlichenGrundstruktur erleben oft, dassauch das sexuelle Erleben von der Angstthematikeingefärbt wird. Sexualität kannanklammernd werden und gerade in derAngst vor dem Verlust des Partners oderdem Verlust der Kontrolle zu Verspannungenführen.FaktorenBeziehungsängste: oft Angst vor Hingabe.Eine Person kann sich nur dann «fallenlassen», wenn sie über eine stabile Persönlichkeitverfügt und sich beim Partnersicher fühlt.Triebkonflikte: In jedem Menschenschlummern tiefe Triebe. Lässt man sieaber zu, so kann Angst entstehen. Verzichtetman, so lässt die Angst nach.Wut und Ärger können sexuelle Wünschemassiv stören und hemmen.Die menschliche Sexualitätbildet einen empfindlichenIndikator für psychischeBelastungssituationen.Gewissensängste: Das Gewissen kann einewesentliche Schutzfunktion ausüben.Wo es aber nicht mehr zwischen«erlaubt und verboten» unterscheidet,löst es bei sensiblen Frauen Zweifel undsexuelle Hemmung aus. Neben moralischenLeitlinien gibt es auch eigeneund fremde schmerzliche Erfahrungen,die das Verhalten prägen («Männersind Schweine; traue ihnen nicht, meinKind!»).Paardynamik: Oft kommt es zu eine unbewußten«Kollusion» zwischen denPartnern, etwa ein Spannungsfeld zwischenAnlehnungsbedürfnis und Autonomiebestrebungen(vgl. J. Willi).Selbstverstärkung: Sexuelle Frustrationund Misserfolg erzeugt oft Angst vorjeder neuen Begegnung.29


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKPrämenstruelles SyndromDer weibliche Zyklus ist oft eng mit derpsychischen Befindlichkeit verbunden.Etwa 30 — 40 Prozent der Frauen im gebärfähigenAlter leiden an mässigen bis mittelschwerenprämenstruellen Symptomen(PMS). Ca. 5 % zeigen ausgeprägte Symptomemit schwerer Störung des BerufsundPrivatlebens (PMDS = PrämenstruelleDysphorische Störung).DEFINITIONBezeichnung für eine Reihe unterschiedlicherkörperlicher und psychischer Symptome,die regelmässig 1 bis 10 Tage vordem Beginn der Monatsblutung auftreten,mit dem Beginn der Monatsblutungoder kurz danach verschwinden. Es folgt eineunterschiedlich lange beschwerdefreieZeit, bis die Beschwerden vor der nächstenPeriode wieder auftreten.SYMPTOME— Stimmungsschwankungen; Anspannung,Angst- oder Panikattacken.— Depression, «Gefühl der Hoffnungslosigkeit»,«Weinen ohne Grund».— Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen.«Mehrere Tage vor meiner Periode fühleich mich emotional ausser Kontrolle.Dinge, die ich normalerweise problemloslöse, erscheinen mir überwältigend.Ich breche wegen nichts in Tränen aus.Ich habe keine Nerven und schreie meineKinder an. Wenn die Mens vorbei ist,dann bin ich wieder wie normal.»— Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Energielosigkeit— Ärger, Empfindlichkeit— Schlafstörungen— Körperliche Symptome: Brustempfindlichkeitoder Schwellung; Kopfschmerzen;Gelenk- oder Muskelschmerzen;Völlegefühl und Gewichtszunahme;Herzrasen, Schwindel.UrsachenPMS ist mit dem weiblichen hormonellenZyklus verbunden, aber die genauen Ursachensind noch unbekannt. Hormonelle,psychologische, kulturelle und soziale Faktorenund Ernährungsgewohnheiten sindvermutlich beteiligt. PMS kann bei normalerFunktion der Eierstöcke auftreten.DIAGNOSE— Sorgfältige Beobachtung und Notierender Symptome im Beziehung zum Zyklus(über mindestens 2 Zyklen).— Die Symptome müssen schwer genugsein, um ein normales «Funktionieren»zu stören.BEHANDLUNGIn vielen Fällen hilft bereits das Führeneines Symptomkalenders und die Aufklärungüber das Krankheitsbild. Das Verstehen,dass es sich um eine hormonelle Störunghandelt und nicht um eine psychischeKrankheit oder um «Einbildung», kann diePatientin bereits erleichtern.pflanzliche Heilmittel:— Nachtkerzenöl— Mönchspfeffer-Extrakt (Agnus Castus)— weitere auf Empfehlung des Arztes30


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKChronische Müdigkeit / FibromyalgieChronic Fatigue Syndrom (CFS) ist die Bezeichnungfür eine Erkrankung, die sichdurch lähmende Müdigkeit, ungewöhnlicheErschöpfbarkeit und eine Reihe körperlicherBeschwerden auszeichnet. Ausder medizinischen Literatur der letzten 200Jahre geht hervor, dass dieses kein neuesSyndrom ist.Andere BegriffeNeurasthenie, nervöse Erschöpfung,myalgische Neuromyasthenie, epidemischemyalgische Enzephalomyelitis,allgemeines Allergiesyndrom, postviralesMüdigkeitssyndrom.Keine klare UrsacheBis heute konnte keine eindeutige Ursachefür das CFS gefunden werden. Währendeinige Wissenschaftler ein Virus dahinterannehmen, betonen andere diestarke Überlappung mit depressiven Störungen.Weitere Theorien vermuten einen Mangelan Vitaminen oder Mineralstoffen, eineAllergie auf künstliche Farbstoffe in derNahrung oder auf Süßigkeiten. Alle dieseVermutungen konnten aber nicht erhärtetwerden.FibromyalgieChronische, generalisierte Schmerzenim Bereich des Achsenskeletts sowie anden Extremitäten , ober- und unterhalb derTaille, in beiden Körperhälften.Klinische Untersuchung: reproduzierbareDruckschmerzhaftigkeit klar definierter«tender points» (min. 11 von 18nachweisbar), keine Zeichen objektiverSchwäche der Muskulatur, keine neurologischenAusfälle.Diagnostische Kriterien CFS− Die Müdigkeit beginnt zu einem klarenZeitpunkt und dauert nicht lebenslang.− Die Müdigkeit ist schwerwiegend, beruflicheinschränkend und beeinträchtigtdie körperliche und psychischeFunktion.− Die Müdigkeit dauert mindestens 6Monate während mindestens der Hälftedes Tages.EINSCHLUSSKRITERIEN:Klinisch abgeklärte, medizinischnicht erklärbare andauernde oder häufigwiederkehrende Müdigkeit während mindestens6 Monaten Dauer, die− neu aufgetreten ist (nicht lebenslang).− nicht Resultat einer dauernden Anstrengung.− nicht durch Erholung und Ruhe erleichtertwird.− zu einer deutlichen Reduktion der früherenAktivitäten führt.Das Auftreten von vier oder mehr derfolgenden Symptome: − subjektive Klagenüber Vergesslichkeit − Halsschmerzen− schmerzende Lymphknoten − Muskelschmerzen− Gelenksschmerzen − Kopfschmerzen− Nicht-erfrischender Schlaf− Schwächegefühl nach körperlicher Anstrengung,das länger als 24 Stunden anhält.Auszuschliessen sindPatienten mit medizinischen Grundleiden(wie etwa schwere Blutarmut) oderpsychiatrischen Erkrankungen (wie chronischeDepression oder organische Gehirnkrankheiten),die chronische Müdigkeiterzeugen können.(nach Fukuda et al. 1994)31


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKTrauma - Der Körper erinnert sichTraumafolgen undPsychosomatikEin traumatisches Erlebnis graviert sichoft tief in die Psyche eines Opfers ein. Jenach Schweregrad kommt es zu lang anhaltendenFolgen, die man als Post-traumatischeBelastungsstörung (PTBS) bezeichnet.Diese ist durch drei Merkmale definiert:— Wiedererleben des Traumas (Intrusion)— Vermeidungsverhalten (Avoidance)— Vegetative Übererregbarkeit (Arousal)Vegetative ÜbererregbarkeitEin Trauma kann die körperlichen Reaktionennachhaltig durcheinanderbringen.Jede Nervenfaser ist auf Wachsamkeit undÜberleben eingestellt. Diese Hypervigilanz(= übermäßige Wachsamkeit) kann dasganze Leben dominieren. Hinter jeder Eckelauert Gefahr, man ist immer darauf eingestellt,zu flüchten oder zu kämpfen. Ständigwird die Umgebung darauf hin abgecheckt,ob sich etwas Verdächtiges zeigt,und in der Tasche führt man einen Pfefferspraysowie ein Mobiltelefon, das die Nummerder Polizei einprogrammiert hat.Manche unserer Patienten wagen nichteinzuschlafen, weil sie dann hilflos ausgeliefertwären. Andere zucken beim kleinstenGeräusch zusammen, als wäre eine Explosiongeschehen (übermäßige Schreckreaktion).Doch diese ständige Wachsamkeit fordertihren Preis: Oft ist man nicht bei derSache – kann sich also nicht konzentrierenund wirkt abwesend. Der Schlafmangelund die ständige Anspannung führenzu unangemessenen Reaktionen, Reizbarkeitund Wutausbrüchen. Indirekt gibt mandamit auch ein Signal: Komm mir nicht zunah! Aber für die Angehörigen und Freundewirkt dieses Verhalten absonderlich, abstossendund entfremdend.Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhangauch die Hypervigilanz nach innen:Man hört viel stärker auf Warnsymptomedes Körpers: Schmerz, Herzklopfen, normalerweiseleichte Symptome erhaltenplötzlich eine andere Bedeutung — sie signalisierenneue Gefahr.Körpererinnerung«Wenn jemand als Kleinstkind ständigim Luftschutzkeller hocken musste, umgebenvon herunterstürzenden Balken,wenn jemand durch brennende Städtegetragen wurde, dann erzeugt das Erregungszustände,an die man sich zwarnicht mehr bewusst erinnert, der Körperaber vergisst sie nicht. Man nenntdas Körpererinnerung. So gibt es heuteältere Menschen, die reagieren an einemsonnigen Nachmittag auf das Brummeneines Flugzeuges mit Panik, ohne zu wissenwarum.» Prof. Michael Ermann32


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKSechs Fallstricke1. SomatisierungGefahr: Emotionale Aspekte werdenausgeblendet, Abklärung und Therapie nurauf der somatischen Ebene.Lösung: Auf der körperlichen Ebene arbeiten,über die Körpersprache kommunizieren.Vertrauen aufbauen, Halt geben,Angst eingrenzen, punktuell Emotionenansprechen.Unnötige Abklärungen vermeiden.2. PsychologisierungGefahr: Relevante körperliche Krankheitenwerden übersehen oder nicht ernstgenommen.Lösung: Kenntnis der körperlichen undpsychiatrischen Störungsbilder.Vorsicht mit vorschnellen und einseitigenpsychologischen Deutungen undKausalitäten. Anerkennen, dass wir nur immereinen Teil der Realität erfassen können.3. Somatopsychische AspekteWorum geht es? «Wenn mein Körperumkippt, dann kippt auch meine Seeleum.»Die Missempfindungen des Körpers, dieArbeit des Immunsystems, die Produktionvon Hormonen und Botenstoffen, derSchmerz verkrampfter Muskeln oder geblähterDarmschlingen — sie alle haben einenEinfluss auf unser Wohlbefinden.4. SpiritualisierungGefahr: Die körperlichen und seelischenSymptome werden spirituell oder religiösgedeutet; entsprechend werden spirituelleInterventionen gewählt, wie Freibeten oderGeistheilung.Der Betroffene übernimmt meist einepassive Rolle und wird zum Objekt der Behandlung.Oft keine langfristige Besserung.(modifiziert nach R. Hefti)Ausweg: Auch der gläubige Menschkann unter Schwachheit und körperlichenSymptomen leiden. Diese sind nicht Zeicheneines geistlichen Defizits, sondernTeil des menschlichen Daseins.5. GegenübertragungProblem: Die Klagen und Beschwerdeneines Patienten können Gegenreaktionenbei Angehörigen, Helfenden und Ärztenauslösen, z.B. Hilflosigkeit, Ärger, Lustlosigkeit.Patienten werden als schwierig,passiv-aggressiv, fordernd erlebt. Diesewiederum spüren die Ablehnung durchdie Umwelt.Lösung: Übertragungsgefühle sowie eigeneemotionale Reaktion (= Gegenübertragung)wahrnehmen. Interaktion zumvertieften Verständnis des Patienten nutzen(Balint, Psychodynamik); Innere Distanzgewinnen.Die eigentliche Not des Patienten erkennen;Beziehung halten, den Weg mit derleidenden Person gehen, ohne sich zu sehr«anstecken» zu lassen. Supervision (auchfür Seelsorger) ist sehr hilfreich.6. MachbarkeitÄrzte und Therapeuten haben oft einüberhöhtes Ideal der Heilung. Dies wird unterstütztdurch die Erwartungen der Patientenund ihrer Angehörigen.Eine vollständige Heilung ist aber beipsychosomatischen Patienten meist nichtmöglich. Vielmehr geht es um den besserenUmgang mit der Symptomatik oder denProblemen.Ausweg: Ärzte/Therapeuten müssensich vom Heilungsanspruch lösen. Das primäreZiel ist nicht die Heilung, sonderndie Beziehung zum Patienten. Dies ist derWeg von einer arzt-zentrierten zu einer patienten-zentriertenMedizin.33


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKSymptome und BeziehungDie Bedeutung der KrankenrolleDie Rolle des «Kranken» kann zu einemwirksamen Instrument in Beziehungenwerden — sei es zu Menschen, zur Arbeitoder gar zu sich selbst.Jeder Mensch sehnt sich nach Verständnis,Trost, Schutz und Geborgenheit. Krankheitkann als Signal an andere dienen, umdiese Bedürfnisse zu erfüllen. Das ist auchlegitim und eine wesentliche Grundlage fürdas menschliche Miteinander.«Ich bin schwach und brauche Schutzund Entlastung!»«Wenn du da bist, dann geht es mirgleich besser.»Gemeinsame Zeiten des Leidens könneneine Beziehung stärken und vertiefen.Wer die Krankenrollezur Gestaltungseiner Beziehungenbenutzt,verliert letztlich mehrals er gewinnt.SekundärgewinnProblematisch wird es, wenn diese natürlichenGefühle und Reaktionen in derKrankheit (unbewußt) dazu eingesetztwerden, um in Beziehungen das zu erreichen,was man im Gespräch nicht erhält.Oft drücken Mimik, Gestik und Körperhaltungso deutlich aus: «Mir geht es nichtgut», dass es keiner weiteren Worte bedarf.«Meine Mutter ist schon länger kränklich.Seit dem Tod meines Bruders klagtsie immer wieder über Herzschmerzen.Der Arzt konnte nichts finden. Oft liegtsie dann den ganzen Tag im Bett und erwartet,dass wir den Haushalt machen.Ich bin hin und her gerissen: Einerseitstut sie mir leid. Aber manchmal binich auch wütend. Wenn ich mit meinemFreund ausgehen will, hat sie oft einenHerzanfall. Manchmal habe ich schonabgesagt, um sie nicht im Stich zu lassenund mir nachher keine Vorwürfe machenzu müssen. Sie gibt mir oft doppelteBotschaften: «Geh du nur und amüsierdich. Ich bin ja nicht mehr so wichtig fürdich. Du mußt doch glücklich werden!»Harmonie um jeden Preis?Gerade dann, wenn man versucht, Gefühle,Ängste oder Unmut nicht auszudrücken,um den andern nicht zu verletzen,kann es vermehrt zu inneren Spannungenkommen, die sich dann als Magenschmerzen,Nackenverspannungen oder als Herzstechenäussern.SchuldgefühleOft sind chronische Krankheiten mitSchuldgefühlen verbunden. Die kranke Personhat Schuldgefühle, weil sie den Eindruckhat, den andern ständig zur Last zufallen. Sie erlebt sich als Versager, weil esihr nicht «gelingt», gesund zu sein.Helfer haben Schuldgefühle, weil siemanchmal innerlich Gefühle haben, die«doch nicht richtig sind»: Neid, weil diekranke Person immer im Mittelpunkt steht;Wut, weil sie sich nicht helfen lassen will;34


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKVerachtung und Enttäuschung, wenn einMann nicht mehr so dynamisch ist wiefrüher.Veränderungen sind bedrohlichOft sind es Veränderungen, die psychosomatischeStörungen auslösen:am Arbeitsplatz werden Computer eingeführt.die 18-jährige Tochter hat einen Freundund will ausziehen.der Ehemann entwickelt ein neuesHobby und nimmt sich mehr Freiheit.Das Symptom (z.B. Migräne) kann vielleichtaussagen: «Mir würde es gut gehen,wenn es diese Veränderung nicht gäbe!»Ein wort der VorsichtMan würde psychosomatisch KrankenUnrecht tun, wenn man ihnen unterstellt,sie setzten ihre Symptome bewusst ein,«um etwas zu erreichen».Die Symptome sind das Resultat vielfältigeräusserer und innerer Stressfaktoren.Doch die Umgebung «kann nichtnicht reagieren». Arbeitskollegen, Angehörige,Kinder und Partner sind Mit-Betroffene.Je enger der Kontakt zum Krankenist, desto stärker ist das Mit-L eiden.Weitere Informationen:H. Lieb & A. von Pein:Der kranke Gesunde. Trias.Ursache oder Kreislauf?falsche Interpretationen waren inder (heute überholten) Psychosomatik alterSchule häufig. Man sah das Symptomnur als Resultat von mütterlichem Fehlverhalten.Heute ist man barmherzigerund gewichtet auch den Einfluss des leidendenKindes auf die Bewältigungsmöglichkeitender Mutter. Die untenstehendeAbbildung zeigt den Kreislauf bei einemKind, das an Neurodermitis leidet.vermehrte mütterlicheZuwendungSchuldgefühleSelbstzweifelKind kratzt undschreit weiternach Bosse & ThölkingGereiztheitund offeneAggressionengegenüber dem KindKind ist beunruhigt übermütterliche Ungeduld,vermehrtes Kratzen,EkzemverschlechterungzunehmendeErschöpfungder Mutter, Ärger35


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKPsychosomatik in den PsalmenPSYCHOSOMATISCHE SYMPTOMESIND AUSDRUCK DER ANGSTHerr, sei mir gnädig, denn mir istangst! Mein Auge ist trübe geworden vorGram, matt meine Seele und mein Leib.Psalm 31,10Ich gehe krumm und sehr gebückt;den ganzen Tag gehe ich traurig einher.Denn meine Lenden sind ganz verdorrt;es ist nichts Gesundes an meinem Leibe.Ich bin matt geworden und ganz zerschlagen;ich schreie vor Unruhe meinesHerzens.Mein Herz erbebt, meine Kraft hatmich verlassen, und das Licht meinerAugen ist auch dahin. Ich bin dem Fallennahe, und mein Schmerz ist immervor mir.Herr , Du kennst all mein Begehren,und mein Seufzen ist dir nicht verborgen.Psalm 38Mein Herz ist in meinem Leibe wiezerschmolzenes Wachs. Psalm 22,16Mein Herz ist geschlagen und verdorrtwie Gras, dass ich sogar vergesse,mein Brot zu essen. Psalm 102,5Mein Geist ist in Ängsten, mein Herzist erstarrt in meinem Leibe.Psalm 143,4Es fällt auf, wie in den Psalmen die Gefühleund inneren Konflikte mit einem intensivenErleben des Körpers einhergehen.Die Schmerzen sind oft auch Anlass, insich zu gehen und sein Inneres vor Gottzu prüfen.Prüfe mich, Herr,und erprobe mich,erforschemeine Nierenund mein Herz! Psalm 26,2Auf der anderen Seite kommt der Psalmistimmer wieder zu Schluss, dass seineSchmerzen nichts mit seiner Haltung zuGott zu tun hat. Besonders eindrücklichwird dies im Buch Hiob geschildert. DieFreunde Hiobs psychologisieren und vermutenversteckte Sünden. Am Ende wirdaber deutlich, dass es sich um körperlicheKrankheiten handelte, die allenfalls somatopsychischzu deuten waren.Zusammenarbeitvon Seelsorger und ArztUnerklärliche Schmerzen sollten nie nurpsychologisch oder geistlich gedeutet werden.In jedem Fall empfiehlt sich eine engeZusammenarbeit mit einem Arzt, der diekörperlichen Anteile abklären kann.Bei einem «Burnout» ist oft auch eineKrankschreibung notwendig, um einenMenschen zu entlasten, bis die Symptomenachlassen und er wieder einsatzfähigwird. Dabei ist gleichzeitig eine seelsorglicheBetreuung von grossem Wert.36


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKWork-Life-BalanceGesundheit, ErnährungErholung, Entspannung,Fitness, LebenserwartungKörperSinn/WerteLebenserfüllungAntwort auf grundlegendeFragen,Liebe, Glaube.ZeitBalanceLeistung/ArbeitSchöner Beruf, GeldErfolg, KarriereKontaktFreunde, Familie, ZuwendungAnerkennungWas ist mir wirklich wichtig? Wo willich meine Schwerpunkte setzen?Was raubt mir Kraft? Wo verzettle ichmich?Was will ich erreichen in der Arbeit / inder Zukunft?Wesentlich für die Vorbeugungvon Stress und psychosomatischenBeschwerden ist eine ausgewogeneLebensführung, eine Balancezwischen den vier grossenBereichen des Lebens. Die nebenstehendenFragen können dabeihelfen.Welche Kontakte will ich vermehrtpflegen?Was tue ich für meine Gesundheit? Habeich Zeit zum Entspannen, zum Wandern,für Fitness?Welcher Sinn trägt mein Leben? Nehmeich Zeit zum Nachdenken, zur Stille,zum Gebet?Weitere Informationen:L. J. Seiwert & B. Tracy: Lifetime-Management.Mehr Lebensqualität durch Work-Life-Balance. Gabal.37


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKWas hilft gegen Burnout?1. Bedenken Sie, dass jeder Mensch nurbegrenzte Energie hat. Sie können ihrenseelischen Akku schnell herunterfahrenoder aber Ihre Kräfte gezielt einsetzen.2. Bauen sie bewusst Atempausen inden Alltag ein – eine halbe Stunde an diefrische Luft, ein kurzer Spaziergang umden Block oder vielleicht ein «Power-Nap»zum Auftanken?3. Lernen Sie NEIN zu sagen – freundlich,aber bestimmt!4. Wenn es zu hektisch wird: HaltenSie inne und fragen Sie sich: «Was kannpassieren, wenn ich die Arbeit aufschiebe?Sind die Folgen wirklich so schlimm?»Manche Arbeiten erledigen sich vonselbst, indem man sie einmal liegen lässt.Was macht es aus, wenn Sie einmalnicht an vorderster Front in perfektemEinsatz stehen? Wenn Sie ausbrennen,dankt Ihnen niemand dafür.5. Setzen Sie Grenzen: Verlagern Sieberufliche Probleme nicht ins Privatleben.Kein Mensch ist unersetzlich. Aberdie Scherben zerbrochener Beziehungenlassen sich kaum mehr nahtlos zusammensetzen.6. Nehmen Sie sich Zeit – etwa fürHobbys, Entspannung, Sport oder Musik.Überprüfen Sie ihren Tagesrhythmus. SindSie ein Morgen- oder ein Nachtmensch?Passen Sie Ihren Arbeitsalltag an, dann ergebensich neue Zeitfenster!7. Spitzenleistungen sind manchmalnötig. Aber sie dürfen dann auch ein Gegengewichtsetzen: Nehmen Sie sich Zeit,Wochenendarbeit, Jetlags oder Übermüdungauszukurieren. So kommen sie wiederfrisch und mit neuen Ideen zur Arbeit.8. Wenn Sie den Eindruck haben, derJob mache Sie kaputt, so seien Sie konse-quent: Haben Sie schon an ein Time-out(Sabbathical) gedacht? Überlegen Sie, obes Sinn machen kann, sich versetzen zulassen, die Stelle zu kündigen oder gar denBeruf zu wechseln.Sei nicht allzu gerechtund allzu weise,damit du dich nichtzugrunde richtest. Prediger 7,16BURNOUT ALS CHANCEIn der Krise eines Burnout liegt aucheine Chance: Es gilt zu erkennen, dass wirwertvoll sind, selbst wenn wir an unsereGrenzen geraten sind.Oftmals werden wir aufgerüttelt, neueWeichenstellungen für die Gestaltung desLebens vorzunehmen.Und schliesslich hat so mancher in seinereigenen Krise gelernt, andere Menschenbesser zu verstehen. So gesehenkann Burnout auch zu einem Neuanfangwerden, der dem Leben eine neue bessereWendung gibt.Weitere Informationen:M. Rush: Brennen ohne auszubrennen. DasBurnout-Syndrom − Behandlung und Vorbeugung.Schulte & Gerth38


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKVom Umgang mit KörpersymptomenEine andere Art von HilfeEine österreichische Untersuchung hatergeben,dass psychosomatische Patientenerst nach einer Erkrankungsdauer von 6,5Jahren in eine Psychotherapie gelangen.Davor hatten sie durchschnittlich 78 Arztkontaktemit mehreren Krankenhauseinweisungenhinter sich.Es braucht eine andere Art von Hilfe:Eine, die körperliche Beschwerden wohlernst nimmt, dem Patienten aber hilft, dieseauch ohne «organischen Befund» zu verstehenund bewältigen.Veränderung gelingtumso leichter, je eher dieBetroffenen offenfür die Frage sind,welchen Sinn die Störungfür sie (und andere) hat.1. Verstehen– Aufklärung über organische Ursachen,Körperfunktionen.– Symptome nicht verstehen als Katastrophen-Botschaft,sondern als «Energie-Signal».– Man wird nicht «geheilt», aber manmacht einen Weg.– Erkennen der eigenen Grundmuster(z.B.ängstlich und anhänglich).– Erkennen der Auslöser.– Durch das Erkennen verlieren die Symptomeihre bedrohliche Kraft.2. Stärken– In jeder Schwäche liegt letztlich aucheine Stärke.– positiv validieren: z.B. «Ihre Angstdrückt auch ihr Verantwortungsgefühlfür die Familie aus.»– «Wer ein Problem nur dadurch lösenwill, dass er ständig nach Defizitenund Fehlern sucht, um sie dann auszugleichen,der verschärft das Problem.»– Stärken heisst, die vorhandenen Fähigkeiteneiner Person – auch die im Symptomverborgenen – zu sehen und zuwürdigen.3. Entscheiden– Kontakt zu Experten: nicht mehr beijedem kleinen Symptom zum Arzt laufen.– Beim Psychotherapeuten: bewusstAnliegen einbringen und nicht daraufwarten, dass er mir etwas aufzeigt.– Entscheidung: bewusst körperlichbelasten: «Kurzfristig mehr Angst --langfristig mehr Stolz!»– «Jede Entscheidung drückt die Fähigkeitdes Betroffenen aus, eine eigeneWahl zu treffen und danach zu handeln.»– Manchmal ist es aber einfach nochnicht Zeit für Veränderungen – auchdas respektieren.4. Verändern– Angstbewältigungstraining: sich bewusstSituationen stellen, die Angstmachen und so lange drin bleiben, bisdie Angst (ganz oder wesentlich) abnimmt.– «Körper-Check»: dabei bewusst dieSymptome des Körpers wahrnehmenund warten, bis sie abklingen.– Nicht alle Veränderungen lassen sichvorher planen und alle Veränderungenbrauchen ihre Zeit.(nach Lieb & von Pein, 213 – 219)39


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKDie Sprache des Körpers verstehenVier PunkteHören Sie auf Ihre Körpersprache!Welcher Elch bringt Sie aus demGleichgewicht?Wecken Sie den Igel in sich!Finden Sie ein Ja zu Ihren Grenzen!1. Hören Sie auf ihreKörpersprache!Welche Symptome künden Ihnen an, dassSie unter Stress stehen? Welche Organsystemesind betroffen? In welchem Zusammenhangtreten die Beschwerden auf?2. Der ElchtestManche Autos kippten in Extremsituationenum (z.B. in der plötzlichen Begegnungmit einem Hindernis). Sie bestandenden «Elch-Test» nicht.Abhilfe ergab sich durch ein ElektronischesStabilisierungsprogramm (ESP).Mit Hilfe von vielen Sensoren bringt dasESP beim Schleudern ein Fahrzeug wiederunter Kontrolle. Das System «erkennt»die instabile Fahrlage nach35 Millisekunden, bremst gezielteinzelne Räder und drosselt denMotor. Der Wagen kann sicher weiterfahren.Ein Tester: «Mit ESP geht allesglatt. Das System kontrolliert und reagiert.»PSP: Körpersymptome als PsychosomatischesStabilisierungsprogramm? FragenSie sich: Welcher Elch bringt Sie aus demGleichgewicht? Und wie reagiere ich aufmeine Sensoren?3. WECKE DEN IGEL IN DIR!Das Märchen vom Hasen und vom Igelzeigt zwei ganz unterschiedliche Lebens-stile.Der Hase stresst und will immer gewinnen.Er rennt, bis er außer Atem liegenbleibt.Der Igel nimmt das Leben gemütlich,steht zu seinen krummen Beinen, pflegt einegute Beziehung zu seiner Familie und istschlau und kreativ. Und – er kann die Stachelnstellen (Nein sagen).Wo der bewusste Willeungesunde Leistungsansprüchestellt,wird die Krankheitzum Anwalt gesunder Grenzen.4. Leben mit SchwachheitManche Lebensbelastungen können wirnicht einfach «ausschalten».Unsere Vergangenheit ist manchmal wieeine Narbe, die bei «seelischem Wetterumschwung»weh tut.Manche Reaktionsmuster unseres Körperssind festgegossen wie die Walze einerSpieldose.Resignieren oder Hoffen?Wenn wir aufhören, immer nur gegendas Leiden zu kämpfen, sondern Wege suchen,mit dem Leiden zu leben, dann ergibtsich eine neue Perspektive:«Das gehört zu mir. Ich bin eingeschränkt,aber ich lasse mich nicht unterkriegen!»(vgl. auch Psalm 40,18).Psychosomatische Beschwerden könnenganz allmählich nachlassen (oft überJahre), wenn wir der Seele mehr Ruhe gönnen.40


DR. SAMUEL PFEIFER: PSYCHOSOMATIKLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitereInformationen zur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersichtist es jedoch nicht möglich, alle Aspekteausreichend zu beleuchten.Benkert O.: Psychopharmaka. Medikamente- Wirkung - Risiken. Beck.Bräutigam W. et al.: PsychosomaticheMedizin. Ein kurzgefaßtes Lehrbuch.Thieme.Bräutigam W. & Clement U.: Sexualmedizinim Grundriss. Thieme.Dieterich M.: Wir brauchen Entspannung.Brunnen.Furst L.R.: Idioms of Distress. State Universityof New York Press.Gershon M.D.: The Second Brain. Harper.Hoffmann S.O. & Hochapfel G.: Neurosenlehre,Psychotherapeutische und psychosomatischeMedizin. Schattauer.Kleinman A.: The Illness Narratives. BasicBooks.Kapfhammer H. et al. : Psychotherapie derSomatisierungsstörungen. Thieme.Lieb H. & von Pein A.: Der kranke Gesunde.Trias.Meyer A.E. (Hg.): Jores – Praktische Psychosomatik.Hans Huber.Morschitzky H.: Somatoforme Störungen.Springer.Neuhaus W.: Psychosomatik in Gynäkologieund Geburtshilfe. Enke.Olbricht I.: Was Frauen krank macht. ZurPsychosomatik der Frau. Kösel.Peikert A.: Migräne und Kopfschmerzenverstehen - behandeln - bewältigen.Trias.Pfeifer S.: Der sensible Mensch. Lebenzwischen Begabung und Verletzlichkeit.Brockhaus.Pfingsten M. & Hildebrandt J.: ChronischerRückenschmerz. Hans Huber.Rudolf G.: Psychotherapeutische Medizinund Psychosomatik. Thieme.Rüegg J.C.: Psychosomatik, Psychotherapieund Gehirn. Schattauer.Sacks O.: Migräne. Rowohlt.Seiwert L.J. & Tracy B. : Lifetime-Management.Gabal.Internet-Ressourcenwww.angst-auskunft.deEin Angebot von Dr. Herbert Mück (Köln),der als ärztlicher Psychotherapeut undWissenschaftsjournalist arbeitet. Die hierzusammen gestellten Informationen sindsorgfältig recherchiert.www.stiftung-kopfschmerz.dewww.schmerzklinik.dewww.depression.dewww.dmkg.org Deutsche Migräne undKopfschmerzgesellschaft.Leitlinien Psychotherapie und Psychoso-matik: www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/ll_051.htmHier finden Sie Kriterien für SomatoformeStörungen sowie vielfältige Hinweise zuPsychotherapie und Begutachtung beipsychosomatischen Störungen.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.41


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSCHLAFENUND TRÄUMEN3


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlimm ist’s, schlaflos zu liegen,wenn man betrübt istund alle Flügel traurig zur Erde hängen.Schön ist’s, schlaflos zu liegen,wenn man verliebt istund alle Quellen der Sehnsuchtnach oben drängen.(Hermann Hesse)4


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENInhaltHistorische Erklärungen von Schlafen und Träumen............................. 2Träume: Hirnreflex oder Botschaft?........................................................ 3Die Phasen des Schlafes.......................................................................... 4REM-Schlaf: Der Ort des Träumens ........................................................ 5Veränderungen des Schlafes im Alter .................................................... 5Was ist ein Schlaflabor?........................................................................... 6Schlafarchitektur und EEG ..................................................................... 7Schlafschuld und Schläfrigkeit .............................................................. 8Die biologische Uhr ............................................................................... 10Körperlich bedingte Schlafstörungen .................................................. 13Narkolepsie, Schnarchen und Schlafapnoe ......................................... 14Ruhelose Beine und Bewegungen im Schlaf........................................ 16Andere körperliche Ursachen................................................................ 18Jet-Lag und Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus................................ 20Der Schlaf bei Kindern........................................................................... 22Schlafstörungen bei Depressionen ...................................................... 24Schlafstörungen bei Psychosen ........................................................... 25Träume — Fenster der Seele? ................................................................. 26Traumsymbole ....................................................................................... 28Fragen zur Deutung von Träumen ........................................................ 29Albträume und seelisches Trauma........................................................ 30Träume auf dem geistlichen Weg ......................................................... 33Wann sind Schlafmittel sinnvoll? ......................................................... 34Strategien gegen die Schlaflosigkeit.................................................... 37Wann ist fachliche Hilfe erforderlich? .................................................. 38Weiterführende Literatur und Internet-Ressourcen............................ 405


Nachts,wenn die Gedanken kreisenund der Schlaf vergeblich wartet in den Falten des Vorhangs,wenn die Stille die grauenvolle, dir den Atem raubt;wenn Fragen aufstehen,um dir erbarmungslos ins Antlitz zu starren;wenn du vor deinem Fensterdie Schritte des Zweifels hörst und der Angst.Wenn Ruhelosigkeit an deine Türe klopftund Unrast das Zimmer fülltwie schwere Nebel;wenn die Einsamkeit dich beim Namen ruftund Traurigkeit deine Stirne streift wie ein kühler Hauch;wenn dich die Finsternis wie eine Wand umschließt,wenn jede Flucht ihren Sinn verliert,weil sie nur immer zurück führt zu dir selbst.Dann wehrst du dich nicht mehr gegen den Schmerz.In der Tiefe der Nacht birgst du dein Gesichtin ihr Schweigenund weinst. B. B.


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlafstörungen, Stress und DepressionEin Drittel unseres Lebens schlafen wirund wissen eigentlich nicht genau, was wirda tun. Nichts beeinflusst unsere Gesundheitso sehr wie der Schlaf. Schlaflosigkeitund andere Schlafstörungen sind zu verbreitetenSymptomen unserer modernenGesellschaft geworden.30 - 35 Prozent der erwachsenen Bevölkerungklagt über Schlafstörungen.Eine Untersuchung in Allgemeinpraxen inMannheim (Hohagen und Berger) zeigte,dass 19 Prozent unter schweren Schlafstörungenlitten (dazu kamen noch leichtereund mittelschwere Störungen). Etwa einViertel nahm regelmäßig rezeptpflichtigeSchlafmittel. Dieser Prozentsatz steigt imAlter auf über 50 Prozent an.Dieses Seminarheft wird Sie bekannt machenmit verschiedenen Sichtweisen undModellen, die in der heutigen medizinischenPsychologie aktuell sind.Doch Schlafstörungen sind nicht nur Veränderungender Gehirnaktivität und Varia-tionen von Hormonen und Neurobiologie.Schlafmangel ist eine schwere Last fürdie Betroffenen. Die unruhigen Nächteüberschatten den Tag und führen oft zuLeistungsabfall, Depressionen oder gar zumüdigkeitsbedingten Unfällen.Die Nacht ist kein Niemandsland, vielmehrführt die Reise oft in ein fremdes,unheimliches Land, ins Land der Träume.Doch die Gaukelbilder geben oft Rätselauf, bedrängen uns , lassen Menschen garschweissnass aufwachen. Wie kann mandiese Träume verstehen? Sind sie lediglichSeelenmüll oder enthalten sie eine geheimeBotschaft?Das Seminarheft will Anregungen gebenund auf weitere Literatur verweisen. Mögendie Informationen die Grundlage legen, sichselbst und betroffene Menschen besser zuverstehen und fachgerecht und einfühlsamzu begleiten.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENHistorische Erklärungen des SchlafesDie alten Ägypter stellten sich vor, dassder Schlafende jede Nacht hinabsteigein die Urgewässer des Flusses «Nun», umdort seine Kräfte zu erneuern, die er währenddes Tages verbraucht hatte. Schon damalsalso führte der Schlaf in die Unterwelt!Auch für die Griechen war der Schlaf nichtnur Ort der Erholung, sondern auch mysteriösund gefährlich. Die Nacht galt als Zeitder Unsicherheit und der Gefahr. SchlafesBruder war der Tod. Verstorbene werden bisheute als «Entschlafene» bezeichnet.Diese griechische Vase zeigt die BrüderThanatos (Tod) und Hypnos (Schlaf). Die Sageerzählt, der Jüngling Hypnos sei jeweilsauf die Erde geschwebt und habe den Menschenopiumhaltigen Mohnsaft in die Augengeträufelt, um sie zum Schlafen zu bringen(eine griechische Version des «Sandmännchens»!).Sein Sohn Morpheus sei dann denSchlafenden als Gott des Traumes in denverschiedensten Gestalten erschienen.JÜDISCHES GEBET VOR DEM SCHLAFENGEHEN2


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENTräume: Hirnreflex oder Botschaft?Traumbotschaften in der ANTIKE:Träume tragen eine Botschaft für die Welt,für ein Land oder für einen Stamm, besonders– wenn eindrücklich und bewegend– wenn wiederholt auftretend– wenn der Traum einem Ältesten, einemHäuptling oder einem König erschien.Die Griechen unterschieden vier verschiedeneTraumformen:a) die Wiederholung von Tageseindrücken,mitunter auch übersteigertb) die Weissagungc) die Vision der Zukunftd) die SymbolbildungWährend die ersten drei Formen unmittelbarverständlich waren, bedurfte es fürdie Deutung der Symbole eines Traumdeuters.Dieser unterschied dann zwischenwichtigen Träumen – ONEIROS – und bedeutungslosenGehirnreflexen – ENHYPNOI.Aus dem Traum erwartete man wichtigeInformation zum Verständnis des Lebens,von Krankheit und Unglück, ja Wegweisungfür die Zukunft.Im Tempel des Asklepios erfuhren dieKranken im Traum von der rechten Medizin,die sie heilen könnte, wenn die Ärzte nichtmehr weiter wussten. Dafür mussten siedrei Kuchen opfern: einen für den Erfolg,einen für die Erinnerung und einen für dierechte Ordnung der Dinge.Bild: Joseph deutet dem Pharao seineTräume und bestimmt die gesamte PolitikÄgyptens für die nächsten Jahrzehnte.Bei den Chinesen (und bei den IndianernNordamerikas) waren Träume Visionen einerzweiten Wirklichkeit, die neben derWelt des Wachseins existiert. Die Erfahrungender nächtlichen Träume sind deshalbvon grosser Bedeutung und müssenernst genommen werden.TRÄUME VERÄNDERTEN DAS LEBEN:Gott sprach im Traum zu den Propheten.Viele Religionsstifter führten ihre Lehreauf einen Traum (oder auf Visionen) zurück(z.B. Mohammed oder Buddha).Träume waren nicht selten Anlass für eineBekehrung (Mission). Träume leiteneine neue Lebensphase ein oder bestimmenwichtige persönliche Entscheidungen.3


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENDie Phasen des SchlafesDie Schlafstadien haben normalerweiseeine bestimmte Reihenfolge, die alsSchlafzyklus bezeichnet werden, der in derRegel 90 Minuten beträgt. Üblicherweisedurchlaufen wir pro Nacht vier bis fünfSchlafzyklen.Nach dem Einschlafen fallen Menschenschnell in traumlosen und bewegungslosenTiefschlaf (Stadium 4). Er dientin besonderer Weise der Erholung.Das wachstumshormon wird vorallem im Tiefschlaf ausgeschüttet. Es fördertdas Zellwachstum und regeneriert denKörper. So wird auch das Immunsystem gestärkt.iN DER ZWEITEN NACHTHÄLFTE löstdas Gehirn den REM-Schlaf aus (vgl. S. 5);jetzt wird am buntesten geträumt. OhneREM-Phasen bringt der Schlaf keine Erholung.Der Cortisolpegel steigt gegen Morgenzunehmend an. Er beeinflusst die Gedächtnisbildung.Aber das Cortisol stelltauch die Energie bereit, die wir brauchen,um erfrischt aufzustehen.Prozentuale Anteile der SchlafstadienWachanteil < 5%REM 20-25 %Stadium 1 - Leichtschlaf 5%Stadium 2 - Leichtschlaf 45 - 50 %Stadium 3 - Tiefschlaf 5 - 10 %Stadium 4 - Tiefschlaf 10 - 15 %4


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENREM-Schlaf – der Ort des TräumensIm Jahre 1953 entdeckten die SchlafforscherAserinsky und Kleitman einen eigenartigenZustand, der während desNachtschlafs in etwa 90-minütigen Zyklenauftritt und etwa 25 % der Schlafdauer ausmacht.Einige Merkmale: Gesteigerte Aktivierungdes Gehirns, plötzlich auftretende rascheAugenbewegungen (daher der NameREM = Rapid Eye Movements), beschleunigteAtem- und Herzfrequenz, genitale Erektionsowie Lähmung aller Körperbewegungen(mit Ausnahme der Atmung und der Augenbewegungen).Es handelt sich also um einen paradoxenZustand, in dem das Gehirn hoch aktiv ist,der Mensch aber tief und bewegungslosschläft. Im Gehirn wird Information verarbeitet,während sich die Psyche nach aussenvöllig von Reizen abschottet.Weckte man eine schlafende Person währenddieser Phase, so berichtete sie regelmä-ssig über lebhafte Träume.Aktivierung aus der TiefeDer „Schalter“ für den REM-Schlaf findetsich im Hirnstamm (genauer in der Pons-Region). Durch den Botenstoff Acetylcholinwerden Bereiche im Stirnhirn aktiviert, diedann via Dopamin Vorstellungsbilder in denSpeicherregionen des limbischen Systemsanregen.Hier ergibt sich eine Querverbindung zuWahnvorstellungen bei der Schizophrenie.Offenbar kann eine übermässige Sekretionvon Dopamin im Stirnhirn auch tagsüberBilder und Stimmen aktivieren, die dann alsHalluzination erlebt werden.NB: Weitere Forschungen haben gezeigt,dass Träume auch in anderen Schlafphasenauftreten können, dort aber weniger lebhaftund weniger visuell sind.Veränderung des Schlafes im AlterEtwa ab dem 50. Lebensjahr tretenVeränderungen in der Schlafarchitekturein:verkürzter Nachtschlaf bei längererLiegezeit im Bett (= reduzierter Schlafeffektivitäts-Index),verlängerte Einschlaflatenzzeitigeres morgendliches Erwachenvermehrte nächtliche Wachperioden(durchschnittliche Länge ca. 7 min, Anzahlbis zu 10 x /Nacht)vermehrte Arousals: z.B. unruhige Beine(restless legs), Schlaf-Apnoe-Syndrom,nächtliches Wasserlassen (Nykturie)Zunahme der Stadienwechsel (Shifts)relative Verschiebung der Schlaftiefe inRichtung oberflächlichen SchlafesAbnahme des REM-Schlafesvermehrtes Schlafbedürfnis währenddes Tages.Im hohen Alter löst sich der Schlafrythmuspraktisch auf, und der ältere Mensch lebtauch tagsüber in einem ständigen Wechselvon wachen Phasen und kurzen Nickerchen.5


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENWas ist ein Schlaflabor?Es handelt sich um einenSchlafraum, der zurRegistrierung der Schlafstadienund bestimmterKörperfunktionen wie Herzrhythmus,Atmung und Körperbewegungwährend desSchlafes eingerichtet ist.Der Raum wird gut abgedunkeltund ist ruhiggelegen. Der Schlaf wirdmittels einer lichtstarkenVideokamera überwacht.Ein Mikrophon erfasstdie Geräusche im Raum,u. a. das Schnarchen oderdas Sprechen während desSchlafes. Der Patient ist miteiner Gegensprechanlage mit dem Personal im ersten Augenblick furchteinflössendverbunden.wirken. Die Patienten gewöhnen sich aberIsehr schnell daran und fühlen sich im Schlafn dem Schlaflabor befinden sich diverse nicht beeinträchtigt.Meßgeräte, die aber im Gegensatz zu den Durch die Registrierung der Gehirnströmekönnen lediglich bestimmte Schlafsta-Geräten auf einer lntensivstation keine störendenGeräusche oder Warntöne abgeben. dien und Funktionszustände des Gehirns erfaßtwerden. Gedankeninhalte oder Traum-Nachdem der Patient normal zu Abendgegessen hat und sich entsprechend seinem inhalte können die Ärzte nicht ablesen. Dieüblichen Tagesablauf verhalten hat, begibt er Befürchtungen mancher Patienten, daßsich zwischen 20 Uhr und 22 Uhr ins Schlaflabor.Er bringt seine gewohnte Schlafkleidung damit zerstreut werden.damit Gedankenlesen möglich sei, könnenmit.Bei längeren Atemstillständen fällt derUm den Schlaf und andere Meßgrößen zu Sauerstoffgehalt im Blut ab und der Herzschlagwird verlangsamt. Diese Verände-erfassen, müssen Elektroden auf der Haut befestigtwerden, mit denen elektrische Ströme rungen können mit dem sogenanntenvom Gehirn, Herzmuskel und Skelettmuskel „Oxymeter“, überwacht werden. Weitereabgeleitet werden können.Elektroden können Krämpfe in den Wadenmuskelnerfassen.Von den Elektroden führen lange Drähtezu einem kleinen Kästchen am Kopfende desPatientenbettes, die Ströme werden dort verstärktund zur Aufzeichnung weitergeleitet.Die beschriebene «Verkabelung» kann zwar6


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlaf-Architektur und EEGDie unterschiedlichen Phasen des Schlafeslassen sich auch im Elektro-Enzephalogramm(EEG) deutlich darstellen. Jetiefer der Schlaf, desto grössere Wellen zeigensich, weil es zu einem gemeinsamenSchwingen der elektrischen Aktivität derverschiedenen Nervenzellen kommt (Synchronisation).Nur im REM-Schlaf, wo das Träumen stattfindet,sieht man ähnlich unruhige Musterwie im Wachzustand.Auswertung: Die erfassten Daten werdennun über Computer oder visuell ausgewertet,so dass therapeutische Konsequenzengezogen werden können.Sodann wird in einer Besprechung mit demPatienten das weitere Vorgehen erläutert.Abbildung aus dem Buch von Dement& Vaughan: Der Schlaf und unsere Gesundheit,Limes Verlag, München. Abdruckmit freundlicher Genehmigung.Information:http://www.schlaflabor.de7


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMEN«Schlafschuld» und SchläfrigkeitSchlafkonto: Jeder hat seinen Tagesbedarfan Schlaf (meist zwischen 7 und 9Stunden; 5 Prozent weniger als 6 Stunden, 5Prozent mehr als 10 Stunden)Schlafschuld: Wenn wir diesen Schlafnicht regelmässig hereinholen, dann entstehteine «Schlafschuld».Schlaflast: Diese addiert sich über Tageund Wochen zu einer «Schlaflast», die unszunehmend müde werden lässt.Je höher die Schlafschuld, desto grösser istdie Gefahr des Sekundenschlafs. 45 % derAutounfälle sind auf Müdigkeit zurückzuführen.Nickt der Mensch am Steuer desAutos ein, so kann dies katastrophale Folgenhaben: Wer bei 100 km/h nur wenigeSekunden um einen Winkel von 5 Grad abweicht,fährt unweigerlich über die Linie.Tödlich ist die Kombination von Müdigkeitund Alkohol.«In praktisch jeder Beziehung unseres aktuellenLebens – vom elektrischen Lichtüber das Nachtprogramm des Fernsehensbis hin zu zerrissenen Arbeitszeiten – stossenwir buchstäblich gegen die Uhr, die dieGleichzeitigkeit von Geist und Körper aufrechterhält. In nur wenigen Jahrzehntendes technischen Fortschritts haben wir esgeschafft, unsere grossartig entwickeltebiologische Uhr und ihre komplexen Biorhythmenumzustossen.»Prof. W. Dement, SchlafforscherInformation: «Schlaf am Steuer mussnicht sein», herausgegeben von der Klinik fürSchlafmedizin in Zurzach und dem Touring-Club Schweiz.«Schläfrigkeit, dieses Gefühl von schwerenAugenlidern, die kaum aufzuhaltensind, ist die letzte Stufe vor dem Einschlafen,nicht die erste. Wenn wir in diesemMoment dem Schlaf nachgeben, kommter sofort. Beim Autofahren oder einer riskantenSituation sollte der erste Anflugvon Schläfrigkeit eine unbedingte Warnungsein. Man bringe sich sofort in Sicherheit.»Prof. W. Dement, SchlafforscherAbbildung: Die Reaktorkatastrophevon Tschernobyl wurde durch Nachlässigkeitund Übermüdung des Personalsverursacht.8


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSo messen Sie Ihre «Schlafschuld»Wieviel Schlafschulden schleppen Siemit sich herum? Die einfachste Möglichkeit,den Umfang seiner Schlafschuldenzu ermessen, besteht darin, dass Sie dieSchläfrigkeitsphasen notieren, die Sie tagsüberbei sich feststellen. Der nachstehendeFragebogen erlaubt eine erste EinschätzungIhrer Situation.Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie unterfolgenden Umständen einnicken oder einschlafen?(0 = nie; 1 = selten; 2 = hin undwieder; 3 = des öfteren):wenn Sie im Sitzen lesen.beim Fernsehen.wenn Sie sitzend und passiv an eineröffentlichen Veranstaltung teilnehmen(z. B. im Theater oder bei einerVersammlung).als Mitreisender in einem Auto nachetwa einstündiger Fahrt.beim nachmittäglichen Ausruhen (soweitdafür eine Möglichkeit besteht).wenn Sie sich im Sitzen mit jemandemunterhalten.wenn Sie nach dem Mittagessen ohneAlkohol ruhig am Tisch sitzen.wenn Sie mit Ihrem Auto für kurze Zeitverkehrsbedingt stoppen müssen.Beurteilung der SchlafschuldenKeine/geringe SchlafschuldMässige SchlafschuldSchwere SchlafschuldErhebliche Schlafschuldnach W. Dement0 - 5 Pkte6 - 10 Pkte11 - 20 Pkte21 - 25 PkteSchlaflatenzTagesschläfrigkeit und Schlafschuldenlassen sich anhand des Multiplen Schlaflatenztestsbeurteilen. Unter Schlaflatenzversteht man die Dauer, wie schnell einePerson einschläft, die sich in einem ruhigen,dunklen Raum zur Nachtruhe hingelegt hat.Wenn Sie optimal ausgeruht sind, liegen Sienoch fünfzehn oder zwanzig Minuten wach.Wenn Sie dagegen unter ernstlichem Schlafentzugoder unter Schlafstörungen leiden,schlafen Sie innerhalb von fünf Minuten ein.Die TeelöffelmethodeLegen Sie sich mit geschlossenen Augen,ohne Schuhe und mit bequemer Kleidungauf eine Couch oder ins Bett. Das Licht solltegedämpft, die Vorhänge zugezogen sein.Legen Sie Ihre Hand über einen Stuhl, dieCouch, bzw. Bettkante und halten Sie senkrechtüber einem auf den Fußboden gestelltenTeller einen Teelöffel locker in der Hand.Halten Sie die Uhrzeit fest, entspannen Siesich und lassen Sie sich in den Schlaf fallen.Sobald Sie der Schlaf übermannt, werdensich Ihre Muskeln entspannen und der Löffelwird Ihrer Hand entgleiten und auf denTeller fallen. Sie werden von dem Klirrengarantiert aufwachen und können dann IhreSchlaflatenz ablesen.9


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENDie biologische UhrDie biologische Uhr reguliert den täglichenZyklus von Schlafen und Wachen.Ist die Weckfunktion aktiviert, so bleibt derMensch den Tag hindurch wach. Schaltet siesich ab, so erlaubt sie dem Schlafprozess,ungehindert zu wirken.Der Schlaf wird durch eine «innere Uhr» gesteuert.Diese ist eigentlich auf 25 Stundenprogrammiert, passt sich aber leicht demnormalen Tag mit einem 24-Stundenrhythmusan.Bestimmende Faktoren sind die Zeitgeberunserer Umwelt:Licht am Morgen und Dunkelheit amAbendGeräuschpegel der UmweltAktivitäten anderer MenschenAbbildung: Aus Schlafdruck und Weckrektionder biologischen Uhr entsteht die Schlaftiefe.(auf dieser Seite: normaler Schlaf)Schlaf und Schläfrigkeit entsteht ausdem Gegenspiel von Schlaflast und biologischerUhr (Weckreaktion). Solange diebiologische Uhr auf «Wecken» bzw. Wachseineingestellt ist, so lange kann auch derSchlafdruck nicht zum Schlaf führen. Sokommt es, dass man zwar müde ist, aberdoch nicht einschlafen kann. Wenn dannaber die biologische Uhr «abstellt», dannkommt auch der Schlaf.Seelische Anspannung erhöht dieCortisolausschüttung und lässt auch nachtseine bestimmte Spannung bestehen (Seite11). Somit kommt es trotz hohem Schlafdrucknicht zu einem ruhigen Schlaf. DieSymptome: Schwierigkeiten beim Einschlafen(„Schlaflatenz“), mehrfaches Erwachen,oberflächlicher Schlaf und vorzeitiges Erwachenam Morgen. Der Schlaf ist nichterholsam.10


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENMelatoninDiesesHormonwird von der Zirbeldrüse(Epiphyse)abgesondert und teiltdem Körper mit, dasses draussen dunkel ist.Bei manchen Tierensteuert es den Winterschlafoder die Zeit dersexuellen Aktivität.Beim Menschen gibt es dem Körper dasSignal, sich auf den Schlaf vorzubereiten. Essteigt also vor dem Einschlafen an. SobaldLicht auf die Netzhaut trifft, wird die Ausschüttungvon Melatonin gestoppt.Daraus hat man die Hoffnung abgeleitet,durch die Einnahme von Melatonin denRhythmus der biologischen Uhr beeinflussenzu können.In kontrollierten Studien hatsich der Effekt aber kaum nachweisen las-Abbildung aus Facts 27/2000 mitfreundlicher Genehmigung.sen. Das hindert manche Menschen nicht,(speziell in Amerika) Melatonin täglich zusich zu nehmen, um Gesundheit, Lebensdauer,Wohlbefinden und Potenz zu fördern.Abbildung: Erhöhte seelische Anspannungführt zu einem unruhigen Schlaf trotzgroßer Müdigkeit.11


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENDie wichtigsten SchlafstörungenIm Jahre 1990 wurde von der AmericanSleep Disorders Association in Zusammenarbeitmit internationalen Fachgesellschaftendie „International Classification ofSleep Disorder“ (ICSD) veröffentlicht. Trotzder detaillierten, vornehmlich ursachenbezogenenAufgliederung ist die Klassifikationnicht immer zufriedenstellend, wurdeaber mittlerweile als Mittel der gegenseitigenVerständigung allgemein anerkannt.Klassifikation derSchlafstörungenA. Dyssomnien1. IntrinsischeSchlafstörungen2. Extrinsische Schlafstörungen3. Störungen des zirkadianenSchlafrhythmusB. Parasomnien1. Aufwachstörungen (Schlaftrunkenheit,Pavor nocturnus, Schlafwandeln2. Störungen des Schlaf-Wach-Übergangs(z.B. rhythmische Bewegungenbeim Einschlafen)C. Schlafstörungen bei anderenErkrankungen1 . Schlafstörungen bei psychiatrischenErkrankungen2. Schlafstörungen bei neurologischenErkrankungen3. Schlafstörungen bei internistischenErkrankungenD. Noch nicht klassifizierteStörungenInsgesamt werden 84 Schlafstörungenunterschieden, die im Rahmen dieses Heftesnicht ausführlich beschrieben werdenkönnen. Untenstehend finden sich diejenigenStörungen, die im Grenzbereich vonPsychiatrie und Lebensberatung häufig angesprochenwerden. Dabei ist zu bedenken,dass auch körperliche Störungen (wie z.B.mangelnde Sauerstoffsättigung, unruhigeBeine oder häufiges Aufstehen zum Wasserlassen)zu ausgeprägten Schlafstörungenführen kann, die sich ihrerseits wiederumnegativ auf die Psyche auswirken.kRITERIEN SCHLAFSTÖRUNGEN(NACH icd-10)Klagen über Ein- und Durchschlafstörungenund /oder schlechteSchlafqualität.wenigstens 3x pro Woche während mindestenseinem Monat.deutlicher Leidensdruck oder Störungder beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit.überwiegendes Beschäftigtsein mitSchlafstörung und nachts und tagsüberübertriebene Sorge über negative Konsequenzen.Weitere Informationen:Eine ausführliche Übersicht über die verschiedenenSchlafstörungen gibt das Buch von A.Sturm und P. Clarenbach. Schlafstörungen.Thieme-Verlag.12


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENKörperlich bedingte Schlafstörungen *NarkolepsieSchnarchen und Schlafapnoe-SyndromSyndrom der ruhelosen Beine (Restless legs)Nächtliche Bewegungen der Gliedmassenandere körperliche Ursachenäußere (extrinsische) Ursachen* Schlafforscher haben eine Unzahl von körperlich bedingtenSchlafstörungen beschrieben, doch hier kann nur eine Auswahldargestellt werden. Ausführliche Informationen finden Sie inden angegebenen Büchern.13


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENNarkolepsieUnwiderstehlicher Schlafdrangzu unpassender ZeitDie Schlafattacken bei Narkolepsie habennichts mit Unausgeschlafenheit zu tunund lassen sich daher auch mit viel Schlafnicht beheben. Manchmal können sie durchschweren Stress ausgelöst werden.Narkolepsie ist relativ selten, bedeutet abereine große Belastung für die Betroffenen.Bei Nichterkennung bzw. Nichtbehandlungkann Narkolepsie aufgrund der gravierendenEinschränkungen bis zur Arbeitsunfähigkeitführen.Obwohl es keine dauerhafte Heilung fürNarkolepsie gibt, können Narkoleptiker beientsprechender Behandlung ein nahezunormales Leben führen.Symptome1. übermäßige Tagesschläfrigkeit2. Kataplexie (plötzliche Lähmung derMuskeln),3. Schlafparalyse (Schlaflähmung)4. Hypnagoge Halluzinationen (kurz vordem Einschlafen oder im Halbschlafauftretende visuelle oder akustischeHalluzinationen).Tagesschläfrigkeit: Schlafattackenstellen sich in Situationen ein, in denenGesunde normalerweise ohne Anstrengungwach bleiben, z. B beim Schreiben einesBriefes oder beim Autofahren. Die Folge isteine erhöhte Unfallgefahr.Kataplexie: Die Formen reichen von mildenund kurzen Schwächegefühlen in denKnien bis zum totalen Kollaps, der die Betroffenenplötzlich zu Fall bringt. Die Patientensind während eines solchen Sturzesbei vollem Bewußtsein und erleben das Ereignismit. Kataplexien werden in der Regeldurch Gemütsbewegungen – wie Lachen,Ärger oder Verwunderung – ausgelöst. Inmanchen Fällen werden die Attacken durchdie bloße Erinnerung an bewegende bzw.beunruhigende Geschehnisse nachträglichoder in Erwartung bestimmter gemütserregenderEreignisse im voraus verursacht.Schlafparalyse: Plötzliche Lähmungbeim Schlafbeginn oder beim Aufwachen.Die Betroffenen nehmen ihre Umgebungwahr, können sich aber nicht bewegen. ImGegensatz zu Kataplexien kann die Schlafparalysedurch körperliche Berührung unterbrochenwerden.Hypnagoge Halluzinationen: Lebhafte,traumähnliche Bilder und Vorstellungen,die im Zustand der Schläfrigkeitwahrgenommen werden; manchmal Vorstellung,jemand sei im Raum. Diese Vorstellungenlösen oft Angst aus, da die Betroffenenhalb wach, aber bewegungsunfähigsind. Manchmal werden die Halluzinationenirrtümlicherweise mit den Wahnvorstellungenbei psychischen Erkrankungenverwechselt, so dass zusätzliche Ängsteentstehen.Therapiemöglichkeitenstimulierende MedikamenteVerhaltenstherapieAufklärung des sozialen Umfeldes(Angehörige, Schule, Arbeitgeber)Mehr Information:www.charite.de/sleep/dgsm/rat/narkolep.html14


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchnarchen und Schlafapnoe *Ca. 10 - 30% der Erwachsenen schnarchenim Schlaf. In den meisten Fällenist das nicht gefährlich. Dagegen ist extremlautes und unregelmäßiges Schnarchenin der Regel ein Hinweis auf obstruktiveSchlafapnoe, eine potentiell lebensbedrohlicheErkrankung, die bei 5% der Bevölkerungauftritt, vorwiegend bei Übergewicht.Lautes Schnarchen deutet auf eine Verengungder Atemwege hin, die das Atemholenerschwert. Die typischen Geräuscheentstehen bei der Anstrengung, durch dieverengten Atemwege Luft zu holen. Die Patientenerhalten nicht genug Sauerstoff undschlafen insgesamt sehr schlecht.Die Folgen:Schlafapnoe kann zu Tagesschläfrigkeit führen.Die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällenist 2 – 5 mal höher als bei anderenVerkehrsteilnehmern.Herz-Kreislauf: Durch das Absinken desSauerstoffs im Blut kommt es zu einemkurzen Erwachen (Arousal) mit verstärktenAtemanstrengungen. Dabei muss das Herzverstärkt arbeiten – der Blutdruck steigtan und es kommt zu Rhythmusstörungen.Psychisch: Schlafapnoe kann zu Konzentrationsstörungen,Vergesslichkeit, Zerstreutheit,Angstzuständen und Depressionenführen.Bei Kindern kann eine Schlafapnoe beiÜbergewicht und vergrößerten Mandelnbzw. Polypen auftreten. Da Schnarchen imKindesalter sehr ungewöhnlich ist, solltenEltern stets einen Arzt zu Rate ziehen.Die Frau eines übergewichtigenMannes berichtet:«Nachts höre ich ihn oft schnarchenwie ein Holzfäller. Und plötzlich hört erauf; macht keinen Mucks mehr! Die Zeitvergeht: 10 Sekunden, 20 Sekunden. Ichkriege Angst, will ihn schütteln. Und dannnach einer unendlichen Zeit schnappter mit einem furchtbaren Gurgeln nachLuft. Zehn Mintuen später beginnt dasGanze von vorne. Das macht mir wirklichAngst.»Ursachen der SchlafapnoeObstruktiv: Durch das Erschlaffen derMuskeln im Rachenraum oder durch Verdickungendes Gewebes werden die Atemwegeverengt.Zentral: Fehlleistungen in jenem Teildes Gehirns, das für die Steuerung der Atmungim Schlaf zuständig ist (selten).Risikofaktoren: Übergewicht drücktden Brustkorb zusammen; Alkohol und Beruhigungsmittelführen zur Erschlaffungder Atemmuskulatur.Diagnostik und TherapieAbklärung durch den Hausarzt und imSchlaflaborRisikofaktoren vermindernspezielle Therapien (Sauerstoffmaske,Korrektur des Rachenraums) bei speziellenFällen.Mehr Information:www.charite.de/sleep/dgsm/rat/schnarch.html* Apnoe (griechisch) = Atemstillstand15


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENRuhelose Beine (Restless legs)Das Syndrom der ruhelosen Beine wirdvon den Patienten als besonders quälendempfunden.Ruhelose Beine treten häufig bei Personenauf, die ansonsten gesund sind, undstehen in keiner Verbindung zu psychischenStörungen. Obwohl in den meisten Fällendie Beine betroffen sind, kann sich die Störungauch auf die Arme beziehen.Die Patienten erleben im Sitzen und Liegen,vor allem aber nach dem Zubettgehen, sehrunangenehme Mißempfindungen in Formvon Kribbeln und Ameisenlaufen in den Beinen.Manche Patienten haben dabei großeSchmerzen in den Waden, die allerdingsnicht mit Wadenkrämpfen zu verwechselnsind.Symptome1. Kribbeln, Schmerzen, Unruhe in denWaden vor dem Einschlafen.2. Vorübergehende Linderung durchBewegen / Strecken der Beine. Bewegungsdrangals Gegenreaktion zu denSchmerzen.3. Verhinderung des Schlafes mit nachfolgenderTagesmüdigkeit und Abnahmeder Leistungsfähigkeit.4. Behinderung bei allen Tätigkeiten, dieruhiges Sitzen erfordern: Autofahren,lange Reisen, Sitzungen, aber auch z.B.Konzertbesuche5. Mögliche Folge: Depression, Ängste.Häufigkeit: 5 – 10% der Bevölkerung.Schwere Fälle treten selten und familär gehäuftauf. Restless legs sind häufiger beiälteren Menschen und in der zweiten Hälfteder Schwangerschaft.Verlauf: Das Syndrom kann ohne ersichtlichenZusammenhang über Jahre hinwegZitate von Betroffenen:«Am liebsten würde ich meine Beine abhacken,weil ich das Kribbeln nicht mehraushalte.»«Wenn ich meine Beine nicht bewege, spüreich ein unerträgliches Gefühl, als liefenganze Ameisenhaufen unter meiner Hautentlang.»«Ich habe keine Gewalt über meine Beine.Sie laufen von alleine los und ich mußihnen folgen.»«Wenn ich mich ins Bett lege, ist mir, alswürde ich von einem bösen Geist ergriffen,der mich wie eine Marionette durch dasZimmer treibt.»gelegentlich in Erscheinung treten und anschließendwieder abklingen.Ursachen: Bei etwa 30% vererbt (in diesenFällen schwer zu behandeln). Bei 70% verschiedene Faktoren: schlechte Durchblutung,Nerven-, Muskel- und Nierenerkrankungen,Alkoholismus, Vitamin- undMineralmangel; Medikamente, Koffein,Rauchen, Erschöpfung und Temperaturempfindlichkeit.TherapieVerbesserung mit einfachsten Mitteln:warme Bäder, Beinmassagen, Heizdecken,Eisbeutel, Aspirin zur Schmerzlinderung,regelmäßiger Sport u.a.weitere Möglichkeiten mit einem Facharztbesprechen.Mehr Information:www.charite.de/sleep/dgsm/rat/gliedmas.html16


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENNächtliche BewegungenPeriodische Bewegungen der Gliedmassen(nächtlicher Myoklonus) treten meistim Schlaf auf und entziehen sich jeglicherKontrolle und bewussten Steuerung undhäufen sich während des Non-REM-Schlafsin der ersten Nachthälfte.Die Betroffenen werden durch die Bewegungenbeim Einschlafen oder mitten imSchlaf geweckt (Arousal) und fühlen sicham nächsten Tag nicht ausgeschlafen undzerschlagen.Lebensgefährten der Patienten beschwerensich, daß sie nachts getreten werden, dieBettdecke weckgezogen oder aus dem Bettgeschleudert wird. Bei manchen Patientensind die Bewegungen so zahlreich und heftig,daß sie sich dabei die Beinbehaarungausreißen.Häufigkeit: erhöht mit zunehmendemAlter (bei 25% der 50-65jährigen und bei44% der über 65-jährigen Personen). Bis zu20% der Insomnie-Patienten zeigen periodischeBeinbewegungen.Ursachen: weitestgehend ungeklärt.Die auslösenden Faktoren sind dieselbenwie beim Syndrom der ruhelosen Beine.TherapieKeine besondere Behandlung nötig,wenn Nachtschlaf und Tagesbefindlichkeitnicht beeinträchtigt werden.Einfache Maßnahmen und die Regelnder Schlafhygiene können sehr hilfreichsein.Beratung des Lebenspartners: allenfallsgetrennte Betten empfehlen.Eine medikamentöse Therapie ist nichtbekannt.Zuckungen beim EinschlafenPeriodische Arm- und Beinbewegungenim Schlaf sind von Einschlafzuckungen(nächtliche Muskelzuckungen) zu unterscheiden,die gelegentlich kurz vor demEinschlafen in Form eines plötzlichenund blitzschnellen Zusammenzuckensdes ganzen Körpers auftreten. SolcheEinschlafzuckungen sind normal und beeinträchtigenweder den Schlaf noch dieWachheit am Tage.WadenkrämpfePlötzliche unwillkürliche sicht- und tastbareZusammenziehungen eines Muskels.Gewöhnlich lassen sie sich durch kräftigeDehnung des befallenen Muskels bzw. Betätigungdes Gegenmuskels wieder auflösen.Vielfältige Ursachen erfordern eine ärztlicheAbklärung mit entsprechender Therapie.Hilfreich sind Wechselbäder, BeinundFußgymnastik sowie Warmhalten derBeine. Nächtliche Wadenkrämpfe könnenvermindert werden, wenn man die Füsseüber die Matratze hängen lässt.Medikamente: Magnesium wird häufigempfohlen. Andere Mittel haben mehrNebenwirkungen.Internet:www.neuro24.de/wadenkr.htmN.B.: Verschiedene Medikamente gegen Depressionenkönnen die Symptome verstärken,so dass diese gegebenenfalls durch andereMittel ersetzt werden müssen.17


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENAndere körperliche UrsachenAtmungsstörungen:Verschiedene Funktionsstörungen könnenwährend des Schlafs zahlreicheAtemstillstände verursachen, die wiederumDutzende oder gar Hunderte von Arousals(d.h. nächtliche Weckreaktionen) zurFolge haben. Obwohl sich normalerweisedie Betroffenen am nächsten Morgen andie häufigen Weckreaktionen nicht erinnernkönnen, bietet ihr Schlaf keine ausreichendeErholung.Bei chronischer Bronchitis kommt es zueiner verminderten Sauerstoffsättigungdes Blutes (Alveoläre Hypoventillation).Atmungsbezogene Schlafstörungen nehmenim Alter zu. Sie sind in den meistenFällen harmlos und nicht behandlungsbedürftig.Man sollte jedoch Schlafmittel meiden,da sie bestehende Atmungsstörungenverstärken können.MagenproblemeBeim gastro-ösophagealen Reflux, allgemeinals Sodbrennen bekannt, tritt Magensäurein die Speiseröhre über, was zumehrfachen Schlafunterbrechungen in derNacht führen kann. Findet der Übertritt amTage statt, läßt sich die Flüssigkeit meistensdurch ein paar Schluckbewegungenund eine aufrechte Körperhaltung aus derSpeiseröhre entfernen.Während des Schlafes kann aufgrund derliegenden Position und geringerer Schluckbewegungendie Magensäure nicht abtransportiertwerden, so daß die Betroffenenunter Husten und Würgen aufwachen. DerÜbertritt der Magensäure läßt sich manchmalvermeiden, wenn der Kopf 15 bis 20cm höher gelagert wird. Auch Medikamenteverschaffen in manchen Fällen Erleichterung.Schmerzen:Schmerzen können den Schlaf empfindlichstören: Arthritis, Angina, Fibromyalgie(Muskelfaser-Schmerz) sowie RückenundKopfschmerzen können dazu führen,dass man immer wieder aufwacht und nichtzur Ruhe kommt.Dabei können in manchen Fällen geringevorbeugende Maßnahmen ganz entscheidendzur Entlastung bzw. Verbesserung derSituation beitragen, wie z. B. das Kissenanders zu positionieren, die richtige Matratzeanzuschaffen oder schlafförderndeVerhaltensregeln vor dem Schlafengeheneinzuhalten. Dabei sollte stets der Hausarztmit einbezogen werden.Hormonelle StörungenHyperthyreose führt zu einer erhöhtenAktivität des sympathischen Nervensystems(Herzklopfen, Hitzewallungen etc.)Wechseljahre: In den mittleren Jahrenwirken Hormone und Lebensveränderungenzusammen. Die Frauen schlafen nicht mehrso tief und wachen nachts häufiger auf.Physische Faktoren – wie z.B. Arthritis, Atmungsbeschwerdenoder Hitzewallungen –können sich ebenfalls störend auf den Schlafauswirken. Aber auch emotionale Faktorenwie Streß, Depressionen und Angstgefühlebeeinträchtigen die Schlafqualität.18


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENÄussere Ursachen (extrinsisch)Umweltfaktoren:Temperatur: wenn die Heizung zu hocheingestellt ist und der Raum nicht gelüftetwird.Lärm: Auto- und Flugverkehr, aber auchFernsehen und viele andere Geräusche könnensich störend auf den Schlaf auswirken,selbst wenn der Schlaf nicht direkt unterbrochenwird.Licht: Auch bei geschlossenen Augen kannLicht den Schlaf beeinträchtigen, da es durchdie Augenlider dringt.Stimulanzien:Koffeinhaltige Getränke kurz vor dem Schlafengehenkönnen nächtliches Erwachenprovozieren, obwohl der Schlafeintritt nichtunbedingt beeinträchtigt wird. Auch Nikotinist ein Stimulans und bewirkt, daß Raucherin der Regel langsamer einschlafen alsNichtraucher. Darüberhinaus können sichviele gebräuchliche – einschließlich rezeptfreie– Medikamente gegen Asthma undErkältungen sowie zur Gewichtsabnahmestörend auf den Schlaf auswirken.Alkohol:Ein alkoholischer «Schlaftrunk» kannzwar den Einschlafprozeß beschleunigen,macht aber den Schlaf während der Nachtstöranfälliger und fragiler.Von Hermann Hesse ist folgende Episodeüberliefert:Nach einer Lesung in Nürnberg wurde erin einem Hotel untergebracht. «Das Zimmerwar unerträglich überhitzt. aber mankonnte die dampfende Heizung nicht abdrehenoder gar das Fenster öffnen, weilder Strassenlärm die ganze Nacht überanhielt. Am frühen Morgen schrillte dashöllische Telefon und riss Hesse aus einemtiefen, schwerverdienten Schlaf, den ergerade erst, nach einer schlaflosen Nachtmit rasenden Kopf- und Augenschmerzen,gefunden hatte. Hier in Nürnberg, so erzählter rückblickend, sei er sich «neunzigjährigund sterbend» vorgekommen, «mitzerstörtem Hirn, brennenden Augen undeingeknickten Knien» und habe «keinenanderen Wunsch gehabt, als sich begrabenzu lassen.»Missbrauch vonSchlafmitteln:Bei täglicher Einnahme verlieren Schlafmittelschon nach wenigen Wochen ihre Wirksamkeit.Wenn sie abrupt abgesetzt werden,kann sich die Schlafqualität allerdings nochverschlechtern. Deswegen sollten Schlafmittelunter ärztlicher Kontrolle allmählichreduziert werden. Bedenken Sie, dass auchrezeptfreie Mittel Probleme verursachenkönnen.19


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENJet Lag und Störungen desTag-Nacht-RhythmusSymptome:«Jet lag» ist eine typische Krankheit des 20.Jahrhunderts und wird durch das Fliegenüber mehrere Zeitzonen hinweg verursacht.Man fühlt sich müde, wenn alle wach sindund leidet unter Schlafstörungen, wenn dieandern schlafen. Man leidet unter leichterÜbelkeit und ist zur Unzeit hungrig. Manchesind so sehr aus dem Gleichgewicht ihresnormalen Körperrhythmus gebracht, dasssie sich krank fühlen wie bei einer Grippe.Die Auswirkungen sind individuell unterschiedlich.Als Daumenregel gilt: Pro StundeZeitzonenunterschied braucht der Körpereinen Tag zur Anpassung.UnregelmässigerArbeitsRhythmus:Schichtarbeiter sowie Berufstätige, die amWochenende länger als unter der Woche arbeiten,sind besonders anfällig für Schlafprobleme.Für sie ist es besonders wichtig,unter Berücksichtigung beruflicher Vorgabeneinen regelmäßigen Rhythmus zuentwickeln, um den Körper an das Schlafenund Wachsein innerhalb bestimmter Zeitenzu gewöhnen.Lernen im SchlafWas hilft gegen Jet lag?Drei Strategien helfen zur Umstellung:helles Licht stellt die biologischeUhr vorKörperliche AktivitätMedikamente: Schlafmittel könnenauf dem Flug helfen, Schlaf vorzuholen,um die Uhr umzustellen. Auch am Zielortkann ein Schlafmittel helfen, sichbesser an den örtlichen Rhythmus zugewöhnen.Manche schwören auf Melatonin, dochhat eine Studie keine messbaren Vorteilegezeigt.Mehr Information zur Zeitumstellungbei «Jet lag» findet sich in dem lesenswertenBuch von W. Dement.Ein guter Tag-Nacht-Rhythmus hilft auchbeim Lernen. In der Schule wie am Arbeitsplatzsind ausgeschlafene Menschen vielmehr bei der Sache, können mehr aufnehmenund neue Ideen klarer durchdenken.Im Schlaf sortiert das Gehirn die Informationendes Tages und macht Platz für neueInformationen. Der Schlaf verankert dasLangzeitgedächtnis und trägt manchmalsogar dazu bei, dass man ein Problem amnächsten Tag in kürzester Zeit lösen kann.Es ist also nicht sinnvoll, bis tief in die Nachthinein zu studieren, um am nächsten Tagerfolgreicher zu sein.Ein Irrtum: Nicht bewiesen ist die Behauptung,man könne mit einer Tonbandkassetteunter dem Kopfkissen schnellerund besser lernen.20


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENParasomnien:Schlafwandeln und Pavor nocturnusDer Begriff «Parasomnien» umfasst Störungen, die im erstenDrittel des Schlafes in den Schlaf einbrechen und zu einerAktivierung der Gefühle und der Muskeln führen.Die Betroffenen wechseln rasch zwischen Schlaf- und Wachzustandhin- und her. Sie wachen genug auf, um das emotionaleGehirn und die elementaren motorischen Zentren zuaktivieren, ohne jedoch die Funktionen des Nachdenkens unddes Selbstbewusstein einzubeziehen. Es besteht deshalb aucheine Amnesie für die Erlebnisse.Folgende Störungen werden zu den Parasomnien gezählt:Schlaftrunkenheit: Verwirrtheit beim Aufwachen. DiePerson weiss nicht, wo sie ist, verkennt Personen und kanndie Situation nicht einordnen. Dauer: Minuten bis Stunden.Schlafwandeln: Aufrichten und Gehen im Schlaf. DieBetroffenen erleben Trauminhalte, wo sie auf der Fluchtsind und setzen sich zur Wehr, wenn sie aufgehalten werden.Oftmals treten gleichzeitig Herzklopfen und Schwitzen auf(vegetative Symptome). Die Betroffenen können sich nachhernicht mehr das Geschehen erinnern (Amnesie).Ursachen:aus BILDPavor nocturnus: Plötzliche intensive Furcht im Schlafmit Schreien und allen vegetativen Zeichen der Angst: Herzklopfen,rasches Atmen, weit aufgerissene Augen, Muskelverspannung.Beim Aufwachen sind die Betroffenen nocheinige Zeit verwirrt und können sich nicht mehr an das Ereigniserinnern (im Gegensatz zu Albträumen, wo der Traumbis ins Detail erinnert wird).Die Störungen sindhäufig bei Kindern. BeiErwachsenen könnensie durch Schlafmangel,Medikamente und seelischenStress ausgelöstwerden.Insgesamt besteht aberkein höheres Risiko füreine psychische Krankheit.21


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlaf, Kindlein, schlaf!Neugeborene schlafen pro Tag durchschnittlich16 bis 18 Stunden, doch baldpassen sie sich dem Rhythmus von Tag undNacht an: Mit zwei Monaten schlafen oderruhen die Hälfte der Neugeborenen nachtsmindestens fünf Stunden, so dass sich derSchlafrhythmus der Eltern wieder etwasnormalisieren kann.dern häufig auf. In extremer Form könnensie eine Form der Parasomnie (vgl.Seite 21) sein, und müssen nicht auftiefe psychische Störungen hinweisen.Veränderungen und Sorgenkönnen den Schlaf eines Kindes empfindlichstören, z. B. ungewohnteAktivitäten (Campen), Krankheit oderfamiliäre Ereignisse (Umzug oder Geburteines Kindes). Für Kinder ist es deshalbsehr hilfreich, ihre Sorgen mit denEltern zu besprechen. Besprechen SieProbleme oder notwendige Vorbereitungenauf ungewöhnliche Ereignissestets tagsüber und nicht vor dem Schlafengehen,um diese Zeit von jeglicherAufregung freizuhalten.Hilfen für Babies:Bringen Sie Ihrem Baby die Verbindungzwischen Bett und Schlafen bei.Legen Sie die Nacht als Zeit des Schlafensund den Tag als Zeit des Wachensfest. Spielen Sie in der Nacht grundsätzlichnicht mit Ihrem Kind.Bedenken Sie, dass auch der Schlaf derEltern wichtig ist, um dem Kind die nötigeFürsorge und Stabilität zu geben.Hilfen für kleine KinderFühren Sie regelmässige Schlafritualezur Förderung der Schlafbereitschaftein.Das vertrauensvolle Gute-Nacht-Gebetist mehr als ein Ritual – es vermitteltdem Kind ein tiefes Urvertrauen inGott, der über allem steht.Ängste und Albträume treten bei Kin-Lerchen und EulenWie bei Erwachsenen unterscheidet manauch bei Kindern zwischen zwei unterschiedlichenTypen: es gibt Morgentypenbzw. «Lerchen» und Nachttypen bzw.«Eulen».Die Eigenschaften, die einen Menschenzum Morgen- oder Nachttyp machen, manifestierensich bereits sehr früh und bleibenein Leben lang bestehen.Mehr Information:Ulrich Rabenschlag: So finden Kinder ihrenSchlaf. Informationen und Hilfen für Eltern.Herder.22


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENRatschläge für einen gutenSchlaf bei SchulKindern1. Kinder im Alter zwischen sieben undzehn Jahren brauchen durchschnittlichsechs Stunden Tiefschlaf und vier StundenZeit zum Träumen.2. Ihr Schlaf vor Mitternacht, genauervor ihrem biologischen Tiefpunkt in derNacht, spielt für die Regenerierung derKörperkräfte eine wichtige Rolle, diedurch den Schlaf in der zweiten Nachthälftenicht ersetzt werden kann.3. Weniger Schlaf vor Mitternachtführt zu vermehrten Anstrengungen desSchulkindes, sich selbst zu stimulieren.Es kommt zu Reizoffenheit und Überaktivität.Auch Fernsehkonsum ist eineForm derÜberstimulation.4. In dieser Zeit intensiven Lernensbraucht das Kind einen hohen Traumanteil.Schlafstörungen verstärken nicht nurden Schlafdruck, sondern vermindernauch die Lernfähigkeit.5. Die Angst vor Dunkelheit und Alleinseinmacht jedes Kind durch. AndereÄngste werden oft durch das Fernsehenverursacht, oder durch Schulstress undFamilienstreit.6. Geben Sie dem Kind tagsüber Zeitsich auszutoben und verordnen Sie ab 20Uhr eine Zeit der Ruhe ohne Aufregungund Fernsehen. So kann es am besten seinenSchlaf holen.12. bis 20. LebensjahrDer Abschnitt zwischen dem 12. und20. Lebensjahr ist eine Phase raschenWachstums und rasanter Entwicklungen,die in ihrer Schnelligkeit nur durch die Kindheitübertroffen wird.Studien haben belegt, dass Teenagerdurchschnittlich eine Stunde mehr Schlafbenötigen als in den Jahren davor. Wenn sieso lange schlafen könnten, wie sie wollten,würden sie durchschnittlich ca. 9 Stundenschlafen. Gewöhnlich schlafen Teenageraber ca. 1 bis 2 Stunden weniger. WegenSchlafmangels dösen sie im Unterricht einund schlafen am Wochenende sehr lange,um die Schlafdefizite zu kompensieren.Für die Eltern ist es in der Regel sehrschwer, das Schlafverhalten von Teenagernauf seine Normalität zu beurteilen. SpäteZubettgehzeiten, zu viele Hausaufgabenund Drogen (inkl. Alkohol) können denSchlaf von Teenagern negativ beeinflussen.(nach Rabenschlag)23


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlafstörungen bei DepressionenPraktisch jede Depression geht mit Schlafstörungeneinher. Oftmals ist das Einschlafenverzögert, und der Schlaf wirddurch häufige Unruhe, manchmal auchdurch schwere, angstbesetzte Träume gestört.Man unterscheidet drei Formen:1. Einschlafstörungen: Es besteht eineverlängerte Einschlaflatenz (die Zeit vomZu-Bett-Gehen bis zum effektiven Einschlafen).2. Durchschlafstörungen: die Personwacht nachts auf und hat Mühe, den Schlafwieder zu finden.3. Frühes Erwachen: dieses ist besonderskennzeichnend für eine endogene Depression.Die Betroffenen wachen oft schon umdrei oder vier Uhr auf und finden den Schlafnicht mehr.Veränderungen lassen sich auch in derSchlafarchitektur feststellen: Der Tiefschlafist vermindert und der REM-Schlaf wird indie erste Nachthälfte vorverschoben: UnruhigeTräume sind die Folge.Die Stresshormone (insbesondereCortisol) sind in der Depression deutlicherhöht und tragen wesentlich zur Schlafstörungbei.Aus dem Schlafprotokoll einerdepressiven Patientin:«Um 1.00 Uhr aufgewacht, hellwach,Schweiss, Herzklopfen, ca. um 3.00 einwenig beruhigt, jedoch nicht mehr richtigeingeschlafen. Ca. seit 3 – 4 Tagen erneutalles viel stärker. Schlafe gut ein, bin aber 1– 3 Stunden später wieder wach, Schweiss,Herzklopfen, unruhig, leichtes Angstgefühl,spüre sehr starke Unruhe, kein Entspannenim Kopf möglich, ewiger Druckund Anspannung im Kopf. Was plagt michdenn so?»Zur TherapieIn der Behandlung von Depressionen istes deshalb wichtig, am Anfang auch etwasgegen die Schlafstörungen zu geben, umwenigstens in diesem Bereich eine Linderungherbeizuführen.Zwei Strategien haben sich bewährt:1. Antidepressiva, die den Schlaffördern (z. B. Trimipramin oder Mirtazapin).Mit der Besserung der Depressionvermindert sich der Pegel der Stresshormoneund es kommt zu einer Normalisierungdes Schlafes. Dies gilt auch für Antidepressiva,die nicht unbedingt dämpfendwirken. Die Wirkung eines Antidepressivumssetzt nach ca. 10 Tagen ein.2. Schlafmittel können zu Beginn derTherapie den Leidensdruck deutlich vermindernund dem depressiven Patienten wenigstensin der Nacht eine Pause geben. Esist darauf zu achten, dass die Schlafmittelreduziert werden, sobald das Antidepressivumgreift.24


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlafentzugEs erscheint beinahe paradox, dass beimanchen Depressionen ausgerechnetder Schlafentzug eine depressionslösendeWirkung haben kann, besonders bei so genanntensaisonalen Depressionen, die regelmässigzur gleichen Zeit auftreten.Durchführung in der Klinik:Die Patienten werden über die möglicheWirkung eines Schlafentzuges informiertund halten sich durch Gespräche, Spiele,oder durch gemeinsame Arbeiten (wie z.B.Kuchen backen) wach.Am nächsten Tag nehmen sie am normalenAbteilungsprogramm teil und dürfenerst wieder am Abend ins Bett gehen.Die Folgen sind erstaunlich: Nicht wenigePatienten erleben nach der durchwachtenNacht ein regelrechtes Hoch, wie siees schon über Wochen und Monate nichtgekannt haben.Leider hält die Wirkung nur begrenzt an.Doch für manche Patienten ist schon dieErfahrung, dass sich der depressive Nebelüberhaupt durchbrechen lässt, bereits einGrund für neue Hoffnung.«Die Last des kommendenTages liegt auf mir wie einzentnerschwerer Berg, dermich zu erdrücken droht. Ichfühle mich erschöpft, wiegerädert, und doch kann ichkeine Ruhe mehr finden! DasWarten auf den Morgen isteine unendlich scheinendeQual.»Schlafstörung undPsychosePsychosen sind Erkrankungen, bei denenDenken und Fühlen nicht mehr unter derbewussten Kontrolle eines Menschen stehen.Oftmals werden die psychischen Störungenauch von Störungen der Aktivitätund der biologischen Rhythmen begleitet.Zu den Psychosen gehören u.a.:Erkrankungen aus dem schizophrenenFormenkreis.Manische Phasen bei der manischdepressivenErkrankung.Drogen- oder medikamenteninduziertePsychosen.Bei manischen Phasen empfinden diePatienten ein Gefühl der Stärke und derVitalität. Das Schlafbedürfnis ist vermindertund geht mit übermäßiger Aktivitäteinher, die oft keine Rücksicht auf die Bedürfnisseanderer nimmt (z.B. lautes Radiohörenmitten in der Nacht). Bei schizophrenenPsychosen kann es auch zu einerTag-Nacht-Umkehr kommen.Schlafstörungen sind ein feiner Indikator,dass die Erkrankung wieder stärkerwird. Es empfiehlt sich, die Medikamenteso einzustellen, dass die betroffene Personregelmäßig erholsam schlafen kann.25


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENTräume – Fenster der Seeleoder nächtlicher Hausputz?Alle Menschen kennen Träume in ihremLeben, die sie stark beschäftigen. Dabeischeinen die Bilder, die einem am Morgennoch präsent sind, oft wirr, ohne klarenZusammenhang, manchmal gar anstössig.Schreibt man den Traum nicht auf, soverflüchtigt sich das Erlebte ohne weitereErinnerung.«Ähnlich einem Funker, dereine verstümmelte Morsemeldungerhält und versucht, ausdem Punkt- und Strichsalatsinnvolle Sätze zu rekonstruieren,versucht das Hirn, ausdem Impuls-Chaos einen Sinnherauszulesen – deswegen sindTräume so wirr wie ein Stückvon Beckett und ebenso deutungsschwanger.»Während die einen im Traum immer einetiefere Bedeutung sehen – «Jeder Traumenthält eine Botschaft des Unterbewusstseins»– behaupten radikale Neurologen,Träume seien nichts anderes als die physiologischeReaktion des Großhirns aufein ungeordnetes Trommelfeuer von Nervenimpulsen,durch das nützliche Erinnerungsmusterverstärkt und irreleitende gelöschtwürden – ein nächtlicher Hausputzdes Gehirns sozusagen.Die moderne Schlafforschung gehteher einen Mittelweg: In der Tat brauchtdas Gehirn die Ruhe der Nacht, um all dievielen Informationen des Tages zu sortieren.Doch diejenigen Themen, die starkvon Gefühlen und Konflikten besetzt sind,Geschehnisse im Schlafhaben eine wichtige Bedeutung für dieseelische Gesundheit und das Wohlbefindensind abhängig von der aktuellen Lebenssituationund der Lebensgeschichteeines Menschensind beeinflussbar und therapeutischrelevantinteressante FaktenErinnerte Träume machen nur einenBruchteil der nächtlichen Hirnaktivität(ca. 2%) aus.Erinnert wird meist nur die letzteTraumepisode.Traumerleben wirkt sich auch auf denKörper aus (z.B. Herzklopfen bei Angst).werden stärker ins Traumbewusstseinkommen und den Schlafenden stärker beschäftigen.Ein sorgfältiges Herangehen an denTraum kann deshalb viele Facetten ansprechen,die für die betroffene Person wichtigsind und sie besser verstehen lassen, wersie ist.26


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENHäufige ThemenPeinlichkeiten (man steht ohne Kleiderda; hat etwas Wichtiges vergessenetc.)Flucht vor VerfolgungFallen ins NichtsAngriff oder ÜberfallFliegen könnenSich verirrenVersagen in einer PrüfungErotische PhantasienReisen (im Zug, Auto, Schiff)ArchetypenC.G. Jung ging davon aus, dass in den Träumenuralte Weisheit auftauche, die ihrenUrsprung im «kollektiven Unbewussten»habe. Aus dieser tiefen Schicht tauchtendann Urbilder der Menschheit auf, dieman aus Märchen und Mythen kennt. Siesymbolisieren typische Erfahrungen, dieMenschen während aller Jahrtausende immerwieder gemacht haben. Hier einigeBeispiele:Engel und Dämonen, Helden undGötter, magische Gegenstände (Steine,Kelch, ein Schiff).Tiere, die reden können; Tiere derKraft, wie Adler, Bär und Wolf; derSchmetterling als Symbol der Wandlung.Animus – die Seele in ihrer männlichenForm; namen- und gesichtsloseFiguren, etwa «ein Soldat», «der Lehrer».Anima – die Seele in ihrer weiblichenForm, ebenfalls namen- und gesichtslos,etwa «eine weisse Frau», «ein Mädchen».Der Schatten ist diejenige Seite inuns, die nicht in unser Selbstbild passt– das Abgelehnte oder Böse in uns.Der Traum vom Fliegen ist mehr als dasProdukt der Hirnimpulse beim Rollen derAugäpfel in der REM-Phase.Jeder Traum ist eine ganz persönliche Erfahrungdes einzelnen. Das gleiche Traumbildkann ganz unterschiedliche Bedeutungenfür verschiedene Leute haben. Eswird durch ihre individuellen Erfahrungen,ihren Lebenskontext und den Kontext desTraumes bestimmt, in dem das Bild auftritt.Wodurch werden die Themenim Traum vorgegeben?Erinnerungen an aktuelle Ereignissedes Tages («Tagesrest»).Erinnerungen an die Kindheit.Erinnerungen, die mit starken Gefühlenverbunden sind.(uneingestandene) Wünsche, Begierden,Hoffnungen und Ängste.27


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENTraumsymboleIn vielen Träumen kommen Gegenstände,Orte oder Handlungen vor, die auf denersten Blick nicht logisch erscheinen. Inder Sprache der Traumdeutung spricht manvon „Symbolen“.Auch wenn viele dieser Traumelementevielleicht nur Erinnerungsfetzen sind, sokönnen sie doch die träumende Personanregen, über sich selbst und ihr Lebennachzudenken.«Unsere Traumintelligenz drückt sichmit Hilfe dieser Symbolsprache sehr anschaulichin Bildern aus, die unmittelbarunsere Gefühle ansprechen. Diese Bildersind wie Kürzel – ein Symbol erzählt eineganze Geschichte, und ein einziges solchesBild kann spontanes Verstehen schaffen,weil es uns tief emotional berührt.» (Vollmar)Traumsymbole bedeuten nicht für jedePerson dasselbe. Einige Fragen, die denSymbolgehalt erhellen können:Wo habe ich diesen Gegenstand schoneinmal gesehen?Was hat er mir in der Vergangenheit bedeutet?Was bedeutet er mir jetzt?Welchen Sinn könnte er verkörpern?Manche Menschen führen deshalb ein persönlichesTraumsymbol-Buch mit Bildern,die für sie eine besondere Bedeutung haben.So führen Sie einTraum-TagebuchLegen Sie Papier und Stift am Bettbereit.Gehen Sie den Traum vor dem Aufschreibenzweimal durch, damit Sienicht wichtige Details vergessen.Notieren Sie dann möglichst alles, wasSie im Traum gesehen, erlebt und gefühlthaben − in Ich-Form, im Präsensund ohne Deutung.Notieren Sie anschliessend, mit welchenGefühlen Sie aufgewacht sind,und Ihre ersten Assoziationen undDeutungsansätze. (nachVollmar)Das Traumsymbol Wasserdeutet in der Traumsymbolik auf Gefühlehin (Tiefe und Beweglichkeit). Doch eskommt ganz auf die Erfahrungen an, die jemandmit Wasser gemacht hat, ja sogar aufdie Kultur. Ein Seemann wird Wasser ganzanders erleben (vielleicht als bedrohlicheTiefe) als ein Nomade in der Wüste (Wasserals labendes Element, Ziel der schier endlosenReise durch die flirrende Hitze).28


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENFragen zur Deutung von TräumenFragenDie ratsuchende Person erzählt in kurzen Zügenihren Traum. Dieser wird dann anhand der folgendenFragen besprochen:Was ist mein Hauptgefühl?(Intensivste Stelle)Wie sehe ich mich selbst?Welchen Wert, welche Bedeutung gebe ichmir?Wie sehe ich die andern? (nahe stehendeMenschen) — Welche Bedeutung haben siefür mich?Wie sehe ich die Welt? (Fernstehende) — Wiefühle ich mich in der Welt?Wie aktiv oder passiv bin ich?Was kann ich?Wie würde ich den Verlaufdes Traumes wünschen?Welchen Bezug zur Gemeinschaft habe ich?A N M E R K U N G E NDer Traum wird als Geschichte, als Metapher,als Märchen mit einem verfremdeten Sinn betrachtet,der durch die Fragen auf das persönlicheLeben angewendet wird.Was will ich erreichen?Welches Ziel verfolge ich?Welche Methoden oder Verhaltensweisenwende ich an?Welcher Bezug besteht zurGegenwart?Welche Herausforderung für das Leben enthältder Traum?Ergänzende Bemerkungen29


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENAlbträumeAlbträume sind Alarmrufe der Seele, dieuns drastisch klar machen, dass etwasnicht stimmt. Oft sind die Traumbilder aberso verzerrt, dass man zuerst herausfindenmuss, wodurch die Seele so aufgewühltwird.Albträume sind oft Ausdruck innererKonflikte oder Hinweis auf eine sich abzeichnendeLebenskrise, die grosse innereAngst auslöst.Umgang mit Albträumen:Fragen Sie sich, welche Konflikte Sie beschäftigen.Was macht Ihnen Angst? WelcheSituation erscheint Ihnen aussichtslosoder erstickend?Denken Sie aber auch an die positiven Aspekte:Der Albtraum zeigt Ihnen vielleichtauch schon Wege zu einer Lösung.In dem preisgekrönten Film «Lola rennt»erlebt die Heldin den drohenden Todihres Freundes, wenn sie ihm nicht rechtzeitigzu Hilfe kommt. Drei mal träumtsie ihr gehetztes Rennen gegen die Zeit.Durch die Veränderung der Situation istes schließlich möglich, ihn in einer atemberaubendenAktion in letzter Minute zuretten. Lola‘s atemloses Rennen widerspiegeltein häufiges Thema von Ängsten imTraum.WarnträumeWarnträume sind eine Form von Albträumen.Sie sind sehr intensiv, werden nichtvergessen, werden meist überdeutlich imDetail erinnert und spuken einem noch langim Kopf herum. Der Träumer wird emotionalüberaus stark angesprochen. Oft enthältder Warntraum eine Warnung an eine geliebtePerson, für die man Schaden befürchtet.Ob allerdings der Traum eine echte Warnungdarstellt oder einfach eine übermässigeAngst, zeigt sich erst durch den Laufder Dinge.Beispiel: Die Frau des Pilatus ließ ihremMann eine Warnung zukommen: «Habenichts zu schaffen mit diesem Gerechten.Ich habe heute viel erlitten im Traum seinetwegen!»30


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENAlbträume und seelisches TraumaSchwere seelische Erfahrungenwie etwa das Miterlebeneiner Katastrophe, Misshandlungdurch Folter oderKriegsgefangenschaft (z.B.bei Flüchtlingen), aber auchGewalt in der Familie oder einsexueller Missbrauch könnenschwere Schlafstörungen nachsich ziehen.Typischerweise halten derartigeSchlafstörungen auchnoch an, wenn das Traumalängst vergangen ist. Dieschrecklichen Erlebnisse werden immerwieder erlebt und tauchen auch in wiederholten,stark belasteten Träumen auf.Diagnostisch spricht man von einer«posttraumatischen Belastungsstörung»(PTBS). Studien haben gezeigt, dass Erwachseneumso häufiger über schlechteTräume klagen, je öfter sie ihre Kindheit alsschlecht erlebt haben (vgl. untenstehendeStatistik).Ein Plakat der Opferschutzorganisation«Dunkelziffer» (www.dunkelziffer.de)Unten: Zeichnung eines kurdischenMannes, der gefoltert wurde und unterdauernden Albträumen leidet.Je schlechter die Kindheit war, desto häufigerwerden selbst von gesunden Menschenschlechte Träume berichtet. (nacheiner Umfrage des Basler Psychologen R.Bader)31


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSchlafen und Träumenin der BibelGott redet mit den Menschendurch Träume und «Gesichte».Gott sagt Menschen seine Gegenwartim Traum zu. Auf seiner Fluchtsah der Erzvater Jakob im Traum eineLeiter, die bis in den Himmel reichte(1. Mose 28,10–16). «Als nun Jakob vonseinem Schlaf aufwachte, sprach er:Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte,und ich wusste es nicht!»Im Traum wird die Zukunft gezeigt.Joseph träumt die Zukunft voraus,kann Träume deuten und prägtdas Leben Ägyptens durch seine weisenRatschläge. Daniel kann Träume deutenund wird zu einem bedeutenden Ratgeberim alten Persien.Träume dienen als Warnung.«Geht nicht zurück auf dem gleichenWeg zurück.» (Warnung an die Weisenaus dem Morgenland). —«Gott kam zu Laban, dem Aramäer, imTraum des Nachts und sprach zu ihm:Hüte dich, mit Jakob anders zu reden alsfreundlich.» (1. Mose 31,24)ABER:Träume können auch täuschenund in die Irre führen: «Sie sagen:Mir hat geträumt, mir hat geträumt.Lüge weissagen sie und ihres HerzensTrug. Ein Prophet, der Träume hat, dererzähle Träume; wer aber mein Worthat, der predige mein Wort recht.»(Jeremia 23,26–28)Jakob‘s Leiter auf einer alten koptischenIkone.Der Schlaf ist wichtig, um vonDepressionen zu genesen undeinem Burnout vorzubeugen:Der Prophet Elia litt unter einer schwerenErschöpfungsdepression. Schließlichrannte er, lebensmüde, hinaus in die Wüste.«Und er legte sich hin und schlief unterdem Wacholder. Und siehe, ein Engelrührte ihn an und sprach: Steh auf und iss!... Und als er gegessen und getrunken hatte,legte er sich wieder schlafen.» (1. Könige19,3 – 8) Erst danach bekam er einenneuen Auftrag.32


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENTräume auf demgeistlichen WegAnselm Grünn den Träumen spricht Gott mit uns,«Iaber es ist eine dunkle Sprache, eineSprache in Rätseln. Wir sind jedoch daraufangewiesen, auf die Träume zu hören, wennwir Gottes Wort für uns vernehmen wollen,wenn wir wissen wollen, wie wir richtig lebenkönnen.In unserem bewussten Leben sind wir oftblind und taub gegenüber Gott. Wir übersehen,was er uns sagen will. Wir hören nurauf unsere eigenen Gedanken oder auf dieMenschen um uns herum. Aber wir überhörenGottes Stimme.Da muss Gott sich inunseren Träumen vernehmbarmachen.Wenn die Bibel vonVisionen spricht, dannmeint sie nicht außergewöhnlicheEreignisse.Es sind Erscheinungenfür Menschen gemeint,Erscheinungen, die sich in unserer Psychebemerkbar machen und die wir mit unsereminneren Auge wahrnehmen können.Auch zu uns möchte Gott in der Nachtsprechen. Dann, wenn wir das Heft aus derHand gegeben haben, kann er viel leichterzu uns vordringen. Doch es bedarf unsererEhrfurcht und innerer Wachsamkeit, umGottes Wort in der Nacht zu vernehmen.Die Bilder stellen uns vor die Aufgabe, unserengegenwärtigen Zustand genau zu betrachtenund uns auszusöhnen mit unserenWunden, unsere Wunden Christus hinzuhaltenund sie von ihm heilen zu lassen.»Gottesdienste fürSchlaflosePfarrer Erwin Anderegg, ehemaliger Seelsorgerder Psychiatrischen UniversitätsklinikBasel gestaltete über viele Jahre Gottesdienstefür Schlaflose unter dem Thema«Auf der Schwelle zur Nacht». Erberichtet:«Gott wohnt nicht nur im Licht. Er kannauch im Dunkel gegenwärtig sein. Die Teilnehmendenerhielten Kerzen, die an der Osterkerzeentzündet wurden und brachten sieals Lichter der Hoffnung in die Mitte. Musik(klassische Gitarre), unter seelsorgerlichenAspekten ausgewählt, erhielt besondere Bedeutung.Biblische Texte oder Legenden bildetenden Ausgangspunkt zu meditativenAuslegungen. Das Christusmahl verbanduns miteinander. Jemand sagte: «Es war wieeine Art geistige Nachtapotheke.»Unsere Gottesdienste haben nicht dasZiel, die Teilnehmenden zum Schlaf zu bringen,sondern sie sinnvoll und in Gemeinschaftwachen zu lernen. Dies kann allerdingsvon so viel inneren Zwängen befreien,dass Teilnehmende manchmal nach ihrerHeimkehr den schon nicht mehr erhofftenSchlaf gefunden haben.»Mehr Information:Anselm Grün: Träume auf dem geistlichenWeg. Münsterschwarzach.33


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENWann sind Schlafmittel sinnvoll?Schlaftabletten können einen gesundenund erholsamen Schlaf unterstützenund die Wachheit am Tage steigern. Allerdingshält die positive Wirkung nicht langean, da Schlaftabletten die eigentlichen Ursachennicht beseitigen.Vor jeder medikamentösen Behandlungsollte grundsätzlich eine Beratung beimHausarzt erfolgen, der erst nach einergründlichen Untersuchung und entsprechenderDiagnose die geeignete Behandlungsmethodeempfehlen kann.kurzfristigeR GebrauchDer kurzfristige Gebrauch von Schlaftablettenkann bei folgenden Problemen helfen:Jet Lag: Zeitliche Verschiebungen derSchlaf- und Wachzeiten beim Wechsel vonZeitzonen können sowohl Insomnie alsauch Tagesschläfrigkeit auslösen. Schlaftabletten,die zur Gewöhnung des Körpersan die neue Zeitzone über einen Zeitraumvon 1 bis 3 Tagen eingenommen werden,können zur Verbesserung des Schlafes beitragenund Tagesschläfrigkeit mindern.Schichtwechsel: Zur Vermeidungeines durch Schichtarbeit bedingten „chronischenJet Lag“ können Schlaftablettendurchaus nützlich sei. Sie erleichtern dasEinschlafen und fördern die Wachheit währendder Schicht, wenn sie beim Schichtwechselüber 1 bis 3 Tage eingenommenwerden.Akuter Stress: Schlaftabletten könnendazu beitragen, die streßbedingte Entwicklunglangwieriger Schlafschwierigkeiten zuverhindern, die ansonsten, z. B. bei einemTodesfall in der Familie oder durch denWechsel des Arbeitsplatzes, leicht entstehenkönnen.Vorhersehbarer StreSS: Schlaftablettenkönnen bei vorhersehbarem Streß sehrnützlich sein, wenn sie bewußt eingesetztwerden. So können sich beispielsweise Menscheneine unruhige und schlaflose Nachtersparen, die vor wichtigen beruflichen Terminengenerell nicht schlafen können.Chronische Schlaflosigkeit: DieVerfügbarkeit von Schlaftabletten wirkt aufMenschen, die unter chronischer Insomnieleiden, sehr beruhigend. Schlafmittel bietenschnelle Hilfe bei periodisch auftretenderInsomnie und mindern die mit Schlaflosigkeiteinhergehende Anspannung und Beunruhigung.Bestimmte Erkrankungen: Bei periodischenGliedmaßenbewegungen könnenSchlaftabletten zur Verbesserung des Schlafesbeitragen.Holzschnitt von Ignaz Epper 191734


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENEinige RegelnUmgang mit SchlafmittelnEs wird empfohlen, 1 bis 2 Nächte lang eineSchlaftablette einzunehmen und diese inden nachfolgenden 1 bis 2 Nächten wiederabzusetzen, nachdem sich der Schlaf verbesserthat.Normalerweise werden Schlaftablettenfür maximal 3 Wochen verschrieben. Dertägliche Gebrauch ist nur in absoluten Ausnahmefällenund unter ärztlicher Kontrollezu empfehlen. Schlaftabletten sollten niemalszusammen mit Alkohol eingenommenwerden.Rezeptfreie Schlafmittel enthaltenmeistens einschläfernd wirkende Antihistamine.Ihre Wirkung kann ebenso wiebei rezeptpflichtigen Mitteln bis zum nächstenTag anhalten, weshalb sie mit Vorsichtzu gebrauchen sind.Wirkungsdauer:mittel mit kurzer Wirkungsdauersollen ihre Wirkung während des Schlafesentfalten und danach schnell abklingen,um unerwünschte Schläfrigkeit am Tage zuvermeiden. Zu den kurzzeitig wirkendenSchlafmitteln zählen Triazolam, Temazepamund Zolpidem.5 K-RegelKlare IndikationKleinstmögliche DosierungKürzestmögliche Behandlungszeitbis maximal 4 WochenKeinesfalls abrupt absetzenKontraindikationen beachtenPflanzliche MittelJohanniskraut (Hypericum perforatum):milde stimmungsaufhellendeWirkungHopfenzapfen (Lupuli strobulus): beruhigendeund schlaffördernde WirkungMelissenblätter (Melissae folium):leicht dämpfende und beruhigendeWirkungPassionsblumenkraut (Passifloraeherba): leicht sedierende WirkungBaldrianwurzel (Valerianae radix): beruhigendeund schlaffördernde WirkungKräuterTees und pflanzlicheMischpräparate Nebenwirkungsratein der Regel sehr gering.mittel mit langer Wirkungsdauerdehnen ihre Wirkung auf den folgenden Tagaus und eignen sich somit nur, wenn – z. B.bei Krankheit oder übermäßiger Aufregung– Bettruhe verordnet wurde und somit Müdigkeitam Tag ausdrücklich erwünscht ist.Baldrian-Wurzel35


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMEN10 Tipps zur SchlafhygieneDas Schlafzimmer sollte ruhig und1 gut belüftet sein. Idealtemperatur ca.14 bis 18 Grad. Wohliges Bett; Decke nichtallzu schwer.Keine schwere Mahlzeit vor dem2 Schlafengehen. Meiden Sie fette, scharfgewürzte Speisen.Alkohol mag zwar beruhigen und3 dämpfen, aber der spätere Schlafrhythmuswird gestört. Verzichten Sie am spätenNachmittag auf Kaffee und Cola. AuchSchwarztee enthält Coffein.Körperliche Tätigkeit fördert die4 Müdigkeit. Keine Spitzenleistungen,dafür ein Abendspaziergang (vielleicht mitdem Hund?).Training des vegetativen Nervensystems.Manche haben gute Erfahrungen5mit warmen und kalten Duschen oder miteinem kalten Fussbad.«Abschalten» am Abend. VermeidenSie alles, was den Adrenalinpegel6hochtreibt. Schalten Sie den Computer umspätestens 19.00 Uhr ab; lesen Sie etwasLeichtes, keine Arbeitsunterlagen mehr!Ziehen Sie evtl. den Telefonstecker aus undschalten Sie das Handy aus! TV-Konsum begrenzen.Verzichten Sie auf die Spätnachrichten.Morgen ist wieder ein Tag.Regelmässigkeit und «Abendrituale»:Zur gleichen Zeit zu Bett7gehen und am Morgen aufstehen. Eine gewisseRoutine am Abend bereitet die Seelevor zum Einschlafen.Nicht länger im Bett sein als notwendig.Lieber aufstehen und lesen als8sich stundenlang im Bett wälzen.Paradoxie: «Ich will gar nicht einschlafen»;Durchbrechen des Terrors der9Erwartungshaltung.Schlafmittel zurückhaltend einsetzen.Versuchen Sie auch natür-10liche Mittel oder Grossmutters Milch mitHonig.Geben Sie sich Zeit und verlieren Sienicht die Hoffnung. Wenn Sie diese Regelneinhalten, wird sich der Schlaf wieder weitgehendnormalisieren. Eine gelegentlicheunruhige Nacht ist nicht schädlich. Deshalb:keine übertriebenen Befürchtungen; derSchlaf reguliert sich selbst.Das richtige BettDie Möbelindustrie bringt regelmäßigRatgeber rund ums Bett heraus. HilfreicheInfos finden sich auf folgender Homepage:www.schlafkampagne.de36


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENStrategien gegen die SchlaflosigkeitDie Schlafkur ist als ein dreiwöchiges Programmangelegt. Die erste Woche istdazu da, Ihre gegenwärtigen Schlafgewohnheitenzu überprüfen und für die Abtragungder Schlafschuld und die Erreichung einesschlaffreundlicheren Lebens bestimmteZiele festzulegen.Kurregeln: In diesen drei Wochen istder Schlaf König. Wenn Sie zwischen zweiAktivitäten schwanken, wählen Sie jene, dieden Schlaf begünstigt. Setzen Sie den Schlafan die erste Stelle!Woche 1Führen Sie ein Schlaftagebuch (vgl. S.39) und machen Sie sich mit Ihren gegenwärtigenSchlafgewohnheiten vertraut. FindenSie heraus, wieviel Schlaf Sie brauchenund wieviel Sie bekamen.Überprüfen Sie Ihren Lebensstil aufVerhinderungen des Schlafs: Führen SieBuch über Ihren Kaffeekonsum, halten Siejede körperliche Übung fest und wie vielZeit Sie im Freien verbringen.Zeichnen Sie Ihre normale Zubettgehroutineauf. Achten Sie darauf, ob das FernsehenSie mehr oder weniger müde macht.Macht Sie das Lesen schläfrig, oder weckt esSie auf? Arbeiten Sie im Bett? TelefonierenSie? Woran denken Sie gewöhnlich, wenn Sieim Bett liegen? Denken Sie an die Arbeit desnächsten Tages? Befolgen Sie in der halbenStunde, bevor Sie ins Bett gehen, eine festeRoutine, oder ändert sich das?Halten Sie fest, welche MedikamenteSie nehmen, einschließlich der frei verkäuflichenMedikamente, verschriebenen Medi-kamente und Freizeitdrogen.Verwandeln Sie Ihr Bettzimmer inein Schlafzimmer: Kaufen Sie etwas für IhrSchlafzimmer, ein bequemes Kissen, neueBettwäsche. Wenn Sie Licht stört, suchenSie einen Weg, Ihr Zimmer in der Nacht abzudunkeln.Besorgen Sie sich Nachtlampen,um sie nachts anstatt der Deckenlichter zubenutzen, besonders für das Badezimmer.Überprüfen Sie am Abend Ihr Schlaftagebuch:Halten Sie fest, wie schläfrig oderwach Sie sich an diesem Tag alle zwei Stundenfühlen, um sich ein vollständiges Bildvon Ihren Hoch und Tiefpunkten währenddes Tages zu machen.Versuchen Sie Ihren Kaffee- und Alkoholkonsumauf die Hälfte zu reduzieren,und fangen Sie heute damit an.Sonntagabend: Nehmen Sie ein heißesBad, und stellen Sie sich auf die kommendeSchlafwoche ein.Woche 2Jetzt, da Sie Ihr gegenwärtiges Schlaflebengut im Griff haben, ist es Zeit, Ihr Heimin Ordnung zu bringen. Bauen Sie schlaffreundlicheAktivitäten in Ihre Tage undNächte ein.Fortsetzungin dem Buch von Dement& Vaughan: Der Schlafund unsere Gesundheit.München.37


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENWann ist ärztliche Hilfe erforderlich?Wenn Sie unter Schlafstörungen leiden,die länger als einen Monat andauernund sich sowohl auf Ihre Leistungsfähigkeitals auch Ihr Wohlbefinden am Tage auswirken,sollten Sie den Hausarzt aufsuchenund gegebenenfalls um eine Überweisungan einen Schlafmediziner bitten.Ihre Krankengeschichte, körperliche Untersuchungensowie Laboruntersuchungen– z.B. Hormonanalysen – können wichtigeHinweise für die Ursache einer Schlafstörungliefern. Auch die Lebenspartner könnenwichtige Informationen über das Schlafverhaltengeben, z. B. über lautes Schnarchenoder auffällig unruhigen Schlaf. Derbehandelnde Arzt muss außerdem wissen,ob die Schlafstörung Schläfrigkeit oder Depressionenhervorruft oder das Leben einesPatienten auf andere Weise beeinträchtigt.Wenn Sie bereits früher an einer Depressionoder an einer Psychose gelitten haben,können Schlafstörungen ein Zeichen dafürsein, dass die Erkrankung wieder stärkerwird. Besprechen Sie die Situation mit IhremPsychiater und prüfen Sie, ob eine Anpassungder Medikamente nötig ist.Nicht jeder Mensch braucht acht StundenSchlaf. Beobachten Sie Ihr eigenes Schlafverhaltenund ermitteln Sie, welche Schlafdauerfür Sie ausreichend ist.Wenn Insomnie durch schlechte Schlafgewohnheitenverursacht wird, genügt inder Regel eine Beratung beim Hausarzt, umEin- und Durchschlafschwierigkeiten abzustellen.38


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENSo führen Sie ein SchlaftagebuchNach dem Aufwachen ausfüllen:– Zu welcher Uhrzeit sind Sie zu Bett gegangen:..............– Wann sind Sie eingeschlafen: ..............– Wann sind Sie aufgewacht: ..............– Wie oft sind Sie in der Nacht aufgewacht:............................– Dauer des nächtlichenWachseins: ..............– Nächtliche Schlafdauerinsgesamt: ..............– Bemerkungen zum Charakter desnächtlichen Schlafs: ..............– Fühlen Sie sich morgens nach dem Aufstehenerschöpft? Ja Nein– Wenn ja, wie lange dauert dieser Zustand?..............Am Abend ausfüllen:– Haben Sie ein Nickerchen gemacht?– Dauer: ..............– Bemerkungen zum Charakterdes Nickerchen: ..............Notieren Sie, unter Zuhilfenahme derStanforder Müdigkeitsskala, den tagsüberfestgestellten Zustand Ihrer Schläfrigkeit /Wachheit (1 – 7):6 Uhr: ................... 16 Uhr: ...................8 Uhr: ................... 18 Uhr: ...................Stanforder Müdigkeitsskala1 . Sie fühlen sich voller Tatkraft undLebensfreude, munter und hellwach.2. Ihre Leistungsfähigkeit ist auf einemhohen Niveau, wenn auch nicht aufdem Gipfel.3. Sie sind entspannt, nicht durch unddurch munter, aber aufnahmefähig.4. Sie fühlen sich ein wenig benommen,keineswegs auf der Höhe, mitgenommen.5. Sie fühlen sich müde, interesselos,abgespannt.6. Sie fühlen sich schläfrig und möchtensich am liebsten hinlegen.7. Sie sind fast im Halbschlaf und könnensich kaum wach halten.Führt man über mindestens eine Wocheein solches Schlaftagebuch, erhält manschliesslich ein klares Bild des eigenenSchlafprofils. Noch deutlicher wird dies,wenn Sie die gewonnenen Daten in einemDiagramm festhalten.Prüfen Sie die jeweilige Uhrzeit Ihres Zubettgehensund Aufwachens, und berechnenSie die Gesamtdauer Ihrer nächtlichenSchlafzeiten.Bedenken Sie, daß es an Wochenendenwomöglich zu Veränderungen im AblaufIhres Schlafs kommt. Achten Sie auf Unterschiede,die im Verlauf eines Tages auftreten.Gib es Zeiten, wo diese Werte durchgängighoch oder niedrig liegen?10 Uhr: ................... 20 Uhr: ...................12 Uhr: ................... 22 Uhr: ...................14 Uhr: ...................Weitere Informationen:Dement W. & Vaughan C.: Der Schlafund unsere Gesundheit. München.39


DR. SAMUEL PFEIFER: SCHLAFEN UND TRÄUMENLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitere Informationenzur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersicht ist es jedochnicht möglich, alle Aspekte ausreichendzu beleuchten.Dement W. & Vaughan C.: Der Schlaf undunsere Gesundheit. Limes.Füller I.: Fit durch gesunden Schlaf. StiftungWarentest.Coren S. (1999) Die unausgeschlafene Gesellschaft.Rowohlt.Degen R. (1997) Der kleine Schlaf zwischendurch.Rowohlt.Friebel V. (1990) Schlafprobleme aktiv angehen.Trias.Grün A.: Träume auf dem geistlichen Weg.Vier-Türme-Verlag.Meier P. & Wise R.: Träume – Fenster derSeele. Brendow.Mertens W.: Traum und Traumdeutung.C.H.Beck.Rabenschlag U.: So finden Kinder ihrenSchlaf. Informationen und Hilfen fürEltern. Herder.Sturm A. und Clarenbach P.: ChecklisteSchlafstörungen. Thieme-Verlag.Vollmar K.: Träume erinnern und richtigdeuten. Gräfe und Unzer.Zulley J., Knab B. (2000) Unsere Innere Uhr.Herder Spektrum, Freiburg.Zulley J. : Mein Buch vom guten Schlaf.München: Zabert-Sandmann.Internet-Ressourcenwww.charite.de /sleep/dgsm/rat/ – DieTextsammlung „Schlafstörungen und ihreBehandlungsmethoden - Ratgeber für Patienten“wurde aus dem Amerikanischenübersetzt und zu 16 Kapiteln zusammengestellt.— sehr informativ!www.schlafmedizin.de/Schlafmedizinisches Zentrum der Klinikund Poliklinik für Psychiatrie der UniversitätRegensburg.www.schlaflabor.de — Ausführliche Informationenzu den Aufgaben und Möglichkeiteneines Schlaflabors.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.40


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMATRAUMADie Wunden der Gewalt<strong>SEELISCHE</strong> TRAUMATISIERUNGKOMPLEXTRAUMAPTSDURSACHEN — FOLGENBEWÄLTIGUNG3


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAInhaltLeben in einer zerbrochenen Welt ............................................................. 2Diagnostische Kriterien PTBS ..................................................................... 4Folgen von lang dauerndem Extremstress................................................. 5Wie toxisch ist ein Trauma........................................................................... 6Verzögertes Auftreten im Alter .................................................................. 7Komorbidität — Zusätzliche Probleme ...................................................... 8Verlaufsformen ............................................................................................ 9Flashbacks — Hypervigilanz — Vermeidung ............................................ 10Trauma und Gehirn .................................................................................... 12Sensibilität und Disposition ..................................................................... 14Sexueller Missbrauch im Kindesalter ...................................................... 15Auswirkungen sexueller Ausbeutung ...................................................... 18Ein typisches Täterprofil ........................................................................... 18Aufdecken und vorbeugen ........................................................................ 20Auswirkung auf die Paarbeziehung ......................................................... 20Phasen der Therapie .................................................................................. 21Spezifische Methoden — PITT und EMDR ................................................ 22Dissoziation ............................................................................................... 23Multiple Persönlichkeit — DID .................................................................. 24Falsche Anwendung des Traumakonzepts .............................................. 26Sensibilität und das Leiden an der Kindheit ........................................... 28False Memory Syndrome ........................................................................... 29Verfolgung, Folter und Migration ............................................................ 30Nationales Trauma und Versöhnung ....................................................... 31Seelsorge: Wo ist Gott? ............................................................................. 32Die Frage nach dem Bösen ........................................................................ 34Geistlicher Missbrauch .............................................................................. 35Sekundärtrauma — Leiden an der Not der andern .................................. 36Resilienz entwickeln nach einem Trauma ............................................... 38Post-traumatic Growth ............................................................................. 39Literatur und Internet-Links ..................................................................... 404


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMATRAUMA — Wehrlos ausgeliefert?Gewalterfahrungen haben eine tiefgreifendeWirkung auf das seelische Gleichgewichteines Menschen. Immer wiedersind wir konfrontiert mit Frauen, die anden Folgen sexueller Gewalt leiden odermit Menschen aus Kriegsgebieten, die äußerlichin Frieden leben, aber innerlichzerbrochen sind.Lange Zeit hatte man das Problem posttraumatischerStörungen gar nicht wahrhaben wollen. Erst 1980 wurde die PTSDals eigenständige Diagnose in das DiagnostischeManual der American PsychiatricAssociation aufgenommen. Endlich wurdeanerkannt, dass es sich um gravierendeStörungen von Krankheitswert handelteund nicht nur um mangelnde Belastbarkeit.Seit dieser Zeit wurde viel geforscht aufdem Gebiet der posttraumatischen Störungen.Heute ist es wissenschaftlich unbestritten:Traumatische Erlebnisse könnenim Verlauf des Lebens einen tiefgreifenden,manchmal lebenslangen Einflussauf die Psyche und die Biologie eines Menschenhaben.Wie wirken sich Traumatisierungen aufdas Leben eines Menschen aus, auf seineBeziehungen oder auf seine Arbeitsfähigkeit?Wie erkennt man eine posttraumatischeStörung und wie geht man sie therapeutischan? Und wie kann man beitragen,dass Kinder in unserer Gesellschaftvor Gewalt geschützt werden?Vielleicht legt sich in unserem Begleitentraumatisierter Menschen eine gewisseMelancholie über uns, ein Schauen hinterdie Glitzerfassaden dieser Welt, in einenAbgrund des Bösen, dem wir oft so wehrlosgegen überstehen.Da macht es Mut, dass sich in den letz-«Psychisches Traumaist das Leid derOhnmächtigen. TraumatischeEreignisse schalten das soziale Netz aus,das dem Menschen gewöhnlich dasGefühl von Kontrolle, Zugehörigkeitund Sinn gibt.» ( J. Hermann)ten Jahren ein neues Forschungsfeld unterdem Stichwort der Resilienz aufgetan hat:Welches sind die Faktoren, die einem Menschenhelfen, besser mit schweren Erlebnissenfertig zu werden? Gibt es sogar einenSchutz vor tiefgreifenden seelischen Wunden— trotz traumatischen Erfahrungen?Ja, kann man vielleicht sogar an traumatischenErfahrungen innerlich wachsen? Indiesem Sinne hoffe ich, dass die Broschüreanregt zu einer weiteren Sicht und zu einerhoffnungsvolleren Perspektive.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMALeben in einer zerbrochenen WeltWir leben nicht in einer heilen Welt.Als Therapeuten und Seelsorgerinnenhören wir im Schutz unseres Sprechzimmersoft Geschichten, die uns beinahe dasHerz brechen.Menschen, die ein Trauma erlebt haben,sind oft für das ganze Leben gezeichnetund verändert. In den Kriterien für einePosttraumatische Belastungsstörung (PT-BS) werden diese Traumatas umschriebenmit folgenden Worten:Sexueller Missbrauch,häusliche GewaltUnfälle, KriminalitätKrieg, FOLTER,KatastrophenArmut, hunger,verwahrlosung«Die Person erlebte, beobachtete oderwar mit einem oder mehreren Ereignissenkonfrontiert, die tatsächlichen oderdrohenden Tod oder ernsthafte Verletzungoder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheitder eigenen Person oder andererPersonen beinhalteten. Die Reaktion derPerson umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeitoder Entsetzen.»Es handelt sich also nicht um die «gewöhnlichen»seelischen Verletzungen, wieLiebesenttäuschung, Scheidung oder Trauerüber den Verlust eines lieben Menschen,sondern um schwerwiegende und außergewöhnlicheErfahrungen.Dennoch hatte es die Diagnose schwer,in den Katalog anerkannter seelischerStörungen aufgenommen zu werden. Obwohldie «Schreckneurose» schon im erstenWeltkrieg beschrieben wurde, wuchs erst inden 70-er Jahren das Bewusstsein, dass esgemeinsame Symptome nach dem Durchlebeneiner derartigen Erfahrung gab. Dabeiwaren nicht nur Kriegsveteranen betroffen,sondern auch Kinder und Frauen nach sexuellenÜbergriffen, Menschen nach einemUnfall, Opfer eines Überfalls oder Kinder,die im Rahmen von Armut und Verwahrlosunglang dauernde seelische und körperlicheGrausamkeit erlitten.DENNOCH: Nicht alle Menschen entwickelnnach derartigen Erfahrungen einPosttraumatisches Belastungssyndrom.Auf den folgenden Seiten sollen Definitionenund Entstehungsbedingungen genauerdargestellt werden, um die langfristigenFolgen von Gewalt und Trauma besserzu verstehen.2


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAVier Beispiele zur EinleitungBeispiel 1Die 14-jährige Judith ist lebensfroh undeigenwillig. Sie genießt das Partyleben inder Stadt. Die Ermahnungen der Eltern findetsie vorgestrig. Aber dann fängt sie andaheim zu bleiben, zieht sich in ihr Zimmerzurück. Sie weint nur noch, isst nicht mehr,geht nicht mehr zur Schule. Nachts wachtsie oft schreiend auf. Schließlich kann siesich ihren Eltern anvertrauen: Sie ist nacheiner Party unter dem Einfluss von Ecstasyund Alkohol von einem «Freund» vergewaltigtworden.Beispiel 2Sohrab, ein 10-jähriger Waisenjunge ausAfghanistan wird von seinem Onkel in denUSA adoptiert. Eigentlich müsste er jetztglücklich sein – das Leben steht ihm offen.Aber Sohrab redet kaum ein Wort,oft sitzt er zurückgezogen in einer Ecke,in der Nacht krümmt er sich wie ein Fötusin seinem Bett. Das Duschen ist immereine lange Prozedur. Der Hintergrund:Der Junge erlebte die Ermordung seiner Elterndurch die Taliban, die Lieblosigkeit ineinem Waisenhaus und später den sexuellenMissbrauch durch einen pädophilenWarlord. Er wagt es nicht mehr, dem Glückdes Lebens zu trauen.(aus: Khaled Hosseini: Der Drachenläufer)Beispiel 3Ein 52-jähriger Schreiner lässt am Arbeitsplatzzunehmend nach. Oft starrt ervor sich hin, wie verloren; nachts kann ernicht schlafen, er wird von diffusen Ängstengeplagt. Auch die Familie erlebt ihnvöllig verändert. Der Hintergrund: Vorsechs Jahren geriet er zusammen mit seinemBruder in einen orkanartigen Sturm.Eine riesige Tanne fiel auf die beiden undbegrub sie unter sich – sein Bruder wurde«Ich wünschte mir zu sterben,mein Menschen- und Weltbildbrach zusammen,und ich begann zu hassen.»erschlagen, er überlebte. Zuerst ging dasLeben weiter wie zuvor, doch etwa vier Jahrespäter traten die Symptome auf.(vgl. Protrahierte PTDS, S. 9 in diesem Heft)Beispiel 4Ein friedliebender Weltenbummler gerätin Afrika in einen Stammeskonflikt:«Ich lag mehrere Tage gefesselt auf demBoden, neben mir viele andere Gefangeneund Tote. Ich erlebte Vergewaltigung undgrauenhafte Massaker an Frauen, Kindernund Männern hautnah mit. Dabei erlittich schwerste körperliche Misshandlungenund Folter. Ich wünschte mir zu sterben,mein Menschen- und Weltbild brach zusammen,und ich begann zu hassen.»3


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAPosttraumatische Belastungsstörung — PTBSA. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem diebeiden folgenden Kriterien vorhanden waren:(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissenkonfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzungoder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder andererPersonen beinhalteten.(2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.B. Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in folgender Weise (mind. 1):(1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, dieBilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können.(2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis.(3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt.(4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalenHinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisierenoder an Aspekte desselben erinnern.(5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen.C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, odereine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (mind. 3 Symptome):(1) Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit demTrauma in Verbindung stehen.(2) Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungenan das Trauma wachrufen.(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern.(4) Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten.(5) Gefühl der Losgelöstheit und Fremdheit von anderen.(6) Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zuempfinden).(7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinderoder normal langes Leben zu haben).D. Anhaltende Symptome erhöhter Anspannung (vor dem Trauma nicht vorhanden).Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:(1) Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen.(2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche.(3) Konzentrationsschwierigkeiten.(4) Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz).(5) Übertriebene Schreckreaktionen.(in Anlehnung an das DSM-IV *)* DSM-IV = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungender American Psychiatric Association, 4. Revision.4


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAFolgen von lang dauerndem ExtremstressManchmal ist es nicht ein einzelnesErlebnis, das einen Menschen traumatisiert.Vielmehr müssen manche Menschenjahrelang unter schwersten Bedingungenleben, die ihnen dauernde seelischeSchäden zufügen. Diese Traumafolgen bezeichnetman als DESNOS = «Disorders ofextreme stress, not otherwise specified»oder als «Komplexe posttraumatische Belastungsstörung».Hier sind in verkürzter Form die diagnostischenKriterien:1. Der Patient war über einen längerenZeitraum totalitärer Herrschaft ausgeliefert,wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene,Überlebende von Konzentrationslagernoder Aussteiger aus religiösenSekten, aber auch lang dauerndersexueller Missbrauch oder schwere seelischeoder körperliche Misshandlung,sei es in der Familie oder Ausbeutungdurch organisierte Banden.2. Störungen der Gefühle, darunter anhaltendeVerstimmung, chronische Suizidgedanken,Selbstverletzung, aufbrausendeoder extrem unterdrückte Wut,zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität(eventuell alternierend).4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunterOhnmachtsgefühle, Lähmung jeglicherInitiative, Scham und Schuldgefühle,Selbstbezichtigung, Gefühl derBeschmutzung und Stigmatisierung;Gefühl, niemand könne ihn verstehenoder sie sei «mutterseelenallein».5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, ständigesNachdenken über die Beziehungzum Täter (auch Rachegedanken); unrealistischeEinschätzung des Täters, derfür allmächtig gehalten wird; Idealisierungoder paradoxe Dankbarkeit; Gefühleiner besonderen oder übernatürlichenBeziehung; Übernahme des Überzeugungssystemsdes Täters.6. Beziehungsprobleme, darunter Isolationund Rückzug, gestörte Intimbeziehungen,wiederholte Suche nach einemRetter, anhaltendes Misstrauen, wiederholterfahrene Unfähigkeit zumSelbstschutz.7. Veränderung des Wertesystems, Verlustfester Glaubensinhalte, Gefühl der Hoffnungslosigkeitund Verzweiflung.3. Bewußtseinsveränderungen, darunterGedächtnisverlust (Amnesie) oderüberscharfe Erinnerungen (Hypermnesie)an die Ereignisse, zeitweilig dissoziativePhasen, Depersonalisation/Derealisation,intrusive Symptome derposttraumatischen Belastungsstörungoder ständige grüblerische Beschäftigungmit dem Erlebten.BILD: aus einer Aufklärungsschrift gegen Kinderprostitutionin Kambodscha (World Vision).5


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAWie toxisch ist ein Trauma?Nicht jedes Trauma führt zu einer PosttraumatischenBelastungsstörung (PT-BS). So entwickeln Opfer einer Vergewaltigungin etwa 50 Prozent der Fälle eine PTBSinnerhalb der folgenden drei Monate, Opfereines Verkehrsunfalls nur in ca. 10 Prozent.Das Risiko einer PTBS wird kleiner beifolgenden Umständen:— Das Trauma ist Teil des allgemeinen Erlebensim sozialen Umfeld (z.B. gemeinsameNot nach einem Erdbeben oderTsunami).— Das Trauma wird einem durch einenMenschen zugefügt, den man nichtkennt (wichtig bei sexuellen Übergriffen).— Das Trauma ist nicht lebensbedrohlich(sexuelle Belästigung).— Nach dem Trauma erhält man rasch Hilfeund Trost.Typ-I-Trauma:Einmaliges traumatisches Erlebnis (z.B.Überfall, Vergewaltigung).Typ-II-Trauma:Lang anhaltende wiederholte Traumata( z.B. Gefangenschaft, wiederholter sexuellerMissbrauch), Erleben von extremerHilflosigkeit und Demütigung, diezu einer tief greifenden Erschütterungexistentieller Grundannahmen über denWert der eigenen Person führt.Drei Hauptsymptome— Wiedererleben des Traumas (Intrusion)— Vegetative Übererregbarkeit (Arousal)— Vermeidungsverhalten (Avoidance)Schwere Reaktionen sind zu erwarten:Besonders schwere Reaktionen sind zu erwarten bei folgenden Umständen einesTraumas (häufig in der Kindheit):1. Lange Dauer. 9. Persönlichkeit ist noch nicht gefestigt.2. Häufige Wiederholung. 10. Sexuelle Gewalt.3. Schwere körperliche Verletzung. 11. Sadistische Folter.4. Vom Opfer schwer zu verstehen. 12. Mehrere Täter.5. Gewalt durch andere Menschen. 13. Opfer hatte starke Dissoziationen.6. Täter ist nahe stehende Person. 14. Niemand stand dem Opfer unmittelbarnach dem Ereignis bei.7. Opfer hatte (hat) den Täter gern. 15. Niemand hat nach der Tat mit demOpfer darüber gesprochen.8. Opfer fühlt sich mitschuldig.(modifiziert nach M. Huber)6


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAHäufigkeit von PTBSZur Häufigkeit einer PTBS gibt es unterschiedlicheZahlen. So fand eine Studiein den USA (Kessler et al. 1995) über das ganzeLeben eine Häufigkeit von 7,8 Prozent,was nahe an die Erkrankungszahlen vonDepression und Angststörungen kommt.Eine Studie in Deutschland (Maercker etal. 2008) fand innerhalb des Zeitraums voneinem Monat deutlich niedrigere Werte:2,3% der Befragten zeigten ein PTBS-Vollbild,2,7% ein Teil-Syndrom. Männer undFrauen waren etwa gleich häufig betroffen.Allerdings gab es erstaunliche Unterschiedeje nach Altersgruppe: Am häu-figsten war in Deutschland eine PTBS beiMenschen über 60 (3,4%). Am niedrigstenwar die Rate bei jungen Menschen zwischen14 und 29 (1,3%). Etwa dazwischen liegendie 30 bis 59-Jährigen mit 1,9%. Als Erklärungergibt sich die Geschichte des ZweitenWeltkrieges, der in den Seelen der älterenGeneration tiefe Wunden hinterlassen hat.Ganz anders würde eine solche Statistikin einem Land aussehen, das erst kürzlichdurch einen Krieg oder eine Katastrophegegangen ist.Letztlich können aber nackte Statistikenniemals das Leid einzelner Menschen wiedergeben.Verzögertes Auftreten im AlterDie Kinder, die den 2. Weltkrieg miterlebthatten, waren sicher schwertraumatisiert. Aber nach Kriegsende ginges einfach ums Überleben. Erst viele Jahrespäter traten typische Symptome einerTraumatisierung auf – Flashbacks vonBildern und Gerüchen, nächtliche Panik,Schlaflosigkeit. Jeder 20. Deutsche über 63leidet gemäß einer Studie an einer PTBS.Der Gehirnforscher Markowitsch erklärtdies wie folgt: Das Gehirn verliert im Altertäglich 85'000 Nervenzellen. Dies zieht dienormalen Folgen des Alters nach sich: Manbewegt sich langsamer, denkt langsamerund braucht mehr Zeit, um den Alltag zubewältigen. Aber das Gedächtnis verliertauch seine «neuronale Sicherung» – dasGehirn kann weniger gut verdrängen. «Geschiehtdann etwas Grausames, dringendie früheren grausamen Erlebnisse ungebremstins Bewusstsein.»(nach einem Artikel im SPIEGEL 12/2008)Ein Mann, der als Junge flüchten musste,suchte lange nach den Ursachen für seineTraurigkeit. «Anfangs hielt ich das nichtfür normal», sagt er. «Ohne ersichtlichenGrund laufen mir Tränen über das Gesicht.Seit ich weiß, womit das zusammenhängt,kann ich besser damit leben.»Ein Soldat hatte dem kleinen Jungen aufder Flucht den Teddy weggenommen, daseinzige Spielzeug, das ihn begleitete. Als erweinte, lachte der Soldat ihn aus, und dieMutter schlug ihren Sohn mit der Handauf den Mund.«Es klingt noch ungewohnt, wenn ichals Mann sage: Es ist das Kind in mir, dasweint», sagt er. «Aber es ist so.»(nach einem Buch von Gertrude Ennulat: Kriegskinder.Wie die Wunden der Vergangenheit heilen.Klet-Cotta.7


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAKomorbidität — zusätzliche ProblemeTraumatisierte Patienten erklären häufignicht sofort den Hintergrund ihrerProbleme. Dies führt dazu, dass derArzt mit einer Vielzahl von Symptomenkonfrontiert wird, die ganz unterschiedlichenStörungen bzw. Diagnosen zugeordnetwerden können.Gerade das schambesetzte Erlebeneines sexuellen Missbrauchs führt oftdazu, dass die betroffenen Frauen zuerstmit Klagen über körperliche Beschwerden,Ängste oder Beziehungsprobleme indie Sprechstunde kommen, bevor sie etwasvon den Hintergründen des Traumaspreisgeben.SymptomatikIntrusion, VermeidungsverhaltenSoziale Ängste, PhobienSuizidalität, HoffnungslosigkeitErschöpfung, Schmerzsyndrome, erhöhtesvegetatives ErregungsniveauAmnesien, Depersonalisation, DerealisationBeziehungsstörungen, Misstrauen, Impulsivität,Selbstverletzen, Scham und SchuldgefühleAlkohol- und MedikamentenmissbrauchWasch- und ReinigungszwängeKlinische diagnosePTBSAngststörungenDepressive StörungSomatoforme StörungenDissoziative StörungenPersönlichkeitsstörungenSuchterkrankungenZwangsstörungen(modifiziert nach M. Sack)Abbildung 8-1: Manche Autoren unterscheiden zwischen «Plus-Symptomatik» nacheinem Trauma und «Minus-Symptomatik», die sich jeweils unterschiedlichen Diagnosenzuordnen lassen.8


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAVerlaufDer amerikanische Traumaforscher Bonannounterscheidet vier Formen desVerlaufs nach einem traumatischen Ereignis.Maßstab ist dabei die Einschränkungdes normalen Funktionierens im Alltag.1. Chronische PTBS: Das Ereignis erschüttertdie Person massiv, die Symptomatiksetzt kurz nach dem Trauma ein, und sieberuhigt sich auch nach mehreren Jahrennicht nennenswert. Diese Entwicklung beobachtetman oft nach sehr schweren Traumata,wie z.B. nach schwerer Folter, die einenMenschen total zerbrechen kann (vgl.Seite 30).2. Erholung (Recovery): Nach einer erstenPhase der typischen Symptome kommt esallmählich zu einer Beruhigung und zueinem Verblassen der Erinnerung. Die betroffenePerson baut ein neues Leben auf,findet Sicherheit und Stabilität.3. Verzögertes Auftreten einer PTBS:Manche Personen, die ein Trauma überlebthaben, sind zu Beginn derart damit beschäftigt,dass sie ihr Leben wieder in Ordnungbringen, dass sie äußerlich keine Einschränkungenzeigen. Wenn es dann aberruhiger wird, kann plötzlich die Erschöpfungeinsetzen, die die Abwehrkräfte gegendas Erlebte schwächt. Erst jetzt – Monateund sogar Jahre später – treten die typischenPTBS-Symptome auf (vgl. Seite 7).4. Resilienz: Nicht wenige Menschen habeneine erstaunliche Widerstandskraft imUmgang mit traumatischen Erlebnissen.Die Faktoren, die zu dieser positiven Verarbeitungführen, werden auf Seite 38 näherbeleuchtet.Weitere Informationen:Bonanno G.A. (2004). Loss, trauma, and human resilience.American Psychologist 59:20-28.9


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAWiedererleben – AuslöserHinweisreize — Trigger — Schlüsselreize:Bei einem Trauma werden massiv Stresshormoneausgeschüttet, und Wahrnehmungenbrennen sich wie Blitzbilder indie Erinnerung ein, ohne zu unterscheiden,ob sie wichtig sind oder nicht. Geräuscheoder Gerüche signalisieren fortan «Gefahr!»Treten sie wieder auf, so wecken sie die Erinnerungenso intensiv, als ob diese Erfahrungjetzt noch einmal neu gemacht würde– plötzlich und mit enormer Wucht.Die damaligen Gefühle werden unmittelbarerlebt (Flashback). Die reale aktuelleSituation kann dann von der betroffenenPerson oft nicht mehr wahrgenommen werden.Sie reagiert oft so, als würde sie sichwieder in Gefahr befinden.Diese Reaktion erfordert viel Verständnisvon den Angehörigen und Freunden.Menschen mit einer PTBS leiden an derständigen Wiederkehr des traumatischenEreignisses (vgl. Seite 4). Das obigeBild wurde von einem kurdischen Manngemalt, der gefoltert wurde. «Die Gedankendrehen sich ständig in meinem Kopf,»sagte er, «und nachts wache ich schreiendauf, weil ich wieder im Verhör bin.»Es ist als würde eine Person plötzlichin einen anderen Zustand versetzt, ohnedass die andern den Grund verstehen.Zwei Phänomene sind für den Aussenstehendenbesonders schwer zu verstehen:1. Handeln oder Fühlen, als ob das traumatischeEreignis wiederkehrt.2. Intensive Reaktionen bei der Konfrontationmit inneren oder äußeren Hinweisreizen,die einen Aspekt des traumatischenEreignisses symbolisierenoder an Aspekte desselben erinnern.«Letzthin war ich in der S-Bahn unterwegs.Ich war angespannt und hatte einenschweren Tag hinter mir. Da plötzlichging ein Mann an mir vorbei. Ichblickte nicht auf, aber da war dieser Geruch,dieses Rasierwasser. Er ging vorbeiund tat mir überhaupt nichts – aber inmir stieg plötzlich Panik hoch. Ich hieltes nicht mehr aus – bei der nächsten Stationstürzte ich hinaus. Mein Atem gingschnell, mein Puls war auf 120 – ich hattenur noch einen Gedanken: schnell nachHause, in die Sicherheit meiner Wohnung.Plötzlich war die Erinnerung an dieVergewaltigung vor zwei Jahren wieder da.Ich brauchte lange, bis ich endlich gegenMorgen einschlafen konnte.»(eine 24-jährige Betroffene)10


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAVegetative Symptome – HypervigilanzEin Trauma kann auch die körperlichen Reaktionennachhaltig durcheinanderbringen.Jede Nervenfaser ist auf Wachsamkeitund Überleben eingestellt. Diese Hypervigilanz(= übermäßige Wachsamkeit) kanndas ganze Leben dominieren. Hinter jederEcke lauert Gefahr, man ist immer daraufeingestellt, zu flüchten oder zu kämpfen.Ständig wird die Umgebung darauf hinabgecheckt, ob sich etwas Verdächtigeszeigt, und in der Tasche führt man einenPfefferspray sowie ein Mobiltelefon, das dieNummer der Polizei einprogrammiert hat.Manche unserer Patienten wagen nichteinzuschlafen, weil sie dann hilflos ausgeliefertwären. Andere zucken beim kleinstenGeräusch zusammen, als wäre eine Explosiongeschehen (übermäßige Schreckreaktion).Doch diese ständige Wachsamkeit fordertihren Preis: Oft ist man nicht bei derSache — kann sich also nicht konzentrierenund wirkt abwesend. Der Schlafmangelund die ständige Anspannung führenzu unangemessenen Reaktionen, Reizbarkeitund Wutausbrüchen. Indirekt gibt mandamit auch ein Signal: Komm mir nicht zunah! Aber für die Angehörigen und Freundewirkt dieses Verhalten absonderlich, abstoßendund entfremdend.Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhangauch die Hypervigilanz nach innen:Man hört auch viel stärker auf Warnsymptomedes Körpers: Schmerz, Herzklopfen,normalerweise leichte Symptome erhaltenplötzlich eine andere Bedeutung −sie wecken Erinnerungen oder signalisierenneue Gefahr.Vermeidungsverhalten – Isolation, RückzugFür einen traumatisierten Menschenwird das ganze Leben unsicher, gespicktmit Gefahren und neuen Bedrohungen.Menschen mit einer PTBS ziehen sich deshalboft von andern Menschen zurück.Das hat mehrere Gründe:1. Abstand: Sie möchten sich nicht in Gesprächeoder Begegnungen einlassen, diesie an das Trauma erinnern. So kann derPark, wo ein Überfall stattfand, plötzlichnicht mehr ein Ort der Entspannung sein,sondern ein Hinterhalt der Gefahr.2. Depressive Grundstimmung: Ein Traumanimmt einem Menschen die Lebensfreudeund kann eine richtige Depressionauslösen. Teil dieses depressiven Syndromsist der Rückzug von Aktivitäten, die frühermit Freude verbunden waren. Hierzu gehörtauch die Einschränkung der Bandbreite derGefühle (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühlezu empfinden).3. Verkürzte Lebensperspektive: Nacheinem Trauma verliert alles seinen Glanzund seinen Sinn. Die Motivation, etwas zuerreichen oder eine Beziehung aufzubauenhat ihr Fundament verloren − «Es hat ohnehinkeinen Sinn!»4. Traumaspezifische Störungen der Erinnerungen:Bei manchen Opfern ergibtsich so etwas wie ein «Filmriss» − sie wissen,dass sie etwas Schlimmes erlebt haben,aber das Gedächtnis verweigert ihnendie Details. Das ist einerseits ein Schutz,aber auch eine Last.5. Dissoziatives Erleben: Nach einemTrauma entwickeln manche Opfer ein Gefühlder Losgelöstheit und Fremdheit vonanderen. Menschen, die schon als Kindermassive Gewalt erlebt haben, können unterStress in einen Zustand verfallen, indem sie von außen nicht erreichbar sind(vgl. Seite 23).11


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMABiologische Veränderungen im GehirnDas Gefühl der Geborgenheit und desUrvertrauens findet seine neurobiologischeEntsprechung im Gehirn.Das psychische Gleichgewicht ist abhängigdavon, dass die neuronalen und hormonalenWarnsysteme auf «Grün» stehen.Die neurobiologischen Netzwerke derPersönlichkeit festigen sich mit jedem Lebensjahrund erhöhen die Widerstandsfähigkeitbei traumatischen Ereignissen.Eine wichtige Rolle spielt die HPA-Achse— die Hormon-Kaskade ausgehend vomZentrum der Gefühle, dem Hypothalamus(H), die sich überträgt in die Hormonspracheder Hypophyse (pituitary = P) und dieschließlich die Stresshormone in der Nebenniereaktiviert (adrenal cortex = A). Bisheute verstehen die Forscher nicht genau,was wirklich vor sich geht, wenn einMensch durch ein schweres Trauma geht.Somit sind es eher die indirekten Beobachtungen,die uns allmählich ein Bild von denneurobiologischen Veränderungen nacheinem Trauma geben.Elemente des vertrauens> Grundbedürfnisse erfüllt(nach Maslow) − Obdach, Wärme,Kleidung − äußere Sicherheit − Wertschätzung− Liebe, Annahme − Selbständigkeit,Freiheit.> Positive Kontrollüberzeugung«Wenn ich brav bin; wenn ich meinePflichten erfülle etc. − dann stößtmir nichts Böses zu.»> Vertrauensvolle Beziehungen− zur primären Bezugsperson.− zu sich selbst − zu anderen.− zu Gott.> Verdrängung des Bösen«Mich trifft es nicht!»Trauma-Auswirkungen> Grundbedürfnisse verletztWehrlos ausgeliefert − körperlichund seelisch verletzt − Entwertung.> Infragestellung von WertenSchuldgefühle − existenzielle Fragen− «Wo ist Gott?» − «Was ist derSinn des Lebens?»> Beziehungen unsicherStändige Wachsamkeit − Misstrauen− Angst vor neuer Verletzung.Diese Verletzung der Grundannahmen(Kognitionen) ist Teil der posttraumatischenReaktion.Weitere Informationen:Charney D.S. (2004). Psychobiological mechanisms ofresilience and vulnerability: Implications for successfuladaptation to extreme stress. American Journal ofPsychiatry 161:195—216.12


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAGrundtemperamentVerletzlichkeitÄngstlichkeitbiolog. RhythmenAmygdala:Gefühle,insbesondere AngstHippocampusGedächtnisprägungBilder, Gerüche,GeräuscheFest steht: Traumatische Erfahrungenkönnen im Gehirn bleibende Schädigungenhervorrufen, die sich in den psychischenSymptomen der post-traumatischen Reaktionen(Intrusion – Vermeidung – vegetativeLabilität) äußern.Bei einem Trauma werden massiv Stresshormoneausgeschüttet: Körper und Gehirnwerden überschwemmt von Cortisolund Adrenalin. Wahrnehmungen brennensich in die Erinnerung ein, aber sie sindnicht geordnet verbunden mit dem Wissenund den Worten um die Erklärung derGefühle und Bilder. Die Erinnerung wirdgleichsam abgekapselt, bricht aber nachtsin Albträumen oder tagsüber bei Schlüsselreizenunvermittelt in das Erleben ein.Lebenslange SensibilisierungOft kommt es zu einer lebenslangen Verminderungder Stresstoleranz. Das Alarmsystemim limbischen System reagiertschneller und heftiger auf jeden Reiz, dersich während des Traumas eingebrannt hat.Diese ständige Alarmbereitschaft kostetviel Kraft — Kraft, die es verunmöglicht,unbeschwert das Leben zu genießenoder eine Beziehung aufzubauen. Beispiel:Eine Frau wird auch Jahre nach einem se-xuellen Trauma jede Situation, die sexuelleReize enthält, unwillkürlich als Bedrohungerleben. Dieses Muster kann den Aufbaueiner Beziehung zu einem Mann empfindlichstören.Diese Reaktionsmuster sind nicht nur«psychisch», sondern sie sind biologisch imGehirn durch spezifische Veränderungenverankert:— Neurotransmitter bilden ein hochsensiblesMobile. Kleinste Veränderungender Ausschüttung verändern das biologische(und psychische) Gleichgewicht.— Synapsen: werden vermehrt, wo rascheresAnsprechen nötig ist und vermindert,wo soziale Aktivität zu neuenGefahren führen könnte.— Genetische Muster der Bereitstellungvon Botenstoffen werden langfristigverändert.Neuroplastizität und HeilungDie Forschung der letzten Jahre hat gezeigt,dass selbst biologische Veränderungennicht unweigerlich fixiert sind. Dasmenschliche Gehirn ist erstaunlich erholungsfähig— dank der Fähigkeit, neuronaleVerschaltungen zu verändern.13


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASensibilität als Disposition für TraumaGenvarianten und AngstVieles deutet darauf hin, dass sensibleMenschen stärker traumatisiert werdenals Menschen mit einer höheren seelischenWiderstandskraft. Das Wachs ihrer Seele istweicher, Gewalt und Unrecht reissen tiefereWunden. Was zuerst nur in psychologischenStudien an Kleinkindern gezeigt werdenkonnte, wird heute zunehmend durch Hirnforschungund Gentechnik bestätigt.In der Temperamentsforschung habensich folgende Eigenschaften bereits beikleinen Kindern gezeigt, die auch spätereine höhere Anfälligkeit für seelische Verletzungenergaben:1. Zurückhaltung bei spontanen Äußerungengegenüber unbekannten Kindernund Erwachsenen.2. Mangel an spontanem Lächeln gegenüberunbekannten Leuten.3. Relativ lange Zeit notwendig um sichin neuen Situationen zu entspannen.4. Beeinträchtigung der Erinnerung nachStress.5. Zurückhaltung, Risiken einzugehenund vorsichtiges Verhalten in Situa-In einer Studie über posttraumatischeAngst bei den Opfern der ICE-Katastrophevon Eschede zeigte sich, dass Menschen,die eine bleibende Angst entwickelt hatten,häufiger eine spezielle Variante des COMT-Gens aufwiesen. Diese verringert den Abbauvon Dopamin im Gehirn.Der Forscher Christian Montag (Bonn) erklärt:«Nicht jeder von ihnen ist ein ängstlicherMensch. Aber je stärker Ängstlichkeitals Eigenschaft bei einem Menschen ausgeprägtist, desto wahrscheinlicher wird erTräger dieser Genvariante sein. Und wenndiesem Menschen etwas Schlimmes zustößt,hat er ein höheres Risiko, eine Angststörungzu entwickeln.»Quelle: Montag et. al. Behavioral Neuroscience 2008.— Bericht im Spiegel 33/2008, S. 125.tionen, die eine Entscheidung verlangen.6. Stärkere seelische Reaktion bei bedrohlichenWorten im Stroop Test.7. Ungewöhnliche Ängste und Phobien.8. Starker Pulsanstieg bei Stress undbeim Aufstehen.9. Starke Pupillenerweiterung bei Stress.10. Erhöhte Muskelanspannung11. Größere kortikale Aktivierungim rechten Stirnhirnbereich.13. Mehr Allergien.14. Hellblaue Augen häufiger.(nach Forschungen von Kagan et al.)14


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASexueller Missbrauch im KindesalterAuswirkungenLangzeitfolgenTherapeutische MöglichkeitenPräventionDer sexuelle Missbrauch von Kindern istwohl das häufigste Trauma mit nachgewiesenenLangzeitfolgen in unserer Gesellschaft.Als Trauma ist es am meisten beschriebenund am besten erforscht — unddennoch ereignet es sich täglich neu. DieUmstände, die Langzeitfolgen und die therapeutischenAnsätze sind dabei anders alsbei den andern Traumata, von denen in diesemSeminarheft die Rede sein muss. Ausdiesem Grunde wird hier ein besondererAbschnitt eingefügt (Seiten 15 — 29), dersich ausschließlich mit dieser Thematik beschäftigt.15


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASexueller MissbrauchDefinitionDer Begriff «sexueller Missbrauch» umfaßtein weites Feld von sexuellen Handlungen.Sexueller Missbrauch liegt dannvor, wenn einem Minderjährigen oder einerabhängigen Person eine sexuelle Handlungaufgezwungen wird, die diese nicht will, fürdie sie nicht reif ist und die in erster Linieder Bedürfnisbefriedigung des Täters oderder Täterin dient.Finden diese innerhalb der Familie statt,so spricht man auch von Inzest («Blutschande»).Juristisch gesehen handelt essich bei Inzest um den Straftatbestandvon sexuellen Handlungen zwischen Verwandtenund Verschwägerten in auf- undabsteigender Linie und zwischen Geschwistern.Heute wird der Begriff allerdings weitergefaßt: Man erweitert den Täterkreisauf alle, zu denen emotionale Abhängigkeitenbestehen – unabhängig von der biologischenBeziehung (Eltern, Stief-, Pflege-,Adoptiveltern, Großeltern, Geschwisterder Eltern, Geschwister, die mindestensfünf Jahre älter sind, Erzieher, Leh-Bild: www.fotolia.comrer, Gruppenleiter, Therapeuten, u.a.) – undden Opferkreis auf Erwachsene in abhängigenBeziehungen (z.B. geistig Behinderteoder Erwachsene in einer therapeutischenWohngemeinschaft).Folgende Handlungen werden dazugezählt:Beischlaf, Masturbation, hand-genitalerund oral-genitaler Kontakt, Streichelnmit dem Ziel sexueller Erregung, Entblößen(Exhibition) oder gemeinsames Betrachtenvon Porno-DVDs.Die Abgrenzung vom gesunden und erforderlichenKörperkontakt zwischen Erwachsenenund Kindern liegt dort, wo dasBedürfnis des Erwachsenen, nicht das desKindes befriedigt wird; wo es sich um pervertierte,kalte oder ritualisierte Kontaktehandelt, gegen die sich das Kind nicht wehrendarf oder die geheim bleiben müssen,oder Kontakte, die den Erwachsenen sexuellerregen und dann nicht beendet werden.Von Kindern werden derartige Kontakteals «merkwürdig» oder unangenehmwahrgenommen und auf Nachfragen auchso benannt.Was macht sexuellen Missbrauchtraumatisch?1. Machtmissbrauch: Intime Handlungenwerden aufgezwungen, um den Täterzu befriedigen, ohne Rücksicht auf Gefühledes Opfers.2. Erleben der Ohnmacht: Die betroffenePerson ist ausgeliefert; Gegenwehrführt zu Drohungen, Schmerz und weitererGewalt.3. Reduktion zum Sexualobjekt: Das Mädchenwird nicht mehr als Person in seinerGanzheit ernst genommen, sondern nurals Lustobjekt. Es fühlt sich schmutzig,abgewertet, und kann eine gestörte Be-16


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAziehung zu seiner natürlichen Sexualitätentwickeln.4. Geheimhaltung: Das Kind kann mit niemandemüber das Vorgefallene reden,was zusätzliche Hilflosigkeit erzeugtund das Kind in die Isolation treibt.5. Schutzlosigkeit: Weil der Täter oft im engenUmfeld ist, gibt es keinen Schutz.Ehefrauen / Partnerinnen von Täternsind oft selbst in Abhängigkeit und wagenes nicht, gegen ihn aufzutreten.6. Eigene Scham- und Schuldgefühle: Täter(vgl. Täterprofil, S. 19) neigen oft dazu,dem Opfer die Schuld zuzuschieben: «Duhast mich so aufreizend angeschaut!Du wolltest es doch auch!» etc. Opferschämen sich und neigen dazu, dieseTäterperspektive zu übernehmen undhaben Mühe, sich abzugrenzen. Nur ein«böses Kind», so die falsche Logik, kanneine solche Behandlung verdienen.Zu betonen ist auch, dass es sich NIEum eine Handlung im Einverständnismit dem Kind handeln kann, da diessexuelle Handlungen weder verstehennoch in ihren Folgen erfassen kann.HäufigkeitSexueller Missbrauch ist häufig, allerdingswegen der verständlichen Dunkelziffernur im ungefähren Ausmaß zu erfassen.Man geht heute davon aus, dass ca. 5 – 10Prozent der Frauen in ihrer Kindheit Opfereines sexuellen Übergriffs im engerenSinne wurden. Auch wenn andere Publikationendramatischere Szenarien nennen, soscheinen die in der Zeitschrift «Psychologieheute» veröffentlichten Zahlen realistisch:«Über sexuelle Missbrauchserfahrungenmit Körperkontakt im Alter bis zu 14 Jahrenberichten fünf bis acht Prozent derFrauen (Männer: 1,4 bis 3,5 Prozent). Die«Nach der Schule wagte ich mich kaummehr heim. Oft schlich ich mich dann indie katholische Kirche in unserem Dorf.Ich schlüpfte unter dem Altar durch undblickte nach oben zum unbeweglichen,blutüberströmten Gesicht des gekreuzigtenChristus. ‹Du verstehst wenigstens,Jesus, was ich gelitten habe!› flüsterte ich,und irgendwie wurde ich ruhiger in seinerGegenwart. – Wie konnte mir das meinVater antun? Und warum sagte meineMutter nichts, obwohl sie es doch sichergemerkt haben muß! Noch heute bin ichhin- und hergerissen: Manchmal möchteich ihn am liebsten umbringen. Aber ichhabe ihn doch noch gern! Und manchmalfrage ich mich, ob ich nicht selber schuldan allem war. Wenn ich nur einmal zurRuhe kommen könnte!»(eine 26-jährige Frau)Täter waren nach Angaben der befragtenMänner und Frauen in über 90 Prozentder Fälle Männer. Bei den Mädchen unter14 Jahren waren in 21 Prozent der FälleVäter oder Stiefväter die Täter. Doch derhäufigste Missbrauch fand mit 47,5 Prozentder Fälle durch Bekannte außerhalbder Familie statt. Bei den Jungen warenVäter oder Stiefväter seltener Täter, hierist der soziale Nahbereich der Bekanntenmit 54,8 Prozent der entscheidende.»Frauen als Täterinnen machen eine Minderheitvon ca. 10 Prozent aller Fälle aus.Oft handelt es sich um geschiedene Frauen,die sich in ihrer Sehnsucht nach Nähe anihren Söhnen vergreifen. Nur ein kleinerTeil dieser sexuellen Übergriffe wird zurAnzeige gebracht und noch weniger werdenschließlich durch eine Verurteilunggeahndet.17


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASCHWEREGRAD eines sexuellenMissbrauchsVerschiedene Faktoren prägen denSchweregrad eines sexuellen Missbrauchs:Alter und Entwicklungsstand, das Verhältniszum Täter (fremde Person oder Vertrauensperson),die Dauer des Missbrauchs (einmaligoder wiederholt), sowie die Art dersexuellen Aktivität. Wesentlich ist aberauch die Reaktion der Menschen, die dasKind anzusprechen versucht: Erfährt esTrost und Schutz, so wirkt dies lindernd.Fühlt es sich aber schutzlos ausgeliefert,konstant bedroht und unter der Last einesschrecklichen Geheimnisses, so frisst sichdas Trauma immer tiefer in die kindlicheSeele.Lange nicht alle Opfer von sexueller Gewaltentwickeln eine PTBS. Gemäß einerStudie zeigten selbst nach einer Vergewaltigung54 Prozent keine PTBS.Auswirkung sexueller AusbeutungMissbrauch und DepressionDaten einer australischen Studie:— Rund 27 % aller depressiven Frauenhaben einen sexuellen Missbrauch inder Kindheit erlebt, ca. 10 % in schwererForm.— Bei missbrauchten Frauen kommt eshäufiger zu Suizidversuchen, Selbstverletzungund Panikstörungen. Die Depressiontrat früher im Leben auf, unddie Frauen lebten häufiger erneut inBeziehungen mit Gewalt.(Gladstone 2004)www.dunkelziffer.de — Hilfe und Schutzfür sexuell missbrauchte Kinder.www.sexuellermissbrauch.ch — Informationenvon betroffenen Frauen.Zusammengefasst wirkt das Erlebnis dersexuellen Ausbeutung durch einen Erwachsenenauf vier Arten traumatisch:1. Beziehungen werden sexualisiert, esentstehen falsche Normen, Liebe undSex werden verwechselt und sexuelleAktivität mit negativen Gefühlserinnerungengekoppelt.2. Das Kind erlebt sich stigmatisiert undist zur Geheimhaltung gezwungen; esleidet unter Scham und Schuldgefühlen.3. Das Kind fühlt sich verraten und inseinem Vertrauen betrogen. In der lebensnotwendigenAbhängigkeit erlebtes sich missbraucht und manipuliert.4. Das Kind erfährt sich ohnmächtig durchdas Überschreiten der Körpergrenzengegen seinen Willen, es gerät in Hilflosigkeitund gelangt zur Überzeugungder eigenen Wirkungslosigkeit mit demSelbstbild als Opfer.Die Persönlichkeit wird zentral in ihrenÜberzeugungen und Werten auf fünfEbenen getroffen und zeigt sich beeinträchtigt:1. Auf der Ebene der Sicherheit, in dem sieimmer wieder Opfer wird und in gefährlicheSituationen gerät.2. Auf der Ebene des Vertrauens, indemsie von Angst, Misstrauen, Übervorsichtund Entscheidungsunfähigkeit geprägtist.3. Auf der Ebene der Kontrolle, indem siesich ausgeliefert fühlt, unter Sinnlosigkeitleidet und sich selbst schädigt.4. Auf der Ebene der Wertschätzung, indemsie meint, schlecht zu sein, undauch die Wertschätzung für andere verliert.5. Auf der Ebene der Intimität, indem siesich einsam und leer fühlt und im Miteinanderkeine Sinnerfüllung findet.18


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAEin typisches TäterprofilTraumatisierte Menschen haben oft großeAngst vor dem Täter. Dies hängt oft auchmit dem allgemeinen Verhalten des Täterszusammen.Täterstrategien— Ans Opfer gelangen («Grooming»).— Opfer für die Tat gefügig machen.— Unentdeckt bleiben.— Nicht zur Verantwortung gezogenwerden.— Ausbeutung beliebig fortsetzen können.Nach der EntdeckungNach der Entdeckung mögen sie sich fürihre Tat schämen, doch sie umgeben sichmit einem dicken Panzer — nach innen gepolstert,nach außen abwehrbereit, sobalddas Fehlverhalten angesprochen wird. FolgendeEigenschaften finden sich bei vielenTätern:— Wenig Einsicht in sein Verhalten.— Wenig Verständnis für die Bedürfnisseder anderen.— Selbstmitleid als Drohung: «Denk daran,was das für mich bedeutet, wenndu mich anzeigst!»— Starke Verdrängung der Tat.— Gibt nur zu, was ihm nachgewiesenwird («Kann sein, dass da etwaswar.»).— Wurden oft selbst missbraucht.— Teenager: tiefes Selbstwertgefühl,isoliert, wenig gleichaltrige Freunde,netter Junge (Babysitter); hat Mühe inBeziehungen mit Erwachsenen.Das äußere positive Gesicht des Täters— Höflich, zuvorkommend, angesehen.— Guter Versorger.— Familienmann.— Sozial / politisch / religiös engagiert.— Großzügig (nach außen / für sich).Immer wieder sind Nachbarn einesSexualtäters schockiert und überraschtüber das Doppelgesicht des Täters.Nachdem in den USA ein Mann nachschwersten Delikten an seiner Familiefestgenommen wurde, waren dieNachbarn in dem etwa 100 Häuserzählenden Wohnpark entsetzt. «Wirhatten keine Ahnung. Ich wusstenicht einmal, dass dort Kinder leben»,erklärte eine Bewohnerin. «Er war sehrangesehen, sehr freundlich und seriös»,beschrieb Parkmanagerin Alma M. denFestgenommenen. «Man hätte sich niemalsvorstellen können, dass er so etwastun würde.»(aus einer Zeitungsmeldung)Das heimliche negative Gesicht des Täters— Egoistisch.— Manipulatives Zurückhalten von Geld.— Wenig Zeit für Familie.— Wenig Ausleben der Werte.Gefühlsmäßige Reaktion des Opfers— Am Anfang sieht das Opfer die gutenSeiten des Täters als Stärke der Beziehung.— Wenn der Täter mit seinen Kontrollmethodenreagiert, klammert es sichan die positiven Seiten.— Wenn der Druck wächst, erscheintauch das Positive hohl.— Dieses Doppelleben führt zu einer Vertrauenskrise,die das Selbstwertgefühldes Opfers zerstören kann.Weitere Informationen:Anita Heiliger:Täterstrategien und Prävention. München 200019


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAAufdecken und vorbeugenPrävention erfolgt fortlaufend durch Erziehungund Öffentlichkeitsarbeit. Leitlinienfür die Information der Kinder:– Dem Alter und Entwicklungsstand derKinder angepasst.– Selbständigkeit und Selbstbewusstseinfördernd.– In Sexualerziehung und in Leitlinienfür eine liebevolle Beziehung eingebettet.Präventive Erziehung– Über deinen Körper bestimmst du allein.– Deine Gefühle sind wichtig.– Es gibt angenehme und unangenehmeBerührungen.– Du hast das Recht NEIN zu sagen.– Es gibt gute und schlechte Geheimnisse.– Sprich darüber und suche Hilfe.– Du bist nicht schuld!www.dunkelziffer.deDEN TÄTER ANZEIGEN?Wie soll man bei Verdacht auf sexuellenMissbrauch vorgehen?– Ruhig bleiben, das Gespräch mit demKind suchen.– Dem Kind glauben, was es erzählt.– Dem Kind nicht die Schuld geben.– Hilfe suchen für sich und das Kind.– Das Kind vor weiterem Missbrauchschützen.– Den Täter anzeigen, wenn eine weitereGefährdung besteht.– Der Täter hat ein Recht auf Persönlichkeitsschutz.Beratungsstellen (Opferhilfe) geben gerneAuskunft, wie man weiter vorgehen kann.– Nie allein handeln!– Kinderschutz hat oberste Priorität!Auswirkungen auf die PaarbeziehungDas Trauma eines Ehepartners (oft ist dieFrau von einem sexuellen Missbrauchbetroffen) bleibt nicht ohne Auswirkungauf eine spätere Paarbeziehung. Der Weg zueiner partnerschaftlichen Sexualität kannoftmals länger dauern und von unerwartetenReaktionen geprägt sein.Wichtig ist es für den Partner, die Auswirkungenzu kennen — Flashbacks, körperlicheSymptome und Vermeidensverhalten.Für die Frau braucht es viel Überwindung,ihm die Gründe für ihre Reaktionenzu erklären. Wichtig ist dann aberauch, dass sie ihm sagt, wie er auf ihre Bedürfnisseund Hemmungen eingehen kann— was sie gern hat und was traumatischeErinnerungen auslöst.20


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAPhasen der Therapie bei sexuellem MissbrauchSexueller Missbrauch führt zu einer tiefenVertrauenskrise − zum Täter, zu andernMenschen, zu sich selbst. Alle Gefühlesind in Aufruhr, in ständigem innerenWiderstreit. Auch der Körper ist nichtmehr verlässlich. Wie soll man da in eineTherapie eintreten und Heilung erfahren?Erfahrene Therapeutinnen betonen daheran erster Stelle nicht Aufarbeitung sondernStabilität.1. Stabilisierung. «Es ist o.k., nicht o.k.zu sein!» Das Opfer muss spüren, dassman ihm glaubt und vertraut; dassman seine seelischen und körperlichenSchmerzen ernst nimmt; dass manseine Instabilität akzeptiert. Darausergibt sich der Aufbau einer therapeutischenArbeitsbeziehung, in der sichdie Person frei fühlt, ihre Erlebnisse zuerzählen und Wege zur Bewältigungzu suchen. Oft kann man zu Beginnnur mit dem Opfer trauern und versuchen,es zu trösten.2. Strukturierende, unterstützende Interventionen:Wie kann die Person ihrLeben in den Griff bekommen, ohneständig von den seelischen Schmerzenüberwältigt und aus der Bahn geworfenzu werden?3. Imaginationsübungen: Wenn traumatischeErinnerungen wieder lebhaftpräsent sind, lernt die Person sich innereSchutzräume vorzustellen, einen«sicheren Ort», wo das Böse sie nichterreicht. Oder sie stellt sich jemandvor, der an ihrer Seite steht und dieBedrohung abwehrt («innere Helfer»).4. Ressourcen-Aktivierung: Jeder Menschentdeckt Wege, die ihm helfen, dasLeben besser zu bewältigen. So wirdbesprochen, was bisher geholfen hat,um zu überleben. Achtsamkeit aufdie kleinen Dinge des Alltags: Was tutSYMPTOME SEX. MISSBRAUCHKinder: Schmerzen in der Vagina, Blaseninfektion,Schmerzen beim Stuhlgang,Angst, Weigerung jemanden zu besuchen,Veränderung im Lernverhalten, Verweigerungvon Körperkontakt, nicht alterskonformesSexualverhalten.Teenager: Essstörungen, Rückzug, Isolation,Selbstverletzung, Weglaufen, Misstrauen,mangelnde sexuelle Intimität.Erwachsene: sehr vielgestaltig, gehäuftsexuelle Dysfunktion, Unterleibsbeschwerden,vermehrte Schmerzsyndrome,Depression und Angst, Selbstverletzungen- starke Schwankungen im Befinden.gut, was lenkt die Gedanken ab; wasgibt ein Gefühl der Sicherheit undder Normalität, was vermittelt kleineGlücksgefühle?5. Klärung der aktuellen Lebenssituation:Hat die Person allenfalls noch immerKontakt zum Täter? Wie kann sie sichdistanzieren und schützen? WelchenEinfluss haben solche Begegnungenauf das Befinden?6. Langfristige Ziele der Traumatherapie:Integration des Traumas in die Biographie,Gestaltung des aktuellen Lebensund der Zukunft. Entwicklung einerNicht-Opfer-Identität. Entwicklungvon neuen Interessen, Plänen und Aufgaben.7. Behandlungsbedürftigkeit von Begleiterkrankungenklären (z.B. Angststörungen,Persönlichkeitsstörungen).Evtl. Medikation einsetzen.21


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASpezifische Trauma-TherapiemethodenPITTDie Psychodynamisch Imaginative TraumaTherapie (PITT) nach Luise Reddemannist eine Kurzzeit-Therapie, die inDeutschland aus der klinischen Erfahrungmit traumatisierten Borderline-Patientenim Rahmen eines kurzen stationären Aufenthaltesentstand. Drei Phasen:— Stabilisierung (primäre Aufgabe)— Traumakonfrontation (evtl. bei guterStabilisierung nicht mehr nötig)— Integration.Im Vordergrund steht der Aufbau einertragenden therapeutischen Beziehung undeine Stabilisierung des psychischen Zustandes.Hier geht es um Ich-Stärkung,Symptomreduktion und um die Mobilisierungvon Ressourcen. Ein wesentliches Elementist die Imagination: Die Vorstellungberuhigender Bilder (ein Gegengewicht zuden Schreckensbildern) soll mithelfen, dieGefühle besser zu kontrollieren. Die Patientinlernt bewusst, sich von angst-auslösendenReizen und Vorstellungen zu distanzieren— sie wendet quasi eine schützende,positive Dissoziation an.Dieser Schutz erlaubt bei Bedarf dieKonfrontation mit dem Trauma. DieBetroffene nimmt eine distanzierte Beobachterrolleein und bestimmt, was aufder «inneren Bühne» abläuft. Sie sieht nichtnur den bedrohlichen Täter, sondern auchhilfreiche Personen, etwa ein starkes erwachsenesIch oder «ideale Eltern» oder«innere Helfer».Diese veränderte Sicht ermöglicht eineIntegration des Geschehenen in die Lebensgeschichte,ein bewusstes Trauern undermu tigt zum Neubeginn.Die Therapieform hat eine breite Akzeptanzerlangt und überzeugt durch die einfühlsame,kreative und doch realistischeGrundhaltung.EMDRDie Abkürzung steht für «Eye MovementDesensitization and Reprocessing», zudeutsch «Desensibilisierung und Neuverarbeitungdurch Augenbewegungen». Dabeigeht man von der Annahme aus, dass traumatischeErlebnisse in Verbindung zu körperlichenbzw. Gehirnfunktionen stehen.Bei Wikipedia ist dies wie folgt beschrieben:«Nach einem Trauma kann es zum sogenannten‹Sprachlosen Entsetzen› (speechlessterror) kommen, das heißt, in derrechten Hirnhälfte werden Bilder prozessiert,die der Patient vor Augen hat, währenddas Sprachzentrum aktiv unterdrücktwird. Der Patient kann das Geschehene sonicht in Worte fassen, wodurch nachfolgendeine Verarbeitung des Erlebten erschwertwird.»Es wird angenommen, dass durch diebeidseitige Stimulation mittels bestimmterAugenbewegungen (oder auch akustischeoder Berührungsreize) eine Synchronisationder Hirnhälften stattfindet,die bei der PTBS gestört ist. Erklärend wirdBezug genommen auf die REM-Phase imSchlaf, bei der auch starke Augenbewegungenstattfinden und zugleich eine erhöhteVerarbeitung des im Alltag Erlebtenvermutet wird.Erzählt also ein Patient seine Trauma-Erfahrung und bewegt dabei gleichzeitigseine Augen hin und her, so soll es zu einerdeutlichen Abnahme der posttraumatischenReaktion kommen.Das Konzept ist nicht unumstritten. Insbesonderewird die Methode bei komplexenTraumata als zu «simpel» erachtet. Die Augenbewegungenseien zudem nicht spezifisch(also nicht wirklich notwendig) für dieAbnahme post-traumatischer Emotionen.22


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMADissoziationDer psychologische Begriff »Dissoziation«bedeutet im weitesten Sinne Trennung,Auflösung, Entflechtung. Dissoziationstellt eine unwillkürliche Reaktion desMenschen auf belastende oder traumatischeErfahrungen dar, die zu einer Veränderungbzw. einem Rückzug vom Bewusstseinführt. Die Psyche wird dadurch vor denüberwältigenden Reizen und den existenzbedrohendenEmotionen geschützt. Für denaußenstehenden Beobachter wirkt es, alsob die Person mit den Gedanken weit wegwäre. Der Blick wird leer, die Person verstummt,vielleicht läuft sie ziellos davonoder bleibt verloren in einer Ecke stehen.Was um sie herum vorgeht, und was ihr angetanwird, kommt nicht mehr an sie heran.Dissoziation ist also ein wichtigerSchutzmechanismus für Menschen intraumatischen Situationen. Es ist jedochgleichzeitig ein sehr drastischer Notmechanismus,der nachhaltige Schäden in Formvon post-traumatischen Symptomen hinterlassenkann.Kommt es zu wiederholten und längeranhaltenden Traumatisierungen, so kanndies gerade bei Kindern zu einem Musterwerden, in schwierigen Situationen einfach«wegzutreten». Die integrative Funktiondes Bewusstseins wird nachhaltig gestört.Gedächtnis und Wahrnehmung werden unterbrochen,die Person nimmt sich und dieUmwelt nicht mehr wahr (Depersonalisationoder Derealisation). Im schwersten Fallekann es zu einer tief greifenden Identitätsstörungkommen (vgl. Seite 24 — 25).Therapeutische DissoziationIm positiven Sinn wird Dissoziation genutzt,um sich im therapeutischen Kontextdurch Imagination von den traumatischenErinnerungen zu distanzieren (vgl. PITT, Seite22). Allerdings geschieht der Mechanis-Interview mit einer jungen Frau, die alsKind von zwei arbeitslosen Männernpraktisch jeden Tag sexuell missbrauchtwurde. Mit tonloser Stimme berichtetsie von diesen Ereignissen.Frage: «Wie konnten Sie das nur aushalten?»Antwort: «Ich bin in die Tapete gegangen.Da hat es nicht mehr weh getan.Ich bin erst viel später wieder aufgewacht.»mus hier bewusst. Ergänzt wird er durchKörper übungen, in denen sich die Personwieder spüren lernt und sich mit mehr Sicherheitund Lebensfreude ins reale Lebeneingibt.23


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAMultiple Persönlichkeit (MPD) oderDissoziative Identitätsstörung (DID)Die Störung mit multipler Persönlichkeit(MPD = Multiple Personality Disorder)ist eine sehr seltene Störung der Persönlichkeits-Identität.Nach der Klassifikationder DSM-IV wird sie heute als DissoziativeIdentitätsstörung (DID) bezeichnet.Zur Diagnose der DID sind zwei Voraussetzungenwichtig: Die erste beschreibtdie Existenz von zwei oder mehr Personenoder Persönlichkeitszuständen innerhalbeiner Person (jede mit einem eigenen, relativüberdauernden Muster, die Umgebungund sich selbst wahrzunehmen, sich aufsie zu beziehen und sich gedanklich mitihnen auseinanderzusetzen). Die zweiteVoraussetzung fordert, dass mindestenszwei dieser Persönlichkeiten oder Persönlichkeitszuständewiederholt volle Kontrolleüber das Verhalten des Individuumsübernehmen.Diese Phänomene führen dazu, dass eine«Person» (bzw. ihr Körper) gelegentlichetwas sagt, fühlt oder macht, das sieselbst nie tun würde. Häufig besteht fürden Zeitraum der Kontrolle durch eine andere«Person» oder einen Persönlichkeitsanteileine völlige oder teilweise Erinnerungslücke.Die Diagnose der Störung wirdkompliziert durch die Mannigfaltigkeit derSymptome ,die auch körperliche Beschwerdenmiteinschließen. Die Instabilität desPersönlichkeitsausdrucks ist eine besondersdramatische Auspräg ung der Phänomene,die bei der Borderline-Persönlichkeitbeobachtet werden.Als Ursache dieser Identitätsstörungwird heute eine langandauernde überwältigendepsychische und physischeTraumatisierung (z.B. schwerer sexuellerMissbrauch) mit Beginn in der frühenKindheit angenommen. Es kommt zur Abspaltung(Dissoziation) dieser unerträglichenErlebnisse in weniger zugänglicheBewusstseinsbereiche.Wer bin ich?«Ich bin eine begabte Pianistin, ich lesegern und viel, ich bin jemand, die Kuscheltiereliebt, die gerne kocht,ABER bin ich auch diejenige, die8000.— Euro Schulden hat, ja, die aufden Strich geht? Vielleicht drogenabhängig?Ich bin diejenige, die behauptet, dass ihreEltern schreckliche Sachen mit ihrenKindern tun, aber ich bin auch diejenige,die behauptet, dass nichts passiertist. Wer bin ich?» (eine junge Frau)Die TherapieDie Therapie erstreckt sich gewöhnlichüber viele Jahre, das Ziel ist die Reintegrationoder bessere Kooperation der «Personen»bzw. Persönlichkeitsanteile. Therapieerfolgewerden von den unterschiedlichstenTherapierichtungen beschrieben.Für christliche Therapeuten liegt eineGefahr in der Überinterpretation (z.B. zuschnelle okkult-dämonische Zuordnung)der eindrücklichen Phänomene.24


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAEin Modell der Entstehungvon abgespaltenen «Personen»Abbildung aus: Pfeifer et al (1994). Störung mit multipler Persönlichkeit. Darstellungvon zwei Fällen und Entstehungsmodell. Nervenarzt 65:623-627.Weiterführende Literatur:– Huber M.: Multiple Persönlichkeiten. Fischer.– Pfeifer S.: Multiple Persönlichkeitsstörung. Kapitel 7, in «Die zerrissene Seele. Borderline und Seelsorge»,Brockhaus Verlag.– Friesen J.G.: Uncovering the mystery of MPD. Here is Life Publishers.25


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAFalsche Anwendung des TraumakonzeptesWelche Gedanken kommen Ihnen beimBetrachten des Bildes auf dieser Seite?a) ein Kind auf regennasser Strasse, verzweifelt,seelisch verletzt, allein?b) ein müdes Kind in Begleitung seiner(kaum sichtbaren) Mutter, auf demHeimweg in sein geborgenes Zuhause?Wenn wir ehrlich sind, können wirnichts über den Seelenzustand des Kindesaussagen, ohne Genaueres über seinenHintergrund zu wissen.Ein Trauma ist schlimm, aber auch einefalsche Anklage wegen Kindesmissbrauchist schlimm für die Angehörigen. Therapeutinnenund Berater müssen deshalbausserordentlich vorsichtig in der Interpretationdes seelischen Zustandes einesMenschen sein.In der Folge sollen einige Fallen im Umgangmit dem Traumakonzept beschriebenwerden.Falle 1: Ausweitung auf jedeschwierige erfahrung im LebenTherapeuten, die beispielsweise von derPrimärtherapie oder von der Autorin AliceMiller geprägt sind, neigen dazu, auch dienormalsten Erfahrungen auf dem Weg insErwachsenenleben als «Trauma» zu deuten,das fortan die Gründe für spätere Problemedarstellen soll.Da wird vom Geburtstrauma gesprochen,dieser schrecklichen Erfahrung, ausdem warmen Mutterschoss in gleißendesLicht und kalte Luft herauspresst zu werden.Später soll dann in einer «körper-orientiertenTherapie» diese schreckliche Erfahrungnochmals durchlebt werden, umdas «Trauma» zu verarbeiten.Seelische Verletzung einersensiblen Personoder echtes Trauma?Wenn in der Tiefenpsychologie von «Verletzungen»die Rede ist, werden nicht nurschwerste Kindheitserfahrungen gemeint,wie Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellerMissbrauch oder die innere Zerrissenheitals Folge einer Scheidung. Die Belastungdurch solche schweren Erfahrungen«MISSBRAUCH»Ein vielschichtiger BegriffIn der therapeutischen Sprache gibt esmindestens vier Formen des englischenBegriffes «ABUSE»:— Emotional Abuse = Emotionale Vernachlässigungund Verletzung.— Physical Abuse = Körperliche Misshandlungund Vernachlässigung.— Sexual Abuse = Sexueller Missbrauchin vielfältigen Schweregraden.— Spiritual Abuse = Geistlicher Missbrauch(vgl. Seite 35).26


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAist allgemein erkennbar und unbestritten.Vielmehr sollen es ganz alltägliche Enttäuschungenund Ängste des Kindes sein,die zum späteren Lebensproblem führen.Beispiele:— Reinlichkeitserziehung.— Festlegen von festen Zeiten im Alltag(Essen, Schlafen).— Tadel / kleine Strafen für Fehlverhalten.— Mangelnde Bewunderung für einselbst gemaltes Bild etc.Oft werden Mütter der «Misshandlung»bezichtigt, obwohl sie nur das Beste für ihrKind wollten und es zu keiner Zeit bewusstböse behandelten. Daraus folgt fälschlicherweise:«Die Mutter ist schuld!»Falle 2:Deutung seelischer Probleme alsFolge von psychischem Trauma.Therapeuten und Seelsorgerinnen, dieeinseitig vom Traumabegriff geprägt sind,können sich kaum andere Gründe für psychischeAuffälligkeiten vorstellen. «Könntehinter depressivem Erleben ein Traumastehen?» — «Derartige Wahnideen müssendoch einen traumatischen Ursprunghaben!»Sie beharren auf einer Trauma-Deutung,selbst wenn die Patientin / der Patient sichan kein Ereignis erinnern kann, das der allgemeinenDefinition eines Traumas entspricht.Oft wirken sie dadurch realitätsfernund erzeugen erhebliche Spannungenbei den betroffenen Menschen.Falle 3:Einreden von Trauma aufgrundvon Träumen, Körpermissempfindungenoder geistlichen Eindrücken.Alice Miller (*) schreibt einmal: «Ich hättefrüher heftig protestiert, wenn man mirgesagt hätte, dass ich ein misshandeltes* www.alice-miller.comPARADOX— Nicht jede seelische Verletzung in derKindheit führt auch zu psychischenProblemen im Erwachsenenalter.— Psychische Probleme im Erwachsenenlebenlassen sich nicht immer aufseelische Verletzungen in der Kindheitzurückführen.Kind gewesen war. Erst jetzt weiß ich mitBestimmtheit, dank Träume, meiner Malereiund nicht zuletzt dank der Botschaftenmeines Körpers, dass ich als Kind überJahre seelische Verletzungen hinnehmenmusste, aber dies als Erwachsene sehr langenicht wahrhaben wollte.»Die klinische Erfahrung zeigt, dass genaudiese drei Quellen der Wahrnehmungäußerst unzuverlässig sind, um «Wahrheit»zu rekonstruieren. Wenn es nicht zusätzlicheInformationen gibt, sollte man mit Interpretationensehr vorsichtig sein.In der Seelsorge kommt noch der Faktorder «geistlichen Eingebungen» oder «Bilder»hinzu. Speziell Frauen, die für sich einen«prophetischen Dienst» beanspruchen,stehen in der Gefahr, «Traumata» in das Lebenvon Ratsuchenden hineinzulesen, diediese in tiefe Verwirrung stürzen können.Falle 4:Abbruch der Beziehungzu den ElternManche Therapeuten raten Betroffenen,den Kontakt mit den Eltern radikal abzubrechen.Keine Besuche mehr, keine Telefonate,kein Familienfest, kein Vorstellender Enkelkinder.Ein solcher Beziehungsabbruch trägt insich zwei Gefahren: a) eine unreife Pseudolösungdurch völliges Ausblenden derBeziehung ohne Gesprächsbereitschaft. b)Der Verlust von tragenden Beziehungenund heilsamen neuen Erfahrungen.27


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASensibilität und das Leiden an der KindheitSensible und dramatische Persönlichkeitenverarbeiten vergleichsweise geringeVerletzungen als «Trauma».Sensible Menschen haben meist einerecht normale Jugend hinter sich, ohnefassbare Grausamkeiten und überdurchschnittlicheVerluste. Sie kommen oftmalsaus normalen Familien, die versuchten, ihrenKindern das Beste zu geben. Nicht sel-ten sind andere Geschwister seelisch gesund.Wie kommt es dann, dass ängstliche unddepressive Menschen sosehr unter ihrerKindheit leiden? Antworten ergeben sichaus der Sensibilitätsforschung (vgl. Seite14). Die untenstehende Tabelle fasst einigeGrundthesen zusammen.Tabelle 28-1:Zehn Grundthesen zur Bedeutung der Kindheit für die persönliche Entwicklung1. Kinder sind von ihrer genetischen Anlage her unterschiedlich begabt und temperamentvoll.2. Schwangerschaft und Geburt sind natürliche Ereignisse und führen als Erlebnis alleinnicht zu seelischen Störungen. Problematisch können aber minimale Gehirnschädigungensein, die zu späteren Lern- und Verhaltensstörungen führen können.3. Die frühkindliche Entwicklung ist weitgehend unabhängig von der Form der Erziehung(Mutterbrust oder Flasche, heile Kleinfamilie oder Kibbutz-Kinderhort), solange das Kindeine feste Bezugsperson hat, die ihm Vertrauen und Sicherheit gibt.4. Das Temperament des Kindes prägt auch den Beziehungs- und Erziehungsstil seinerEltern. Unruhige Kinder brauchen z.B. viel mehr elterliche Ermahnungen und erlebendaher mehr Frustration.5. Einzelne schmerzliche Ereignisse prägen weniger als eine langdauernde negative Gesamt-Atmosphäre.6. Es gilt zu unterscheiden zwischen schweren Problemen (z.B. Alkoholismus oder psychischeKrankheit der Eltern, Scheidungsstreß) und leichteren Besonderheiten desErziehungsstils (z.B. freiheitlich oder behütend, unbewußte Erwartungen und Ängsteder Mutter).7. Erinnerungen an die Kindheit werden durch die Stimmungslage und die Persönlichkeitdes Erwachsenen gefärbt.8. Kinder haben Bewältigungsmöglichkeiten, die ihnen auch bei schlechter Ausgangslageeine gute Entwicklung ermöglichen. Zwei Faktoren sind wichtig: Eine stabile Anlage unddie Umwelt (z.B. stabile Schulsituation, verlässliche Freunde).9. Die Nöte sensibler Menschen sind nicht nur auf die äußeren Umstände der Kindheitzurückzuführen, sondern vielmehr auf ihre übersensible Verarbeitung von Erfahrungenin Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter.10. Wenn sich objektiv und im breiten Vergleich die Kindheit nicht als Schicksal erweist,so muss man doch die persönliche Verarbeitung von Erfahrungen in der Kindheit ernstnehmen und den Betroffenen helfen, diese in einer reifen Form zu verarbeiten.28


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMA«False Memory Syndrome»Das menschliche Gedächtnis ist leidernicht so zuverlässig, wie man sichdas wünschen würde. Gerade bei traumatischenErfahrungen kann es im Rahmender Dissoziation zum völligen Ausblendender schrecklichen Ereignisse kommen. Ofttauchen die Erinnerungen erst sehr vielspäter in zersplitterter und verzerrter Formwieder auf.missempfindungen,Bilder, TräumeAuf dieser Grundlage haben mancheTherapeuten die These aufgestellt, ein sexuellerMissbrauch könne auch dann vorliegen,wenn die Person keine Erinnerungdaran hat. In fragwürdiger Weise wurdemanchmal durch stark suggestive Fragenein «recovered memory» (wiederentdeckteErinnerung) erzeugt. Vage Eindrücke, Bilderund Träume wurden zur Grundlage, einen«Missbrauch» zu diagnostizieren. Manchegingen so weit, ihre Eltern wegen dieserEindrücke anzuzeigen. Dabei wurdenz.T. groteske Anschuldigungen (Babyleichenim Garten) gemacht, die sich auch inaufwendigen Untersuchungen nicht beweisenliessen.Offenbar handelte es sich um ein «FalseMemory Syndrome». Dies wird definiertals «ein Zustand, in dem die Identität unddie persönlichen Beziehungen einer Personum die Erinnerung an eine traumatischeErfahrung kreisen, die objektiv zwarfalsch ist, aber an die die betroffene Personfest glaubt.»kENNZEICHENDie amerikanische Psychologie-ProfessorinElizabeth Loftus arbeitete einigeKennzeichen derart falscher Gedächtnisinhalteheraus:— Es handelt sich oftmals um sehr ungewöhnlicheInhalte, etwa satanischeRituale mit Menschenopfern.— Die Betroffenen waren damals noch soklein, dass das Gedächtnis noch nichtso detailliert entwickelt war.— Es gibt typischerweise keine unabhängigenHinweise auf die Ereignisse.— Die Therapeuten haben ihrerseits fixeIdeen über die allgegenwärtige Bedeutungvon sexuellem Missbrauch.— Die Therapeuten benutzen umstritteneMethoden (wie etwa Hypnoseoder Imagination), um «Erinnerungenheraufzuholen».SchlussfolgerungenNach der sorgfältigen Prüfung der Literaturkommt der englische Psychologie-Professor C. Brewin zu folgenden Schlüssen:— Falsche Erinnerungen sind eine Möglichkeit,die immer berücksichtigt werdensollte. Aber nicht alle später auftauchendenErinnerungen sind falsch.Es gibt Beispiele, wo insbesondere diegewöhnlichen Formen sexuellen Missbrauchserst viel später wieder erinnertwerden.— Traumatisierte Patienten sind sehr suggestibel.Neben wirklich erfahrenenTraumata stehen sie in der Gefahr, unterDruck falsche Berichte über nichtselbst erlebte Traumata zu produzieren.Diese können sehr lebhaft ausgestaltetwerden und dennoch nicht den Tatsachenentsprechen.29


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAVerfolgung, Folter und MigrationMenschen, die aus ihrem Heimatlandflüchten müssen, erleben etwa zehnmalso viel Stress wie der Durchschnitt imfriedlichen Gastland. Staatliche Verfolgungund Terror erzeugen eine massive und kumulativeBelastungssituation, welche inverschiedenen traumatischen Abschnittenverläuft.Nach vorsichtigen Schätzungen leidenmindestens 5% der in Deutschland lebendenAsylbewerber unter Foltererlebnissen.Folter hinterläßt bei ihren Opfern fast immerein tiefes und lebenslanges Trauma.Der Schrecken endet nicht mit der Ankunftim sicheren Hafen des Westens. Vielmehrbedeutet der Asylprozess eine «Insti-Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert.Unauslöschlich ist die Folter in ihneingebrannt, auch dann,wenn keine klinisch-objektiven Spurennachzuweisen sind.Jean Amérytutionalisierung der Ohnmacht». BeengteUnterkünfte, Arbeitsverbot, unsichere Aufenthaltsbedingungen,gekoppelt an diepermanente Bedrohung, abgeschoben zuwerden, sowie die Ablehnung im Gastlandbegünstigen die Entstehung einer chronifiziertenTrauma-Symptomatik.Körperliche Folgen der FolterStändige Kopfschmerzen, Herzbeschwerden,Atemnot, Schwindel, Schlafstörungen,Albträume, Überwachheit bishin zur «nervigen» Übererregbarkeit. NebenVerletzungsfolgen findet sich oft aucheine chronisch erhöhte Verspannung mitentsprechenden Schmerzen und Muskel-Hartspann.Auch wenn sich keinerlei nachweisbareSpuren finden, so wird der erlebte Schmerzdoch zur «verkörperten Erinnerung».Zwischenmenschliche Folgen«Als er nach Hause kam, starrten seineAugen ins Leere, er lächelte nicht und redetenicht, und er hatte keine Fingernägelmehr», berichtete die Frau eines kurdischenFolteropfers. Oftmals hört man die Aussage:«Nichts ist mehr, wie es war!»Gefolterte Menschen können selbst fürihre eigene Familie sehr schwierige Mitmenschenwerden. Einige Punkte:— Dauernde matte Traurigkeit, Unfähigkeitzu Frohsinn und Lebensgenuss.— Ständiges Haften an den Demütigungenund Quälereien.— Eine eigentümliche Schreckhaftigkeit,selbst auf harmlose Geräusche.— Flashback-artige, sich aufdrängendeBilder und Gedanken aus früherenFoltersituationen, manchmal so plastisch,als würde sich das überstandeneTrauma wirklich wiederholen,begleitet von Zittern und Schweißausbrüchen.— Angst vor der Hausglocke («Werde ichwieder verhaftet?»).— Vermeidung von größeren Menschenansammlungen,von Kino- oder Theater-Besuchen;ständige Absicherung.— Reizbare Verstimmbarkeit mit schwerbeherrschbaren Gemütsschwankungenund aggressiven Durchbrüchen, oftaber wie geistesabwesend.Weitere Informationen:Eine hervorragende Übersicht zum Thema findet sichauf der Website von Prof. Volker Faust: www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/folter.htmlEbenfalls informativ: www.torturevictims.ch30


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMANationales Trauma und Versöhnungder selbst in den Verliessen des Regimesgeschmachtet hatte.Manchmal geht ein ganzes Volk durchein Massentrauma. Die Schreckensherrschaftdes Pol Pot Regimes löschteein Viertel des kambodschanischen Volkesaus — bis heute kann man die Schädel der«Killing Fields» besichtigen. In Ruanda hatdas Massaker der Hutus an den Tutsi einenhunderttausendfachen Tribut gefordert— auch hier zeugen die Totenschädelvon den schrecklichen Ereignissen. Srebrenica,Darfur, und wie die Orte schwersterMenschenrechtsverletzungen heissenmögen, haben sich in unser Gedächtniseingebrannt.Auch Südafrika ging in den Jahren derApartheid-Herrschaft durch ein nationalesTrauma. Der Hass gegen die Weissen wurdezum explosiven Gemisch, das jederzeit ineiner schreckliche Katastrophe hätte endenkönnen. Doch dann standen einige mutigeMänner auf, allen voran Nelson Mandela,Wahrheit und VersöhnungIn Südafrika wurden «Truth and ReconciliationCommissions» (TRC) gegründet,zu deutsch «Wahrheits- und Versöhnungskommission».Ihr Ziel war es, Opfer und Täter in einen«Dialog» zu bringen und somit eine Grundlagefür die Versöhnung der zerstrittenenBevölkerungsgruppen zu schaffen. Vorrangighierbei war die Anhörung bzw. die Wahrnehmungdes Erlebens des jeweils anderen.Die Ideale Gandhis, der über zwei Jahrzehntein Südafrika gelebt und gewirkt hatte,finden sich in den Grundsätzen der TRCwieder. Nicht die Konfrontation, sonderndie Wahrnehmung des «Anderen» standim Vordergrund.Den Angeklagten wurde Amnestie zugesagt,wenn sie ihre Taten zugaben, denOpfern wurde finanzielle Hilfe versprochen.Ziel war die Versöhnung mit denTätern sowie ein möglichst vollständigesBild von den Verbrechen, die während derApartheid verübt wurden. Sämtliche Anhörungenwaren deshalb öffentlich (Textnach Wikipedia).Vergebung statt RacheDie Bereitschaft zur Vergebung führtezu einem friedlichen Übergang statt zueinem Blutbad. Die Begnadigung weißerund schwarzer Täter hat vermieden, dasstausende unschuldiger Menschen neuesUnrecht, Tod und erneute Traumatisierungerlebt hätten.Weitere Informationen:Wikipedia: Wahrheits- und Versöhnungskommission31


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMASeelsorge: Wo ist Gott?zwischen Anklage und zaghaftem Rufennach Hilfe.Lieder und geistliche Musik können Gefühlein ganz besonderer Weise ausdrücken— etwa Haendels Oratorium vom leidendenChristus oder Bachs Kantaten. Aber auchdas neue Genre der «Praise Music» enthältviele Texte und Melodien der Klage unddes Vertrauens.Diese verstörenden Zeilen wurden voneinem 18-jährigen Mädchen geschrieben,bei dem die Erinnerung an das Trauma einerVergewaltigung nach einem halben Jahrnochmals mit voller Wucht hochgekommenwar.Seelsorge in dieser Phase erfordert vielFeingefühl. Da helfen weder Plattitüdennoch theologische Diskussionen. Es machtgar nichts, wenn auch die helfende Personkeine Worte findet, und einfach nur da ist,ohne viel zu sagen.Die äußere Stabilisierung steht vor derinneren Verarbeitung. Die traumatisiertePerson muss sich sicher fühlen können —Geborgenheit, Wärme, ein gutes Essen, einwohliger Ort zum Schlafen — all das kanndazu gehören.Gläubige Menschen gehen durch unterschiedlichePhasen in der Auseinandersetzungmit dem Trauma. Sie entdecken oftdie Psalmen, die Klagelieder oder das BuchHiob. Ihre Gebete sind seltsam zerrissenIst Vergebung möglich?«Vergeben und vergessen» — so einfachist es für traumatisierte Menschen nicht.Sie brauchen Zeit zur Verarbeitung, unddieser Weg kann auch in der Seelsorge nichtabgekürzt werden. Irgendwann kann manvielleicht das Geschehene «Gott zurücklegen»,und den Täter «seiner Rache übergeben».Dieses Abgeben hat reinigendeWirkung und entlastet von der Bürde desGrolls. In der Seelsorge mehr einzufordern,wäre vermessen, doch gibt es oft ganz unvermutetepositive Entwicklungen.«Feindpsalmen»Dem UnaussprechlichenWorte gebenTrauma macht sprachlos. Es gibt keineWorte, das Grauen zu fassen. Aber irgendwannkann die Wut hochkommen,auch beim gläubigen Menschen.In den Psalmen werden Gefühle ohnefalsche Frömmigkeit in unverblümter, authentischerForm ausgesprochen, geseufzt,herausgeschrieen. Mit ungewohnterHeftigkeit werden Rachewünsche undVernichtungsphantasien geäußert, wirdgegen Gewalt geklagt und nach Vergeltunggerufen. Diese Texte werden in dertheologischen Fachsprache als Klagepsalmenoder Feindpsalmen bezeichnet.32


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAAuswirkungen auf das Gottesbild«Wie kann ein allmächtiger liebenderGott das Leid auf dieser Welt zulassen?»Diese Frage hat die Menschen seit Urzeitenbeschäftigt. In der Fachsprache wird sieals «Theodizee-Frage» bezeichnet. ImGespräch mit gläubigen Menschen begegnenmir zwei unterschiedliche Formen dieserFrage:a) Die theologisch-philosophische Fragenach Gottes Wirken in dieser Welt.b) Das persönliche Ringen mit dem Gott,der angeblich Liebe ist und doch Böseszulässt.Theologische AspekteIn diesem Seminarheft fehlt der Raum,diese Diskussion auch nur annähernd zuerörtern. Eine Frage ist aber auch für diepersönliche Verarbeitung wichtig: Muss dieGüte Gottes darin bestehen, dafür zu sorgen,dass es einem gut geht? Erfährt mannur dann Gottes Liebe, wenn man gesund,erfolgreich, unversehrt und glücklich ist?Das persönliche RingenIn manchen christlichen Kreisen wirdein idealisiertes, fast romantisches Vaterbildkultiviert, das nur selten der realenVatererfahrung entspricht. Schlechtes Ergehenwird oft mit Gottesferne gleichgesetzt,wohlige Geborgenheit mit der Heimkehrzum Vater, wie sie in Rembrandts Gemäldedargestellt wird.Seelisches Trauma fordert ein Umdenken.Der leidende Christus solidarisiert sichmit den Traumatisierten. Traumaverarbeitungbedeutet auch Trauern über Leid undSchmerz als Teil des Lebens. Im Ringen mitGott kann eine neue vertiefte Gottesbeziehungentstehen, wie sie Paulus im Brief andie Römer ausspricht: Wer kann uns trennenvon der Liebe Gottes — auch in dendunkelsten Stunden des Lebens?«In einem christlichen Buch las ich denBericht über den Film ‹Billy Eliott›.Da hiess es: ‹Und sie schlägt zu — hautihm voll eine herunter. Der Knall dieserOhrfeige schallt durch den Kinosaal ...›An dieser Stelle bekam ich spontaneinen heftigen Flashback plus Übertragung.Vor meinem Auge stand mein brutalerVater, der mich zuweilen so heftigohrfeigte und mit Fausthieben malträtierte,dass beide Kiefergelenke dauerhaftgeschädigt sind. Und ich bin meinemVater nicht dankbar in den Arm gefallen,sondern habe das Weite gesucht, damit ermich nicht totschlug — wenn ich nochkonnte und nicht ohnmächtig wurde.Die Übertragung fand ebenso spontanstatt, dass Gott «Vater» vor mir steht undmich ohrfeigt, weil ich das verdient habe!Und ich bedanke mich natürlich noch beiGott ... Was ich hier an dieser Stelle desBriefes denke, kann man nicht veröffentlichen,deshalb behalte ich es für michFest steht, dass ich nach meiner Bekehrungjahrelang gebraucht habe, um meinenleiblichen Vater und Gott Vater zutrennen. Langsam, ganz langsam konnteich es zulassen, dass Gott mein Vater seinwill, der mich liebt und liebevoll mit mirumgeht. Nun aber liege ich zitternd undaufgelöst im Bett und es ist fast vier Uhrmorgens. Und morgen früh ist Gottesdienst,dort will ich hin ... und soll Gott-Vater anbeten. Ich habe keine Ahnung,ob das gelingt oder ob ich noch einmalJahre brauchen werde, mich dem VaterherzGottes zu nähern.»aus einem Leserbrief der Zeitschrift AUFATMEN33


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMADie Frage nach dem BösenDas Leiden unserer Patienten wirft auchexistentiell die Frage nach dem Bösenauf. Wie sind Gräueltaten wie der Holocaustoder der Völkermord in Kambodschaoder die KZs in Bosnien möglich? Wie sindsadomasochistische Quälereien von Kindernvor laufender Kamera möglich? C.G.Jung sprach nach dem Ende des zweitenWeltkriegs von den «Dämonen» des Hitler-Regimes.Wer mit schwerst traumatisierten Menschenarbeitet, für den wird die Existenzdes Bösen so real, dass humanistische Verharmlosungennicht mehr greifen. Die Folgen:a) Wut, Ohnmacht, bis hin zum Kampfgegen das Böse auf eigene Faust.b) Persönliches Gefühl des Bedrücktseinsund der Bedrohung durch Kräfte desBösen, denen man sich ausgeliefertfühlt. (Cave: Symptom der Überforderung!!)c) Erschütterung des Weltbildes.Erschütterung des WeltbildesIngrid Bétancourt schrieb an ihre Mutter:«Mamita, ich bin des Leidens müde.Ich habe versucht, stark zu sein. Diese fastsechs Jahre Gefangenschaft haben mir gezeigt,dass ich weder so widerstandsfähignoch so mutig, intelligent und stark bin,wie ich dachte … Es geht mir körperlichschlecht. Ich esse nicht mehr, ich habe denAppetit verloren, mir fallen die Haare inBüscheln aus. Ich habe auf nichts Lust. Ichglaube, das ist das einzig Gute: auf nichtsmehr Lust zu haben. Denn hier in diesemDschungel lautet die einzige Antwort aufalles ‹Nein›. Deshalb ist es besser, nichtszu wollen, um wenigstens frei von Wünschenzu sein.»Verarbeitung im GebetIm folgenden gebe ich Texte einer seitKindheit schwerst traumatisierten Frau wider,die mich sehr berührt haben. In den Gesprächenmit mir versuchte sie das Grauenin Worte zu fassen, das sie erlebt hatte.Oft blieb nichts anderes übrig, als Schweigen.Manchmal war sie so beschämt, dasssie sich in eine Ecke meines Sprechzimmersstellte, und dort zur Wand redete.Wir sprachen von ihrem Leiden, von ihremHass auf den Onkel, der sie jahrelang missbrauchtund dabei gefilmt hatte, aber auchvon ihrem Ringen mit Gott, der oft so abwesendschien. In diesem Ringen verfasstesie folgende Worte:BEACHTE: Das Gebet führt nicht immerzum harmonischen Ende des seelischenSchmerzes, aber es gibt dem Unaussprechlichenwenigstens Worte und damit tröstlicheKraft.34


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAGeistlicher MissbrauchDEFINITION«Geistlicher Missbrauch ist der falscheUmgang mit einem Menschen, der Hilfe,Unterstützung oder geistliche Stärkungbraucht, mit dem Ergebnis, dass dieserin seinem geistlichen Leben geschwächtund behindert wird.» [...] «Geistlicher Missbrauchist Manipulieren, Kontrollieren undBeherrschen im Rahmen eines geistlichenAmtes, das jemand ausübt. Dabei kann dieserMissbrauch absichtlich oder unabsichtlicherfolgen. Der geistliche Missbrauchdient dem Erreichen der eigenen Absichten,nicht dem Erreichen der Absichten Gottes.»Weitere Informationen:David Johnson & Jeff VanVondereen: Geistlicher Missbrauch— die zerstörende Kraft der frommen Gewalt. ProjektionJ.Ken Blue: Geistlichen Missbrauch heilen. Brunnen.Erkennungsmerkmale— Manipulation: z.B. «Gott hat mir gesagtdass du...» — Erzeugung einerextremen Abhängigkeit von einemLeiter, mit der Auflage, alle Entscheidungenmit ihm abzusprechen.— Tabuthemen, die nicht angesprochenwerden dürfen. Bestrafung, Verfluchungund Ausgrenzung bei Zuwiderhandlung.— Machtanspruch: «Ich bin Leiter, alsomusst du mir gehorchen!» oder «Tasteden Gesalbten des Herrn nicht an.» —Ein Hinterfragen wird als «Rebellion»angesehen.— Lügen des Leiters werden von ihm als«Missverständnisse» abgetan.— Unangemessene Forderungen bezüglichZeit, Geld, Verzicht und Einsatz in derGruppe, ohne Rücksicht auf die Bedürfnissedes einzelnen und seiner Familie.— Erzeugung von Schuldgefühlen, wennman den Forderungen eines Leiters nichtgehorcht.— Verleugnung von eigenen Gefühlen undBedürfnissen, wenn diese nicht den Vorgabender Gruppe oder des Leiters entsprechen.— Sexuelle Übergriffe unter religiösenVorzeichen. (Beispiele: Missbrauch vonKnaben in der katholischen Kirche, aberauch vereinzelte Berichte von sexuellemMissbrauch in freikirchlichen Splittergruppen).— Dämonisierung von psychischen Problemenmit z.T. lautstarken rituellen «Befreiungsgebeten».— Die meisten Fälle von geistlichem Missbrauchtreten in kleinen Gruppierungenauf, die von isolierten Leitern (und ihrerEntourage) geführt werden.Die Betroffene hat ohne Erlaubnis des Pastors eineTupperware-Party durchgeführt. Sie wird autoritär«vermahnt».«Meine Ohren verweigern ihren Dienstund mein Gehirn blockt irgendwie allesab. Nach einer viertel Stunde sindsie fertig und ich darf nach Hause gehen.Als ich im Auto sitze, wird mir solangsam bewusst, was da gerade abgelaufenist. Ich kann es nicht fassen, unddie Tränen bahnen sich so langsam denWeg nach oben. Tränen der Wut undder Verzweiflung, ich fühle mich beschmutztund missbraucht. Aber wassoll ich dagegen tun? Wer hilft mirdenn?»Bericht auf der Website www.cleansed.de35


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMACompassion Fatigue – SekundärtraumaLeiden an der Not der andern«Als ich die Stelle im Frauenhausangetreten hatte, war ichdarauf vorbereitet gewesen, derdunkelsten Seite des Lebens zubegegnen. Schon auf dem Sozialamt hatteich alle denkbaren Arten von Elend erlebt, Ichdachte, ich wäre abgehärtet und trotzdem nochweich genug für meinen neuen Job. Aber ichkonnte mich nicht an die blauen Flecken und ausgeschlagenenZähne gewöhnen, an die verängstigtenKinder, die seit Wochen nicht mehr richtiggeschlafen hatten, an die Frauen, die gelernthatten, sich selbst für so schlecht zu halten, dassman sie verprügeln durfte...»Zitat aus dem Krimi von Leena Lehtolainen:Zeit zu sterben. Rowohlt, S. 38.In den letzten Jahren wurde vermehrt dasAugenmerk auf die Befindlichkeit derjenigenHelferinnen und Helfer gelegt, die inKriegs- und Katastrophengebieten im Einsatzsind — Entwicklungshelfer, UNO-Beobachter,Ärzte, Psychologen, Pflegende,— um nur einige Beispiele zu nennen. Siesehen menschliches Leid in seiner extremstenForm, nicht als seltene Ausnahme imfriedlichen Alltag, sondern als «täglichenWahnsinn».Die Unterstützung von Mitarbeitern inHumanitären Projekten, Hilfsorganisationenund in der Mission wird heute als«Member Care» bezeichnet und entwickeltsich zu einem eigenständigen Fachgebiet.Trauma ist ansteckend. Das Anhörenvon traumatischen Erlebnissen oderdas Mitfühlen mit Opfern traumatischerErfahrungen führt zu ähnlichen Reaktionenwie beim direkt betroffenen Opfer selbst.— Vegetative (körperliche) Übererregung— Intrusion (Sich-Aufdrängen von Bildern,Gefühlen, Ängsten, Tagträumen,Albträumen etc.)— Konstriktion (Rückzug von Beziehungen,Aktivitäten, Freuden des Lebens).Mögliche Auswirkungen— Das Erzählte weckt eigene Erinnerungen.— Das Gehörte löst Bilder aus (in TagoderNachtträumen).— Man wird sich der eigenen Verwundbarkeitbewusst.— Es erschüttert das eigene Grundvertrauenin das Gute; Vorwürfe anGott?— Man hat Gefühle der Wut, der Verzweiflung.Vorwürfe an die Polizei,die schlechte Regierung, an alle möglichen«verantwortlichen Leute».Gefahren für die BetreuungVermeidungsverhalten des Therapeuten:Er/sie will nicht mehr von denTraumata hören, obwohl die betroffenePerson darüber reden möchte.Intrusion: Der Therapeut beharrt aufDetails des Traumas, obwohl die betroffenePerson jetzt nicht darüber sprechenwill.Allgemeiner Rückzug: Weil der Therapeutunter Schlafstörungen und Albträumenleidet, ist er für Anliegen der betroffenenPerson nicht mehr offen.36


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMABild: Iris Africa Malawi - mit freundlicher GenehmigungDie folgenden Symptome wurden vonBetreuern zusammengestellt, die inSüdafrika mit freigelassenen Gefangenenin einer speziellen Abteilungfür Psychotrauma arbeiteten.Gefühle— Ohnmacht, Hilflosigkeit— Angst— Schuld / Überlebensschuld— Zorn / Wut— Abkapselung, Gefühlstaubheit— Traurigkeit, Depression— Stimmungsschwankungen— Erschöpfung— Übermäßige SensibilitätDenken— Verminderte Konzentration, Apathieund Zerstreutheit— Vermindertes Selbstwertgefühl— Perfektionismus, Rigidität— Bagatellisieren— Ständige Beschäftigung mit Trauma— Gedanken, sich selbst oder andern etwaszu Leide zu tunVerhalten— Ungeduld, Reizbarkeit,Launenhaftigkeit— Rückzug— Schlafstörungen, Alpträume— Appetitveränderung— Überwachheit, Schreckhaftigkeit— Verlegen von Dingen (Zerstreutheit)Spiritualität— Infragestellung des Lebenssinnes— Sinnverlust— Verlust der inneren Gelassenheit— Durchgehende Hoffnungslosigkeit— Zorn auf Gott— Verlust des Glaubens an eine höhereMacht, die uns schütztBeziehungen— Rückzug, Isolation, Einsamkeit— Weniger Interesse an Zärtlichkeit /Sex— Misstrauen— Überbehütendes Verhalten gegenüberden Kindern.— Projektion von Zorn und Schuldzuweisung,Intoleranz— Vermehrte KonflikteKörpersymptome— Schwitzen, Herzklopfen— Atembeklemmung, Schwindel— Schmerzen— Vermehrte KrankheitsanfälligkeitArbeit— Wenig Antrieb und Motivation— Vermeiden von Aufgaben— Beharren auf Details— Negativismus— Mangel an Wertschätzung— Mangelndes Engagement— Teamkonflikte / Reizbarkeit— Vermehrte Abwesenheit— Rückzug von KolleginnenGekürzt nach Pelkovitz, zitiert bei C. Figley.37


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMAResilienz entwickeln nach einem TraumaResilienz bedeutet Widerstandskraftund Durchhaltevermögen in schwierigenSituationen, in Schicksalsschlägen,Bedrohungen und Beziehungsproblemen.Jeder Mensch hat in sich Faktoren, die ihn«resilient» machen — der eine mehr, derandere weniger.Doch Resilienz kann bewusst aufgebautund entwickelt werden. Dies bedeutetnicht ein problemfreies Leben. Oftmalssind es gerade seelische Schmerzen undVerlusterlebnisse, die eine Person in ihrerLebensbewältigung stärker machen können.Ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmt,wie Misserfolge und Lebenskrisenverarbeitet werden. Die neuere Forschungzeigt deutlich, dass der wesentlichste Faktorgute und tragfähige Beziehungen (Familie,Freunde) sind. Dazu kommt natürlichdie eigene Grundhaltung, Problemlöseverhaltenund ein gutes Selbstvertrauen.Hier sind zehn Wege zum Aufbau vonResilienz (*).1. Pflegen Sie BeziehungenGute Beziehungen mit Familie undFreunden sind wichtig. Wer Hilfe und Unterstützungvon Menschen annimmt, diesich um ihn kümmern und ihm zuhören,wird dadurch gestärkt. Jugendgruppe,Hauskreis und andere Gruppen können einegroße Hilfe sein. Wer andern hilft, erlebtauch selbst Unterstützung.2. Krisen sind nicht unüberwindbarAuch wenn Sie einen Schicksalsschlagnicht verhindern können, so können Siedoch beeinflussen, wie Sie die Ereignisseeinordnen und damit umgehen. Krisen werdennicht als unüberwindliches Hindernisgesehen. Der Glaube kann dabei eine wichtigeHilfe sein (Beispiel Hiob). Schauen Sieüber die Gegenwart hinaus.3. Veränderung gehört zum LebenSchwere Erfahrungen gehören zu unseremLeben. Auch resiliente Menschensind vor der Opferrolle nicht gefeit. Nacheiner gewissen Zeit gelingt es ihnen jedoch,anders über die Situation zu denken.Nehmen Sie die neue Lebenssituation an.Indem man das Unveränderliche loslässt,kann man sich auf diejenigen Dinge konzentrieren,die sich ändern lassen.4. Setzen Sie sich ZieleEntwickeln Sie kleine, aber realistischeZiele für jeden Tag. Halten Sie einen geordnetenTagesablauf ein. Streben Sie nichtnach grossen Zielen, sondern fragen Siesich: «Was kann ich heute tun, das michin die Richtung führt, die ich erreichenmöchte?»5. Mutig handelnPacken Sie das an, was zu tun ist. LassenSie sich nicht gehen, in der Annahme,die Dinge lösten sich von allein. Überlegtesund mutiges Handeln gibt Ihnen das Gefühlzurück, wieder selbst am Ruder zu sein undin die Zukunft zu schauen.6. Was kann ich aus der Situation lernen?Viele Menschen haben erlebt, dass siegerade in schweren Ereignissen innerlichgewachsen sind. Sie berichten, dass sie bessereBeziehungen entwickelten, ein größeresSelbstvertrauen, eine vertiefte Spiritualitätund eine neue Wertschätzungfür das Leben.7. Trauen Sie sich etwas zu!Entwickeln Sie ein positives Selbstvertrauen:Sie können Probleme lösen und dürfenIhrem Instinkt vertrauen – das stärktdie Resilienz.38


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMA8. Bewahren Sie die richtige Perspektive!Auch wenn Sie durch sehr schwere Erfahrungengehen, so versuchen Sie das Ereignisin einem breiteren Zusammenhang zusehen. Welchen Platz hat es in Bezug aufIhre gesamte Lebenssituation und auf langeSicht? Vermeiden Sie, ein Ereignis übermäßigzu gewichten.9. Geben Sie die Hoffnung nicht auf!Eine optimistische Lebenseinstellungstärkt die Resilienz entscheidend. Es wirdauch in Ihrem Leben wieder bessere Zeitengeben. Leben Sie nicht unter dem DiktatIhrer Ängste, sondern setzen Sie sich neueZiele.10. Achten Sie auf sich selbst!Spüren Sie, was Ihnen gut tut. NehmenSie Ihre Bedürfnisse und Ihre Gefühle ernst.Machen Sie Dinge, die Ihnen Freude bereitenund zur Entspannung beitragen. BewegenSie sich und gehen Sie an die frischeLuft. Wenn Sie im guten Sinne fürsich selbst sorgen, so bleiben Körper undGeist fit und können besser mit den Situationenumgehen, die Durchhaltevermögenund Widerstandskraft brauchen – eben:Resilienz.Der Glaube als Kraftquelle der ResilienzDie eben aufgeführten zehn Punkte zurBildung einer gesunden Resilienz lassensich nicht aus eigener Kraft erreichen. Diepsychotherapeutische Erfahrung zeigt,dass Menschen mit einer tiefen Glaubensbeziehungzusätzliche Kräfte entwickeln.Für gläubige Menschen sind Optimismus,Hoffnung und Perspektive eingebettetin den Glauben. Ihr Selbstvertrauenwächst durch Gottvertrauen und Gebet.Das bewahrt sie nicht vor Zweifelnund Konflikten – aber gerade im Ringenmit Gott kann eine Resilienz heranwachsen,die tiefer greift als jede oberflächlicheSelbstsuggestion.Post-traumatic GrowthDieser neue Begriff umschreibt «seelischeReifung nach einem traumatischenEreignis». Inneres Wachstum nacheinem Trauma bedeutet einen Wiederaufbauvon neuen Grundannahmen. Diese werdennicht mehr so unbeschwert sein wieim Leben vor dem Trauma, aber sie werdentiefer, reifer und nachhaltiger sein. Menschenmit dieser Form der Resilienz zeigenfolgende Eigenschaften:— Mehr Mitgefühl und Empathie für andere,die durch ein Trauma oder einenVerlust gehen.— Vermehrte psychologische und emotionaleReife im Vergleich zu Gleichaltrigen.— Erhöhte Resilienz gegenüber Schicksalsschlägen.— Mehr Wertschätzung für das Leben imVergleich zu Gleichaltrigen.— Vertieftes Verständnis für die eigenenWerte, Lebenszweck und Lebenssinn.— Mehr Wertschätzung persönlicher Beziehungen.Weitere Informationen:R. Welter-Enderlin: Resilienz. Gedeihen trotz widrigerUmstände. Carl-Auer.M. Rampe: Der R-Faktor. Das Geheimnis unserer innerenStärke. Eichborn.L. Reddemann: Überlebenskunst. Von Johann SebastianBach lernen und Selbstheilungskräfte entwickeln. Klett-Cotta.Pia Andreatta: Die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnissesdurch Traumata. Asanger.39


DR. SAMUEL PFEIFER: <strong>SEELISCHE</strong>S TRAUMALiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitere Informationenzur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersicht ist es jedochnicht möglich, alle Aspekte ausreichendzu beleuchten.Andreatta M.P.: Die Erschütterung desSelbst- und Weltverständnisses durchTraumata. Asanger.Brewin C.R.: Posttraumatic Stress Disorder.Malady or Myth? Yale UniversityPress.Deegener G. Kindesmissbrauch: Erkennen,Helfen, Vorbeugen. Beltz.Deistler I, & Vogler A.: Einführung in dieDissoziative Identitätsstörung. Junfermann.Fischer G.: Neue Wege aus dem Trauma.Erste Hilfe bei schweren seelischenBelastungen. Walter.Foa E.B. u.a.: Effective Treatments forPTSD. New York: Guilford.Frankl V.: Trotzdem Ja zum Leben sagen.DTV.Friedman M.J. u.a.: Handbook of PTSD.Science and Practice. New York: Guilford.Gründer M. u.a.: Wie man mit Kinderndarüber reden kann: Leitfaden zurAufdeckung sexueller Misshandlung.Juvena.Internet-RessourcenInformationen im Internetkommen und gehen.Deshalb werden hier keinekonkreten Adressen angegeben.Wer gute Informationensucht, findetdiese beispielsweise bei Wikipedia. Oftwerden dort auch weiterführende Linksvermerkt.Hahne P.: Leid. Warum lässt Gott das zu?Johannis Verlag.Herman J.: Die Narben der Gewalt. TraumatischeErfahrungen verstehen undüberwinden. Paderborn: Junfermann.Huber M.: Trauma und die Folgen. Traumaund Traumabehandlung. Junfermann.Huber M.: Multiple Persönlichkeiten. FischerHudnall-Stamm B.: Sekundäre Traumastörungen.Junfermann.Kushner H.S.: Wenn guten Menschen Böseswiderfährt. Gütersloher Verlagshaus.Maercker A.: Therapie der posttraumatischenBelastungsstörungen. Springer.O'Donnell K. (ed.): Doing Member CareWell. William Carey Library.Reddemann L.: Imagination als heilsameKraft. Zur Behandlung von Traumafolgenmit ressourcenorientierten Verfahren.Klett-Cotta.Renz M.: Grenzerfahrung Gott: SpirituelleErfahrungen in Leid und Krankheit.HerderRost C. (Hrsg.): Ressourcenarbeit mitEMDR. Junfermann.Streeck-Fischer A. u.a.: Körper, Seele,Trauma. Biologie, Klinik und Praxis.Vandenhoeck & Ruprecht.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.40


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDEPRESSIONVerstehen, Beraten, Bewältigen3


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENInhaltsverzeichnisGrundsymptome der Depression................................................................ 2Schlüsselfragen.............................................................................................3Kriterien der Depression.............................................................................. 4Die Entstehung der Depression................................................................... 5Bipolare Störungen, Manie.......................................................................... 6Die Formen der Depression......................................................................... 8Depression und Lebensphase...................................................................... 9Depressive Persönlichkeit und Dysthymie................................................11Verlaufsformen der Depression................................................................. 12Rückfallgefahr.............................................................................................. 13Depressionen bei Frauen............................................................................14Depressionen bei Männern......................................................................... 15Depressionen bei Kindern........................................................................... 16Depression und Kultur................................................................................ 17Depressionen im Alter................................................................................. 18Chronische Müdigkeit / Fibromyalgie...................................................... 22Depression und Schmerz............................................................................23Depressive Denkmuster............................................................................. 24Suizidgefahr erkennen............................................................................... 26Burnout....................................................................................................... 28Umfassende Therapiekonzepte................................................................ 29Interpersonelle Therapie der Depression................................................. 30Hilfen zum Gespräch mit Depressiven...................................................... 31Aktivitätsaufbau.........................................................................................32Biochemie und Medikamente....................................................................33Depression und Glaube...............................................................................38Hilfen für die Helfenden.............................................................................41Weiterführende Literatur und Internetadressen..................................... 424


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENZum GeleitDepressionen sind die Krankheit unsererZeit schlechthin geworden. Immer mehrMenschen klagen über Energielosigkeit,mangelndes Selbstwertgefühl, Niedergeschlagenheitund Hoffnungslosigkeit.Prof. Paul Kielholz, einer der Pioniere derDepressionsforschung schreibt dazu: «DieseZunahme ist einerseits auf die Verbesserungder Diagnostik und der Therapiender depressiven Zustände zurückzuführen,andererseits liegen deren Ursachen in derBeziehungslosigkeit und Vereinsamung derMenschen in unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft.»Der Theologe Paul Schütz bezeichnetedie Schwermut als Massenerkrankung.«Die Schwermut quillt in einer Blutung, dieunstillbar ist, aus jeder mit sich selbst undmit der Welt uneinen Seele.»In der Tat zeigen die Statistiken: Jedevierte Frau unter 30 war schon einmal wegendepressiver Beschwerden in Behandlung.Die WHO (Weltgesunheitsorganisation)bezeichnet Depressionen weltweit alsgrösstes Problem, das die Lebensqualitäteinschränkt.In unserer Zeit gibt es so manches neueWort, von «Burnout» bis zum «Chronic FatigueSyndrome». Und doch ist Depressionein altes Phänomen, gleichsam eineGrundbefindlichkeit des Menschen inEinengungs- und Belastungssituationen.Schon in den Psalmen werden in eindringlicherSprache depressive Symptome geschildert.Der Glaube kann in der Depressionverdunkelt werden, trotz aller Gebeteund Anstrengungen. Aber der Glaube kannauch eine wichtige Stütze sein.Dieses Heft soll einen Überblick überden heutigen Stand der Depressionsforschungund damit Hilfe für ein besseresVerständnis gebenDepressionennehmen zuAngaben der deutschenKrankenversicherer 2011Dunkler, Endloser WegIch ging einen dunklen, endlosen Weg.Ich gehe auf diesemdunklen, endlosen Weg,und ich werde diesendunklen, endlosen Wegnoch tausendmal gehen . . .Ich habe das Gefühl,mich ständig im Kreis zu drehen.All diese hellen, schönen Nebenstrassen,auf denen sich’s gut gehen lässt,führen auf kurz oder lang wieder zurück,zurück auf jenen dunklen, endlosen Weg.Ich dreh mich nicht nur im Kreis,nein, ich bin gefangen in einemendlosen, sinnlosen Labyrinth.Nimm meine Hand,zeig mir den richtigen Weg,führe mich auf die richtige Strasse.Führe Du mich heraus ausdiesem endlosen Labyrinth.Nur Du kannst es, ich brauche Dich . . .Debby, in Teens Mag1


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression – ein ÜberblickHäufigkeit der Depression15 - 20 % fühlen sich an einem beliebigenStichtag depressiv.3 % erkranken im Verlauf eines Jahres aneiner schweren Depression.0,6 % erkranken im Verlauf ihresLebens an einer manisch-depressiven(bipolaren) Psychose.ÜBUNGFrauen werden vier Mal häufigerwegen einer Depressionbehandelt als Männer. Waskönnten die Gründe sein?.............................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Hinweise auf S. 14Basis-Symptome1. Depressive VerstimmungFreudlosigkeit, tiefe «vitale» Traurigkeit,innere Unruhe und Angst, Reizbarkeit,Gefühl der Leere, Entmutigung, Schuldgefühle,Hoffnungslosigkeit, Gefühl derGefühlslosigkeit und Abstumpfung.2. Störungen des DenkensVerlangsamung, depressive Gedankenin-halte(negative Sicht von sich selbst,der Umwelt und der Zukunft), «KognitiveDenkfehler», Grübeln, Entschlussunfähigkeit,Konzentrations- und Gedächtnisprobleme,in schweren Fällendepressive Wahnideen (groteske Vorstellungender Verarmung, der Versündigungund des Versagens).3. Psychomotorische Hemmungoder ErregungBewegungsarmut, Maskengesicht, Verlangsamungoder aber: äußere Unruhe,Getriebenheit, leerer Beschäftigungsdrang.4. Somatische / vegetative Störungen(nicht immer vorhanden)Schlafstörungen, Kopfschmerzen,Schwindelgefühl, Mundtrockenheit,Druck- und Engegefühl im Hals und überder Brust, Schweißausbrüche, Herzklopfen,Herzbeklemmung, inneres Beben.- Gewichtsabnahme, Magenschmerzen,Magendruck, Blähungen, Verstopfung,chronischer Durchfall, Harndrang, Unterleibsschmerzen,rheuma-ähnlichechronische Schmerzzustände, gestörteSexualfunktion, allgemeine Kraftlosigkeitund fehlende Frische, rasche Erschöpfbarkeit.2


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENSchlüsselfragenJANEINO O Können Sie sich noch freuen?O O Wie steht es mit Ihrem Interesse, ist es noch wie früher?O O Sind Sie weniger initiativ als noch vor Wochen oder Monaten?Vernachlässigen Sie Dinge, die Ihnen früher wichtig waren?O O Fühlen Sie sich tagsüber erschöpft, ohne Schwung?O O Sind Sie körperlich erschöpft, ohne dass sich ein medizinischer Grund findet?Werden Sie vermehrt von Schmerzen geplagt?O O Fühlen Sie sich nervös, innerlich gespannt, ängstlich?O O Fällt es Ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen?O O Leiden Sie an Schlafstörungen?O O Haben Sie Schmerzen, verspüren Sie einen Druck auf der Brust?O O Haben Sie wenig Appetit, haben Sie an Gewicht verloren?O O Verspüren Sie eine sexuelle Lustlosigkeit?O O Neigen Sie in letzter Zeit vermehrt zum Grübeln?O O Plagt Sie das Gefühl, Ihr Leben sei sinnlos geworden?Diagnostische FragebogenZur Messung der Depression und zurÜberprüfung des Therapiefortschritteswerden verschiedene Fragebogen verwendet.Beck’sches Depressions-Inventar(BDI)Dieser Selbstbeurteilungsbogen wurdevom Begründer der Kognitiven Therapieder Depression (Aaron T. Beck) entwickelt.Die 21 Themen werden jeweils invier Aussagen aufgeteilt, die unterschiedlicheSchweregrade beschreiben. Ein Beispiel:0 = Ich fühle mich nicht als Versager1 = ich habe das Gefühl, öfter versagt zuhaben als der Durchschnitt2 = Wenn ich auf mein Leben zurückblicke,sehe ich bloss eine Menge Fehlschläge.3 = Ich habe das Gefühl, als Mensch einvölliger Versager zu sein.Hinweis: Der Gesamt-Fragebogen ist abgedrucktin dem Buch von A.T. Beck:«Kognitive Therapie der Depression.»(Beltz).Hamilton depressions-skalaFremdbeurteilungsbogen für Ärzte undTherapeuten. Dabei werden die oben genanntenSchlüsselfragen systematisch erfasst.Hinweis: Der Gesamt-Fragebogen ist abgedrucktin dem Buch von Andreasen &Black, «Lehrbuch Psychiatrie» (Beltz).3


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENKriterien einer depressiven Episodenach DSM-V *A. Fünf oder mehr der folgenden Kriterienüber einen Zeitraum von 2 Wochen,darunter mindestens diese beiden: (1)traurige Verstimmung oder (2) Verlust vonInteresse und Freude1. Depressive Verstimmung über beinaheden ganzen Tag: traurig, trübsinnig,leer, hoffnungslos (eigener Bericht oderBeobachtung durch andere). Beachte: BeiKindern kann auch Reizbarkeit auftreten.Rasche Gefühlsschwankungen sind hingegennicht typisch für eine Depression.2. Deutlicher Verlust von Interesse undFreude an allen oder fast allen Aktivitätenund Zerstreuungen.3. Deutlicher Gewichtsverlust oder Appetitverlust.4. Schlaflosigkeit oder übermässigesSchlafbedürfnis.5. Unruhe und Rastlosigkeit6. Erschöpfung und Energieverlust fastjeden Tag.7. Gefühle der Wertlosigkeit oder vonübermässiger / unangebrachter Schuld8. Verminderte Denkfähigkeit, Konzentrationsschwäche,Unentschlossenheit.9. Wiederkehrende Todesgedanken, Suizidgedankenoder Suizidversuch / konkreterPlan sich das Leben zu nehmen.B. Die Symptome führen zu deutlichenEinschränkungen in Beziehungen, Berufoder anderen Bereichen.C. An eine andere Krankheit muss gedachtwerden, wenn nichtdepressive Wahnideenund bizarres Verhalten auftreten oderwenn die Depression sich an eine vorausgegangenePsychose anschliesst.Komorbidität von Depression und AngstDepression und Angst haben vielegemeinsame Symptome, so etwa– Anspannung und Erregung– Herzklopfen, Verdauungsbeschwerden– Sorgen– Schlafstörungen– Energiemangel, Erschöpfung– Konzentrationsschwierigkeiten– chronische Schmerzen* DSM-V = Diagnostisches und statistischesManual psychischer Störungen, 5. Auflage.Das gemeinsame Auftreten von Angst undDepression geht einher mit einem schwererenVerlauf, vermehrter Inanspruchnahme medizinischerDienste und grösserer Einschränkungder Arbeitsfähigkeit.4


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDie Entstehung der DepressionAnmerkung: Diese Abbildung stützt sich auf das «Bio-Psycho-soziale Modell» derPsychiatrie. Biologie: Gehirn, Genetik, Körper - Psyche: Denken, Fühlen - Soziales:Umfeld, Belastungen, neg. Erfahrungen.5


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENBipolare StörungenBei der Bipolaren (oder manisch-depressiven)Erkrankung kommt es nicht nurzu depressiven Phasen, sondern auch zuZuständen von übermässiger Aktivität,gehobener Stimmung und allgemeiner Angetriebenheit,manchmal auch Gereiztheit.Etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung leiden anbipolaren Störungen. Hier sind die wesentlichenSymptome eines solchen Zustandes:1. Stimmung:– Unangepasst gehoben, zwischensorgloser Heiterkeit und fast unkontrollierbarerErregung.– Unangepasst scherzhaft, humorvoll– Stimmungsschwankungen.– Manchmal auch gereizt-misstrauisch,ja aggressiv.– Dysphorie ist häufiger als allgemeinangenommen, d.h. in die gehobeneStimmung mischen sich depressiveStimmung, Angst, Schuldgefühle,Stimmungsschwankungen, Suizidgedanken.2. Antrieb:– Allgemein gesteigert– Überaktivität– Impulsivität– Rededrang– Vermindertes Schlafbedürfnis– Verlust von sozialen Hemmungen(z.B. Distanzlosigkeit, übermässigeKauflust, sexuelle Enthemmung,Rücksichtslosigkeit auf Bedürfnisseanderer).3. Denken und Wahrnehmung:– Beschleunigtes Denken oder gestörteKonzentration– Starke Ablenkbarkeit, Ideenflucht– Gedrängte, beschleunigte Sprache– Überhöhte Selbsteinschätzung biszum Grössenwahn.Für die Angehörigen ist oft eine Maniesehr viel schwerer erträglich als eineDepression. Nicht selten zerbricht eineEhe nicht an der Depression, sondern amstörenden Verhalten der Manie.Biochemische Ursachen:– wenig bekannt, viele Modelle– Instabile Reizleitung– «Defekte Bremsen»– Gestörte ZeitgeberCopyright picswiss.ch, mit freundlicher Genehmigung6


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENFormen der Bipolaren Störung(vgl. S. 12)Bipolar-I-StörungenDepressive Episoden wechseln sich miteindeutig manischen Episoden ab. Dazwischengibt es längere oder kürzere Phaseneiner ausgewogenen Stimmung.Bipolar-II-StörungenDepressive Episoden wechseln sich ab mitPhasen einer gehobenen Stimmungslage,die aber nicht das Ausmass einer vollen Manieerreicht.Rapid CyclingMindestens vier Phasen einer Depressionoder Manie innerhalb eines Jahres. Ca. 15–20% aller bipolar Patienten leiden unter rapidcycling. F:M = 2:1Bipolares SpektrumBeobachtungen haben gezeigt, dass sichatypische Symptome der Manie (wie Impulsivitätoder panische Angst) oft ähnlich wieandere Störungen auswirken können, etwaBulimie oder Borderlinestörungen. Ohne genaueAnamnese werden sie oft nicht richtigbehandelt. (nach Perugi & Akiskal 2002)Grundzüge der BehandlungGespräch: Verständnis, Problem klären, Diagnose,Therapiemotivation.Aktuellen Stress abbauen: Beruhigen – mitWorten und Medikamenten.Therapieziele besprechen: Welches Problemsteht im Vordergrund?Langzeitmedikation auswählen und überWirkungen und Nebenwirkungen informieren;vgl. S 34 – 35.Soziale Rhythmen besprechen und geregeltesLeben einüben.Rückfallprophylaxe: Symptome eines Rückfallserkennen und reagieren.Die Lasten der ErkrankungGesundes LebenArbeitslebenLebenserwartungArbeitsproblemeScheidung / TrennungEntstehungsmodellGenetikGehirnBiochemiePlötzlich aktivund aufgekratztLebensbelastungenBiosozialeRhythmenRobert (29) brach mit 18 die Maturaab – depressiv, Suizidversuch („Adoleszentenkrise“).Er versuchte sichmit Cannabis zu beruhigen – bis zuzehn Joints pro Tag. Er wurde antriebslos,und hatte keine Energie.Doch dann wurde er plötzlich aktivund aufgekratzt. Er macht schnellesGeld als Verkäufer von Mobiltelefon-Abos. Eine Berufsausbildung hat ernicht.Aktuell: redet schnell, fährt schnell,übersteigertes Selbstwertgefühl, Machound Frauenheld, weiss alles besser,hat unbegrenzte Energie, brauchtkaum Schlaf, hat neuen Audi geleast– ABER: Er hat die Stelle verloren,wird von Freunden gemieden,trägt abenteuerliche Kleidung, redetwie ein Wasserfall, hat ständig neueIdeen, ist sehr fordernd. Er möchteHilfe, hat aber wenig Einsicht.um 12 Jahre verkürztum 14 Jahre verkürztum 9 Jahre verkürztzweimal häufigerzweimal häufigerAkuterStressCannabis7


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENFormen der DepressionMerke:Die meisten Depressionenentstehen ausbeiden AnteilenEndogen oder reaktiv?In der heutigen Diagnostik der Depressionunterscheidet man nicht mehr scharfzwischen en dogen und reaktiv. Fast immersind nämlich beide Anteile zu beobachten.Dies erklärt, warum der eine beimTod eines lieben Angehörigen in eine Depressionverfällt, wäh rend der andere davonverschont bleibt und den Verlust bewältigt.Wir gehen also von einer endogenenDisposition (oder «Vulnerabilität»)für die Entstehung einer Depression aus.So unterscheidet man heute:a) Depressive Episoden leichten bis schwerenGrades (einmalig oder wiederholt)b) Bipolare Störungenc) depressive Anpassungsstörungen leichterenGrades (kurz oder lang)Hinweise auf «Endogenität»fast immer vorhanden:– erbliche Belastung– Entstehung ohne ausreichenden Grund– frühes Erwachen– Morgentief, abendliche Besserungmanchmal vorhanden:– psychogene oder körperliche Auslösung– von Anfang an tiefe, «vitale» Traurigkeit– schwere Selbstbeschuldigungen– abnorme Krankheitsangst, Verarmungs-und Versündigungswahn– plötzliche Aufhellung der Depressioninnert kurzer Zeit ohne ausreichendenGrund8


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression und LebensphaseWie aus der Abbildung auf Seite 8 ersichtlich ist, spielen neben der Anlage und derBiochemie des Gehirns das Umfeld und die aktuellen Belastungssituationen (Stress) einewichtige Rolle in der Entstehung einer Depression. Verschiedene Lebensphasen bringenunterschiedliche Belastungen mit sich. Tragen Sie zusammen:KindheitAdoleszenzfrühes ErwachsenenalterLebensmittePensionsalterÜBUNGTragen Sie in Gruppen zusammen:Welche Rolle spielen Beziehungen, Beruf,Geld, Ehe und Familie in den verschiedenenLebensaltern? Welche Unterschiedeergeben sich zwischen Mann und Frau, zwischenLedigen und Verheirateten?9


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENEntstehungsmuster einer DysthymieWeitere Informationen:S. Pfeifer: DER SENSIBLE MENSCH. Leben zwischenBegabung und Verletzlichkeit. SCM Hänssler.10


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepressive PersönlichkeitOftmals erreicht eine Depression nichtden Schweregrad, der einer depressivenErkrankung im engeren Sinne entspricht.Dennoch fühlen sich die betroffenenMenschen häufig niedergeschlagen, sindschwernehmerisch, grüblerisch und pessimistisch,bei weitgehend erhaltener Arbeitsfähigkeit.In solchen Fällen kann man auch von einerdepressiven oder melancholischen Persönlichkeitsprechen.Kriterien der depressivenPersönliCHkeit (nach Akiskal) :1. still, introvertiert, passiv und zurückhaltend.2. trübsinnig, pessimistisch, ernsthaft,humorlos.3. selbstkritisch, Selbstvorwürfe undSelbstabwertung.4. skeptisch, kritisch gegen andere,schwer zu zufrieden zu stellen.5. gewissenhaft, verantwortungsbewusst,selbstdiszipliniert.6. grüblerisch und sorgenvoll.7. beschäftigt mit negativen Ereignissen,Insuffizienzgefühle, Versagensgefühle.Dysthymie – «Neurotische» DepressionA) Depressive Verstimmung, die die meisteZeit des Tages, mehr als die Hälfte allerTage, entweder vom Patienten selbst berichtetoder von anderen beobachtet, mindestenszwei Jahre lang andauert.B) Während der depressiven Verstimmungbestehen mindestens zwei der folgendenSymptome:– Appetitlosigkeit oder übermässigesBedürfnis zu essen;– Schlaflosigkeit oder übermässigesSchlafbedürfnis;– Wenig Energie oder Erschöpfung– Niedriges Selbstwertgefühl– Geringe Konzentrationsfähigkeit oderEntscheidungsschwierigkeiten;– Gefühl der HoffnungslosigkeitC) Während einer Zweijahresperiode derStörung gab es keinen Zeitraum von mehrals zwei Monaten ohne die obgenanntenSymptome.D) Oftmals werden im Vorfeld einer depressivenNeurose andere Störungen beobachtet,wie z.B. Anorexia Nervosa, Somatisierungsstörung(vermehrte körperlicheBeschwerden ohne organischen Befund),Medikamentenabhängigkeit, Angststörungenoder rheumatoide Arthritis.(Kriterien nach DSM-V)11


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENVerlaufsformen der Depression12


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENRückfallgefahr mit und ohne TherapieDepressionen haben insgesamt eine gutePrognose: innerhalb von 3 Jahren kommtes bei mehr als 80 Prozent schwerer Episodenzu einer Remission (keine Symptome mehr).Leider ist aber auch die Gefahr von Rückfällenhoch: Innerhalb von 10 Jahren kommtes bei ca. 75 % zu einer neuen depressivenEpisode (Recurrence).Die untenstehende Abbildung zeigt dieverschiedenen Begriffe, die im Verlauf einerDepression verwendet werden.Ohne RückfallBehandelte PatientenUnbehandelte PatDie Abbildung entstammt einer Arbeitaus Italien. Sie zeigt die Wahrscheinlichkeit,nach einer ersten depressiven Episodeohne Rückfall zu bleiben. BeachtenSie den Unterschied zwischen denjenigenPatienten, die vorbeugend medikamentösbehandelt werden und denjenigen, die keinevorbeugende Medikation einnahmen.SchlussfolgerungenMonateQuelle: Maj M. et al. (1992). American Journal of Psychiatry149:795–800.Bei wiederkehrenden (rezidivierenden)Depressionen ist es sinnvoll, eine langfristigeMedikation einzusetzen, um einemRückfall vorzubeugen oder wenigstensden Schweregrad einer erneuten Phasezu mildern.13


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression bei Frauen ...Frauen erkranken deutlich häufiger anDepressionen als Männer. Dafür gibt esverschiedene Gründe:GehirnfunktionUntersuchungen der Gedankenaktivitätim Gehirn haben gezeigt, dass bei Männernnur die rationale Hirnhälfte (links) aktiviertwird. Bei Frauen wird immer auch die rechte(emotionale) Hirnhälfte einbezogen. Stimmungenhaben also bei Frauen einen grösserenEinfluss auf das Denken.Vermehrte SensibilitätFrauen leiden unter einer grösseren Verletzlichkeitim emotionalen Bereich. Dazugehört eine erhöhte Ängstlichkeit und eineNeigung sich selbst abzuwerten und sichabhängig zu machen («Wenn Frauen zu sehrlieben»). Diese psychologische Konstitutionist nur zum Teil durch gesellschaftlicheFaktoren bedingt.Zyklus und HormoneDie typischen Hormonschwankungender Frau machen sie verletzlicher für Stimmungsschwankungenund für depressivePhasen. Ca. 25 % aller Frauen leiden aneinem prämenstruellen Syndrom (PMS). DieSymptome sprechen auf Antidepressiva an.Schwangerschaft und GeburtWährend die Schwangerschaft meisteine Zeit von psychischer Stabilität ist,kommt es nach einer Geburt häufig zu «BabyBlues» (depressive Verstimmung im Wochenbett),in seltenen Fällen sogar zu ausgeprägtenDepressionen und Psychosen.Mehrfach-BelastungViele Frauen haben eine Mehrfachbelastungvon Haushalt, Kindern, Ehemann undBeruf zu bewältigen. Der Wunsch, es in allenBereichen «wirklich gut» zu machen, erhöhtdie Erwartungen, die eine Frau an sichselbst stellt. Doch oft stösst man an Grenzender Leistungsfähigkeit. Der zusätzlicheStress führt zu vermehrten Depressionen.Älterwerden und FamiliendynamikWenn sich die Kinder ablösen, so ist diesein Verlust, den eine Frau viel intensivererlebt als ein Mann. Das Älterwerden führtauch zu einem Verlust von Schönheit undAttraktivität, nicht selten auch zu einemNachlassen des sexuellen Verlangens. Dieskann das Eheleben belasten.«Frauen reden – Männer trinken»Frauen neigen viel eher dazu, ihre depressiveVerstimmung zuzugeben und ärztlicheHilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalbsehen Ärzte vermehrt Frauen mit Depressionen.Männer hingegen neigen dazu, ihre Sorgendurch Arbeit zu verdrängen oder siedurch Alkohol zu ertränken. Auf der nächstenSeite werden die Besonderheiten derDepression bei Männern näher beschrieben.14


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGEN... und bei MännernEigentlich sollte ein Mann stark, tüchtig,sportlich und attraktiv sein – so vermitteltes uns das Stereotyp unserer Gesellschaft.Aber viele Jungs und Männer fühlensich diesem Anspruch nicht gewachsen. Unterihrer harten und selbstsicheren Schalelauert das Gefühl, nicht genügen zu können.Seelische Verletzungen, Selbstzweifel undeine angeborene Sensibilität geben ihnendas Gefühl, keine rechten Männer zu sein.ABER darüber SPRICHT MAN NICHT.Symptome der MännerDepression– Sie haben das Gefühl, dass die Weltsie im Stich lässt und zum Versagermacht.– Sie berichten eher über Konzentrationsprobleme,Verlust von Interessean Arbeit und sozialen Aktivitäten alsüber Gefühle tiefer Traurigkeit, Schuldund Wertlosigkeit, die von Frauen geäußertwerden.– Angst vor Versagen.– Ärger und Wut, Gewalttätigkeit.– Riskantes Verhalten und Aktionismus,z.B. beim Autofahren.– Sie schämen sich wegen ihres Zustands.– Sie sind frustriert, wenn sie nicht genugLob und Anerkennung erhalten.– Sie sprechen nicht über Schwachheitenund Zweifel.– Sie geben ihrer Ehe die Schuld, anstattdie Depression als Grundproblem zusehen.– Alkohol, TV, Sport und Sex werden alsSelbstmedikation gebraucht.– Klagen über körperliche Beschwerdenund Schmerzen.– Suizid wird als Ausweg gesehen, denProblemen «ehrenvoll» zu entfliehen(vier Mal häufiger als bei Frauen).«Es ist für Männer eine tragischeTatsache, dass Einstellungenund Verhaltensmuster,die einen Menschen zerstören,als ausgesprochen männlich gelten,während das, was menschlichund persönlich wichtig ist,weiblich genannt wird.»Herb GoldbergautoCRASH nach enttäuschungMarc (39) kommt in Therapie, nachdemer nachts nach einem Streit mit seinerFrau unter Alkoholeinfluss aus dem Hausgestürmt ist und seinen Sportwagen zuSchrott gefahren hat.Marc hatte eine schwierige Kindheit beieiner allein erziehenden Mutter auf einemalternativen Bauernhof. Er machte Karrierezuerst im Militär, dann als höchsterfolgreicher Ingenieur und Manager.Er arbeitet so viel, dass er kaum Zeit fürBeziehungen hat. Das ändert sich auchwenig nach seiner Heirat. Die Karriereist sein Lebensinhalt, doch dann wird einanderer befördert. Angelika hält seinengereizten Ton nicht mehr aus – er fühltsich abgelehnt.15


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression bei KindernSymptomePsychische Erscheinungen, verbundenmit psychosomatischen Erscheinungen.Kleinkinder: still und schüchtern,manchmal auch agitiert und aggressiv,spielschwach, depressiv; verbunden mithäufigem Weinen; essen und schlafenschlecht, zeigen Verhaltens-Stereotypien.Schulkinder: unsicher, kontaktgestört,leicht reizbar, unkonzentriert, leistungsschwach,depressiv; Schulverweigerung;Rückzug, Weinen, Bettnässen, Nägelknabbern,oft nächtliches Aufschrecken (Pavornocturnus).Jugendliche: ernst und bedrückt, grüblerischund stimmungslabil, suizidgefährdet,depressiv; verbunden mit Appetitstörungenund Kopfschmerzen.Was unterscheidet kindlicheDepressionen von erwachsenenFormen?weniger Schlafstörungen und Kopfschmerzen;Magendarmbeschwerden etwa gleichhäufig; Sein körperliches Unbehagen projiziertdas Kind meist diffus auf den Bauch;dafür kinderspezifisch: Bettnässen, Mutismus,Daumenlutschen und Nägelkauen.Schuldgefühle und Verarmungsangstkommen bei Kindern noch kaum vor.Ursachen bzw. Auslöser– Genetische Disposition (familiär) mit– Sensibler Grundpersönlichkeit– Verlust eines Elternteils– Traumatische Erfahrungen (einmaligoder länger andauernd)– Spannungen der Eltern (z.B. Scheidung)– Überforderung«Unaufmerksame Eltern und Lehrermerken oft lange nicht, dass dasKind krank ist. Sie machen ihm Vorwürfe,es wird bestraft, bis ein plötzlicherGefühlsausbruch mit Klagen überseinen Zustand die Situation enthüllt.Dann kommt das Forschen nach Ursachen,das kaum je Erfolg hat. Klagen überkörperliches Unbehagen und Schmerzenführen oft auf eine falsche Fährte.»(Prof. R. Kuhn)«Die grossen Leuteverstehen nie etwas von selbst,und für die Kinderist es zu anstrengend,ihnen immer und immer wiedererklären zu müssen.»(Der kleine Prinz, A. Saint-Exupery)Verlauf und PrognoseEine Studie in New York (1999) untersuchte83 junge Erwachsene, die erstmals als Kindereine depressive Phase durchgemachthatten. Verglichen mit normalen Kindernhatten sie eine höhere Rate von Suizidversuchen,von Drogen- und Alkoholmissbrauch,vermehrte soziale Probleme (z.B.Berufsentwicklung) und vermehrte Inanspruchnahmemedizinischer Dienste. 37von 83 (45 %) erlebten auch im Erwachsenenaltereine depressive Störung. Dochauch das Umgekehrte kann gesagt werden:Bei ca. 55 % kam es zu einer guten Stabilisierung.16


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENKufungisisa – Depression und KulturIn anderen Kulturen wird Depressionganz unterschiedlich erlebt und beschrieben.In Indien werden psychische Probleme oft alsMakel empfunden, den man dem Arzt und denAngehörigen nicht mitteilen kann. Hingegensind körperliche Symptome besser verstehbarund akzeptiert. Oft melden sich die Patientendeshalb mit körperlichen Symptomen beim Arzt,für die sich dann aber keine medizinischen Erklärungenfinden. Beispiele aus einem Fragebogenfür die Beschreibung der Depressionin der Dritten Welt (Mumford 1996):Fühlten Sie in letzter Zeit einen Energiemangel?– Spürten Sie Schmerzen imganzen Körper? – Hatten Sie Schmerzenauf der Brust oder tat Ihnen das Herz weh?– Spürten Sie häufig Herzklopfen? – HabenSie oft Kopfweh? – Hatten Sie ein Erstickungsgefühloder einen Kloss im Hals? –Mussten Sie häufiger Wasser lösen? – LittenSie unter vermehrtem Schwitzen?In Zimbabwe wird Depression oft als«Kufungisisa» umschrieben, was sovielwie «zu viel denken müssen» bedeutet.In Korea gibt es das «Syndrom des aufgestautenFeuers» («Hua Byung»). Hauptsymptomesind Hitzegefühl, Bauchweh,Seufzen, impulsives Herumwandern, Gefühlsausbrüche,Klagen, allgemeine Angstund depressive Zustände.Depression als EntfremdungIn vielen Kulturen ist die Einbettung in dieGesellschaft und die Familie der wichtigsteund höchste Wert des Lebens. Depressionist damit nicht nur ein individuelles Leiden,sondern verläuft in vier Stufen: Zuerst erfolgtder Rückzug von der Gesellschaft (vonFreunden, vom Dorf etc.), dann als weitereVerschlimmerung auch der Rückzug vonder Familie.Der depressive Mensch ist dann in seinerPsyche gefangen (Grübeln, Selbstvorwürfe,Todeswunsch). Und schliesslich kann erauch nicht mehr denken, sondern drücktseine Depression nur noch in körperlichenBeschwerden aus.nach Estevao17


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression im AlterIm Alter zeigt sich besonders gut das Zusammenspielder verschiedenen Faktoren.Während jüngere Menschen mit Depressionenmeist körperlich gesund sind, machensich im Alter vermehrt das Nachlassen derKörperfunktionen (Herz, Kreislauf, Gehirnfunktionetc.) sowie chronische Schmerzenund körperliche Behinderungen bemerkbar.Dazu kommen weitere soziale Veränderungen,die im Folgenden aufgelistetwerden.Zeitlichkeit alsEinengung des Lebens– Keine Umkehr möglich (Irreversibilität)– «Nicht mehr» contra «Noch nicht»– Sinnerfüllung aus der Vergangenheit,nicht aus der Zukunft– in der Depression wird die Vergangenheitschuldhaft verzerrt gesehen undnegativ bilanziert– dadurch werden auch die noch vorhandenenZukunftsperspektiven verkürztund verschlossen.Sechs häufige Gründe1. Vereinsamung: Soziale Isolation,Kontaktmangel durch Verlust vonEhepartner, Freunden, echten mitmenschlichenBeziehungen, Verlustreligiöser Bindungen.2. Verlust der Selbständigkeit durchsomatische Krankheiten, körperlicheBehinderungen und psychische Störungen.3. Inaktivität infolge Pflichtleere, Mangelan neuen Zielsetzungen, Fehlenvon Aufgaben.4. Entwurzelung durch Umzug in kleinereWohnung, in fremde Umgebung,Eintritt in Alters- und Pflegeheime.5. Verlust von Ansehen und Macht,finanzielle Sorgen, Missachtung desAlters6. Hartnäckige SchlafstörungenVorbeugung von AltersdepressionenVermeiden der Vereinsamung undSelbstisolation.Erhaltung der Selbständigkeit und derGesundheit durch ärztliche Betreuungund Behandlung.Aktivierung und Stimulation der intellektuellen,affektiven und körperlichenFunktionen durch neue Zielsetzungen.Vermeiden von Umzug mit Milieuwechseldurch Altersfürsorge, Hauspflegeund Mahlzeitendienste.18


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENHilfreiches Gespräch mit älteren MenschenVergangenheit1. Aufgabe: Integration des Lebensganzen.2. «Erinnerungstherapie»: Abschied undNeubeginn.3. Annahme einer negativ besetzten Vergangenheit(Entlastung und Bereinigungvon echter oder vermeintlicherSchuld).Gegenwart1. personenbezogene Ansätze: z.B. Tagesstruktur,Aktivitäts- und Kontakt-Aufbau,Wiedererlangung von mehr Selbständigkeit.2. interpersonelle Ansätze: Familie undAngehörige miteinbeziehen– stärkere Einbindung der Angehörigenoder aber Entflechtung und Entlastung–Schaffung eines neuen sozialenUmfeldes.3. Soziotherapeutische Ansätze: Selbständigkeitaufrechterhalten durch ambulanteHilfsangebote (Essen auf Rädern,Tagesheim).Zukunft1. Neue Sichtweise der Zukunft (kognitiveUmstrukturierung).2. Praktische Wiederentdeckung und Entwicklungvon Fähigkeiten.3. Realistische Auseinandersetzung mitden bestehenden Grenzen.nach Fuchs T., Kurz A. und Lauter H. (1991): Die Zeitperspektivein der Behandlung depressiver älterer Patienten.Der Nervenarzt 62:313–317.Medikamente im AlterGrundsätzlich können im Alter die gleichenantidepressiven Medikamente angewendetwerden wie bei jüngeren Patienten.Allerdings wählt man eher Medikamentevom Typ SSRI und SNRI, weil sieweniger Nebenwirkungen haben. Zudemempfiehlt es sich, niedriger zu dosieren.Gefahren der Medikamenteim AlterJe mehr Medikamente bei älteren Menschenverschrieben werden, desto grösserist das Risiko für einen medikamentösverursachten Verwirrtheitszustand.Quelle: Larson E.B. (1987) Annals of Internal Medicine107:169–173.19


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDemenz oder depressive Denkhemmung?Häufig klagen depressive Patienten überdie Abnahme der geistigen Leistungskraft,Gedächtnisschwund und gedankliche Verarmung.Doch dies bedeutet nicht unbedingteine echte Demenz. Vielmehr handeltes sich um eine depressive Denkhemmung.Wie diese von einer echten Demenz abgegrenztwerden kann, wird in der folgendenTabelle dargestellt.Die Gründe für die Abnahme der geistigenLeistungsfähigkeit, der Aufnahme- undMerkfähigkeit liegt in der allgemeinen Verlangsamung,die bei einer Depression vorliegt.Zudem werden die Betroffenen derartdurch ihre grüblerischen Sorgen blockiert,dass es ihnen nicht gelingt, ihre Gedankengenügend auf Neues einzustellen.BeginnSymptomeErscheinungund VerhaltenAntwortauf FragenIntellektuelleLeistungDEMENZEinschränkung der geistigenKräfte vor Beginn der Depression.Die Betroffenen spielen ihrDefizit herunter oder verneinenes, versuchen es umständlichzu vertuschen (z.B. durchWechsel des Gesprächsthemasoder durch Verharren beieinem Thema, in dem sie sichsicher fühlen).Oft vernachlässigt, unordentlich;witzelnd oder apathischund gleichgültig; der Gefühlsausdruckist oft labil und oberflächlich.Oft ausweichend, ängstlichoder sarkastisch, wenn Antwortengefordert werden, oderBemühen, korrekt zu antworten,ohne dass dies gelingt.Gewöhnlich gesamthaft beeinträchtigtund gleichmässigschwach.(modifiziert nach Lipowski)DEPRESSIVE DENKHEMMUNGDepressive Symptome gehen derEinschränkung des Denk- undMerkvermögens voraus.Die Betroffenen klagen offen überGedächtnisschwund und intellektuelleLeistungsschwäche, übertreibendabei und beharren darauf.Trauriger Gesichtsausdruck, besorgt;gehemmtes oder unruhigesVerhalten; niemals lustig oder euphorisch;Wehklagen oder abwertenderSpott über die eigene Leistungsschwäche.Oft langsam, «Ich weiss nicht»–Typ der Antwort.Oft eingeschränktes Gedächtnis;unbeständig; wenn gesamthafteingeschränkt, dann deswegen,weil der Patient sich nicht anstrengt.20


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENErwartungen älterer PatientenErwartungen des PatientenKörperliche Besserung, längeres Leben.Abwendung von Leiden und Tod.Aufmerksame Zuwendung, geduldiges Zuhören,gründliche Untersuchung.«Er wird mir helfen!»Sicherheit durch regelmässige Kontakte:«Er lässt mich nicht im Stich!»Zuversicht, AufmunterungProblem für Arzt und BetreuendeErwartungsdruck des Patienten.Falsche Hoffnungen.Zeitbedarf und Geduld, vor allem bei Vergesslichkeitund Umständlichkeit des Patienten.Verhinderung von zu starker Abhängigkeit.Zeitpunkt der nächsten Kontaktnahmeauch auf längere Zeit hinaus festlegen.Eigener psychischer Zustand und Kraftreservenvon Arzt und Betreuenden.Erwartungen Der Betreuenden«Der Patient wird sein Anliegen konzis undgeordnet vorbringen.»«Der Patient wird mich nach angemessenerZeit wieder loslassen.»«Der Patient wird meine Anweisungen genaubefolgen.»«Der Patient wird offen zu mir sprechen,wenn ich ihn dazu auffordere.»(nach Irniger)Problem für die PatientenVergesslichkeit, Angst, Umständlichkeitund Langsamkeit.«Ich klammere mich an die Betreuenden,weil ich Angst habe, sie nähmen michsonst nicht ernst genug.»Vergesslichkeit oder mangelndes Vertrauenbeeinträchtigt die Zuverlässigkeit(Compliance)Nicht alle älteren Patienten haben je gelernt,über ihr Seelenleben offen zu sprechen.Sie haben oft Mühe, ihre Bedürfnisseund Probleme auszudrücken.Vorbereitung auf das AlterDiskutieren Sie inGruppen, was diesePunkte im einzelnenbedeutenkönnten!Realistische Beurteilung der eigenen Möglichkeiten undGrenzen.Anpassung von Lebensform und Lebensstil.Bewusste Auseinandersetzung mit der persönlichen Zukunftim Alter.Bildung und Wissenserwerb im Alter.Vorbereitung auf Alter in Schule und Erwerbsleben.Umgang mit Endlichkeit und Vergänglichkeit.21


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENChronische Müdigkeit / FibromyalgieChronic Fatigue Syndrom (CFS) ist die Bezeichnungfür eine Erkrankung, die sichdurch lähmende Müdigkeit, ungewöhnlicheErschöpfbarkeit und eine Reihe körperlicherBeschwerden auszeichnet. Aus der medizinischenLiteratur der letzten 200 Jahre gehthervor, dass dieses kein neues Syndrom ist.Andere BegriffeNeurasthenie, nervöse Erschöpfung,myalgische Neuromyasthenie, epidemischemyalgische Enzephalomyelitis,allgemeines Allergiesyndrom, postviralesMüdigkeitssyndrom.Keine klare UrsacheBis heute konnte keine eindeutige Ursachefür das CFS gefunden werden. Währendeinige Wissenschaftler ein Virus dahinterannehmen, betonen andere die starkeÜberlappung mit depressiven Störungen.Weitere Theorien vermuten einen Mangelan Vitaminen oder Mineralstoffen, eineAllergie auf künstliche Farbstoffe in derNahrung oder auf Süßigkeiten. Alle dieseVermutungen konnten aber nicht erhärtetwerden.FibromyalgieChronische, generalisierte Schmerzenim Bereich des Achsenskeletts sowie anden Extremitäten , ober- und unterhalb derTaille, in beiden Körperhälften.Klinische Untersuchung: reproduzierbareDruckschmerzhaftigkeit klar definierter«tender points» (min. 11 von 18nachweisbar), keine Zeichen objektiverSchwäche der Muskulatur, keine neurologischenAusfälle.Diagnostische Kriterien CFS− Die Müdigkeit beginnt zu einem klarenZeitpunkt und dauert nicht lebenslang− Die Müdigkeit ist schwerwiegend, beruflicheinschränkend und beeinträchtigtdie körperliche und psychischeFunktion− Die Müdigkeit dauert mindestens 6Monate während mindestens derHälfte des TagesEINSCHLUSSKRITERIEN:Klinisch abgeklärte, medizinischnicht erklärbare andauernde oder häufigwiederkehrende Müdigkeit währendmindestens 6 Monaten Dauer, die− neu aufgetreten ist (nicht lebenslang)− nicht Resultat einer dauernden Anstrengung− nicht durch Erholung und Ruhe erleichtertwird− zu einer deutlichen Reduktion derfrüheren Aktivitäten führt.Das Auftreten von vier oder mehr derfolgenden Symptome: − subjektive Klagenüber Vergesslichkeit − Halsschmerzen− schmerzende Lymphknoten − Muskelschmerzen− Gelenksschmerzen − Kopfschmerzen− nicht erfrischender Schlaf− Schwächegefühl nach körperlicher Anstrengung,das länger als 24 Stunden anhält.Auszuschliessen sindPatienten mit medizinischen Grundleiden(wie etwa schwere Blutarmut) oderpsychiatrischen Erkrankungen (wiechronische Depression oder organischeGehirnkrankheiten), die chronische Müdigkeiterzeugen können(nach Fukuda et al. 1994)22


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression und SchmerzSCHMERZDEPRESSIONGefühl derNutzlosigkeitnach KeelVermindertesSelbstwertgefühlUngünstige Reaktionen(Dysfunktionale Denkmuster)Es sind schreckliche Schmerzen im Nacken!Ich bin in einem schrecklichen LochOb ein Nerv eingeklemmt ist?Ich gerate in eine furchtbare Depression.Es wird immer schlimmerIch rutsche immer tieferin die Depression.Ich muss zum ArztIch muss wieder Antidepressiva nehmen.Ich muss mich schonen.Ich bin ein Versager, nichts wert.Günstige Reaktionen(Aktive Bewältigung)Ich habe wieder diese Nackenschmerzen,es spannt.Ich bin bedrückt, wie ab und zu.Ich bin verspannt wegen dieser Reise.Ich habe Angst, etwas könnte schief gehen.Ich bin enttäuscht, weil ich diesen Fehlergemacht habe.Wenn es mir gelingt, mich zu entspannen,wird der Schmerz erträglicher werden.Wenn ich es nicht so tragisch nehme,wird es besser.Ein warmes Bad und ein paar Entspannungsübungenwerden helfen.Am besten erledige ich etwas und verschaffemir einen kleinen Erfolg.Ich sollte wieder regelmässig schwimmengehen.Fehler machen alle, ist nicht schlimm.Ich habe sonst viel Positives erreicht.nach Prof. Dr. Peter Keel, Basel23


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepressive DenkmusterA = auslösendes EreignisB = BEWERTUNGC = resultierendes GefühlDie kognitive TriadeDepressive Menschen zeigen typischeVeränderungen ihres Denkens. Diese werdenauch als die «kognitive Triade» bezeichnet.1. Negatives Selbstbild«Ich bin untauglich und wertlos!» — «Ichbin ein jämmerlicher Versager, der seine Familieschmählich im Stich gelassen hat.»2. Neg. Sicht der Umwelt«Die anderen sind gegen mich. Alles istgrau.» — «Gott ist weit weg. Ich spüre seineNähe nicht mehr wie früher.»3. Neg. Zukunftserwartung«Ich kann nie mehr glücklich werden. Fürmich gibt es keine Hoffnung.» — «Die aufmunterndenWorte der Schwester geltenfür mich nicht. Sie will mich nur beruhigen.»Diese negativen Gedanken sind einerseitsTeil der Depression, andererseits verdunkelnsie das Befinden zusätzlich.Aus einem auslösenden Ereignis (A)folgt nicht automatisch eine emotionaleKonsequenz (C). Ob ein Ereignis ein bestimmtesGefühl auslöst, hängt davon ab,wie ein Mensch das Ereignis bewertet (B).Widersprüche zwischen der Alltags-Erfahrung und den negativen Grundannahmenwerden durch depressive Denkfehleraufgehoben. Nur so ist es möglich, dass beispielsweiseMenschen mit durchschnittlicheroder guter beruflicher Leistung dennochfest davon überzeugt bleiben können,alle anderen seien besser als sie.WIE KLÄFFENDE HUNDE«Meine Gedanken sind wie kläffendeHunde,» erklärt mir ein 25-jährigerMann. «Sie kommen ganz unerwartetaus der Ecke und verbeissen sich an meinenHosenbeinen. Obwohl ich weiss, dassich keine Angst vor ihnen haben müsste,lassen sie mich doch nicht los. Ich probieresie abzuschütteln, aber sie springenimmer wieder an mir hoch und machenmir das Leben schwer.»Weitere InformationenA.T. Beck et al.: Die kognitive Therapie der Depression,Beltz.M. Hautzinger: Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen.Beltz.24


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENBeispiele für depressive DenkfehlerKurzschluss-Denken: «Das Essenist angebrannt. Ich kann nicht mehr kochen.»Verallgemeinerung: «Mich magniemand mehr.» (Nur weil die kleine Tochtereine gehässige Bemerkung gemachthat).Tunnelblick: «Frau Müller mag michauch nicht.» (Obwohl gerade erst drei andereFrauen sie gelobt haben.) «Ich bin einungetreues Chormitglied.» (Weil sie nichtalle Proben besucht.)Personalisierung: «Wenn meinMann schlecht gelaunt ist, bin ich schuld.»(Obwohl er vielleicht Probleme im Geschäfthat.)Sollte-Tyrannei: «Ich sollte doch eineblitzsaubere Wohnung haben.» - «Ichsollte doch bei den Weltereignissen aufdem Laufenden sein.» - «Ich sollte michnicht so gehen lassen.»Schwarz/Weiss-Denken: «Entwederbin ich von allen akzeptiert oder ichbin nichts wert!» - «Entweder habe ichmeinem Beruf das beste Verkaufsergebnisoder ich bin ein Versager.»Emotionale Begründung: «Ichfühle mich in unserem Kaffee-Kränzchenso unsicher und weiss gar nicht, was ichsagen soll. Sicher lehnen mich die anderenab und verachten mich!Depressive WahnideenDepressive Wahnideen umschreibenÜberzeugungen, die keinen Bezug zur Realitäthaben, z.B. «Ich habe keine Kleidermehr», obwohl der Kasten voll ist mit gutpassenden Kleidern. Solche Ideen tretenbei schweren, endogenen Depressionenauf und lassen sich im Gespräch nichtkorrigieren. Sie sprechen aber gut aufNeuroleptika an und verschwinden mitdem Abklingen der Depression.Häufige Themen:1. Hypochondrischer Wahn2. Selbstvorwürfe wahnhaften Ausmasses3. Wahnhafte Versagensideen4. Verarmungswahn5. Wahnhafter VersündigungswahnKognitive TherapieIn der Kognitiven Verhaltens-Therapie (KVT) werden die Gedanken besprochen,die in der Depression entstehenund die zur Depression beitragen (vgl. nebenstehendeBeispiele). Ratsuchende undTherapeut suchen dann miteinander bessereAntworten, die es der betroffenen Personermöglichen, ihren Zustand zu bewältigenund aus den destruktiven Mustern auszusteigen.Die Kognitive Therapie ist heuteneben der Interpersonellen Therapie derDepression (vgl. Seite 28) die am bestenbewährte Psychotherapie der Depression.25


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENSuizidgefahr erkennenEine Selbsttötung ist die schwerste Auswirkungeiner Depression. Suizidgedankensind häufig und es ist daher wichtig,diese anzusprechen. Hier einige Hinweise:Hinweise auf Suizidgefahr– Vorkommen von suizidalen Handlungenin der Familie oder in der näherenUmgebung, Suggestiv-Wirkung.– Frühere Suizidversuche, direkte oderindirekte Suizidankündigungen.– Äusserung konkreter Vorstellungenüber die Art, die Durchführung undVorbereitungshandlungen zu einemSuizid oder aber «unheimliche Ruhe».– Selbstvernichtungs-, Sturz- und Katastrophenträume.– Verlust jeglicher Zukunftsplanung.Krankheitsgepräge– Beginn oder Abklingen depressiverPhasen.– Ängstlich-agitiertes Gepräge, affektiveEinengung, Aggressionshemmung.– Schwere Schuld- und Versagensgefühle,Krankheitswahn.– Biologische Krisenzeiten (Pubertät,Wochenbett, Klimakterium).– Langdauernde oder unheilbareKrankheiten.– Alkoholismus oder Toxikomanie.Umweltbeziehungen– Zerrüttete Familienverhältnisse währendder Kindheit, sexueller Missbrauch.– Verlust oder primäres Fehlen mitmenschlicherKontakte (Liebesenttäuschung,Vereinsamung, Ausgestossensein).– Verlust der Arbeit, Fehlen eines Aufgabenkreises.– Fehlen religiöser oder weltanschaulicherBindungen.Fragen bei suizidgefahrSuizidalität: Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?Vorbereitung: Wie würden Sie es tun? Haben Sie bereits Vorbereitungen getroffen?(Je konkreter, desto grösser das Risiko)Zwangsgedanken: Denken Sie bewusst daran? Oder drängen sich die Gedankenauf, auch wenn Sie es nicht wollen? (Sich passiv aufdrängende Gedanken sind gefährlicher)Ankündigung: Haben Sie über Ihre Absichten schon mit jemandem gesprochen?(Ankündigungen immer ernst nehmen)Einengung: Haben sich Ihre Interessen, Gedanken und zwischenmenschliche Kontaktegegenüber früher eingeschränkt, verringert?Aggression: Haben Sie gegen jemand Aggressionsgefühle, die Sie gewaltsam unterdrücken?(Diese werden gegen die eigene Person gerichtet)26


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENUmgang mit Selbstmord-GefährdetenAnsprechen vonSelbstmordgedankenSuizidgedanken gehören häufig zum Erscheinungsbildeiner schwereren Depression.Oft werden sie aber aus Scham verschwiegen.Das selbstverständliche Ansprechender Suizidgedanken erleichtertes dem Patienten, über seine innersten Nöteund Ängste zu sprechen (vgl. Fragen aufSeite 16 unten). Die bedrohlichen Gedankenkönnen dann mit dem Berater, Arzt oderSeelsorger distanziert gesehen werden. DieLast wird geteilt und Gegenmassnahmenkönnen erörtert werden.Hinterfragen derHoffnungslosigkeitSelbstmord wird dann erwogen, wennein Mensch keinen anderen Ausweg mehrsieht. Das Besprechen der Situation ausder Sicht des Betreuers kann zu der Frageführen: «Ist meine Lage wirklich so ausweglos?»Der kleinste Hoffnungsschimmerkann den Suizid-Gefährdeten dazu bewegen,den Selbstmord wenigstens aufzuschieben.Hinzuziehen von Angehörigen– nicht alleine lassen, vermehrte Zuwendung.Kurzfristige Massnahmen– möglichst bald einen neuen Termingeben.– Einleitung einer medikamentösen Behandlung,die möglichst zur Wiederherstellungdes Schlafes führt.KlinikeinweisungWenn diese Bemühungen nicht ausreichen,ist eine Klinikeinweisung unumgänglich.Die Klinik offeriert in akutenKrisen auch denjenigen Patienten zusätzlicheTherapiemöglichkeiten, die sonsteher skeptisch sind (Psychiatrie-Vorurteile,Glaubensgründe). Sie erhalten vermehrteZuwendung, äussere Grenzen und damitSchutz und Zuflucht vor den als unerträglichempfundenen Lebensumständen undÄngsten.Eine feste Beziehung anbietenDas Gefühl, vom Gegenüber ernstgenommenund unterstützt zu werden, kannden Gedanken an Selbstmord schwächen.Man kann dem Depressiven das Versprechenabnehmen, wenigstens bis zum nächstenGespräch keinen Selbstmordversuchzu unternehmen. Zudem soll man ihm anbieten,jederzeit beim Auftreten von Suizidgedankenzu telefonieren. Notfalls bestehtüber Tel. 143 in der Schweiz jederzeitdie Möglichkeit zum Gespräch mit einemausgebildeten Helfer (Telefon-Seelsorge).27


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENUmfassende TherapiekonzepteDepressionen haben gesamthaft einen gutenVerlauf. Die allermeisten Depressionenheilen wieder ab. Für die Behandlung ist eswichtig, zwischen leichteren und schwerenDepressionen zu unterscheiden. Während beileichteren Depressionen auf Medikamenteverzichtet werden kann, sollte bei schwererenZustandsbildern (auf Schlafstörungenachten!) immer ein Arzt konsultiert werden.Die fünf Zugänge ergänzen sich gegenseitig:kein Weg sollte ohne die anderen beschrittenwerden.1. GesprächHinweise vgl. Seite 30 - 312. Praktische HilfeUnterstützung in praktischen Aufgaben:z.B. bei erschöpften Müttern Kinder abnehmen;z.B. bei älteren Menschen Mahlzeitenkochen, einkaufen.3. Somatische TherapieSpeziell im Alter achten auf Herzinsuffizienz,Blutdruck, Schilddrüsenfunktion; Erkrankungen,die den Allgemeinzustand schwächen;Hör- und Sehprobleme.4. Aktivierung— körperliche Aktivierung: Bewegung, frischeLuft, leichter Sport.— Tagesplan, Menuplan— Ergotherapie, praktische Tätigkeiten etc.— Hilfe zur Selbständigkeit5. MedikamenteMittel der Wahl sind Antidepressiva: Wirkungtritt erst nach einigen Tagen voll ein;deshalb bei agitierten Depressionen anfangsauch Beruhigungsmittel bzw. Schlafmitteleinsetzen.1. Gespräch2. praktische Hilfe3. Behandlung medizinischerProbleme4. Aktivierung5. Medikamente29


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENInterpersonelle Therapie der DepressionInterpersonelle Therapie ist eine psychodynamischorientierte Kurztherapie, diesich in der Depressionsbehandlung sehrbewährt hat und in idealer Weise die verschiedenentherapeutischen Zugänge miteinanderverbindet.Sie setzt sich zum Ziel, die Symptome(Depression, Angst) zu reduzieren und diezwischenmenschlichen Funktionen zu verbessern.Sie erhebt nicht den Anspruch, denCharakter der Person zu verändern.IPT geht davon aus, dass Depressionenund Ängste unabhängig von der biologischenVerletzlichkeit, in einem psychosozialenund interpersonellen Kontext entstehen.Sie verfolgt daher zwei Strategien:1. Die Symptome lindern (Ernstnehmen,klare Diagnostik, Aufklärung über dieNatur der Störung und die Behandlungsmöglichkeiten,Medikamente)2. Dem Patienten helfen, bessere Strategienzu entwickeln, seine sozialen undzwischenmenschlichen Probleme zu bewältigen,die mit der jetzigen Phase derErkrankung verbunden sind.In der Therapie werden vier Bereicheangesprochen:a) Trauer über VerlusteVerlust von lieben Menschen, aber auchz.B. Verlust einer Arbeitsstelle oder eineslieben Haustieres.b) Rollenkonfliktegegensätzliche Erwartungen zwischenzwei Personen, oftmals Partnerschaftskonflikteoder Eltern-Kind-Konflikte.c) Rollen-Übergängevon der Schülerin zur Studentin; von derLehre zum Militär, vom Ledigsein zur Partnerschaft,von der Mutterrolle zum beruflichenWiedereinstieg, von der Arbeit zumPensioniertendasein etc. — in diesen Übergängenkommt es zum Verlust oder zurVeränderung bisheriger Bindungen an dieFamilie, zu schwierigen Gefühlen, die mitdem Übergang verbunden sind; zur Anforderung,neue soziale Fähigkeiten zu lernenund möglicherweise zu vermindertemSelbstwertgefühl.d) Interpersonelle Defizite:Eine optimale soziale Funktion ist davonabhängig, mit der Familie enge Beziehungenzu pflegen, weniger intensivaber doch befriedigende Beziehungenmit Freunden und Bekannten und bei derArbeit gute Leistungen zu erbringen undmit den Mitarbeitern einigermassen auszukommen.Depressive Verstimmungen undÄngste erschweren soziale Beziehungen.Minderwertigkeitsgefühle, Angst vor Versagenund Ablehnung, Abhängigkeit sowieinnere Unsicherheit beeinträchtigen dieseBeziehungen.In der IPT bespricht der Therapeut mitdem Patienten seine Beziehungen und versuchtihm zu helfen, diese zu klären, Unsicherheitenabzubauen und neue Fertigkeitenim Umgang mit andern zu entwickeln.Forschungen haben gezeigt, dass IPT einesehr effektive Therapie der Depressiondarstellt.Weitere Informationen:E. Schramm: Interpersonelle Therapie der Depression.Schattauer Verlag.30


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENHilfen zum Gespräch mit Depressiven1. Grundhaltung der bedingungslosenAnnahme: Den betroffenenMenschen in seiner Krankheitund innerlich empfundenen Noternst nehmen.2. Zuhören: Ermutigung zur Besprechungauslösender Motive und der Lebensgeschichte.Besprechen zwischenmenschlicherBeziehungen und ihrerAuswirkungen auf die depressive Verstimmung.3. Hoffnung geben: Den günstigenVerlauf des Leidens betonen: die allermeistenDepressionen klingen nach einergewissen Zeit wieder ab.4. Behandlungsmöglichkeitenaufzeigen: Erklären der therapeutischenZugänge. Bei schweren Depressionenzum Arztbesuch und zurregelmässigen Einnahme von Medikamentenermutigen.5. Depressive Denkmuster: (z.B.Selbstabwertung, überhöhte Ansprüchean sich selbst etc.): mit dem Patientenherausarbeiten und durch konstruktiveSichtweisen seiner Problemeersetzen.6. Depressive Wahnideen: lassensich in der akuten Phase nicht korrigieren.Stehenlassen und verweisenauf die Wirklichkeit des Alltags.7. Stützende Elemente im Leben desPatienten herausarbeiten und fördern:hilfreiche Beziehungen, Tiere, Hobbies,Glaubenshilfe (Seelsorger mit einbeziehen!).Vermeidbare FehlerAufforderung, sich zusammenzureissenoder sich nicht gehenzulassen.Empfehlungen, in Urlaub zu fahrenund einfach alles hinter sich zu lassen.(Kontaktschwierigkeiten und Genussunfähigkeitkönnen die Probleme verstärken!)Versuche, dem Patienten einzureden, esgehe ihm besser oder gut.Ratschläge, irgendwelche einschneidendeEntscheidungen zu fällen, diesich nicht mehr rückgängig machenlassen (z.B. Kündigung wegen Unfähigkeit,Wohnungsaufgabe wegen finanziellerSchwierigkeiten, Beziehungsabbrüche).Anzweifeln von depressiven Wahnideen.Zu starkes Eingehen auf die depressiveBefindlichkeit.Bei gläubigen Patienten: Überforderungdurch geistliche Anstrengungen («Dumusst mehr glauben, mehr beten etc.»).8. Auf zeitweise Stimmungsschwankungenvorbereiten: «Der Weg zurHeilung ist mit Schlaglöchern versehen.»9. Einbezug der Angehörigen:Diese können oft eine hilfreiche Ko-Therapeuten-Funktion haben. Andererseitsbrauchen sie auch Unterstützungin der schwierigen Zeit des Tragens.10. Geduld haben: Ein Therapiezielnach dem anderen setzen, damit derBetroffene immer wieder kleine Erfolgeerlebt. Nicht zuviel auf einmalverlangen!31


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAktivitätsaufbauBei der Aktivierung eines depressivenMenschen muss sorgfältig darauf geachtetwerden, den richtigen Ausgleich zwischeneiner angepassten Tagesstruktur undeiner möglichen Überforderung zu finden.Der Aktivitätsaufbau verfolgtzwei Ziele:1. Durch sinnvolle Gestaltung des Tageskann das depressive Befinden positivverändert werden und der Patient eineEntlastung erleben.2. Das Erlebnis, dass dieses Befinden veränderbarist und dass der Patient selbstetwas beitragen kann, ermutigt ihn zuweiteren Schritten und vermindert dieHoffnungslosigkeit.Prinzipien1. Jede Überforderung vermeiden:Das Anspruchsniveau des Patientennicht übernehmen! Klein anfangen.Bewusst Schwächung und Erschöpfungzugestehen. Depression ist eineKrankheit, die eine Schonung erfordert.2. Erstellen von Aktivitätslisten:Was hat früher Spass gemacht? Waswürden Sie zur Zeit gerne machen?Was würden andere im Moment gernemachen? – Jeden Tag mindestens eineStunde an die frische Luft (Spazieren,Radfahren, Gartenarbeit).3. Konkrete Besprechung:Zeit, Ort und Art der Aktivität. Tagesplanerstellen, allmähliche Steigerungvornehmen. Oft beginnt der Patientselbst Vorschläge zu machen.4. Dem depressiven Perfektionismusentgegenwirken:Es geht nicht darum, die Aufgabe perfektzu erfüllen. Allein schon das Probierenist ein Erfolg (Auflockern desSchwarz/Weiss-Denkens). EventuellAngehörige zur Bewertung des Erfolgsmit einbeziehen.5. Ermutigung und positiveRückmeldung geben:Dem Patienten helfen, selbst herauszufinden,dass es ihm mit diesen Aktivitätenbesser oder «weniger schlecht»geht. Den Patienten ermutigen, sichselbst den Erfolg zuzuschreiben.32


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDie Biochemie der DepressionDie moderne Hirnforschung hat gezeigt,dass Gedanken und Handlungen im Gehirnin komplexer Weise gesteuert werden.Depression bedeutet eine Verlangsamungder gedanklichen Aktivität, eine Erhöhungder vegetativen Aktivität (via Stresshormone)und damit häufig auch eine verstärkteAngstneigung bei gleichzeitiger Verminderungder allgemeinen Lebensenergie.URSACHE ist eine Verminderung derbiochemischen Überträgerstoffe (Neurotransmitter)in den Synapsen, insbesondereNoradrenalin und Serotonin.Die Forschung ist weiterhin stark imFluss. So entdeckt man immer mehr Rezeptoren,allein für Serotonin sind es mindestenssechs. Die einfachen Rezeptorenmodelleweichen immer komplexeren Darstellungenund reflektieren etwas vom Wunderder Schöpfung. Gleichzeitig wird aberauch deutlich, wie komplex die Störungenim Rahmen einer Depression sein können.Unser Gehirn ist ein komplexes Netzwerk.10 Milliarden Nervenzellen und hundertevon komplexen chemischen Botenstoffenwirken zusammen. Jede Nervenzelle hatca. 100 Fortsätze, die mittels einer SynapseSignale an andere Zellen weitergeben.Der «Funkverkehr» in unserem Gehirnist intensiver als das gesamte Telefonnetzder Welt.Depressive Menschen stehen hormonellunter Dauerstress.Die Abbildung zeigt den Cortisolspiegelim sogenannten CRH-Stimulationstest beiMarathonläufern, depressiven Patientenund Kontrollpersonen.Folgerung: Körperlicher und psychischerStress erzeugen beide eine gesteigerte Ausschüttungvon Stresshormonen, also beiDepressiven wie bei Marathonläufern. Dieserklärt die erhöhte Angstneigung, dieinnere Spannung und die vielfältigen vegetativenSymptome (nach F. Holsboer).33


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAntidepressive MedikamenteWirkungenAntidepressiva bewirken eine Erhöhungder Überträgerstoffe an den Synapsen. Dadurchstabilisiert sich der psychische Zustanddes Patienten: es kommt zu einerStimmungsaufhellung, Angstlösung undzu einer vegetativen Beruhigung. Allerdingsbraucht der Wirkungseintritt Zeit (ca.10 Tage). Leider zeigen sich zwischen verschiedenenPatienten grosse Unterschiedein Wirkung und Verträglichkeit. Antidepressivasind kein Allheilmittel, aber sie könnenden Genesungsprozess doch entscheidendunterstützen.NebenwirkungenBei den trizyklischen Antidepressivakommt es vermehrt zu anticholinergen Nebenwirkungen:Mundtrockenheit, Schwitzen,verschwommenes Sehen, Erhöhungdes Augeninnendruckes (Glaukom!), Harnverhaltung,Reizleitungsstörungen am Herzen,Blutdrucksenkung. Dazu kommen eineVielzahl seltener Nebenwirkungen, dieim jeweiligen Beipackzettel eines Medikamentsaufgeführt sind.Neuere Antidepressiva haben deutlichweniger anticholinerge Wirkungen, führenaber vermehrt zu Übelkeit, einige auch zuSchlafstörungen.Toxizität: Niedrige Toxizität bei allenneueren Antidepressiva.Abbildung aus einer Publikation der Firma Pfizer,mit freundlicher GenehmigungVorgänge in der Synapse: Die Botenstoffewerden in den synaptischen Spalt freigesetztund erzeugen dort an den Rezeptorenein Signal.Medikamente beiBipolaren StörungenIn akuten Phasen der Manie gibt manheute Neuroleptika (Olanzapin, Quetiapin),evtl. ergänzt durch andere Beruhigungsmittel.RückfallprophylaxeBei schweren Depressionen und Manienhat sich die regelmässige Einnahme von Lithium(ein natürliches Mineralsalz) sehr bewährt.Oft kommt es jahrelang nicht mehrzum Rückfall, bis der Patient das Lithiumabsetzt. Beachten: zu Beginn regelmässigeBlutspiegelkontrolle!Als wirkungsvoll haben sich auch Valproinsäure(Depakine) und Lamotrigin erwiesen.Weitere Informationen:finden sich heute zahlreich im Internet34


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAntidepressiva – eine Übersichttrizyklischaktivierend stabilisierend sedierendDesipramin (Pertofran)Imipramin (Tofranil)Clomipramin (Anafranil)Lofepramin (Gamonil)Amitryptilin (Saroten)Trimipramin (Surmontil)Doxepin (Sinquan)atypischMoclobemid (Aurorix)Reboxetin (Edronax)Maprotilin (Ludiomil)Bupropion (Zyban)Mianserin (Tolvon)Agomelatin (Valdoxan)SNRISSRISNRI = Serotonin undNoradrenalin-Wiederaufnahmehemmer.SSRI = Serotonin-WiederaufnahmehemmerVenlafaxin (Efexor)Duloxetin (Cymbalta)Citalopram (Seropram)Es-Citalopram (Cipralex)Fluoxetin (Fluctine)Fluvoxamin (Floxyfral)Paroxetin (Deroxat)Sertralin (Zoloft)Mirtazapin (Remeron)Trazodon (Trittico)Mood StabilizersMood Stabilizers =Mittel zur Stabilisierungund zur Rückfallverhütungspeziell bei bipolarenStörungenLithium-Präparate(Quilonorm, Priadel, Lithiofor)Atypische Neuroleptika (Seroquel, Abilify, Zyprexa)Lamotrigin (Lamictal)Valproat (Depakine, Orfiril)Zusätzliche WirkungenAntidepressiva haben nicht nur eine positiveWirkung auf depressive Symptome,sondern auch auf folgende weiteren Störungen:atypische Depression (Dysthymie),Angststörungen (wie z.B. GeneralisierteAngst oder Panikstörungen), Schmerzsyndrome(z.B. Fibro-myalgie oder Migräne),Essstörungen (speziell Bulimie) und funktionellepsychosomatische Syndrome (wiez.B. Reizdarmsyndrom, chronische Spannungskopfschmerzen).Weitere Informationen:Wegen der raschen Veränderungen imPharmabereich kann die Tabelle nie ganzvollständig sein. Zudem wird in diesemkurzen Leitfaden bewusst auf genaue Dosierungs-richtlinienverzichtet, weil jedePerson anders auf Medikamente anspricht.Besprechen Sie Medikamentenfragen direktmit Ihrem Arzt, der Sie am besten kennt.35


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPraktisches Vorgehenbeim Einsetzen vonAntidepressiva– Welches Gepräge hat die Depression?(agitiert-angetrieben oder passiv-gehemmt?)– Ist die Depression mit Schlafstörungenverbunden?– Besteht ausgeprägte Angst oder garSuizidalität?Aufgrund dieser Angaben:– Wählen des Antidepressivums (aktivierend,stabilisierend, sedierend)– Allmähliche Dosissteigerung, im Alterniedrig dosieren!– Bei Schlafstörungen, Ängsten undSuizidalität kombinieren mit einemTranquilizer oder einem leichten Neuroleptikum.– Über mögliche Nebenwirkungen orientierenund trotzdem zur Einnahme ermutigen,da die Nebenwirkungen nachwenigen Tagen nachlassen.– Auf die verzögerte Wirkung aufmerksammachen.– Regelmässige begleitende Gesprächeanbieten!Antidepressive HeilpflanzenDas Extrakt von Johanniskraut (Hypericumperforatum) hat in den letzten Jahrengrosse Bedeutung gewonnen. Die Pflanzehat offenbar eine Wirkung bei leichterenDepressionen und Verstimmungen.Allerdings haben auch pflanzliche Heilmittelihre eigenen Nebenwirkungen, indiesem Fall Wechselwirkungen mit anderenMedikamenten und Photosensibilisierung.Bei schwereren Störungen reicht die Wirkungvon Johanniskraut nicht aus, und essollten unbedingt stärkere Mittel eingesetztwerden.36


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENMöglichkeiten und GrenzenAuch wenn die Wirkung von Antidepressivabegrenzt ist, so ist sie oft genau derFaktor, der für die Betroffenen einen wesentlichenUnterschied macht.Mit einer medikamentösen Behandlungkann zwar die Länge einer Phase nicht abgekürztwerden. Aber es kann deutlich mehrWohlbefinden erzielt und eine Arbeitsunfähigkeitvermieden werden.Aus diesem Grund sollten bei ausgeprägtenDepressionen wenn immer möglichMedikamente eingesetzt werden.Neue Richlinien für die Behandlungeiner Depression (S-3-Richtlinien der DG-PPN) betonen, dass Medikamente kein Allheilmittelsind. Bei leichten bis mittelschwerenDepressionen gilt heute eine Psy-chotherapie als gleichwertiger Weg. Allerdings:Bei schweren und wiederholten sowiechronischen Depressionen, bei Dysthymieund Double Depression sollte eineKombination von Psychotherapie und Medikamentenerfolgen.Chronische DepressionenLeider gibt es depressive Störungen,die trotz umfassender Behandlung nichtmehr vollständig aufhellen. In solchen Fällenspricht man von einer «chronischenDepression». In Therapie und Seelsorge istes wichtig, nicht zu hohe Erwartungen zuwecken.Je schwerer ein depressives Zustandsbild,desto schwerer ist es nur durch Gesprächallein behandelbar.Gründe— zunehmende Einengung— zunehmende Unfähigkeit, Willenskontrolleauszuüben— zunehmende Unmöglichkeit, Defizitein gesunde Weise zu kompensierenUmfassende Betreuung— Entlastung von Aufgaben, im ungünstigenFall Einleiten einer Berentung.— Medikamente: auch wenn diese denZustand nicht völlig beseitigen können,so tragen sie doch zu einer Verbesserungund Stabilisierung des Zustandsbildesbei.— stützende, nicht aufdeckende Gespräche:Ziel ist die Bewältigung desAlltages und der täglichen Aufgaben.— soziale Beratung und Betreuung— Beratung der Angehörigen zum angemessenenGleichgewicht von Engagementund Abgrenzung.CBASP (Cognitive Behavioral AnalysisSystem for Psychotherapy)− eine neue Methode bei chronischenDepressionen ist noch in Entwicklung.Aktuelle Infos kann man googeln.37


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDepression und GlaubeWenn gläubige Menschen an einer Depressionerkranken, so leiden sie nicht nuran den allgemeinen Symptomen, sondernbesonders daran, dass auch der Glaube, derihnen sonst Halt gab, durch die depressiveSymptomatik verdunkelt wird. Oft bringensie ihr Versagen in Zusammenhang mit ihremGlaubensleben.Gott, hilf mir!Denn das Wasser geht mirbis an die Kehle.Ich versinke in tiefem Schlamm,aus Psalm 69 wo kein Grund ist.Schuldgefühletreten häufig in einer Depression auf,aber sie entsprechen nicht einer wirklichenSchuld. In einer Arbeit über «Depressionund Glaube» von Prof. G. Hole ergaben sichfolgende Antworten:Vor wem fühlen sie sich schuldig?Ich fühle mich schuldig– vor Gott 16,4%– Menschen allgemein 5,5%– Familie 18,2%– sonstige 5,5%– «Selbst» 20,8%– unbestimmt/unklar 6,3%– vor niemand 27,3%Schlussfolgerung: Schuldgefühle sindeine menschliche Grundreaktion. Sie tretenimmer dort auf, wo ein Mensch seineIdeale nicht erfüllt und dieses Versagenschuldhaft erlebt.Symptome, die dasGlaubensleben erschweren1. Die traurige Verstimmung, der Verlustvon Freude und Interesse führt auchzum Verlust der Freude an Gott undseiner Schöpfung.2. Grübeln und Zweifeln, innere Unruhe,sinnloses Gedankenkreisen könnenzum Verlust der Glaubensgewissheitführen.3. Selbstvorwürfe, Schuldideen werdenals Schuld vor Gott erlebt und könnenzur Angst vor dem Verlorensein führen.4. Energiemangel, Entschlussunfähigkeiterschweren auch die christlichen Aktivitäten,die sonst selbstverständlichsind.5. Angst und Rückzug vor anderen Menschenführt zum Verlust der Gemeinschaftmit anderen Christen, die sie sonötig brauchen würden.6. Sorgen und Mangel an Perspektive nehmendie sonst vorhandene Zuversichtdurch den Glauben.7. Reizbarkeit und Überempfindlichkeitführen zu Verhalten, das der Betroffeneund seine Umgebung nicht mehrals christlich empfinden.8. Hoffnungslosigkeit und Todeswunschwerden manchmal durch Bibelverseunterstützt, die der Betroffene ausdem Zusammenhang reisst.38


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPositive Aspekte des Glaubens1. Glaubensvertiefung durch dieDepression– vermehrte Abhängigkeit von Gott– Vertiefung des persönlichen Glaubens– reifere Haltung gegenüber dem Leiden– reifere Haltung gegenüber Leidenden2. Glaube als Quelle der Kraft inder Depressiontrotz Verzagtheit, Zweifel, Kraftlosigkeit– Bibelstellen (Psalmen, Hiob, Losungen,Kalender) und Liederverse– Ermutigung durch MitchristenSieben häufige Klagen gläubigerMenschen, die an einer DepressionleidenIm Grunde genommen werden die allgemeinendepressiven Klagen beim gläubigenMenschen in eine religiöse Sprachegefasst.1. «Depression ist Sünde.» (Ein guterChrist ist nicht depressiv)2. «Ich werde von Gott gestraft, weilich mich versündigt habe.»3. «Ich spüre Gottes Gegenwart nichtmehr.»4. «Ich habe keine Kraft mehr für Bibelleseund Gebet.»5. «Ich habe so Angst vor anderenMenschen. Ich wage nicht mehr indie Kirche oder in einen Hauskreis zugehen.»6. «Ich tue ja nichts für Gott, verglichenmit anderen; ich bin ein nutzlosesWerkzeug.»7. «Für einen Menschen wie michgibt es keine Hoffnung mehr.»3. Glaube als Schutz vorVerzweiflung und Suizid– Hoffnung wider die drängende Hoffnungslosigkeit– Angst vor Strafe bei Suizid– Todeswunsch wird zur Ewigkeits-Sehnsuchtohne suizidale EigenhandlungDu machst mich wiederlebendigund holst michwieder heraufaus den Tiefen der Erde ...Du tröstestmich wieder. aus Psalm 71Im Gespräch ist es wichtig, die Nöte desgläubigen Menschen in seiner Depressionernst zu nehmen und die stützenden Anteileseines Glaubens zu aktivieren. DieZusammenarbeit mit einem Seelsorger istsehr zu empfehlen.39


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENWas hilft gegen Burnout?1. Bedenken Sie, dass jeder Mensch nurbegrenzte Energie hat. Sie können ihrenseelischen Akku schnell herunterfahrenoder aber Ihre Kräfte gezielt einsetzen.2. Bauen sie bewusst Atempausen inden Alltag ein – eine halbe Stunde an diefrische Luft, ein kurzer Spaziergang umden Block oder vielleicht ein «Power-Nap»zum Auftanken?Sei nicht allzugerecht und allzu weise,damit du dich nichtPrediger 7,16 zugrunde richtest.3. Lernen Sie NEIN zu sagen – freundlich,aber bestimmt!4. Wenn es zu hektisch wird: Halten Sieinne und fragen Sie sich: «Was kann passieren,wenn ich die Arbeit aufschiebe? Sinddie Folgen wirklich so schlimm?» MancheArbeiten erledigen sich von selbst, indemman sie einmal liegen lässt.Was macht es aus, wenn Sie einmalnicht an vorderster Front in perfektem Einsatzstehen? Wenn Sie ausbrennen, danktIhnen niemand dafür.5. Setzen Sie Grenzen: Verlagern Sieberufliche Probleme nicht ins Privatleben.Kein Mensch ist unersetzlich. Aberdie Scherben zerbrochener Beziehungenlassen sich kaum mehr nahtlos zusammensetzen.6. Nehmen Sie sich Zeit – etwa für Hobbys,Entspannung, Sport oder Musik. Über-prüfen Sie ihren Tagesrhythmus. Sind Sieein Morgen- oder ein Nachtmensch? PassenSie Ihren Arbeitsalltag an, dann ergebensich neue Zeitfenster!7. Spitzenleistungen sind manchmalnötig. Aber sie dürfen dann auch ein Gegengewichtsetzen: Nehmen Sie sich Zeit,Wochenendarbeit, Jetlags oder Übermüdungauszukurieren. So kommen sie wiederfrisch und mit neuen Ideen zur Arbeit.8. Wenn Sie den Eindruck haben, derJob mache Sie kaputt, so seien Sie konsequent:Haben Sie schon an ein Time-out(Sabbathical) gedacht? Überlegen Sie, obes Sinn machen kann, sich versetzen zulassen, die Stelle zu kündigen oder garden Beruf zu wechseln.BURNOUT ALS CHANCEIn der Krise eines Burnout liegt auch eineChance: Es gilt zu erkennen, dass wirwertvoll sind, selbst wenn wir an unsereGrenzen geraten sind.Oftmals werden wir aufgerüttelt, neueWeichenstellungen für die Gestaltung desLebens vorzunehmen.Und schliesslich hat so mancher in seinereigenen Krise gelernt, andere Menschenbesser zu verstehen. So gesehenkann Burnout auch zu einem Neuanfangwerden, der dem Leben eine neue bessereWendung gibt.Weitere Informationen:M. Rush: Brennen ohne auszubrennen. Das Burnout-Syndrom − Behandlung und Vorbeugung. Schulte &Gerth40


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENHilfen für die HelfendenDie Depression eines Ratsuchenden bleibtnicht ohne Auswirkung auf die Betreuer.Er oder sie möchte dem Betroffenen helfenund fühlt sich z.T. für ihn verantwortlich.Wenn sich dann — wie so oft — kein sofortigerErfolg einstellt, besteht die Gefahr,dass sich der Betreuer von der Hoffnungs-und Hilflosigkeit des Depressivenanstecken lässt.Die Gespräche werden zunehmend zurBelastung. Man bekommt Angst vor demTelefon, schläft schlechter. Man zweifeltan sich selbst und vielleicht sogar an Gott.Therapeuten und Seelsorger stehen in derGefahr eines Burnout und geben die wichtigeAufgabe einer weiteren Beratung undBetreuung auf.Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken?Nebenstehend finden sicheinige Merkpunkte.Merkpunkte1. Behalten Sie die Fakten über die Depressionim Auge! Lassen Sie sich nichtvon der momentanen Hoffnungslosigkeitdes Patienten mitreissen.2. Analysieren Sie die depressivenDenkfehler nicht nur beim Patienten, sondernauch bei sich selbst? Wo sind überhöhteErwartungen, Hoffnungslosigkeit,Schwarz/Weiss-Malerei, Minderwertigkeitsgefühle,die nicht gerechtfertigt sind?3. Lernen Sie dem Leiden des Ratsuchendenmit einer gesunden Sachlichkeitbegegnen. Akzeptieren Sie beispielsweiseTränen als Ausdruck für seine innereNot. Reservieren Sie bestimmte Stundenfür die Gespräche. Was ein Ratsuchendernicht in einer Stunden sagen kann, wird erauch nicht in zwei Stunden sagen.4. Übernehmen Sie nicht Verantwortungfür Gedanken, Gefühle und Handlungeneines Patienten, die dieser selbstzu tragen hat. Sie können Anstösse geben,eine Veränderung können Sie abernicht erzwingen.5. Setzen Sie sich nicht zu hohe Therapieziele.Denken Sie daran: die Begleitungdepressiver Menschen braucht viel Geduldund ist mit Rückschlägen verbunden.6. Haben Sie den Mut, Ihre eigenenGrenzen einzugestehen und besprechenSie Ihre Schwierigkeiten in der Begleitungeines depressiven Menschen mit einemanderen Betreuer (Supervision, Intervision).7. Nehmen Sie genug Zeit für sich selbst,für persönliche Beziehungen, zum Nachdenkenüber Ihren persönlichen Lebenssinn.Pflegen Sie Kontakt mit Freundenund gönnen Sie sich die Zeit für Hobby,Sport oder Musik!41


DR. SAMUEL PFEIFER: DEPRESSION – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitereInformationen zur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersichtist es jedoch nicht möglich, alle Aspekteausreichend zu beleuchten.Beck A.T.: Kognitive Therapie der Depression.Beltz, Weinheim.Blackburn B.: Was Sie über Selbstmordwissen sollten. Blaukreuzverlag.Epstein Rosen L.: Wenn der Mensch, dendu liebst, depressiv ist: Wie man Angehörigenoder Freunden hilft. Rowohlt.Finzen A.: Suizidprophylaxe bei psychischenStörungen. Psychiatrie-Verlag.Flach F.: Depression als Lebenschance.Rowohlt.Grond E.: Die Pflege und Begleitung depressiveralter Menschen. Schlüter.Hell D.: Welchen Sinn macht Depression?Ein integrativer Ansatz. Rowohlt.Helmchen H. u.a.: Depression und Manie– Wege zurück in ein normales Leben.Trias.Kuiper P.: Seelenfinsternis – Die Depressioneines Psychiaters. Fischer.McCoullough J.: Psychotherapie der chronischenDepression: Cognitive Behavi-Internet-Ressourcenwww.kompetenznetz-depression.demit Selbsttest, Erfahrungsberichtenund Klinikadressen.www.depression.dewww.depression.chwww.maennerdepression.chBesonderheiten der Depressionbei Männern.www.medicine-worldwide.deInfos über viele Krankheiten.oral Analysis System of Psychotherapy- CBASP. Urban & Fischer / Elsevier.Mentzos S.: Depression und Manie.Psychodynamik und Therapie affektiverStörungen. Vandenhoeck & Rupprecht.Müller-Oerlinghausen B. u.a.: Die Lithiumtherapie.Nutzen, Risiken, Alternativen.Springer.Naegeli A.S.: Du hast mein Dunkel geteilt.Gebete an unerträglichen Tagen.Herder.Nispel P.: Mutterglück und Tränen. Depressionennach der Geburt verstehenund überwinden. Herder.Peteet J.R.: Depression and the Soul.Routledge.Pfeifer S.: Der sensible Mensch. Lebenzwischen Begabung und Verletzlichkeit.Brockhaus.Pfeifer S.: Die Schwachen tragen – PsychischeErkrankungen und biblischeSeelsorge. Brunnen.Pfeifer S.: Wenn der Glaube zum Konfliktwird. Brunnen.Schramm E.: Interpersonelle Therapie derDepression. Schattauer.Trenckmann U.: Alkohol und Depression.Trias.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.42


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENANGSTVERSTEHEN — BERATEN — BEWÄLTIGEN4


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENInhaltGesunde und ungesunde Angst ................................................................2Fragen zur Erfassung der Angstneigung ..................................................3Grundformen der Angst ............................................................................4Der Kreislauf der Angst..............................................................................5Körperliche Symptome ..............................................................................6Sensibilität und Angstentstehung ...........................................................8Hirnbiologische Vorgänge bei der Angst................................................ 10Verlauf von Angststörungen .................................................................... 11Die wichtigsten Angststörungen ............................................................13Panikstörungen .........................................................................................15Generalisierte Angststörung ...................................................................17Spezifische Phobien ..................................................................................18Soziale Phobie .......................................................................................... 19Zwangsstörungen ....................................................................................20Posttraumatische Belastungsstörung ...................................................22Psychotische Angst.................................................................................. 23Organische Ursachen der Angst – Angst im Alter .................................24Angst und Depression..............................................................................26Angst bei Kindern..................................................................................... 27Psychodynamik und Konfliktverarbeitung............................................28Angst und Seelsorge .................................................................................31Therapie der Angst ................................................................................... 33Alkohol und Drogen .................................................................................36Medikamente bei Angststörungen ........................................................ 37Prüfungsangst bewältigen ......................................................................38Wann ist professionelle Hilfe erforderlich? ...........................................39Weiterführende Literatur und Internetadressen................................... 405


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDer Vogel AngstAngst hat viele Gesichterassenkrankheit Angst» – so titelte«Meinmal ein bekanntes Magazin.Schon im 19. Jahrhundert sprach der englischeDichter W.H. Auden vom «Zeitalterder Angst». Und im Jahr 2000 beschriebder Wiener Theologieprofessor Ulrich Körtnerdie Angst als «eigentliche Signatur unsererEpoche» im Spannungsfeld von individuellerLebensangst und kollektiverWeltangst.Angst ist ein Grundphänomen dermenschlichen Existenz. Sie ist eines derfrühesten Gefühle des Kindes. Ohne Angstkönnten wir nicht überleben.Doch Angst hat viele Gesichter. Sie kannden Menschen schützen in gefährlichen Situationen;wenn sie aber entgleist, so kannsie ihn hemmen, isolieren und zerstören.Angst kann ein Schutz sein, viel öfteraber wird sie zur Qual: von der Atomangstüber die Umweltangst, von der Angst vordem Börsencrash bis hin zu ganz persönlichenexistentiellen Ängsten.Der Vogel Angsthat sich ein Nest gebautin meinem Innernund sitzt nun manchmal daund manchmal ist er lange wegoft kommt er nur für einen Augenblickund fliegt gleich wieder weiterdann aber gibt es Zeitenda hockt er tagelang da drinmit seinem spitzen Schnabelund rührt sich nichtund brütet seine Eier aus.Franz HohlerAngst wird zur Anfrage an Sinn und Bedeutungdes Lebens und ist deshalb auchdas häufigste Symptom, das Menschen ineine Psychotherapie führt.Umfragen bei Psychotherapeuten habenergeben, dass zirka 60 Prozent ihrerPatienten an Ängsten und 56 Prozent anDepressionen leiden. Erst weit danach folgenPartnerprobleme, Kontaktprobleme,Sexualprobleme, Arbeits- und Familienprobleme.Besonders quälend sind Ängste,für die es objektiv keinen Grund zu gebenscheint.Das Seminarheft will Anregungen gebenund auf weitere Literatur verweisen. Mögendie Informationen die Grundlage legen,sich selbst und betroffene Menschenbesser zu verstehen und fachgerecht undeinfühlsam zu begleiten.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENGesunde und ungesunde AngstGesunde Angst— Realangst (vor echten Gefahren)— Gewissensangst (z.B. bei der Versuchung,etwas zu stehlen)— Vitalangst als Warnsymptom einerkörperlichen Erkrankung (z.B. Herzinfarkt,Lungenembolie)Ungesunde AngstKrankhafte Angst ist durch folgende Eigenschaftengekennzeichnet:1. Die Angstreaktion ist der Situationnicht angemessen.2. Die Angstreaktionen dauern viel längerals der Auslöser.3. Die betroffene Person hat keine Möglichkeitder Erklärung, der Verminderungoder der Bewältigung der Angst.4. Es kommt zu einer (massiven) Beeinträchtigungder Lebensqualität.ZeitungsmeldungenDurchbruch in derAngstforschung«Was geschieht im Gehirn von Menschen,die von krankhaften Angstzuständengeplagt werden? Undweshalb haben die heute üblichenMedikamente so viele unerwünschteNebenwirkungen? Ein Forscherteamvon Universität und ETH Zürichist der Antwort auf diese Fragen einStück näher gekommen. Zusammenmit Kollegen der Firma Roche habensie zumindest bei Mäusen herausgefunden,wo genau im Gehirndie Angst sitzt.»zumindest bei Mäusen . . .Angstzustände amArbeitsplatz«Neue Techniken und hektische Arbeitsabläufe,wachsender Leistungsdruckund Angst um den Arbeitsplatz:Bei immer mehr Menschen führt derStress zu Angstzuständen oder Depressionen.Hinzu kommen psychosomatischeErkrankungen wie Magenbeschwerden,Schlafstörungen, Nervositätoder Herzrhythmusstörungen. Einevergleichende Untersuchung in zweiAbteilungen — eine mit Umstrukturierungund eine ohne Veränderung —zeigte, dass die von Rationalisierungsmaßnahmenbetroffenen Mitarbeiterviermal so hohe Ausfallzeiten durchpsychische Krankheiten hatten wie ihreKollegen, die davon nicht betroffenwaren.»2


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENFragen zur Erfassung der AngstneigungAngstneigung wird in der Fachsprache oft auch als «Neurotizismus» bezeichnet. Die folgendenFragen sind in einem sehr verlässlichen und weit verbreiteten Fragebogen (Eysenck-Persönlichkeits-Inventar) enthalten:JANEINO O Fällt es Ihnen sehr schwer, ein «Nein» als Antwort hinzunehmen?O O Wechselt Ihre Stimmung häufig?O O Fühlen Sie sich manchmal ohne Grund einfach «miserabel»?O O Werden Sie plötzlich schüchtern, wenn Sie mit einem Fremden sprechenwollen, der für Sie attraktiv ist?O O Grübeln Sie oft über Dinge nach, die Sie nicht hätten tun oder sagen sollen?O O Sind Ihre Gefühle verhältnismäßig leicht zu verletzen?O O Schäumen Sie manchmal vor Energie über, während Sie das andere Malausgesprochen träge sind?O O Verlieren Sie sich oft in Tagträumereien?O O Werden Sie oft von Schuldgefühlen heimgesucht?O O Würden Sie sich als innerlich gespannt und empfindlich bezeichnen?O O Wenn Sie etwas Wichtiges getan haben, haben Sie dann oft das Gefühl,dass Sie es eigentlich hätten besser machen können?O O Gehen Ihnen so viele Gedanken durch den Kopf, dass Sie nicht schlafenkönnen?O O Bekommen Sie Herzklopfen oder Herzjagen?O O Haben Sie Schüttelanfälle bzw. fangen Sie plötzlich zu zittern an?O O Geraten Sie leicht aus der Fassung?O O Sorgen Sie sich um schreckliche Dinge, die vielleicht geschehen könnten?O O Haben Sie häufig Albträume?O O Werden Sie von Leiden und Schmerzen geplagt?O O Halten Sie sich für einen «nervösen» Menschen?O O Sind Sie leicht gekränkt, wenn andere an Ihnen oder Ihrer Arbeit etwasbemängeln?O O Haben Sie Minderwertigkeitsgefühle?O O Machen Sie sich Sorgen um Ihre Gesundheit?O O Leiden Sie an Schlaflosigkeit?3


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGEN«Grundformen der Angst»Angstbetonte Aspekte der PersönlichkeitDer deutsche Psychologe Fritz Riemannhat in einem klassischen Text einmal dieStörungen der Persönlichkeit als «Grundformender Angst» bezeichnet. Er verwendetedabei zur Anschaulichkeit ein Systemder Kräfte, wie es bei den Planeten beobachtbarist — zentrifugale und zentripetaleKräfte, Kreisen um andere und Drehenum sich selbst.Schizoide PersönlichkeitAngst vor der Hingabe, vor dem Du; «Eigendrehung»– Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung. Vermeiden von persönlichnahenKontakten, Scheu vor Begegnungen,Versachlichung von mitmenschlichen Beziehungen.Folgen: Isolation, Partnerschaftsprobleme,Aggression.Depressive PersönlichkeitAngst, ein eigenständiges Ich zu werden,erlebt als Herausfallen aus der Geborgenheit.Eigenbewegung als «Trabant» ausgerichtetauf «Drehung um ein größeresZentrum», d.h. Abhängigkeit von anderndurch mangelnde Selbständigkeit. Verlustangstals dominierende Angst, Angst vorisolierender Distanz, vor Trennung, vor Ungeborgenheit,Einsamkeit, Verlassenwerden.Folgen: Ausweichen vor der Individuation,hohe Erwartungshaltung und häufigeEnttäuschungen.Zwanghafte PersönlichkeitSehnsucht nach Dauer und Ordnung;Angst vor Vergänglichkeit und Veränderung.Eigenbewegung: «zentripetale Bewegung»der stabilisierenden Schwerkraft.Vorurteile und Ängste gegenüber Neuem,Ungewohntem, Unbekannten. Grundproblem:Übermäßiges Sicherheitsbedürfnis,mangelnde Flexibilität und mangelnde Anpassungsfähigkeit.Zaudern, Zögern, Zweifeln,Kontrollieren als Ausdruck der Angst.Hysterische PersönlichkeitAngst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen,vor der Notwendigkeit undvor der Begrenztheit unseres Freiheitsdranges.Eigenbewegung «zentrifugal».Angst vor Einschränkungen, Traditionenund festlegenden Gesetzmäßigkeiten.Partnerschaftsprobleme ergeben sich ausder Angst vor Konventionen, Rollen undmitmenschlichen Grenzen. Angst vor demEingesperrtsein, der Ausweglosigkeit,ständige Sehnsucht nach Freiheit mit häufigenEnttäuschungen, wenn Phantasiennicht wahr werden.Weitere Informationen:Riemann F.: Grundformen der Angst.Reinhardt Verlag, Basel.4


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDer Kreislauf der AngsterfahrungSichtbares VerhaltenVermeiden vonSituationen, dieAngst auslösenSchwächegefühlWahrnehmungAuslösererste körperlicheVeränderungAnklammerungoder IsolationStress-SymptomeGedanken(«Gefahr»)Angst vor der AngstDas Erlebnis der Angst wird häufig in einemKreislauf beschrieben.Ein Beispiel: Eine junge Frau mit Höhenangstbesucht eine Freundin im sechstenStock. Sie schaut zum Fenster hinaus (äußererReiz) und merkt plötzlich ein Herzflatternund ein Schwindelgefühl (Wahrnehmungder Körpersymptome). Jetztüberfallen sie die Gedanken der Angst(«Gefahr!») und fast gleichzeitig steigenlähmende Gefühle der Angst auf.Nun beginnen die Stresshormone erstso richtig zu wirken und erzeugen die körperlichenSymptome. Sie fühlt sich ganzschwach und setzt sich aufs Sofa.Doch dann beginnt eine weitere Schleifeim Kreislauf des Angsterlebens: Das sichtbareVerhalten geht über die unmittelbareReaktion hinaus.Es wird zum verzweifelten Ziel der Betroffenen,eine erneute Angstattacke zuvermeiden. Sie fühlen sich ständig am Randeihrer Kraft. Jede Aufregung, jeder kleineKonflikt, jede schlechte Nachricht mussvermieden werden. Aber dadurch werdensie nicht stärker, sondern nur isolierterund sensibler. Die Angst beginnt das Lebenund die Beziehungen zu beherrschen.Die «Angst vor der Angst» erzeugt wiederneue Ängste.Manche Menschen wenden hier ein: «Ichdenke gar nicht. Ich schaue zum Fensterhinaus und die Angst springt mich an wieein Tiger!»In der Tat haben neuere Forschungsergebnissegezeigt, dass sich die Angstschon im Bruchteil einer Sekunde einenWeg in die Alarmzentrale des Gehirns bahnenkann, bevor man überhaupt einen klarenGedanken gefasst hat.5


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENKörperliche Symptome der AngstDas nebenstehende Bild zeigtdie wichtigsten Organe, diedurch das vegetative Nervensystemgesteuert werden.6


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENFunktionelle StörungenBefindensstörungen ohne organischenBefund werden als «funktionelle» Störungenbezeichnet. Zu den häufigsten gehörenMagen-Darm-Beschwerden. Etwa 15– 20 Prozent der Bevölkerung leiden daran.Die Beschwerden reichen von Unpässlichkeitbis zu schwerem Leiden. Sieschränken also die Lebensqualität oft empfindlichein, nicht selten führen sie auch zuArbeitsausfällen.Schließlich können die Beschwerdenauch negativ auf Beziehungen wirken: Werz.B. unter Magenkrämpfen leidet, ist oftso auf sich selbst geworfen, dass er nichtmehr auf die Wünsche und Erwartungenanderer eingehen kann. Oft treten die Beschwerdenauch in angespannten Beziehungenauf.Damit wird Sensibilität zur Krankheit.Es entsteht ein zerstörerischer Kreislauf:Die funktionellen Beschwerden führen zuvermehrter Angst bzw. Depression. Dieseziehen wieder eine körperliche und psychischeVerspannung nach sich.Die körperlichen Symptome der Angstwerden via Gehirn, Hormone und dasvegetative Nervensystem in den verschiedenenOrganen hervorgerufen, die unsererwillkürlichen Kontrolle entzogen sind:— Atemnot oder Beklemmungsgefühle— Schwindel, Gefühl der Unsicherheit— Herzklopfen— Zittern oder Beben— Schweißausbrüche— Mundtrockenheit, Erstickungsgefühle— Übelkeit, Magenkrämpfe oder Durchfall— Harndrang— Hitzewallungen oder Kälteschauer— Taubheit oder Kribbelgefühle— Blutdruckanstieg«Letzthin hatte ich Streit mit meinerMutter. Ständig kritisiert sie mich, weilich meine Kinder nicht richtig erziehe.Ihre Vorwürfe tun mir weh. Ich werdeverspannt und kann nicht mehr richtigschlafen. Mein Magen krampft sichzusammen und ich fühle mich ständiggebläht.»Dazu kommen Störungen wichtiger zentralerFunktionen und Gefühle:— Schlafstörungen bis zur Schlaflosigkeit— qualvolles Gefühl der Beengung— innere Unruhe und Spannung— Angst zu sterben / verrückt zu werden— Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein— Gefühle der Unwirklichkeit / DepersonalisationÜBUNGTragen Sie anhand der nebenstehendenZeichnung (S. 6) verschiedene psychosomatischeStörungen zusammen! DenkenSie an typische sprachliche Ausdrücke, wiez.B. «Ich zerbreche mir den Kopf» oder «Ihmist etwas über die Leber gelaufen».........................................................................................................................................................................................................................................................................................................7


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENSensibilität und AngstentstehungErhöhte SensibilitätStudien haben gezeigt, dass erste Paniksymptome,selbst wenn es sich nichtum eine voll ausgeprägte Störung handelte,später zu einer deutlich erhöhtenallgemeinen Sensibilität führen können.— Paniksymptome im engerenSinne.— Ängstliche Erwartung vonneuen Symptomen.— Ängstliche Vermeidung von Situationen,die Symptome auslösenkönnten.— Abhängigkeit von ständigerBestätigung: starkes Bedürfnisnach Absicherung, Trost, Ermutigung.— Überempfindlichkeit auf Substanzen,z.B. auf Kaffee.— Allgemeine Sensibilität aufStress: Jede Zusatzbelastung, jedeschlechte Nachricht führt zu seelischerAnspannung.— Überempfindlichkeit / Angstbei drohender Trennung:starke Abhängigkeit von anderenMenschen. Droht eine Trennung,treten starke Ängste auf.ÜBUNGTragen Sie Beispiele für Stress und Strainzusammen!Stress = äußere Ereignisse und Lebensbelastungen..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Strain = innere Konflikte, Befürchtungenund belastende Vorstellungen........................................................................................................................................................................................................................................................................................................Quelle: Cassano, G.B. et al. (1997). The panicagoraphobicspectrum: A descriptive approach to theassessment and treament of subtle symptoms. AmericanJournal of Psychiatry 154 (Suppl 6):27 - 37...........................................................................Unterscheide: Auslöser oder Ursache?8


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDie Entstehung der Angst – ein Modell9


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENHirnbiologische Vorgänge bei der AngstStirnhirnDie moderne Hirnforschung hat gezeigt,dass biologische Vorgänge einen wesentlichenAnteil an der Entstehung derAngst haben. Insbesondere bei Panik- undZwangsstörungen spielt die Hirnbiologieeine wesentliche Rolle. Dabei wird immerwieder die enge Verbindung von Wahrnehmung,Gefühlen, Körperreaktionen, Gedankenund Verhalten deutlich, die im Gehirngesteuert werden. Diese Funktionen sindin verschiedenen Hirn-arealen lokalisiert,die durch Nervenbahnen in enger Verbindungstehen.Angst bedeutet ständige Alarmbereitschaftim Gehirn. Schon einkleiner Reiz kann eine Kaskade von Stresshormonenauslösen, die mit starken Angstgefühleneinhergehen.Neurotransmitter/Rezeptoren:Noradrenalin und Serotonin spielen sowohlbei Depressionen als auch bei derAngst eine wesentliche Rolle. BesondereBedeutung haben die GABA-Rezeptoren.Gewisse Medikamente (Benzodiazepine,z.B. Valium) binden sich ganz spezifisch andiese Rezeptoren und führen fast schlagartigzur Beruhigung.Trotz dieser ersten Befunde sind nochviele Anstrengungen nötig, um offene Fragenzu klären. Auch unter einer Behandlungmit Medikamenten bleiben eine Bearbeitungauslösender Belastungen undseelischer Konflikte, sowie das Trainingvon neuen Verhaltensmuster eine wesentlicheHilfe bei der Behandlung von Angststörungen.Die wiederholte Ausschüttung vonStress-hormonen während der Angstphasenkann langfristig eine verminderte psychischeBelastbarkeit nach sich ziehen —ähnlich einem Sonnenbrand, wo bereitsein wenig Wärme starke Schmerzen hervorrufenkann. Die neuronalen Netzwerkereagieren bei einer erneuten Belastung vieleher mit einer Alarmierung als früher.Dies könnte erklären, was wir in der Praxisbeobachten: Selbst nach Abklingen derakuten Störung bleibt noch längere Zeiteine Angst-Anfälligkeit bestehen.Weitere Informationen:Mehrere Kapitel in dem umfassenden Buch von Kasper,S. und Möller, H.J., Hrsg. (1995): Angst- und Panikerkrankungen.Gustav Fischer Verlag, Jena undStuttgart.10


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDer Verlauf von AngststörungenAngststörungen im engeren Sinne (vgl.S. 13 ff.) sind leider in den meisten Fällenlängerdauernde Störungen, die oft miteiner deutlichen Verminderung der seelischenBelastbarkeit einhergehen. EineNachuntersuchung von Angstpatientennach 7 bis 9 Jahren ergab folgende Zahlen(Angst & Vollrath 1991):Die untenstehenden Skizzen zeigenzwei mögliche Verläufe von Angststörungen.Längerdauernde Ängste sind oftauch mit Depressionen verbunden (vgl.Komorbidität von Angst und Depression,S. 26)23 % waren völlig frei von Symptomen77 % spürten noch gewisse Symptome46 % spürten Beeinträchtigungen beider Arbeit12 % spürten Beeinträchtigungenauchin privaten Beziehungen23 % waren weiterhin in psychotherapeutischerBehandlung.11


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDeutungen der AngstPsychoanalytisches Modell:Angst entsteht bei aktuellen Konflikten(oft im Rahmen von sexueller Frustration,aber auch bei drohendem «Objektverlust»).Angst ist Ausdruck der Abwehr von (Trieb-)Spannungen zwischen Ich, Es und Über-Ich. Bereits Freud hat aber auch auf Anlagefaktorenhingewiesen. Ziel einer analytischenBehandlung wäre es, die Konflikte,die Trieb-spannungen und die damit verbundenenÄngste bewusst zu machen unddie Abwehr aufzulösen.Kognitiv-verhaltenstherapeutischesModell:Angst ist eine erlernte Reaktion auf unangenehmeSituationen. Sie wird begleitetvon vegetativen Symptomen, die einenKreislauf von Angstauslöser — negativeGedanken — körperliches Missempfinden— weitere Angst — weitere negative Gedanken— Vermeidensverhalten erzeugen (vgl.Kreislauf auf S. 5). Ziel der Therapie ist es,diesen Kreislauf zu durchbrechen, indemdie betroffene Person ihre Symptome besserverstehen lernt, sie rational einordnenkann und andere Verhaltensweisen einübt.Biologisches Modell:Angst wird durch komplexe hormonelleund biochemische Vorgänge im Gehirnund im vegetativen Nervensystem erzeugt.Störung der Neurotransmitter (GABA, Noradrenalin,Serotonin) im Frontalhirn undim limbischen System. Medikamente (insbesondereTranquilizer) haben eine schlagartigeWirkung auf die Angst. WichtigstesElement der Therapie ist deshalb eine ausreichenddosierte medikamentöse Therapie.Eine breit angelegte australische Studiean 3810 Zwillingspaaren zeigte, dass genetischeFaktoren bis zu etwa 50 Prozent beeinflussten,wie «neurotisch» bzw. sensibeleine Person war. Als Faustregel können dieUrsachen von Angsterkrankungen in derDrittelsregelung gefasst werden:– ein Drittel vererbte Disposition– ein Drittel schwierige Kindheit und Jugend– ein Drittel aktuelle Lebensbelastungenund fehlgeleitete Verarbeitungsmuster(z.B. Vermeiden von Auslösern)WICHTIG: Integration der ModelleJedes dieser Modelle enthält wichtige Beobachtungen. Ein umfassendes Verständnisder Angst muss folgende Aspekte umfassen:1) Disposition: ängstliche Grundpersönlichkeit2) Lebensgeschichte: frühe Belastung z.B. durch Alkoholismus der Eltern3) Auslösersituationen: z.B. öffentliche Blamage; z.B. Hundebiss4) Bewältigungsmuster: übermäßige Absicherung, Vermeidung etc.5) Biologische Aspekte: Hirn-Biochemie, Neurotransmitter12


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDie wichtigsten AngststörungenEs ist nicht einfach, die Angst in klar abgrenzbareZustandsbilder einzuteilen.Dennoch soll der Versuch unternommenwerden, die wichtigsten Angstsyndromegesondert darzustellen.Häufig kommt Angst aber auch als Begleitsymptombei anderen Störungen vor,insbesondere bei ängstlich gefärbten Depressionen.Klassifikation derAngststörungenA. Phobische Störungen1. Agoraphobie (mit und ohne Panik)2. Soziale Phobie3. Spezifische (isolierte) PhobienB. Sonstige Angststörungen1. Panikstörung2. Generalisierte Angststörung (GAD)3. Angst und Depression, gemischtC. Zwangsstörungen1 . vorwiegend Zwangsgedanken2. vorwiegend Zwangshandlungen3. Zwangsgedanken und Zwangshandlg.D. PosttraumatischeBelastungsstörungE. Psychotische AngstF. Organisch bedingte AngstG. Ängste im Kindesalter(vereinfacht und modifiziert nach ICD-10)Hinweis: Die Beschreibungen auf denfolgenden Seiten sind an das DSM-IV (=Diagnostisches und Statistisches HandbuchPsychischer Störungen) angelehnt.Die Kriterien werden hier aber nur inverkürzter, sprachlich gestraffter Formangegeben. Zudem werden Sonderausprägungenbei Kindern nur begrenzt berücksichtigt.Schließlich werden auch dievielen differentialdiagnostischen Überlegungenzu jeder Kategorie weggelassen.Ausführliche Darstellungen der Störungenfinden sich in neueren Lehrbüchern derPsychiatrie.13


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENZwei wesentliche Elemente der AngstPanikattackenPanikattacken können im Rahmen verschiedenerAngststörungen auftreten.Hauptmerkmal: eine abgrenzbare Periodeintensiver Angst und Unbehagens, begleitetvon mindestens 4 der 13 somatischenoder kognitiven Symptome auf Seite 7.Panikattacken können bei verschiedenenStörungen auftreten (Panikstörung,soziale Phobie, spezifische Phobie, akuteoder posttraumatische Belastungsstörung).Drei Formen der Panikattacke:1. Unerwartete (nicht ausgelösten) Panikattacke:«wie aus heiterem Himmel»2. Situationsgebundene (ausgelöste) Panik-attacke(bei sozialen und spezifischenPhobien, z.B. vor einer Gruppereden müssen; z.B. Hund, Schlange)3. Situationsbegünstigte Panikattacke: EineSituation macht das Auftreten einerPanikattacke wahrscheinlicher, führtaber nicht immer dazu (z.B. Autofahren).Wichtig: Kontext der Panikattacke beachten!AgoraphobieA) Angst, sich an Orten oder in Situationenzu befinden, in denen im Falle desAuftretens einer Panikattacke oder panikartigerSymptome (z.B. Angst, einenplötzlichen Schwindelanfall oder plötzlichenDurchfall zu erleiden) eine Fluchtschwierig (oder peinlich) oder keine Hilfeverfügbar wäre.B) Die Angst führt üblicherweise zu einerVermeidung vieler Situationen (nichtaußer Haus, nicht in Menschenmengen,nicht Einkaufen; Angst, allein zu Hause zusein; Reisen mit Auto, Zug, Flugzeug; Brücken,Aufzug etc.). Manche Personen sindzwar häufig besser in der Lage, sich einergefürchteten Situation auszusetzen, stehendiese Erlebnisse jedoch nur mit großerAngst durch. In Begleitung oft besser. DieVermeidung bestimmter Situationen kannzur Beeinträchtigung führen (Haushaltspflichten,Arbeit).C) Keine Erklärung durch andere Störung(z.B. Angst vor Schmutz bei Zwangsstörung).14


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPanikstörungenDiagnostische Kriterien der PanikstörungA) Folgende Kriterien müssen beide erfülltsein: a) wiederkehrende unerwartetePanikattacken. – b) bei mindestenseiner der Attacken folgte mindestensein Monat mit mindestenseinem der nachfolgenden Symptome:1. Anhaltende Besorgnis über das Auftretenweiterer Panikattacken.2. Sorgen über die Bedeutung der Attackeoder ihre Konsequenzen.3. Deutliche Verhaltensänderung infolgeder Störung.B) Kein Einfluss von Drogen oder einerkörperlichen Krankheit.C) Keine Erklärung durch eine anderespezifische Störung.Zugehörige Merkmale– starke Besorgnis bzgl. körperlicheKrankheit– Angst vor Nebenwirkungen von Medikamenten– Neigung zur übermäßigen Inanspruchnahmevon Gesundheitsdiensten,Ärzten– Allgemeine Entmutigung– ausgeprägte Depression als Begleiterscheinungin 50–65 Prozent, manchmalsogar zuerst Depression und dannerst Panikstörung– Fehlgeleitete Bewältigungsversuchemit Alkohol und Medikamenten.Häufigkeit und Verlauf– Häufigkeit: 1,5–3,5 %; Frauen doppeltso häufig betroffen wie Männer– Familiäre Verteilung: Hinweise auf genetischenBeitrag– Erstmaliges Auftreten zwischen Adoleszenzund ca. 40 Jahren– Langzeitverlauf:nach 6–10 Jahren: 30 % symptomfrei,40–50 % gebessert, 20–30 % gleich.«Die Ängste schlagen zu, wenn ich . . .– ins tiefe Wasser schaue– bei der Arbeit beobachtet werde– denke, dass mein Herz krank ist– alleine bin– an einem fremden Ort bin– einen Krankenwagen sehe– beim Zahnarzt oder beim Friseur bin– von großen Gebäuden hinunterschaue– in hohe Kirchen gehe– in der Mitte sitze oder stehe– in Menschenansammlungen bin– in große offene Räume gehe.»(eine 51-jährige Frau)15


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPsychodynamik der PanikstörungNach Shear et al. 199316


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENGeneralisierte AngststörungDiagnostische KriterienA) Unrealistische oder übertriebeneAngst und Besorgnis bezüglich verschiedenerLebensumstände (Angst,dem Kind könnte etwas zustoßen,obwohl keine Gefahr besteht; Geldsorgenohne triftigen Grund) über längereZeit (min. sechs Monate).B) Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren.C) Neben den vegetativen Symptomen(S. 7) finden sich besonders folgendeSymptome: Ständige Anspannung,Ruhelosigkeit, leichte Ermüdbarkeit,übertriebene Schreckreaktion, Konzentrationsschwierigkeitenoder Leereim Kopf, Reizbarkeit, Muskelspannung,Ein- und Durchschlafstörungen.D) Angst, Sorge oder körperliche Symptomeverursachen ausgeprägtes Leidenoder Beeinträchtigungen in sozialen,beruflichen oder anderen wichtigenLebensbereichen.Gerade bei dieser Angstform werden diegemeinsamen Eigenschaften ängstlichneurotischer Menschen deutlich, die imenglischen Sprachraum auch als «GeneralNeurotic Syndrome» bezeichnetwerden.Gemeinsame Eigenschaftenvon Menschen mitängstlich-neurotischen Zügena) Konflikthaftigkeit: die Neigung,vieles zu hinterfragen, sichselbst und andere anzuzweifeln;Schwierigkeiten, Entscheidungenzu treffen; die Unfähigkeit, in einerLeichtigkeit des Seins durchs Lebenzu gehen.b) Hemmungen: übermäßige Zurückhaltung,Schüchternheit und Selbstzweifel.c) Kontaktstörung: Hemmungenund innere Unsicherheit erschwerenKontakte mit anderen Menschen.d) Stimmungsschwankungene) verminderte Leistungsfähigkeitf) körperliche Beschwerden(vegetative Labilität)17


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENSpezifische PhobienA) Angst vor ganz bestimmten Situationenoder Objekten (Flugreisen; Spinnen-,Hunde- oder Katzenphobie; Angst vordem Anblick von Blut etc.).B) Konfrontation mit dem Auslöser ruftsofort heftige und überschießendeAngst hervor.C) Solche Situationen werden entwedervermieden oder nur unter größterAngst und Anspannung durchgestanden.D) Die Person erkennt, dass ihre Angstübertrieben oder unvernünftig ist.Diagnostische KriterienE) Die Angst oder das Vermeidensverhaltenstören den normalen Tagesablaufder Person, die üblichen sozialen Aktivitätenoder Beziehungen, oder dieAngst verursacht erhebliches Leiden.F) Das Vermeidungsverhalten, die ängstlicheErwartungshaltung oder das Unbehagenin den gefürchteten Situationenschränkt deutlich die normaleLebensführung der Person, ihre berufliche(oder schulische Leistung) odersoziale Aktivitäten oder Beziehungenein, oder die Phobie verursacht erheblichesLeiden für die Person.BesonderheitenKinder drücken ihre Angst möglicherweisedurch Schreien, Wutanfälle, Erstarrenoder Anklammern aus. Ihnen fehlt esoft noch an Einsicht in die Unsinnigkeitder Angst.Kultur: Angst vor magischen Dingen kannkulturell bedingt sein.Häufigkeit: obwohl Phobien häufig sind(ca. 10 %), erreichen sie meist nicht denGrad einer schweren Beeinträchtigung;Frauen sind deutlich häufiger betroffenals Männer.Familiäre Verteilung: Hinweise auf genetischenBeitrag; familiäre Häufung.Verlauf: erstmaliges Auftreten entweder inder Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter.Auslöser: häufig traumatischeErlebnisse, aber auch unerwartete Panikattackein einer Situation.Langzeitverlauf: Phobien, die bis ins Erwachsenenalterandauern, klingen nur in20 Prozent ab.«Einfache» PhobieAngst vor ganz bestimmten Situationenoder Objekten (Spinnen-, Hunde- oder Katzenphobie;Angst vor dem Anblick von Blutu.v.a.m.). Die Konfrontation mit dem Auslöserruft sofort heftige und überschießendeAngst hervor. Solche Situationenwerden entweder vermieden oder nur untergrößter Angst und Anspannung durchgestanden.Die Person erkennt, dass ihreAngst übertrieben oder unvernünftig ist.Die Angst oder das Vermeidensverhaltenstören den normalen Tagesablauf der Person,die üblichen sozialen Aktivitäten oderBeziehungen, oder die Angst verursachterhebliches Leiden.18


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENSoziale PhobieA) Ausgeprägte und anhaltende Angstvor sozialen oder Leistungssituationen,in denen die Person mit unbekanntenPersonen konfrontiert istoder von anderen Personen beurteiltwerden könnte. Der Betroffene befürchtet,sein Verhalten zu zeigen, dasdemütigend oder peinlich sein könnte.B) Die Konfrontation mit der gefürchtetenSituation ruft fast immer eine unmittelbareAngstreaktion hervor, diedas Erscheinungsbild einer Panikattackeannehmen kann.C) Die Person erkennt, dass die AngstDiagnostische Kriterienübertrieben oder unbegründet ist.D) Die gefürchteten Situationen werdenvermieden oder nur unter intensiverAngst oder Unwohlsein ertragen.E) Das Vermeidungsverhalten, die ängstlicheErwartungshaltung oder dasstarke Unbehagen in den gefürchtetenSituationen beeinträchtigendeutlich die normale Lebensführungder Person, ihre berufliche/schulischeLeistung soziale Aktivitäten oder Beziehungen,oder die Phobie verursachterhebliches Leiden.Anhaltende Angst vor Situationen, wo einePerson im Mittelpunkt der Aufmerksamkeitanderer steht und befürchtet, etwaszu tun, was demütigend oder peinlich seinkönnte. Beispiele: Angst, in der Öffentlichkeitzu sprechen; sich vor anderen beimEssen zu verschlucken; etwas Lächerlicheszu sagen etc.BesonderheitenÜberempfindlichkeit gegenüber Kritik,negativer Bewertung oder Ablehnung;Schwierigkeiten, sich selbst zu behaupten,geringes Selbstbewusstsein, Minderwertigkeitsgefühle.Mangelnde soziale Fertigkeiten (z.B. wenigAugenkontakt) oder beobachtbare Anzeichenvon Angst (z.B. kalte, feuchte Hände,Zittern, zittrige Stimme). SchlechtereLeistungen bei der Arbeit, weil sie öffentlichesSprechen, spontanen Kontakt, offenenAustausch mit Vorgesetzten und Kollegenmeiden.Soziales Netz oft eingeschränkt: wenigFreunde, Verbleiben in unbefriedigendenBeziehungen, Rückzug auf Herkunftsfamilie.In besonders schweren Fällen verlassendie Betroffenen die Schule, sind arbeitslosoder bekommen keine Arbeit, da sie nichtin der Lage sind, Bewerbungsgesprächezu führen.UNTERSCHEIDEPrüfungsangst, Lampenfieber und Schüchternheitgegenüber fremden Personen sindweit verbreitet und sollten nicht als sozialePhobie diagnostiziert werden, es sei denndie Angst oder Vermeidung führt zu einerklinisch bedeutsamen Beeinträchtigungund starker Belastung.19


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENZwangsstörungenDas Hauptmerkmal einer Zwangskrankheitbesteht in wiederholten Zwangsgedankenoder Zwangshandlungen. Diesesind so schwer, dass sie erhebliches Leidenverursachen, zeitraubend sind oderden normalen Tagesablauf, die beruflichenLeistungen oder die üblichen sozialen Aktivitätenoder Beziehungen beeinträchtigen.Zwangsgedanken sind länger andauerndeIdeen, Gedanken, Impulse oderVorstellungen, die – zumindest anfänglich– als lästig und sinnlos empfunden werden:z. B. ein Elternteil hat wiederholte Impulse,das eigene geliebte Kind zu töten oder einreligiöser Mensch hat wiederholt gotteslästerlicheGedanken. Die Person versucht,solche Gedanken bzw. Impulse zu ignorieren,zu unterdrücken oder sie mit Hilfeanderer Gedanken oder Handlungen auszuschalten.Die Person erkennt, dass dieZwangsgedanken von ihr selbst kommenund nicht von außen aufgezwungen werden(wie beim Eindruck der Gedankenein‐gebung der Schizophrenie).Die häufigsten Zwangsgedanken sindwiederkehrende Vorstellungen von Gewalttätigkeiten(«Ich könnte mein Kindverletzen»), Angst vor Verschmutzung («Ichkönnte mich infizieren») und zwanghafteZweifel («Habe ich auf der Heimfahrt wirklichniemand angefahren und verletzt?»)Zwangshandlungen sind wiederholte,zweckmäßige und beabsichtigteVerhaltensweisen, die auf einen Zwangsgedankenhin nach bestimmten Regeln oderin stereotyper Form ausgeführt werden.Das Verhalten dient dazu, Unbehagen oderschreckliche Ereignisse bzw. Situationenunwirksam zu machen bzw. zu verhindern.Jedoch steht die Handlung in keinem realistischenBezug zu dem, was sie unwirksammachen bzw. verhindern soll, oder sieist eindeutig übertrieben.Die Handlung wirdmit einem Gefühl dessubjektiven Zwangsdurchgeführt mit demgleichzeitigen Wunsch,Widerstand zu leisten(zumindest anfänglich).Die Person siehtein, dass ihr Verhaltenübertrieben oder unvernünftigist. Die betroffenePerson hatkeine Freude am Ausführender Handlung,obwohl dies zu einerSpannungsverminderungführt.Weitere Informationen:Eine ausführliche Übersicht gibt das Arbeitsheft ZWANGUND ZWEIFEL in der Reihe Psychiatrie und Seelsorge.20


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENDiagnostische KriterienA. Es bestehen entweder Zwangsgedankenoder Zwangshandlungen:Zwangsgedanken:1) Wiederholte, länger andauerndeIdeen, Gedanken, Impulse oder Vorstellungen,die als lästig und sinnlosempfunden werden und ausgeprägteAngst und Spannung erzeugen.2) Die Gedanken, Impulse und Vorstellungensind nicht einfach Sorgen überProbleme im realen Leben.3) Die Person versucht, solche Gedankenbzw. Impulse zu ignorieren oderzu unterdrücken oder sie mit Hilfe andererGedanken oder Handlungen zuneutralisieren.4) Die Person sieht ein, dass die Zwangsgedankenvon ihr selbst kommen undnicht von außen aufgezwungen werden(wie bei der Gedankeneingebung).Zwangshandlungen:1) wiederholte Verhaltensweisen (z.B.Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren)oder gedankliche Handlungen(z.B. Beten, Zählen, stilles Wiederholenvon Wörtern), die auf einenZwangsgedanken hin nach bestimmtenRegeln oderstereotyp ausgeführt werden.2) Das Verhalten dient dazu, äußerstesUnbehagen oder schreckliche Ereignissebzw. Situationen unwirksam zumachen bzw. zu verhindern. Jedochsteht die Handlung in keinem realistischenBezug zu dem, was sie unwirksammachen bzw. verhindern soll,oder sie ist eindeutig übertrieben.B. Die Person sieht ein, dass ihr Verhaltenübertrieben oder unvernünftig ist.C. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungenverursachen erheblichesLeiden, sind zeitraubend (mehr als eineStunde pro Tag) oder beeinträchtigenden normalen Tagesablauf, die beruflichenLeistungen oder die üblichensozialen Aktivitäten oder Beziehungenzu anderen.Wenn der Gedankenfilter versagtWeil der Filter der Gedanken seine Funktionnicht erfüllt, werden angstbesetzteImpulse ohne die nötige Dämpfung insStirnhirn weitergeleitet, wo sie wie einezweite, von außen aufgezwungene Wirklichkeiterlebt werden.Zudem wird das Referenzsystem derWerte verzerrt und in erhöhte Alarmbereitschaftversetzt. So wird statt einer angepasstenVerhaltensreaktion das obersteZiel allen Handelns und Denkens die Abwehreiner subjektiv erlebten Gefahr.BegleiterscheinungenDepression und Angst sind häufig. Oft bestehtein phobisches Vermeiden von Situationen,die den Inhalt des Zwangsgedankensbetreffen, wie Schmutz oder Verschmutzung.Beispielsweise vermeidet einePerson öffentliche Toiletten oder Fremdendie Hand zu schütteln (aus Angst vorVerschmutzung oder Ansteckung mit einerKrankheit).KomplikationenBei schweren Verläufen können die Zwängezum beherrschenden Lebensinhalt werden.Die daraus folgende Vereinsamung führt zuDepressionen und der Versuch, die Ängsteund Zwänge zu dämpfen, kann in einenMissbrauch von Alkohol oder Tranquilizernmünden.21


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPosttraumatische BelastungsstörungDiagnostische KriterienA) Die Person hat ein Ereignis erlebt, dasaußerhalb der üblichen menschlichenErfahrung liegt und für fast jedenstark belastend wäre (z.B. Vergewaltigung,Ausgeraubtwerden, Miterlebeneines plötzlichen Todesfalles, Zerstörungdes eigenen Zuhauses, Kriegserlebnisse,Folter).B) Die Folge: Das Ereignis wird ständigauf mindestens eine der folgendenArten wiedererlebt: Wiederholte sichaufdrängende Erinnerungen; wiederholtestark belastende Träume; plötzlichesGefühl, das Ereignis wieder zuerleben (Flashback); intensives psychischesLeiden bei der Konfrontationmit Ereignissen oder Jahrestagen, diean das traumatische Erlebnis erinnern.C) Anhaltendes Vermeiden von Situationenund Auslösern, die mit demTrauma in Verbindung stehen: Verdrängender Gedanken daran; Unfähigkeit,sich an Einzelheiten zu erinnern(psychogene Amnesie); Entfremdungsgefühl;Einschränkung der Gefühlswelt(z.B. Verlust von zärtlichenEmpfindungen); Gefühl verkürzter Zukunftsempfindung(«Alles hat keinenSinn mehr»).D) Anhaltende Symptome einer erhöhtenErregung: Schlafstörungen, Reizbarkeit,Konzentrationsschwierigkeiten,Überwachheit (Hypervigilanz), übertriebeneSchreckreaktionen, vegetativeSymptome.«Heute ist wieder so ein Tag, den ichzutiefst fürchte. Ein Tag, an dem ichvon einer dauernden Angst verfolgtwerde, die mich nicht zur Ruhe kommenlässt. Sie ist täglich da:– Angst vor dem Leben, vor der Vergangenheit,der Gegenwart und derZukunft. Angst vor der Tatsacheeine Frau zu sein, Angst vor den Gedanken!– Ich habe Angst mein Zimmer zuverlassen und Angst, im Zimmer zusein.– Da ist diese Angst der Erfahrungen,als ich mal ein Kind war und keinessein durfte, die meine Angst nochbestätigen. Ich bin zerrissen zwischenHoffen und Bangen.»(eine 32-jährige Frau)Weitere Informationen:Maercker A.: Therapie der posttraumatischen Be-lastungsstörungen.Springer.Reddemann L.: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlungvon Traumafolgen mit ressourcen-orientiertenVerfahren. Pfeiffer-Klett-Cotta.Streeck-Fischer A. et al. (Hrsg.): Körper, Seele, Trauma– Biologie, Klinik und Praxis. Vandenhoeck &Ruprecht.Butollo W., et al.: Kreativität und Destruktion posttraumatischerBewältigung. Forschungsergebnisse undThesen zum Leben nach dem Trauma. Pfeiffer-Klett-Cotta.22


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPsychotische AngstWährend die Ängste im Rahmen vonAngststörungen trotz ihrer Überwertigkeitnoch einfühlbar sind, nehmen psychotischeÄngste ein Maß an, das für denAußenstehenden nicht mehr nachvollziehbarist.- «Ich habe Angst, dass mein Körperzerfließt und ich mich selbst verliere.»- «Es ist mir, als würde mein Gehirnentzweigerissen, und dazwischenwächst ein schwarzer Atompilz ausmeinem Kopf heraus.»- «Ich fühle mich ständig verfolgt. Injedem roten Auto lauert eine Gefahr.»- «Ich wage mich nicht mehr in meineWohnung. Alles ist voller Abhörwanzen.Ich werde ständig beobachtet,im WC, in der Küche, oder imBett. Meine Gedanken werden vonden Nachbarn gelesen und übers Radioverbreitet. Jetzt wissen alle, wasich denke!»Solche wahnhaften (paranoideN)Ängste treten speziell bei Schizophrenienauf. Bei schweren endogenen Depressionenbeobachtet man übermäßigeVerschuldungs ideen, Verarmungsängsteund körperbezogene Wahnideen, die oftsehr angstbetont vorgetragen werden.Psychotische Ängste werden oft von weiterenSymptomen begleitet:- Ausgeprägte Beeinträchtigung in denbisherigen Lebensaufgaben (Beruf,Schule, Haushalt)Zeichnung einer 23-jährigen Frau mit psychotischen Ängsten.- Affektive Abflachung (mangelndesMitschwingen der Gefühle, unpassenderGefühlsausdruck)- Zerfahrenes, sprunghaftes Denken- Antriebsstörung (gesteigert oder vermindert)- Schlafstörungen.- Autismus (Beziehungsstörungen, mitausgeprägtem sozialem Rückzug).- Ambivalenz (ständige Unentschlossenheitund Entscheidungsunfähigkeit)- Absonderliches Verhalten.Psychotische Symptomeim engeren Sinne:- Stimmenhören- Gedankenlautwerden- Gefühl des Beeinflusst-Werdens- Gefühl der Gedankenausbreitung- Visuelle Halluzinationen23


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENOrganische Ursachen der AngstAngst kann auch körperliche Ursachenhaben. Hier sind die Hauptursachen:Kardiovaskulär:- Myocardinfarkt- kardiale Arrhythmien- Orthostatische Hypotension- Mitralklappen-Prolaps- Arterieller HypertonusRespiratorisch:- Pulmonale Embolie- Emphysem- Asthmatische Erkrankungen- Hypoxie- chronisch obstruktive LungenerkrankungMedikamenteninduziert:- Koffein- Sympathomimetika (z.B. Effortil,Novadral)- Medikamentenentzug- antriebssteigernde AntidepressivaNeurologisch:- Epilepsie- Störungen des Gleichgewichtsorgans- Hirnblutungen- zerebrale TumorenEndokrinologisch:- Hyperthyreose- HypoglykämieFaktoren der Angst im Alter– Abnahme der Gedächtnisleistung– Emotionen: Sorgen, Niedergeschlagenheit,Konflikte– Einschränkung der Sinnesorgane(Schwerhörigkeit, Sehprobleme)– Allgemeine Schwächung durch körperlicheErkrankung– Verlust der sozialen Unterstützungdurch Verlust von Angehörigen,FreundenAngstzustände bei DemenzPsychoorganische Syndrome sind gekennzeichnetdurch Störungen des Bewusstseins,der Orientierung und des Gedächtnisses.Selbst bei jungen Menschen entstehenbei sensorischer Deprivation (verdunkelteKammer, akustische Isolation)diffuse Ängste.Bei leichteren Demenzen: AngstvolleVerkennungen von Situationen und Personenkönnen zu aggressiven Fehlhandlungenführen, wobei eine panikartige Steigerungder Angst vorausgeht.Bei mittelschweren und schwerenStadien der Demenz: Vermehrt diffuseÄngste, insbesondere angstvolle Anklammerung.Wenn sich Patienten nicht beruhigenlassen, ja, wenn es zu angstvollemRufen und Schreien sowie psychomotorischerUnruhe kommt, ist dies qualvoll fürPatienten, Mitpatienten und Betreuende.24


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENBesonderheiten der Angst im AlterAngst ist im Alter nicht häufiger als in jungenJahren, aber es stehen andere Themenim Vordergrund.Gesunde alte Menschen haben eher geringereAngstwerte in Persönlichkeitstests alsjunge. Alte Menschen können schließlichauf lebenslange Erfahrungen zurückblicken,haben schwierige Lebensprobleme bereitsgemeistert und verfügen in der Regel übererprobte Bewältigungsstile.Häufigste Ängste im Alter: Angstvor Krankheit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit– Angst, Opfer eines Verbrechens zuwerden – Angst, dass nahen Angehörigenetwas zustoßen könnte – Angst vor geistigenLeistungseinbußen – Angst vor einemlangsamen, schmerzvollen und einsamenSterben (nicht unbedingt vor dem Sterbenan sich).Psychodynamische Ängste im AlterAlle diese Ängste können real sein, abersie können auch andere Probleme überspielen:So kann sich z.B. Angst vor Krankheitin einen hypochondrischen Wahn auswachsen;Angst vor Armut kann eine depressiveVerarmungsidee oder eine geizigeZwanghaftigkeit darstellen.Auch im Alter können «neurotische»Ängste auftreten. Die längst vorhandenesensible Reifestörung tritt im Alter dannzutage, wenn vormals vermiedene Versuchungssituationenauftreten, wenn Lebensarrange-ments,Rollen und Partnerverlorengehen, die bisher das Gleichgewichtaufrechterhielten. Zudem könnenauch die Einschränkungen des Alters weiterdazu führen, dass bisherige Bewältigungsmusternicht mehr funktionieren.Ein 64 Jahre alter Mann erleidet plötzlichPanikattacken. Wenn er allein ist, geräter in eine starke ängstliche Erregung.Was ist der Hintergrund? Seine jüngereEhefrau ist nach Erwachsenwerden derKinder berufstätig geworden und nunnicht mehr mehrfach täglich für «Sicherheitstelefonate»erreichbar.25


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAngst und DepressionEine 47-jährige Frau entwickelt nachdem Verlust ihrer Arbeitsstelle eine ausgeprägteDepression, die sie wie folgtschildert:Sie schrecke aus kleinstem Anlass zusammen;im Nacken verspüre sie eineständige schmerzhafte Verspannung,die sich in den Hinterkopf hinauf ziehe.Sie habe ständiges Herzklopfen und einenPuls über 100. Auf der Brust habesie oft ein schweres Gewicht, das sie fasterdrücke.Der Schlaf sei sehr schlecht. Sie habeeinfach keinen Antrieb und keine Freudemehr. Die Einkäufe würden durchEhemann und Tochter besorgt; sieselbst sei nicht nur rasch ermüdet, sondernbekomme in größeren Menschenmassensofort panikartige Beklemmungsgefühle.Sie habe das Gefühl, alleLeute schauten sie an und merkten, dasses dieser Frau nicht gut gehe. Sie seidauernd angespannt und unruhig. Siefrage sich, wie lange ihr Mann und ihreTochter noch mit ihr aushielten.Angst und Depression treten häufig zusammenauf. Eine begleitende Depressionverschlechtert den klinischen Outcomevon Angststörungen.Die Folge:Schwerer Krankheitsverlauf undschlechtere PrognoseErhöhtes Suizidrisikovermehrte Inanspruchnahmemedizinischer DiensteGrößere Einschränkung derArbeitsfähigkeitErhöhte KostenDepression und Angst sind unterschiedliche,aber überlappende Zustände. Manbetrachtet sie heute als unterschiedlichenAusdruck der gleichen neurobiologischenUrsache, nämlich derBalance zwischen Noradrenalinund Serotonin.26


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAngst bei KindernÄngste gehören zum lebenAngst ist auch bei Kindern eines der erstenstarken Gefühle, das sie im Rahmenihrer Entwicklung durchleben und verarbeitenmüssen. Die Ängste zeigen sich jenach Anlage, Temperament und Familienklimain unterschiedlicher Intensität.Mütter und Väter haben deshalb oftSchuldgefühle, sie hätten dem Kind zuwenig Geborgenheit gegeben. Doch dieseAngst der Eltern ist so nicht begründet.Man kann Kinderängsten nicht mit einemerzieherischen Perfektionismus beikommen.unterscheide:temperamentbedingte Ängsteentwicklungsbedingte Ängsteerziehungsbedingte Ängstekrankmachende ÄngsteÄngste VERARBEITENGeben Sie Ihrem Kind das Gefühl vonSicherheit und Geborgenheit, trauenSie ihm die Angstbewältigung zu.Die Angst des Kindes ist ernst zu nehmen,sie sollte weder überdramatisiertnoch heruntergespielt werden. DasKind soll bei der Angstverarbeitungmitarbeiten: Was kannst du zur Bewältigungdeiner Ängste beitragen?Ängste kommen schnell, vergehenmanchmal langsam. Eine Angstbewältigungist nicht von heute auf morgenzu erreichen. Jedes Kind hat sein eigenesTempo, seine eigene Vorgehensweise.Nicht nur äußere Sicherheit undZuwendung der Eltern, sondern auchdas Temperament des Kindes prägtnachhaltig die Verarbeitung der Angst.«Angst ist (nach Søren Kierkegaard)nur auf dem Hintergrundder Freiheit möglich. Die Freiheit,sich zu entfalten, Neues anzupacken,etwas zu wagen, hinausin die Welt zu gehen, ist mitAngst verbunden – eine Angst,die herausfordert und schöpferisch,konstruktiv und kreativmacht.»Jan-Uwe Rogge«Jede Nacht hat mein Sohn Angst, erträumt schlecht, schläft nicht wiederein.»(eine Mutter)«Meine Tochter will nicht in den Kindergarten,weil sie Angst hat, dass ich sienicht wieder abholen würde. Jeden Morgendieser Nerv.» (eine Mutter)«Nachts scheint das Kinderzimmermeines Sohnes zum Tummelplatz allerGeister unserer Stadt zu werden. Nichtshilft dagegen: keine guten Worte, keineArgumente.» (ein Vater)Zitate aus dem Buch von Rogge, Ängstemachen Kinder stark. Rowohlt.Weitere Informationen:Jan-Uwe Rogge: Ängste machen Kinder stark. Rowohlt.27


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPsychodynamik der AngstABB. 1: Der Mensch wird von zweiHaupt ängsten geplagt, die sich aus seinenGrundbedürfnissen ableiten:Angst vor Abwertungund VersagenAngst vor Ablehnungund LiebesverlustAbb. 2: Der Pfeil zeigt den Weg zum Ziel(z.B. alleine an eine Einladung gehen).Aber nach einigen Schritten steigt allmählichdie Angst auf (durchbrocheneLinie) und wird immer stärker, bis derängstliche Mensch es vorzieht, von seinemVorhaben abzulassen. Die punktierteLinie zeigt die (z.B. durch bewussteEntspannung oder durch Medikamente)gedämpfte Angst, die das Erreichen desZiels ermöglicht.Weg zum Ziel«Neurotische»Verhaltensweisen:Abwehr, BewältigungLerneffektHindernisFrustrationTraumaAbb. 3:Das darf mir nicht mehr passieren!Wenn ein Ziel nicht auf direktem Wegerreicht werden kann, entwickelt derMensch Formen, das Hindernis zu umgehen.Er schützt sich durch diesesAbwehrverhalten vor der Angst vorAblehnung oder Versagen. Gleichzeitighandelt er sich durch sein Vermeidensverhaltenneue Probleme ein (z.B.Verlust von zwischenmenschlichenKontakten, Abnahme der beruflichenChancen etc.).28


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENKonfliktverarbeitungWas ist ein Konflikt?Wenn zwei Strebungen von vitaler Bedeutungwidersprüchlich oder unvereinbarwerden, und sich die betroffene Personunter Entscheidungsdruck befindet, sospricht man von einem Konflikt. Ein solcherKonflikt kann zu massiven Angstgefühlenführen. Konflikte bestehen nichtnur zwischen Innen und Aussen, zwischenTrieb und gesetzlicher Ordnung, sondernauch im Inneren («Zwei Seelen wohnen,ach, in meiner Brust»).Oft handelt es sich nicht nur um gegensätzlicheStrebungen, sondern auch Strebungen,die nicht gleichzeitig verwirklichtwerden können. Schließlich kann einKonflikt durch Frustration entstehen, alsodurch die Versagung einer vitalen Strebung(Wie geht jemand damit um? – Frustrationstoleranz,Resignation, Aggression?).Konflikte entstehen oft auch in einer Versuchungssituation:Es besteht ein Anreiz,Ein faszinierendes Bild der seelischenKonflikte eines jüdischen Jungen zeichnetder Autor Chaim Potok. Einerseitsmöchte Asher am Glauben und denBräuchen seiner Eltern festhalten, andererseitsspürt er das Bedürfnis, seine Gefühleim Malen auszudrücken, was beiden Chassidim verboten ist.Literatur:Chaim Potok: Mein Name ist Asher Lev. Rowohlt. -Chaim Potok: Die Erwählten. Rotbuch.ein Bedürfnis auszuleben, obwohl dies vonder Umwelt abgelehnt wird oder sogar deneigenen Idealen widerspricht.Eine Kindergärtnerin erzählt: «MeinBeruf bedeutet mir enorm viel. Aberjetzt habe ich einen Mann kennengelernt.Wie soll ich mich entscheiden?Wenn ich heirate, muss ich umziehenund die Stelle aufgeben! Ich habeAngst, ob ich das schaffe. Oft bin ich soangespannt, dass ich unser Zusammenseinnicht genießen kann.»Vitale Strebungen,die zu Konflikten führen können:- Bedürfnis nach mitmenschlicher Näheund Liebe- Bedürfnis nach Anerkennung- Sexuelle Wünsche und Triebe- Aggressionsregungen- Machtstreben- Streben nach Genuss, Besitz, Wissen- Streben nach Versorgung und SicherheitIch, Es und Über-IchOft fühlt sich eine Person (ICH) hin- undhergerissen zwischen grundlegenden Wünschen,Bedürfnissen, Trieben und Versuchungen(ES), die gegen die Ideale verstoßen,die eine Person für ihre Lebensgestaltunghat (Ich-Ideal oder ÜBER-ICH).Diese Spannung löst dann Angst mit allenBegleiterscheinungen aus. Dabei stehenzwei Ängste im Vordergrund: Die Angst vorAblehnung und die Angst vor Versagen (vgl.Abbildung auf S. 28)29


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAbwehr: Das Immunsystem der SeeleMerke1. Abwehrmechanismen sind nicht immernegativ zu bewerten. Oftmalssind sie vielleicht der einzige Weg,wie jemand in drängenden innerenKonflikten überleben kann. Die Abwehrmechanismenwirken dann wieder Panzer einer Rüstung, der seinenTräger vor Verletzungen schützt, aberihn auch beschwert und weniger beweglichmacht.2. Therapeutisch ist die Durchbrechungder Abwehr nicht immer hilfreich,insbesondere- wenn die Person nicht genügend«Ich‐Stärke» hat.- wenn die dadurch geweckten Gefühleund Ängste nicht aufgefangenwerden können.- wenn die Bewusstmachung desKonfliktes neue Konflikte hervorbringt.3. Die Bearbeitung von Konflikten setzteine tragende und vertrauensvolle Beziehungzum Therapeuten voraus.Weitere Informationen:vgl. Kapitel: «Das Immunsystem der Seele» in dem Buch:Der sensible Mensch von S. Pfeifer, erschienen im SCMHänssler-Verlag.BewältigungEs handelt sich um reife Formen des Umgangsmit schweren Erfahrungen, Verletzungenund Konflikten.Kennzeichen: realitätsgerecht, der Konfliktbleibt bewusst und wird durch Nachdenkenund Abwägen (rational) verarbeitet.- schöpferische Lösung- Verzicht- Durchsetzung- Humor- Glaube, NächstenliebeAbwehrmechanismenSie sollen die sensible und ängstliche Persondavor bewahren, den Schmerz vonAblehnung und Versagen allzu intensivzu verspüren. Abwehrmechanismen sindsozusagen das «Immunsystem der Seele».Beispiele:- Verschiebung (Schreibmaschine istschuld, dass Arbeit nicht fertig wurde)- Sublimierung (andere, «höhere» Tätigkeitstatt «niederer» Strebungen)- Verdrängung (von Strebungen, Gefühlen)- Verleugnung (von Grenzen oderz.B. schwerer Krankheit)- Isolierung, Abspaltung (von Gefühlen,von falschem Verhalten)- Wendung ins Gegenteil (Überfürsorglichkeittrotz Ablehnung eines Kindes)- Projektion (eigener Probleme auf andereMenschen)- Identifizierung (ohne Eingestehen vonunerfüllten Bedürfnissen)30


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAngst und SeelsorgeBiblische Beschreibungen derAngstAngst gehört zum menschlichen Leben.In den Psalmen werden vielfältige Symptomevon Angst beschrieben: Beispielefinden sich in den Psalmen 31, 61, 66, 69,73 und 77.Jesus sagte einmal: «In der Welt habtihr Angst, aber seid getrost, ich habe dieWelt überwunden.» Jesus selbst verspürteim Vorfeld seiner Gefangennahme intensiveAngst.Soziale Ängste werden in der Bibel auchals «SORGEN» oder «MENSCHENFURCHT»bezeichnet, allgemeine Ängstlichkeit als«VERZAGTHEIT» oder als «KLEINMUT».GlaubensängsteAngststörungen wirken sich nicht nurnegativ auf das Leben allgemein aus,sondern auch auf das Glaubenserleben.Platzangst kann z. B. auch in der Kirche auftretenund den Gottesdienstbesuch verunmöglichen.Ängste vor anderen Menschenkönnen auch die Kontakte mit Mitchristenbeeinträchtigen. Die innere Konflikthaftigkeitkann sich auch auf christliche Themenausdehnen. Oft wird das Gewissen zumkritisierenden «Über-Ich» und erstickt diepersönliche Freiheit.Übersensible Menschen erleben dann auchden Glauben angstbetont:- Angst, keine Vergebung zu erhalten- Angst, Jesus könnte wiederkommenund sie zurücklassen- Angst, sie könnten zu wenig christlichlebenPsalm 61,2–4: «Höre, Gott, meinSchreien und merke auf mein Gebet!Mein Herz ist in Angst; du wollestmich führen auf einen hohen Felsen.Denn du bist meine Zuversicht, einstarker Turm vor meinen Feinden.»Psalm 69,2–3: «Gott hilf mir! Denndas Wasser geht mir bis an die Kehle.Ich versinke in tiefem Schlamm, wokein Grund ist; ich bin in tiefe Wassergeraten und die Flut will mich ersäufen.»Psalm 71,20–21: «Du lässt mich erfahrenviele und große Angst und machstmich wieder lebendig und holst michwieder herauf aus den Tiefen der Erde.Du baust mich auf und tröstest michwieder.»— Angst, Gott würde sie bei allembeobachten («Big Brother»)Es wäre nun aber falsch, alle diese «neurotischen»Ängste allein auf den Glaubeneines Menschen zurückzuführen. Vielmehrentstehen sie im Spannungsfeld von(christlichen) Idealen, schwieriger Lebenssituationund individueller Übersensibilität.Allerdings kann eine eng geführteFrömmigkeit auch zu religiösen Ängstenführen, die sich von der eigentlichen christlichenLehre her nicht begründen lassen.Weitere Informationen:S. Pfeifer: Wenn der Glaube zum Problem wird. Brunnen-VerlagBasel.31


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAngst und Seelsorge – GebeteSeelsorgliche Hilfen beiAngststörungenFür viele gläubige Menschen ist die Bibeleine wichtige Hilfe in der Angst. Sie erfahrendurch das Lesen tröstender biblischerTexte, durch das Gebet und durch das Hörenvon christlicher Musik wesentliche Entspannungund Trost. Oft widerspiegeln biblischeTexte existentielle Erfahrungen derAngst und vermitteln das Eingreifen Gottesin diesen Situationen.Herr, geborgen bin ichan deinem Herzen.Auch wenn ich es jetztnicht fühle, du bist da.Es ist nicht wichtig,dass ich auf alle Frageneine Antwort finde.Du wachst über mir.Du entmächtigstmeine Ängste.Bei dir kommt meinunruhiges Herz zur Ruhe.Mein Gott, ich danke dir.Die ganze weite Welt istein schmaler Steg. Gehdarüber und fürchte dichnicht.Rabbi Nachman von Bratzlav,1772–1810Hoffnung wider die AngstIn mir ist es finster,aber bei dir ist das Licht.Ich bin einsam,aber du verlässt mich nicht.Ich bin kleinmütig,aber bei dir ist die Hilfe.Ich bin unruhig,aber bei dir ist der Friede.In mir ist Bitterkeit,aber bei dir ist die Geduld.Ich verstehe deine Wege nicht,aber du weißt den Weg für mich.Dietrich BonhoefferZusammenarbeitvon Seelsorger und ArztIn Fällen von längerdauernden und schwerenÄngsten ist eine Ergänzung durchärztlich-therapeutische Behandlung unbedingtangezeigt. Ziel einer therapeutischenSeelsorge ist nicht nur Freiheitvon Angst, sondern manchmal auch einbesseres Umgehen mit der Angst. Die medikamentöseBehandlung kann eine Personso weit stabilisieren, dass sie offenerist für das Gespräch und die Anregungenin der Seelsorge besser umsetzen kann.Weitere Informationen:J. & L. Wetter-Parasie: Angst in Kraft verwandeln.Edition Anker.U. Körtner: Angst – Theologische Zugänge zu einemambivalenten Thema. Neukirchner.S. Nägeli: Die Nacht ist voller Sterne – Gebete indunklen Stunden. Herder.32


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENTherapie der Angst: Ein ÜberblickKlare Diagnostik und Feststellungdes SchweregradesMerke: Diagnostik hat auch schon therapeutischeAspekte. Sie gibt dem Patientendas Gefühl, ernst genommen zuwerden. Sie zeigt ihm, dass er mit seinenÄngsten nicht allein ist und hilft ihm, dasUndefinierbare und Bedrohliche seinerAngst einzuordnen. Die Diagnostik entscheidetauch über das weitere therapeutischeVorgehen. Diagnostisch gilt es insbesonderezu klären:— Symptomatik, Schweregrad und Dauerder Störung— Welche Form der Angststörung liegtvor?— Handelt es sich um eine psychotischeAngst? (Neuroleptika)— Wird die Angst von einer Depressionbegleitet? (Antidepressiva)Grundsätze:klare Diagnostik und Feststellungdes SchweregradesBei akuten Ängsten lindernund beruhigen: Aufklären, beruhigen,schnell wirksame Medikamenteeinsetzen (Benzodiazepine)Besprechen psychischer undsozialer KonflikteVeränderung des DenkensErlernen von hilfreichenBewältigungsstrategienAnleitung zur EntspannungUnterstützung durchMedikamenteLeitlinien für die Verhaltenstherapie bei der Angst1. Angstgefühle und dabei auftretendekörperliche Symptome sind verstärktenormale Stressreaktionen.2. Angstreaktionen sind nicht schädlichfür die Gesundheit.3. Verstärken Sie Angstreaktionen nichtdurch furchterregende Phantasievorstellungen.4. Bleiben Sie in der Realität; beobachtenund beschreiben Sie innerlich, was umSie herum wirklich geschieht.5. Bleiben Sie in der Situation, bis dieAngst vorbeigeht.6. Beobachten Sie, wie die Angst von alleinwieder abnimmt.7. Versuchen Sie nicht, Angstsituationenzu vermeiden.8. Setzen Sie sich allen Situationen bewusstaus, die Ihnen Angst machen.9. Nehmen Sie sich in AngstsituationenZeit.10. Seien Sie stolz auf kleine Erfolge, auchauf die ganz kleinen!33


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENLeitlinien für die PsychotherapiePsychotherapie bei Angststörungen kannje nach Ausprägung sehr unterschiedlichsein. Die folgenden Leitlinien widerspiegelneine breite Palette, aus der Therapeuten jenach ihrem Hintergrund auswählen werden.VerhaltenstherapiePatienten mit Platzangst und Vermeidensverhaltensollten dazu ermuntertwerden, hinauszugehen und die Welt zuerkunden. Eine Besserung wird erst eintreten,wenn sich ein phobischer Patientgefürchteten Situationen stellt. In der begleitendenPsychotherapie (kognitiv-verhaltenstherapeutischorientiert) werdendie auftretenden Gefühle, Gedanken undVerhaltensweisen besprochen.EntspannungEntspannungstraining erweist sichbei leichteren bis mittleren Angststörungenals hilfreich. Die Wahl der Technikbzw. die Inhalte der beruhigenden Sätzesollten der WeltanschauungdesPatienten nichtwidersprechen,da sonst neueKonflikte entstehen.Für gläubigeMenschen kanndas Gebet einewesentliche Hilfesein. Neben dengedanklichen Entspannungsmethodenist auch analltägliche Methodenzu denken, wiez.B. Bäder, Spaziergängeund Musik.Wesentliches Ziel:Gleichgewicht zwischenAnnahme einer gewissenGrundangstundWagnis zu Neuem.Psychodynamischer AnsatzDa hinter der Angstproblematik oft psychischeund soziale Konfliktsituationenstehen, ist es wichtig, diese Hintergründeim Gespräch zu erhellen, und Muster derErlebnisverarbeitung, der Abwehr und derBewältigung zu besprechen. Dabei könnenauch schmerzliche Kindheitserfahrungenund tiefer liegende Konflikte aktiviert werden,die eine entsprechende Bearbeitungim Gespräch erfordern.Miteinbezug der AngehörigenSie werden oftmals durch die Ängsteund das Anklammerungsverhalten einesFamilienmitgliedes stark mitbetroffen undkönnen bei guter Beratung besser reagieren.Therapieziele bei längeren Angststörungen:Patienten mit chronischen Angststörungenbrauchen therapeutische Unterstützung,ihre Grenzen kennenzulernenund anzunehmen.MedikamenteViele Patienten benötigen zusätzlich aucheine Medikation (vgl. S. 37).34


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENInterpersonelle Therapie (IPT)Interpersonelle Therapie ist eine psychodynamischorientierte Kurztherapie. Es gehtdarum, die Angst (oder die Depression) zulindern und die Beziehungsfähigkeit zu verbessern.Die IPT erhebt nicht den Anspruch,den Charakter der Person zu verändern. Siegeht davon aus, dass Depressionen undÄngste unabhängig von der biologischenVerletzlichkeit, in einem psychosozialenund interpersonellen Kontext entstehen.Sie verfolgt daher zwei Strategien:1. Die Symptome lindern (ernst nehmen,klare Diagnostik, Aufklärung über dieNatur der Störung und die Behandlungsmög-lichkeiten,Medikamente).2. Dem Patienten helfen, bessere Strategienzu entwickeln, seine sozialen undzwischenmenschlichen Probleme zu bewältigen,die mit der jetzigen Phase derErkrankung verbunden sind.In der IPT bespricht der Therapeut mitdem Patienten seine Beziehungen undversucht ihm zu helfen, diese zu klären,Unsicherheiten abzubauen und neue Fertigkeitenim Umgang mit anderen zuentwickeln. In wissenschaftlichen Untersuchungenhat sich IPT als sehr wirksamerwiesen.Weitere Informationen:Elisabeth Schramm: Interpersonelle Therapie.Schattauer Verlag.Interpersonelle Probleme,die in der Therapie angesprochenwerden:a) Trauer über Verluste: Was bedeutet derVerlust (oder der drohende Verlust) eineslieben Menschen für mich und meineLebensbewältigung?b) Rollenkonflikte: Gegensätzliche Erwartungenzwischen zwei Personen, oftmalsPartnerschaftskonflikte oder Eltern-Kind-Konflikte.c) Rollen-Übergänge: z.B. von der Schülerinzur Studentin; von der Lehre zum Militär,vom Ledigsein zur Partnerschaft,von der Mutterrolle zum beruflichenWiedereinstieg, von der Arbeit zum Pensioniertendaseinetc. — in diesen Übergängenkommt es zum Verlust oder zurVeränderung bisheriger Bindungen andie Familie, zu schwierigen Gefühlen,die mit dem Übergang verbunden sind;zur Anforderung, neue soziale Fähigkeitenzu lernen und möglicherweise zu vermindertemSelbstwertgefühl.d) Interpersonelle Defizite: Eine optimalesoziale Funktion ist davon abhängig, mitder Familie enge Beziehungen zu pflegen,weniger intensiv aber doch befriedigendeBeziehungen mit Freunden undBekannten und bei der Arbeit gute Leistungenzu erbringen und mit den Mitarbeiterneinigermaßen auszukommen.Ängste erschweren soziale Beziehungen.Minderwertigkeitsgefühle, Angst vorVersagen und Ablehnung, Abhängigkeitsowie innere Unsicherheit beeinträchtigendiese Beziehungen.35


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENAlkoholDrogenAlkohol kann beruhigen, die Zungelockern, Hemmungen abbauen. Dies istder Grund, dass nicht wenige Menschenmit Ängsten (speziell soziale Phobie) versuchen,ihre Schwierigkeiten mit Alkohol(oder Drogen) zu lindern.Man spricht auch von einem «fehlgeleitetenSelbstbehandlungsversuch». Erstmit der Zeit merken die Betroffenen, dasses dabei zu einer Abhängigkeit und anderenunerwünschten Nebenwirkungen aufden Körper (Leberschädigung) und die Psyche(Persönlichkeitsveränderung) kommt.Nicht selten sind sie selbst entsetzt, dasssie in eine Sucht gerutscht sind.Die Sucht darf in diesem Fall nicht isoliertund abwertend gesehen werden: Wennman nur den Alkohol absetzt (wie dies invielen Entzugsprogrammen geschieht),treten oft die vorbestehenden Ängste wiederauf.Oftmals kann eine Basisbehandlungmit Antidepressiva deutliche Erleichterungbringen. Manchmal sind ergänzendauch Tranquilizer notwendig, um den Betroffenenein adäquates Funktionieren zuermöglichen. Dies muss nicht einer Suchtgleichgesetzt werden, insbesondere wenndie Betroffenen regelmäßige Gesprächsunterstützungerhalten und sich der Gefahreneiner unkritischen Einnahme und einer Dosissteigerungbewusst sind.Cannabis (Haschisch) wird von vielenjungen Menschen verwendet, um sichzu beruhigen, Ängste zu lösen und die Kre‐Weitere Informationen:Informative Homepage der Schweizerischen Fachstellefür Alkohol- und Drogenprobleme: www.sfa-ispa.chativität zu steigern. Doch Haschisch führtnicht nur zu Glücksgefühlen, sondern auchzu Sorglosigkeit, Gedächnisstörungen undPseudohalluzinationen. Chronischer Gebrauchkann zu einem «Amotivations-Syndrom»mit Teilnahmslosigkeit, Passivitätund Apathie führen.Unter Haschisch kommt es gar nichteinmal so selten zu sogenannten «Horror-Trips» mit Bedrohungsgefühlen, Angst undVerfolgungswahn. Auch können «Flashbacks»auftreten, d.h. ein Nachrausch ohneerneute Einnahme, der sich Tage bisMonate nach dem letzten Konsum ereignet.Auch durch Haschisch können selteneinmal schizophrenieähnliche Zustandsbilder(«drogeninduzierte Psychose») ausgelöstwerden.Drogen können Angstzuständeauslösen, insbesondere Halluzinogene(LSD, Psilocybine, Mescaline oder Angel'sDust u.a.). Die Stoffe werden zum Teil synthetischhergestellt, zum Teil sind sie inPflanzen wie Pilzen und Kakteen enthalten.Der Rausch äußert sich in einer starkenGefühlsintensivierung, optischen Halluzinationenund Verkennungen, Ideenfluchtund Stimmungsschwankungen. Es kann zuAllmachtsgefühlen und zu Veränderungendes Ich-Erlebens, des Körpergefühls unddes Raum-Zeit-Erlebens kommen (sogenannte«bewußtseinserweiternde Wirkung»).Der Verlauf des Rausches ist auch vonder emotionalen Verfassung des Konsumentenabhängig, gerade wenn dieser vorder Einnahme problembelastet ist, kommtes gar nicht so selten zu «Horrotrips» mitAngst, Unruhe und sehr quälenden Erlebnissen.36


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENMedikamente bei AngststörungenDie folgenden Bemerkungen könnennur kurze Anhaltspunkte geben. DetaillierteBeschreibungen finden sich z.B. indem Buch von O. Benkert und H. Hippius.In jedem Fall sollte eine medikamentöseBehandlung der Angst von einem Arzt verordnetund überwacht werden.Tranquilizer (Benzodiazepine)Beispiele: Valium, Temesta (Tavor), Lexotanil,Xanax (Tafil) u.v.a.m.Diese Medikamente haben sich insbesonderein der Behandlung von reaktivenÄngsten und von Panikattacken sehr bewährt.Sie bringen eine rasche Beruhigung,die dann eine weitere Bearbeitung der auslösendenFaktoren im Gespräch ermöglicht.Neuere Forschungen haben gezeigt,dass sich diese Mittel an spezifische Rezeptorenim Gehirn binden.Eine längerdauernde Einnahme vonTranquilizern birgt die Gefahr von Abhängigkeitin sich und sollte daher möglichstvermieden werden. Allerdings ist beischweren Ängsten, die mit massiven Behinderungeneinhergehen, eine kontrollierteDauermedikation (ergänzt durch Antidepressiva)unter ärztlicher Begleitungsinnvoll.AntidepressivaOft sind Angst und Depression miteinanderverbunden. Deshalb haben sichAntidepressiva mit einem beruhigendenWirkungsprofil in der Behandlung und Vorbeugungvon Angstzuständen bewährt.Besonders wirksam sind Medikamente,die sowohl den Stoffwechsel von Serotoninals auch von Noradrenalin beeinflussen(z.B. Efexor). Bei Zwangsstörungen habensich nicht nur neuere Serotoninwiederaufnahmehemmer(SSRI) bewährt, sondernauch das seit Jahrzehnten eingesetzte MedikamentAnafranil: Oft kommt es zu einerLinderung, in etwa 40 Prozent der Zwangskrankensogar zu einer weitgehenden Symptomfreiheit.NeuroleptikaHierbei handelt es sich um starke Beruhigungsmittel(Major Tranquilizers), diesich besonders in der Behandlung von psychotischenÄngsten bewährt haben (z.B.Zyprexa, Haldol oder Clopixol).In niedriger Dosierung können mancheNeuroleptika aber auch bei ängstlich-depressivenStörungen ohne psychotischeSymptome eingesetzt werden (z.B. Truxal,Deanxit).Betablocker bewähren sich bei leichtenÄngsten mit starken vegetativen Symptomen(z.B. Prüfungsangst).Pflanzliche Heilmittel wirken besondersbei leichteren Ängsten. Allerdings istzu beachten, dass auch pflanzliche HeilmittelNebenwirkungen haben können. Zuwarnen ist vor Mischungen aus Übersee,die auch aktive Medikamente enthaltenkönnen, die nicht ohne Risiko sind.- Kava-Kava-Extrakt- Baldrian- Hopfen- Johanniskraut- «Nerventee» (eine Mischung von Kräuternund Aromastoffen)Weitere Informationen:Benkert O. : Psychopharmaka. Medikamente - Wirkung -Risiken. Beck.37


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENPrüfungsangst bewältigenWie eine Studie in Mannheim zeigte,litten 73 Prozent der Studierenden unterLeistungsängsten, 64 Prozent machtensich Sorgen um die berufliche Zukunft, 54Prozent hatten massive Prüfungsängste.Wie kann man ihnen hilfreich begegnen?Folgende Punkte haben sich in einem Programmder Mannheimer PsychotherapeutischenBeratungsstelle für Studierende(PBS) bewährt:1. Diagnostik und Aufklärung– Was denke, fühle, tue ich vor und inder Prüfung?– Gibt es körperliche Begleiterscheinungen?– Kurz- und langfristige Konsequenzendes Verhaltens (Reaktion der Eltern beischlechter Note, Bewertung von Leistungin der Familie)– Übergeordnete Überzeugungen der/des Ratsuchenden («Ob ich die Prüfungbestehe oder nicht, hängt in erster Li‐nie vom Glück ab.» – «Wenn ich keineguten Leistungen bringe, mag manmich nicht mehr.»)– Aufklärung über Angst- und Stressreaktionen.Ziel: «Mystifizierungen»abschwächen, beitragen zu einer realistischerenund gelasseneren Sicht dereigenen Symptome.2. Zeitmanagement undLernstrategien– Lern- und Arbeitspläne erstellen (mitgenügend Puffer zum Wiederholen)– Einplanen von Belohnung, kleine undgrößere Highlights– Entspannung– Prioritäten setzen: Was ist wichtig,was weniger?– Lerntechniken und Lernstrategien erarbeiten– Umdenken: Misserfolgserwartungenund Selbstabwertung hinterfragen,positive Selbst-Einreden3. Prüfungsstrategie– Planen der Prüfungsstrategie im Detail:Wie verbringe ich den Tag vor derPrüfung? Soll ich noch lernen? Wiekann ich mich am besten entspannen?Hilft es mir, mich mit anderen Kandidatenauszutauschen oder macht esmich noch nervöser?– Einübung im Rollenspiel: UnvorhergeseheneEreignisse, z.B. unerwarteteFragen, fehlende Seiten bei der Klausur,Blackout etc.Weitere Informationen:Wolf, Doris/Merkle, Rolf: So überwinden SiePrüfungsängste. PAL Lebenshilfe.38


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENWann ist professionelle Hilfe erforderlich?Spezielle Ausprägung der AngstDauer, Intensität, Leidensdruck, Auslöser,Auswirkungen auf das tägliche Leben.Dauer (länger als vier Wochen).Ausprägung: Wenn Ängste nicht durchein klares Ereignis ausgelöst sind, «freiflottieren», also unbestimmt und quälendsind, oft verbunden mit einer Depression.Intensität: Wenn die Ängste fast jedenTag die Lebensqualität einschränken.Ausgeprägtes Vermeidensverhalten(z.B. Vermeiden von öffentlichen Verkehrsmitteln,Einkaufen, Besuchen,Geselligkeit, Rückzug von Verpflichtungen).Psychosomatische Beschwerden, dieerhebliches Leiden verursachen undzur gehäuften Konsultation von Ärztenund Krankenhäusern oder Notfallstationenführen.Starker Leidensdruck: Dieser führt zurMotivation - «Ich brauche Hilfe».Spezielle Formen der AngstSpezifische krankhafte Ängste, insbesonderePanik, Agoraphobie, GeneralisierteAngst, Soziale Phobie.Verarbeitung von schwerwiegendenErfahrungen, die Angst ausgelöst haben(posttraumatische Belastungsstörung).Zwanghafte Ängste bei einer ZwangsstörungPsychotische ÄngsteIch lernte Catherine als 23-jährige Studentinkennen. Mehr als ein Jahr langhatte sie derart starke Ängste, dass sienicht mehr in der Lage war, über eineBrücke zu gehen, im Tram zu fahrenoder an einer Party teilzunehmen. Siesuchte eine seelsorgliche Therapeutinauf. Doch Gespräche und Gebete konntendie Blockaden nicht lösen.Catherine ließ sich überzeugen, einenVersuch mit einem Antidepressivum zumachen. Von ihrer Seelsorgerin wurdesie ermutigt, trotz Nebenwirkungen einpaar Tage durchzuhalten (ein großartigesBeispiel für die Zusammenarbeitvon Arzt und Seelsorgerin!).Die Gespräche gingen weiter, aber jetztkonnte Catherine umsetzen, was sie inder Therapie erarbeitete. Innert wenigerWochen kam es zu einer fast wunderbarenBesserung. In einem Brief anihre Seelsorgerin schrieb sie ein Jahrspäter: «Ich weiß nicht, wie ich Ihnendanken soll. Mein Leben hat sich soverändert! Wo soll ich mit Erzählen beginnen?Dass ich jetzt ohne Angst insTram steigen kann? Dass ich letzthinohne Angst nach Zürich gefahren bin,um dort an einer Geburtstagsfete teilzunehmenund erst gegen Mitternachtwieder heimgekommen bin – ohneAngst? Mir ist es noch nie besser gegangen.Ich bin unendlich dankbar undglücklich.»Allerdings hat Catherine gelernt, dasssie mit ihren Grenzen leben muss unddarauf angewiesen ist, ihre Medikamenteregelmäßig in niedriger Dosiseinzunehmen, um einem Rückfall vorzubeugen.39


DR. SAMUEL PFEIFER: ANGST – VERSTEHEN, BERATEN, BEWÄLTIGENLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitereInformationen zur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersichtist es jedoch nicht möglich, alle Aspekteausreichend zu beleuchten.André C. & Legeron P.: Bammel, Panik,Gänsehaut. Die Angst vor den anderen.Aufbau.Baer L.: Alles unter Kontrolle. Zwangsgedankenund Zwangshandlungen überwinden.Huber.Baker R.: Wenn plötzlich die Angst kommt.Panikattacken verstehen und überwinden.Brockhaus.Bandelow B.: Das Angstbuch. Rowohlt.Benkert O.: Psychopharmaka. Medikamente- Wirkung - Risiken. Beck.Blonski H.: Alte Menschen und ihre Ängste.Reinhardt.Finzen A.: Schizophrenie - Die Krankheitverstehen. Psychiatrie-Verlag.Pfeifer S.: Wenn der Glaube zum Konfliktwird. Brunnen, Basel.Pfeifer S.: Der sensible Mensch. Lebenzwischen Begabung und Verletzlichkeit.SCM Brockhaus.Riemann F.: Grundformen der Angst. Einetiefenpsychologische Studie. E. Reinhardt.Rogge J.U.: Ängste machen Kinder stark.Rowohlt.Schmitz M. & M.: Seelenfraß - Wie Sie deninneren Terror der Angst besiegen. Ueberreuter.Schröder B.: Der Weg durch die Angst. Rowohlt.Tausch R.: Gespräche gegen die Angst.Rowohlt.Von Witzleben & Schwarz: Endlich frei vonAngst. Gräfe & Unzer.Wolf D.: Ängste verstehen und überwinden.Gezielte Strategien für ein Leben ohneAngst. PAL-Verlag.Wolf D. & Merkle R.: So überwinden Sie Prüfungsängste.PAL Lebenshilfe.Wetter-Parasie J. &. L: Angst in Kraft verwandeln.Anker.Internet-RessourcenAllgemeiner Hinweis: Das Internetist ein kurzlebiges und sehr mobilesMedium. Websites kommen und gehen.Tippen Sie deshalb Ihre Frage einfach beiwww.google.de ein und Sie werden aktuelleInformationen finden!Das größte Lexikon im Netz findet manunter http://de.wikipedia.org.40


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENBORDERLINEEmotional Instabile PersönlichkeitsstörungDiagnose - Therapie - Seelsorge4


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENInhaltWie erleben sich Borderline-Betroffene? .................................................2Geschichte des Begriffs .............................................................................3Diagnostische Kriterien.............................................................................5Borderline muss nicht Schicksal sein........................................................7Fragebogen für Borderline-Störungen .....................................................8Ursachen der Borderline-Störungen .......................................................11Verwandte Persönlichkeitsstörungen ....................................................12Psychotische Durchbrüche .....................................................................13Borderline und Sexualität .......................................................................15Selbstverletzung ......................................................................................16Suizidalität ...............................................................................................19Marilyn Monroe - ein klassisches Beispiel .............................................20Multiple Persönlichkeit (Dissoziative Identitätsstörung) ....................22Hospitalisation von Borderline-Patienten .............................................24Pharmakotherapie....................................................................................25Überlegungen zur Therapie .....................................................................26Gruppentherapie.......................................................................................29Katastrophenliste ....................................................................................30Beispiel für einen Therapievertrag .........................................................31Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach M. Linehan ....................32Borderline und Seelsorge.........................................................................35Dämonische Einflüsse? ............................................................................36Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger ............................................37«Trotzig und verzagt»...............................................................................37Was müssen seelsorglich Tätige beachten?............................................39Weiterführende Literatur und Internetadressen....................................405


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENAchterbahn der GefühleBorderline - von diesem Wort geht eineeigene Faszination aus. Borderline, dasbedeutet eigentlich Grenzlinie. Doch umwelche Grenzen handelt es sich, wenn wirvon Borderline-Störungen und von Borderline-Patientensprechen?Das vorliegende Heft beschäftigt sichmit diesen Grenzgängern besonderer Art.Verschiedene Autoren haben versucht, dasWesen von Borderline-Störungen in Metaphernzu fassen, etwa «Ich hasse dich, verlaßmich nicht!» oder «Wenn Hass und Liebesich umarmen». In Kommentaren und Essayswird die Borderline-Störung als typischeStörung unserer Zeit beschrieben.Neuere Verlaufsforschungen geben unsaber auch Hoffnung: Eine Borderlinestörungmuss nicht Schicksal sein. Eine Studiezeigte, dass sich die Diagnose Borderlinenach sechs Jahren nur noch bei 30 % derPatienten stellen ließ. Bei 70 % hatte sichdie Symptomatik deutlich zurückgebildet(vgl. S. 7).Dieses Heft hat zum Ziel, Verständnisfür betroffene Menschen zu wecken undAngehörigen und Helfern in der Begleitungvon Borderline-Patienten zu helfen.Dr. med. Samuel PfeiferUnd in der Tat widerspiegelt sich dieBefindlichkeit des modernen Menschen inihrer Zerrissenheit und Unbeständigkeit, inihren Abgründen und ihrer Traumatisierung,in ihrer Vielgestaltigkeit und Unberechenbarkeit.Bei Menschen mit einer Borderline-Störungbegegnen uns höchst widersprüchlicheGefühle zwischen Anlehnungsbedürftigkeitund schroffer Zurückweisung, zwischenEigensucht und Selbsthass, zwischenVerletzlichkeit und Selbstverletzung, Rückzugund Sehnsucht nach Gemeinschaft, Lebenshungerund Todeswunsch.Eines ist sicher: Menschen mit einer psychischenInstabilität vom Borderline-Typusleiden sehr unter ihren Schwankungen, ihrenseelischen Verletzungen und den häufigenZeiten innerer Leere. Gleichzeitig stellensie auch eine große Herausforderung anArzt, Seelsorger und Bezugspersonen dar.«Für die Borderline-Persönlichkeitist ein großerTeil des Lebens eine unbarmherzigeemotionaleAchterbahnfahrt ohneoffensichtliches Ziel.»Prof. Jerome Kroll1


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENWie erleben sich Borderline-Betroffene?Entfremdung:Ich hatte viele Freunde, aber ich habemich nie als Teil der Gruppe erlebt.Schon als ich in den Kindergarten ging,hatte ich den Eindruck, ich gehöre nichtzu den anderen.Vielleicht sondere ich mich von denanderen ab, weil ich mich schon ständigso anders fühle.Gefühl der Unfähigkeit:Das ist schon ganz lange so bei mir, solange ich mich zurückerinnern kann. . . schon in der Schule habe ich michimmer mit den anderen verglichen, undich habe nie jemand getroffen, demgegenüber ich mich gleich oder bessergefühlt hätte. Selbst der letzte Menschauf der Straße hat etwas an sich, dasihn besser macht als mich. Nicht dassich etwas Schlechtes getan hätte; esscheint als wäre ich da hinein geborenworden.Ich kann es nicht erklären, aber . . . dufühlst dich so nutzlos, wertlos . . .Verzweiflung:Am liebsten würdest du sterben. Dumöchtest einfach raus aus diesem Leben,raus aus dem Schmerz. Ich glaubenicht, dass es irgendetwas oder irgendjemandgibt, der mir helfen könnte,mich anders zu fühlen.Ich wünsche das keinem anderen. Wennjemand sagen würde, du kannst es loswerden,indem du es jemand anderemabgibst, ich weiß nicht, ob ich’s tunwürde, nach all dem, was ich durchgemachthabe.Ich weiß nicht, ob ich den Schneid habe,mir das Leben zu nehmen. Oft denkeich daran, mindestens einmal pro Woche.Ich habe so ein schlechtes Selbstwertgefühl.Ständig vergleiche ich mich...ich habe den Eindruck, jedermann seimir überlegen. Und ich bin einfachnichts wert.Ich habe immer den Eindruck, mir fehleetwas, und so schaue ich auf andere: Inmeinem Kopf läuft ein ständiger Bürgerkriegab – wer ich sein möchte undmit wem ich vorlieb nehmen muss.2


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENGeschichte des BegriffsErste Erwähnung durch Adolph Stern 1938: eine Gruppe von Patienten , die nicht in diediagnostischen Kategorien der klassischen Neurosen und der primären Psychosen zupassen schienen. Diese Patienten waren zwar offenbar kränker als andere neurotischePatienten, aber sie zeigten keine wahnhafte Deutung der Umwelt wie etwa schizophreneMenschen.Vordergründig neurotisch, aber mangelndeStabilität, Identität und deutlich unreifereAbwehr- bzw. Bewältigungsmechanismen.Neigung zu einschiessender Suizidalität.Vordergründig psychotisch, aber oft erstaunlicheErholung, danach ein Muster vonInstabilität und neurotischen Symptomen.Hier wurde manchmal der Begriff «pseudoneurotischeSchizophrenie» verwendet.Vordergründig depressiv, aber im Gegensatzzur tiefen Traurigkeit und Apathiedes durchschnittlich Depressiven, rascheStimmungsschwankungen, einschießendeSuizidalität und ausgeprägt wechselhafteBeziehungsmuster, die Angehörige und Betreuerin Atem hielten.1968 beschrieben Grinker et al. vier Untertypendes Borderline-Syndroms:Eine schwer leidende Gruppe, die an derGrenze zur Psychose lag.Eine «Kern-Borderline»-Gruppe, mitstürmischen zwischenmenschlichenBeziehungen, intensiven Gemütszuständenund einem Gefühl chronischerLeere.Eine «Als-ob»-Gruppe, die sich leichtvon anderen beeinflussen ließ, und deres an einer stabilen Identität fehlte.Eine leicht beeinträchtigte Gruppemit geringem Selbstvertrauen, die andas neurotische Ende des Spektrumsgrenzte.3


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENVier BegriffeBorderlinestruktur,Borderlineniveau (BorderlinePersonality Organization):Hierbei handelt es sich um den am weitestengefaßten Borderlinebegriff. Kernbergbenutzt ihn zur Bezeichnung einerPatientengruppe mit schwerer Charakterpathologie,die weder psychotisch nochneurotisch ist. Sie sind gekennzeichnetdurch eine instabile Identität, das Vorherrschen«primitiver» Abwehrmechanismen(Spaltung, Verleugnung, projektive Identifikation).Normalerweise haben sie eineintakte Fähigkeit zur Realitätsprüfung,wobei es in bedrohlichen und «unstrukturierten»Situationen zu einem Versagen derRealitätsprüfung kommen kann.Borderline-Syndrom:Dieser Begriff kann als Oberbegriff für diefolgenden beiden Zustände mit konkretbeobachtbarer Borderline-Symptomatikaufgefaßt werden. Er bezeichnet das konkretam Patienten beobachtbare Zusammentreffenverschiedener Symptome wieImpulsivität, selbstschädigendes undmanipulatives Verhalten etc., ohne dasseine Aussage über eine tiefere durchgehende(«ich-strukturelle») Störung oder einepisodisches Auftreten gemacht wird.Borderline-Zustände(„Borderline States”)Borderline-Zustände stellen eine kurzfristigeDekompensation von ansonsten gutstrukturierten Patienten dar, die in charakteristischenSituationen einer besonderenNähe zum innerpsychischen «traumatischenBereich» auftritt.Borderline-Persönlichkeitsstörungnach derDefinition des DSM-IV(vgl. S. 5). Anhand der neun Kriterien lässtsich bei den Betroffenen eine Persönlichkeitsstörungbeschreiben, die von anderenStörungen klar abgrenzbar und zeitlichüberdauernd ist, indem sie ein immer wiederauftretendes Muster darstellt.adaptiert nach Bohus4


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENDiagnostische KriterienNeun Kriterien nachDSM-IV *Durchgängiges Muster von— Instabilität der zwischenmenschlichenBeziehungen— Instabilität des Selbstbildes— Instabilität im Bereich der Stimmung— ausgeprägter Impulsivität mit Beginnin der frühen ErwachsenenzeitMindestens fünf derfolgenden Kriterien:1. Verzweifeltes Bemühen, ein reales oderimaginäres Alleinsein zu verhindern.2. Ein Muster von instabilen, aber intensivenzwischenmenschlichen Beziehungen,das sich durch einen Wechsel zwischen denbeiden Extremen der Überidealisierung undAbwertung auszeichnet.5. Wiederholte Suiziddrohungen, -andeutungenoder -versuche oder andere selbstverletzendeVerhaltensweisen.6. Instabilität im affektiven Bereich, z.B.ausgeprägte Stimmungsänderungen vonder Grundstimmung zu Depression, Reizbarkeitoder Angst, wobei diese Zuständegewöhnlich einige Stunden oder, in seltenenFällen, länger als einige Tage andauern.7. Chronisches Gefühl der Leere oder Langeweile.8. Unangemessene, starke Wut oder Unfähigkeit,die Wut zu kontrollieren, z.B. häufigeWutausbrüche, andauernde Wut oderPrügeleien.9. Vorübergehende, durch Stress ausgelösteparanoide Gedankengänge oder dissoziativeSymptome.3. Ausgeprägte und andauernde Identitätsstörung,die sich in Form von Unsicherheitin mindestens zwei der folgendenLebensbereiche manifestiert:— Selbstbild— sexuelle Orientierung— langfristige Ziele oder Berufswünsche— Art der Freunde oder Partner— in persönlichen Wertvorstellungen4. Impulsivität bei mindestens zwei potentiellselbstschädigenden Aktivitäten,z.B. Geldausgeben, Sexualität, Substanzmißbrauch,rücksichtsloses Fahren undFreßanfälle.DSM-IV = Diagnostisches und Statistisches Manualpsychischer Störungen, 4. Revision5


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENBeschreibende KriterienAspekte der Stimmungslage— ständige Depressivität— ständiges Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit,Wertlosigkeit, Schuld— ständiger Zorn / häufige Zornesausbrüche— ständige Angst— ständige Einsamkeit / Langeweile / Leereaber: auch andere Persönlichkeitsstörungenzeigen diese Eigenschaften. Allerdingsscheinen Borderline-Patienten einbesonders großes Bedürfnis zu haben,ihrem Gegenüber ihre seelische Not nahezubringen.Aspekte der gedanklichenVerarbeitung— eigenartiges / verschrobenes (odd) Denken/ ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse— Nicht-wahnhafte Paranoia— quasi-psychotischerGedankengang ***Aspekte der ImpulsivitätZwischenmenschliche Aspekte— Unfähigkeit, allein zu sein— Gefühle des Verlassenwerdens / Verschlungenwerdens/ Ausgelöschtwerdens***— Gegenseitige Abhängigkeit / ernsthafterKonflikt um Hilfe und Fürsorge— Stürmische Beziehungsmuster— Abhängigkeit / Masochismus— Entwertung / Manipulation / Sadismus— fordernde Grundhaltung / Anspruchshaltung***— ausgeprägte Regression während derTherapie ***— Gegenübertragungsprobleme, «spezielle»Therapie-Beziehungen ***Besonders typische(pathognomonische) Symptome:Die mit *** gekennzeichneten Eigenschaftenbezeichnen jene Probleme, die inbesonderer Weise typisch (=pathognomonisch)für Borderline-Patienten sind.— Suchtmittel-Abusus/Abhängigkeit— sexuelle Devianz— Selbstverletzung ***— manipulative Suizid-Versuche ***— andere impulsive Verhaltensmuster(z.B. Ladendiebstahl)Literatur:Zanarini MC et al. (1990): Discriminating borderline personalitydisorder from other axis II disorder. AmericanJournal of Psychiatry 147:161–1676


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENKomorbidität (Begleitende Störungen)Borderline-Störungen sind kein isoliertesPhänomen. Die Betroffenen haben meistnoch eine ganze Palette anderer Probleme,die man in der Fachsprache «Komorbidität»nennt.Die nebenstehende Tabelle zeigt, wie häufigandere Probleme sind. Beachten Sie, dassfast bei jeder Borderlinestörung auch eineDepression (Mood Disorder) oder eineAngststörung vorliegt. Dies hat wesentlicheAuswirkungen auf den späteren Verlauf.Begleitstörung %Depression (Mood Disorder) 97 %Sucht (substance abuse disorder) 62 %Posttraumatische Störung 58 %Andere Angststörungen 89 %Essstörungen 54 %Langzeitverlauf:Borderline muss nicht Schicksal sein«Der Verlauf einer Borderline-Störung ist inder Regel langwierig bis chronisch. ManchePatienten gleiten im Laufe ihrer Krankheittatsächlich in eine ‹richtige› (schizophrene)Psychose ab. Die Prognose (Heilungsaussichten)ist eher ungünstig... Borderline-Störungen werden weiter zunehmen. Offensichtlichsind sie auch ein Teil-Ergebnis unserergesellschaftlichen Entwicklung.»(Prof. Dr. med. V. Faust)Diese negative Einschätzung der Heilungsaussichteneiner Borderlinestörung ist weitverbreitet. Umso ermutigender ist eineLängsuntersuchung von Borderline-Patienten,die von einem Team um Frau Prof.Mary Zanarini in Harvard durchgeführt undim renommierten «American Journal of Psychiatry»veröffentlicht wurde. Dabei zeigtesich, dass von 290 Patienten, die wegeneiner Borderlinestörung stationär aufgenommenworden waren, nach 6 Jahren bei202 von ihnen (= 70 %) diese Störung nichtmehr bestand.Welches waren nun die Faktoren, die einenguten Verlauf erhoffen liessen? Die gebessertenPatienten hatten deutlich— weniger Suchtprobleme,— weniger posttraumatische Störungen,— weniger Angststörungen und— weniger Essstörungenals die 88 Patienten, bei denen auch nach 6Jahren weiterhin eine Borderline-Diagnosegestellt werden musste.Hingegen fand sich auch bei denjenigen,die «remittiert» waren, in 69 % der Fälle einedepressive Erkrankung (mood disorder).Dies ist einer der Gründe, warum mancheAutoren die Borderline-Persönlichkeitsstörungals eine spezielle Form der depressivenErkrankungen betrachten, bei der eine besondersinstabile Stimmungslage das Bildbeherrscht.Literatur:Zanarini M.C. et al. (2010). Time to attainment of recoveryfrom borderline personality disorder and stability ofrecovery: A ten-year prospective follow-up study. AmericanJournal of Psychiatry 167:663-667.7


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENFragebogen für Borderline-StörungenAnleitung:Die folgenden Sätze umschreiben Gedanken, Gefühle und Erfahrungen, die manche Menschenhäufiger als andere machen. Bitte lesen Sie jeden Satz durch und kreuzen Sie diejenigeAntwort an, die für den Zeitraum der letzten Woche am ehesten für Sie zutrifft.Ja Nein1. Ich habe nie das Gefühl dazuzugehören. O O2. Ich habe Angst, verrückt zu werden. O O3. Ich möchte mich selbst verletzen. O O4. Ich habe Angst, enge persönliche Beziehungen einzugehen. O O5. Oft scheint jemand zuerst großartig, doch dann werde ich von der O OPerson enttäuscht.6. Menschen enttäuschen mich häufig. O O7. Ich habe den Eindruck, dass ich mit dem Leben nicht fertig werde. O O8. Es scheint lange her, seit ich mich zuletzt glücklich gefühlt habe. O O9. Ich fühle mich innerlich leer. O O10. Ich habe den Eindruck, dass mein Leben außer Kontrolle geraten ist. O O11. Ich fühle mich meistens einsam. O O12. Ich bin eine andere Person geworden, als ich sein wollte. O O13. Ich habe Angst vor allem Neuen. O O14. Ich habe Schwierigkeiten, mich an Dinge zu erinnern. O O15. Es ist schwer für mich Entscheidungen zu treffen. O O16. Ich habe das Gefühl, dass um mich herum eine Wand ist. O O17. Ich bin oft nicht ganz sicher, wer ich bin. O O18. Ich habe Angst vor der Zukunft. O O19. Manchmal habe ich das Gefühl auseinanderzufallen. O O20. Manchmal habe ich Angst, in der Öffentlichkeit ohnmächtig zu werden. O O21. Ich habe nie soviel erreicht, wie ich eigentlich könnte. O O22. Ich fühle mich, als würde ich mich selbst dabei beobachten, wie ich O Oeine Rolle spiele.23. Meine Familie wäre besser dran ohne mich. O O24. Ich denke immer mehr, dass ich überall den „Kürzeren“ ziehe. O O25. Ich kann nicht sagen, was ich als nächstes tun werde. O O26. Wenn ich mich in eine Beziehung einlasse, fühle ich mich wie in einer Falle. O O27. Keiner liebt mich. O O28. Ich kann oft nicht unterscheiden, was wirklich passiert ist und was ich O Omir nur eingebildet habe.29. Die Menschen behandeln mich wie „ein Ding“. O O30. Manchmal kommen eigenartige Gedanken in meinen Kopf und ich O Okann sie nicht loswerden.8


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENJa Nein31. Ich habe den Eindruck, dass mein Leben hoffnungslos ist. O O32. Ich habe keinen Respekt vor mir selber mehr. O O33. Ich scheine in einem Nebel zu leben. O O34. Ich bin ein Versager. O O35. Es macht mir Angst, Verantwortung für jemanden zu übernehmen. O O36. Ich habe den Eindruck, dass ich nicht gebraucht werde. O O37. Ich habe keine wirklichen Freunde. O O38. Ich habe den Eindruck, dass ich mein eigenes Leben nicht im Griff habe. O O39. Ich fühle mich in einer Menge unwohl (z.B. beim Einkaufen oder im Kino). O O40. Ich habe Schwierigkeiten Freundschaften zu schließen. O O41. Es ist zu spät zu versuchen, eine eigenständige Person zu werden. O O42. Es ist schwer für mich, einfach still zu sitzen und zu entspannen. O O43. Ich habe den Eindruck, als ob andere Menschen mich lesen könnten O Owie ein offenes Buch44. Ich habe oft das Gefühl, dass jetzt gleich etwas geschehen wird. O O45. Ich werde von Mordgedanken geplagt. O O46. Ich fühle mich oft nicht sicher, ob ich eine wirkliche Frau O O(ein wirklicher Mann) bin.47. Ich habe Schwierigkeiten, Freundschaften aufrechtzuerhalten. O O48. Ich hasse mich selbst. O O49. Ich habe oft Sex mit Menschen, die mir nichts bedeuten. O O50. Ich habe Angst auf weiten Plätzen und Straßen. O O51. Manchmal rede ich einfach, um mich zu überzeugen, dass ich existiere. O O52. Manchmal bin ich nicht ich selber. O OBeachte:Zählen Sie die Anzahl Ja-Antworten.Es ergaben sich folgende Mittelwerte:Borderline-Patienten 23,87Anpassungsstörungen 06,83Psychotische Depression 22,67Schizophrenie 16,00Reaktive Depression 17,13Persönlichkeitsstörungen 16,32Der Fragebogen darf allein nicht die Grundlagefür die Diagnose einer Borderline-Störung sein, aber ein hoher Wert ergibtzusammen mit dem klinischen Eindruckdoch einen deutlichen Hinweis auf eine solcheStörung.Als zuverlässigstes Instrument gilt heute das16-seitige Diagnostische Interview für dasBorderlinesyndrom (DIBS-R), Beltz, Weinheim.Quelle: Conte H. R. et al. (1980):A Self-Report Borderline Scale. Journal of Nervous andMental Disease 168:428–435.9


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENMissbrauch der DiagnoseDas Aufkommen der Borderline-Diagnoseführte zeitweise dazu, dass alle Patienten,die vom Therapeuten als schwierigempfunden wurden, als «Borderliner»(abqualifiziert wurden. Dies ist besondersdort problematisch, wo eine behandlungsbedürftigeDepression vorliegt, die dannnicht ausreichend behandelt wird. Reiser& Levenson (1984) haben folgende Formendes Mißbrauchs zusammengestellt:– Ausdruck von Hass in der Gegenübertragung– Verschleierung von unpräzisem Denken– Entschuldigung für Therapie-Versager– Rechtfertigung für therapeutische Zurückhaltung– Abwehr gegenüber sexuellen Gesprächsinhalten– Verhinderung einer medikamentösenBehandlungSchwarz-Weiß-DenkenBorderline-Persönlichkeiten neigen dazu,alles in Schwarz/Weiß zu sehen. Es gibt fürsie wenig Zwischentöne. Entweder stehtjemand ganz auf meiner Seite, oder er istgefährlich für mich. Entweder fühle ichmich rundum wertvoll, oder ich bin überhauptnichts wert. Oft finden sich auch inder Persönlichkeit derartige Widersprüche,zwischen denen die Betroffenen abrupt hinundherschwanken. Die Abbildung zeigt einigeder Gegenpole:Quelle:Kreisman & Straus: Ich hasse dich –verlass mich nicht. Kösel.10


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENUrsachen der Borderline-Störung1.Erbliche Anlage (Disposition)– gehäuftes Vorkommenschwerer psychischer Störungen in derunmittelbaren Verwandtschaft – gehäuftpsychische Erkrankung beider Elternteilemit entsprechenden sozialen Folgen.2.Verluste in der Kindheit – gehäuftVaterverlust durch Scheidungund Tod – häufiger Fremdplazierung, Adoption.3. Familien-konstellation –schlechter organisiert, weniger Zusammenhalt– mehr feindseliger Konflikt.4.Traumatisierung in der Kindheit– 35 – 70 %, je nach Schweregrad– sexueller Mißbrauch – körperlicheund emotionale Mißhandlung – Zeuge vonelterlichem Streit.Vorsicht:Obwohl sich in der Vorgeschichte vielerBorderline-Persönlichkeiten eineTraumatisierung in der Kindheit findet,lassen sich daraus zwei Dinge nichtableiten:a) Nicht jede Traumatisierung in derKindheit führt zu einer Borderline-Störung.b) Nicht jede Borderline-Persönlichkeitweist in der Kindheit eineTraumatisierung auf.11


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENVerwandte PersönlichkeitsstörungenOft ist es in der Psychiatrie nicht einfach,eine klare Diagnose zu stellen.Gerade die Borderline-Störung ist so schillernd,dass sie in ein und derselben Personauf ganz unterschiedliche Weise zumAusdruck kommen kann. Die Berührungspunktezu Depression, Angst und Psychosewurden schon dargestellt. Dazu kommenverschiedene Persönlichkeitsstörungen, dieähnliche Eigenschaften zeigen können, wiesie bei Borderlinestörungen auftreten:Histrionische Persönlichkeitsstörungen:Auch hier trifft man das Verlangen nachAufmerksamkeit, manipulatives Verhaltenund rasch wechselnde Stimmungen. Borderline-Persönlichkeitsstörungenunterscheidensich durch die Selbstzerstörung,zornige Ausbrüche in nahen Beziehungenund chronische Gefühle von tiefer Leere undEinsamkeit.Schizotype und paranoide Persönlichkeitsstörungenzeigen zwarauch paranoide Ideen und schwer nachvollziehbareIllusionen. Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungengehen diese raschvorbei und sind stärker von der aktuellenBeziehungs-Situation abhängig.Narzisstische Persönlichkeitsstörungen:Auch hier kommt es zurascher Kränkbarkeit durch kleine Auslöser,aber es fehlt die tiefe Angst vor demVerlassenwerden, zudem auch die Selbstaggressionund Impulsivität.Antisoziale Persönlichkeitsstörungenzeigen ebenfallsmanipulatives Verhalten. Im GegensatzAntisozialePersönlichk.Schizoide /paranoidePersönlichk.PsychosenNarzisstischePersönlichk.Borderline-StörungAngstHistrionischePersönlichk.Depressionzu Borderline-Patienten manipulieren siejedoch, um Gewinn, Macht oder anderenmateriellen Besitz zu erreichen. Borderline-Betroffenesuchen eher die Aufmerksamkeiteiner fürsorglichen Person.Abhängige (dependente) Persönlichkeitsstörungen:Auch hierbesteht eine Angst vor dem Verlassenwerden;jedoch reagieren Menschen mit einerBorderline-Persönlichkeitsstörung mitGefühlen einer tiefen Leere, Wut und Forderungen,während dependente Menschenmit zunehmender Beschwichtigung undUnterwerfung reagieren, um bald wiederin eine haltende Beziehung zu gelangen.Zudem fehlt das typische Muster der Instabilitätvon Borderline-Patienten.DependentePersönlichk.12


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENPsychotische DurchbrücheUnter Stress kann es bei Borderline-Patientenzu psychoseartigen Erlebnissenkommen. Diese dauern nur kurz und dürfennicht mit einer Schizophrenie gleichgesetztwerden. Zwei Beispiele sollen diese Formvon psychotischen Durchbrüchen illustrieren:a) paranoide Beschuldigungengegen UmgebungElisabeth, eine 29-jährige Sozialarbeiterin,verheiratet mit einem Sozialarbeiter,2 Kinder, allgemein stürmische Ehebeziehung.Nach einem Ehestreit zieht der Ehemannaus dem gemeinsamen Schlafzimmeraus und schläft im Büro. Die Frau bleibtallein zurück, mit einem zunehmenden Gefühlder Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit.Zuerst fällt sie in einen unruhigenSchlaf.Nachts um 2 Uhr steht sie wieder auf, vorHorror versteinert in der Gewißheit: «MeinMann will mich umbringen». Sie rennt imNachthemd durch die Straßen, schreit lautum Hilfe, findet schließlich in panischerAngst eine Telefonzelle, von wo sie die Polizeianruft, die bei einem Augenschein denEhemann wirklich im Büro antrifft, selbstsehr deprimiert, ohne Anzeichen für einebegründete Angst der Patientin.ABBILDUNG: Dieses Bild einer jungenFrau mit einem Borderline-Syndrom illustrierteindrücklich die Angst vor dem psychotischenVerschlungen-werden. Es wurdegemalt nach einer Begegnung mit ihremVater, der sich vor Jahren von ihrer Mutterhatte scheiden lassen und der ihr in derKindheit oft sehr gewalttätig begegnet war.b) Vorübergehende WahrnehmungsundErlebnisstörungDagmar, eine 27-jährige, erfolgreicheund gutaussehende TV-Journalistin, alleinerziehendeMutter einer 5-jährigen Tochter,wird von ihrem Ex-Mann, einem Möbel-Designer,bedrängt, ihm das Kind für drei Wo-Fortsetzung Seite 1413


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENFortsetzung von S. 13: Psychotische Durchbrüchechen in die Ferien zu geben.Er wolle es zusammen mit seiner neuenFreundin mit in den Urlaub nach Gran Canaria nehmen. Doch die Kleine möchte nurmit ihrem Mami in die Ferien. Dagmar hateine intensive Auseinandersetzung mit ihremEx-Mann. Es brechen wieder intensiveErinnerungen an die Zeit mit ihm auf. Siekann nicht mehr schlafen, hat plötzlich wiederdas Reissen nach Drogen, sieht die ganzeUmgebung «wie durch Zellophan» undentwickelt panische Angst.Nach der Klärung des Konflikts und unterder kurzfristigen Behandlung mit einemantipsychotischen Medikament beruhigtsie sich innerhalb weniger Tage und ist wiederin der Lage, ihre anspruchsvolle Aufgabemit ihrem bekannten Lächeln am Bildschirmzu erfüllen.Meist lassen sich psychotische Episodendurch klärende Gespräche, eine allgemeineBeruhigung der Situation und durchmedikamentöse Unterstützung wiederauffangen.Beachte:In den beiden Fallbeispielen bestand einevorbestehende (prämorbide) Persönlichkeitmit emotionaler Instabilität. Beide habenaber das Leben erstaunlich gut gemeistert.Beide leben in spannungsgeladenen Paarbeziehungen.Der akute Stress von Auseinandersetzungenführte schließlich zur Dissoziation,zur psychotischen Entgleisung.Die Malerin des Bildes erlebte durch die Begegnungmit ihrem Vater ein Wiederaufflammender schweren emotionalen Wundenihrer Kindheit, die sie emotional nichtmehr verkraften konnte. Meist lassen sichsolche psychotische Episoden durch klärendeGespräche, eine allgemeine Beruhigungder Situation und durch medikamentöseUnterstützung wieder auffangen.14


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENBorderline und SexualitätNeben vielen anderen Bereichen ist beiBorderline-Patienten die Sexualitätin besonderem Masse betroffen. Die folgendenZitate sind abgewandelte Aussagenvon betroffenen Frauen:«Der einzige Weg, wie ich mir Beziehungenerkaufen kann, geht über meinen Körper.Obwohl ich mich selbst häßlich finde, sagenmir die Männer immer wieder, wie attraktivich sei. Schon als Teenager haben sie ständigversucht, mich zu begrapschen. Meinen einzigenOrgasmus hatte ich beim Petting mit17, danach nie mehr. Ich verachte mich fürmeine ständig wechselnden Beziehungen.Einerseits ist es ein Gefühl der Macht, Männeranmachen zu können, andererseits willich gar keinen Sex, nur Nähe und Geborgenheit.Aber ich glaube, um Liebe zu erhalten,muss ich alles tun, was die anderen wollen,sonst verlassen sie mich.»(eine 35-jährige geschiedene Frau)zärtlich . . . Ich hatte ein paar Männerbeziehungen,aber ließ einfach mit mir geschehen,was sie wollten. So war ich wenigstensnicht allein. Heute lebe ich mit einer Frauzusammen. Ich weiß nicht, ob ich lesbischbin, aber das kommt ganz darauf an, wer mirgerade Liebe gibt.»(Die heute 38-jährige Tochter einerSchauspielerin)«Mit meinem Mann habe ich eigentlich einegute Beziehung, auch im sexuellen Bereich.Aber als ich diese Krise hatte, da verlor ichjeden inneren Halt. Ich wollte sterben, oderhinaus auf die Straße, um Drogen einzukaufen.Mein Körper schrie nach Zuwendung,aber meinen Mann stieß ich von mir. Ichwanderte nachts ziellos durch die Straßen,bis in die Rotlichtviertel – und es wäre miregal gewesen, mit irgendjemandem in dieWohnung mitzugehen.»(eine 32-jährige Pfarrfrau während einerBorderline-Krise)«Ich habe so einen Mangel an Zärtlichkeit,dass ich mich gar keinem Mann zuwendenkann, obwohl dies längst mein Wunsch ist.Denn Männer habe ich noch nie zärtlichund liebevoll erlebt. Das erste Mal wurdeich von meinem Halbbruder vergewaltigtund später ließ ich alles willenlos über michergehen, obwohl ich es gar nicht wollte.»(eine 30-jährige ledige Hilfspflegerin)«Sexualität habe ich schon früh erlebt, zufrüh, durch den Freund meiner Mutter. Sieschimpfte mich immer an, weil ich ihrenWünschen nach einer neuen Karriere im Wegestand. Er hingegen war zärtlich zu mir, zu15


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENSelbstverletzungFormen der Selbstverletzungbei 240 FrauenSchnitte 72 %Hautverbrennungen(z.B. mit Zigaretten) 35 %Schlagen von Körperteilen 30 %Verhindern der Wundheilung 22 %Kratzen 22 %Haar-Ausreißen 10 %Knochenbrüche 8 %Verletzte Körperteile:Arme, spez. Unterarme und Handgelenke(74 %), Beine (44 %), Bauch (25 %),Kopf (23 %), Brust (18 %),Geschlechtsteile (8 %).(nach Favazzo & Conterio 1989)«Schneid-Sucht»Langsam schleicht sichder Gedanke bei mir ein.Zuerst leise, dann immer lauter.Schneide dich,und es wird den Schmerz, der in dirist, übertönen.Das hämische Gelächterläßt mich nicht mehr los,bis ich tief verletzendmich geschnitten habe... ** Auszug aus dem Gedicht einer betroffenen PatientinSelbstverletzungen sind bei Menschenmit Borderline-Störungen häufig, dochsie erfolgen in der Regel nicht als Suizidversuch.Vielmehr dienen sie den Betroffenendazu, «sich selbst zu spüren». Häufigerleben die Betroffenen vor der Selbstverletzungeinen intensiven inneren Konflikt,die Erinnerung an belastende Ereignisse,eine Enttäuschung oder eine aktuelle neueseelische Verletzung. Sie berichten häufig,dass sie sich dann nicht mehr spüren, jaAngst haben, sich zu verlieren (Dissoziation,Depersonalisation). Dieses Gefühl derTaubheit und der Entfremdung kann auchals Schutz dienen, unter dem intensivenseelischen Schmerz nicht zu zerbrechen.Allerdings kann sich das Muster suchtartigverselbständigen, sodass es oft auch ohnedie ursprünglichen Auslöser auftritt. Dabeispielen zwei Faktoren eine Rolle:a) Entlastung: Die Selbstverletzung mindertden seelischen Schmerz;b) Manipulation: Sie merken, dass sie mitihrer Selbstverletzung die Umgebung(Eltern, Vorgesetzte, Betreuer) in Alarmversetzen und etwas erreichen können.16


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENHistorische Aspekte der SelbstverletzungAus der Geschichte sind Beispiele vonSelbstverletzung (SV) bekannt. Dabeiist zu unterscheiden zwischen Selbstverletzungen,die Bewunderung einbrachten undsozial akzeptiert wurden, und denjenigen,die auf Ablehnung stießen. Sozial akzeptiertwurden historisch SV-Handlungen oftaus religiösen Motiven:Indianische Krieger ritzen sich blutig, umRegen zu erbitten; Hindus lassen sich an re-ligiösen Festen in Trance Speere durch dieWangen stecken und Haken an die Brusthängen, um ihren Göttern zu gefallen; imMittelalter zogen «Flagellanten» durch Europa,die sich öffentlich geißelten, um fürdie Sünden des Volkes Buße zu tun und diePest abzuwehren.Unterschiede zur Selbstverletzung heuteVERGLEICHE:— SV wird vor allem von jungen Frauenpraktiziert— SV wird in einem Zustand erhöhteremotionaler Erregung begangen— Das Ziel ist es, einen anderen Bewußtseinszustandoder eine Stimmungsveränderungzu erreichen.— Es gibt einen wichtigen öffentlichenFaktor bei SV-Handlungen: Die sichselbst verletzende Person zeigt ihreWunden in der Öffentlichkeit, und dieGesellschaft reagiert darauf, indem siegleichzeitig für die SV-Person sorgt, siebeschützen will, aber sie auch kritisiertund abwertet.— Oft wird die SV-Person für nicht vollverantwortlich betrachtet, weil sieentweder in Trance (Mittelalter) oder inDissoziation (heute) ist.UNTERSCHIEDE:1. Die selbstverletzende Person im Mittelalterwurde geprägt durch das Bildvom gekreuzigten Christus, währenddie moderne Person durch das Bild desmissbrauchten Kindes verfolgt wird.2. Das Ziel der mittelalterlichen Askesebzw. SV war es, die geistigen Hindernisseund die fleischlichen Lüstezu kreuzigen, die die Person von dermystischen Einheit mit Gott abhielten.Das moderne Ziel ist es hingegen, zerstörerischeBilder und quälende Erinnerungenzum Verschwinden zu bringen,die eine Person daran hindern, einenfriedlichen Seelenzustand zu erreichen.(nach Kroll, 1993)17


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENTherapeutisches Vorgehenbei SelbstverletzungA. BEZIEHUNG AUFBAUENUND ERHALTEN– Verständnis zeigen– Ruhig bleiben– Umdeutung (Reframing) der Selbstverletzungals Ausdruck von Gefühlen– Vermeiden von Drohungen undVersprechungen– Grenzen setzen und einhalten– Der Patientin die Verantwortungbelassen– In der therapeutischen Beziehungbleiben.B. DIE GEWOHNHEIT DURCHBRE-CHEN– Mit den «Entzugssymptomen» umgehen(z.B. Klavierspielen statt Schneiden).– «Notfall-Mittel» anwenden lernen(siehe unten).– Die Entschlossenheit zur Veränderungverstärken.C. VERÄNDERUNGEN AUFRECHTERHALTEN– Belohnung für neues Verhalten– Verminderung der Medikation– Lösen von emotionalen Konflikten inreiferer Form– Umgang mit Manipulation– Trainieren von Nähe und Distanz ohneSelbstverletzung.(nach Tantam & Whittaker, 1992)Foto: Hammann, mit freundlicher Genehmigung«Notfall-Mittel»Man kann sich intensive schmerzhafteReize zufügen, ohne dabei bleibende Verletzungenzu hinterlassen, die sich in hässlichenNarben äußern würden. Das obigeBild zeigt die Sammlung solcher Mittel, diein der Klinik Sonnenhalde auf der Abteilungbereit gehalten werden. Dazu gehörenfolgende Mittel: ein Stachelball, intensivriechendes «Tiger-Balsam», würzig-scharfeChilisauce, ein Vereisungs-Spray und Bonbonsvom Typ «Fisherman‘s Friend».Die Anwendung helfen den betroffenenPatienten zur Spannungsreduktion, zur Beruhigungund zum «Distanznehmen» oderzum «Bei-mir-Sein» – einem Zurückfindenzur Gegenwart. Diesen Vorgang nenntman auch «Achtsamkeit». Die Fähigkeit, aufdiese Weise eine Selbstverletzung zu vermeiden,ist Teil der «Dialektisch-BehavioralenTherapie» nach Linehan (vgl. S. 32 –33) und wird in so genannten Skills-Gruppenvermittelt. Wenn emotional instabilePatienten diese Fähigkeit lernen, könnensie den gefährlichen Impulsen besser widerstehen.18


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENSuizidalitätSuizidalität ist die wohlschwerste Auswirkung vonBorderlinestörungen. Etwa10 bis 20 Prozent wählen diesenWeg. Oft ist die Verzweiflungüber die innere Leere, dieErinnerung an schmerzlicheErfahrungen und die Angst vorerneuten Verletzungen so überwältigend,dass die Betroffenenkeinen anderen Ausweg mehrsehen können.Suizidalität als Herausforderungan die HelferDie häufigen Suiziddrohungen und dieernsthaften Versuche können für Angehörigeund Helfer sehr belastend sein. Siesind hin- und hergerissen zwischen inneremAlarm und Sorge umdie betroffene Personund der Unmöglichkeit,ständig die Verantwortungfür deren Leben zuübernehmen. Oft entwickelnsich Erschöpfungund Rückzug bei denBetreuern, was ihnen dann wieder als Im-Stich-lassen ausgelegt wird.Bei einer ernsthaften Suizidalität ist eineHospitalisation oft der einzige Weg zurEntlastung. Somit überrascht es nicht,dass bei einer Hospitalisation in denmeisten Fällen Suizidalität oder ein Suizidversuchder Anlass für die Einweisungwaren (vgl. Studie auf Seite 24). Manchmalsind diese Aufenthalte nur kurz, weil dieSuizidalität bereits nach kurzer Zeit wiederabklingt.«Ich weiss nicht, ob ich jeden Platz finde, wo ich hingehöre,wenn es denn diesenPlatz für mich überhauptgibt. Ich werde wohl erstnach meinem Tode endlichRuhe finden.»aus dem Brief einer jungen Frau19


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGEN– ein klassisches BeispielDie bekannte Schauspielerin MarilynMonroe (1926 - 1962) verkörperte wiekaum eine Figur des öffentlichen Lebensdie Problematik von Borderline-Persönlichkeitsstörungen.Norma Jean, so ihr bürgerlicher Name,wurde als uneheliches Kind einer Frau geboren,die den größten Teil ihres Lebensin einer psychiatrischen Klinik verbringenmusste. Die Großmutter, bei der sie zuerstlebte, war ebenfalls psychisch krank undmißhandelte das kleine Mädchen. Marilynwurde von einer Pflegefamilie zur nächstenweitergereicht. Immer wieder erhielt sie dasGefühl vermittelt, sie sei unerwünscht, verachtenswertund schon als Kind allenfallsals Sexualobjekt wertvoll zu sein. «Das Kind. . . mußte sowohl unerbittlich sittenstrengePersonen als auch laszive, lüsterne Männerertragen.»Bereits mit neun Jahren wurde sie voneinem Untermieter einer Familie sexuellmißbraucht. Als sie davon ihrer Pflegemutterzu berichten wagte, schlug ihr diese insGesicht, als Strafe, weil sie «einen so anständigenMann» mit so etwas Schlimmenin Verbindung brachte. Auch in späterenJahren wurde sie immer wieder Opfer vonAnzüglichkeiten und sexuellen Übergriffendurch Jungen ihres Alters.Während sie in manchen Familien übermäßigstreng gehalten wurde, gab man ihrin anderen Familien fast zuviel Freiheiten.In einer Familie wurde sie jeden Samstag insKino geschickt. «Hier verstrickte sich dasKind in eine Phantasiewelt, hier entstanddie Frau, die später alles von sich wies, wassie in irgendeiner Form mit jener NormaJean ihrer Kindheit in Berührung brachte.. . Im Vordergrund all dieser Kindheitsjahrestand . . . ihr Trauma, vollkommenwertlos zu sein, respektlos behandelt zuwerden, nicht würdig zu sein zu existieren,unter Liebesentzug leiden zu müssen. . . Es ist nicht verwunderlich, dass diesesKind mit dem Wort Liebe nichts anzufangenwusste und zu einer Frau heranwuchs, diezwar begehrenswert war, aber doch zurückhaltendund verwundbar blieb, so dass ihrdie Männer keine Hilfe waren, auch wenn siesie noch so sehr bewunderten.»Auch später, als sie längst zum begehrtenSex-Symbol und Filmstar gewordenwar, «blieb sie ein herrenloses Gut, war eineHeimatlose. In ihren Rollen spielte MarilynMonroe immer die Kreatur, die um Verständnisfleht, die Gehorsam erweist unddabei lächerlich gemacht wird.»Einmal für den Film entdeckt, wurde sieregelrecht für den Publikumsgeschmackaufgepeppt: Blondfärbung der Haare, Zahnkorrektur,Schönheitschirurgie, und immerlächeln. . . Sie ging drei Ehen ein, und fand20


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGEN– ein klassisches Beispieldoch keine Erfüllung. Sie lehnte sich gegendie Filmbosse auf und erstritt sich ihreRechte, selbst Drehbücher und Regisseureauszuwählen.Und doch lebte sie in ihrem ständigenMinderwertigkeitsgefühl, und trug ständigintellektuelle Bücher mit sich herum, die sieoffenbar kaum verstand. Sie “unternahmalle möglichen Versuche, die schulischen,sozialen und kulturellen Mängel ihrer Kindheitzu beseitigen. Ihr Wille, Nichterlerntesnachzuholen, war sehr ausgeprägt.»Trotz vieler Erfolge holten sie die Entbehrungender Kindheit immer wieder ein.«Die Folge waren neue Qualen, neue Peinund Hoffnungslosigkeit, obwohl die Leinwandpersoneine Figur hätte sein sollen,hinter der man sich hätte verbergen können.Um Furcht und Qualen zu verdrängen,um das wahre Ich abzutöten, griff Marilynin ihrer Not zu unzähligen Barbituraten undzu großen Mengen Alkoholika, für gewöhnlichChampagner oder Wodka. Diese Fraukämpfte mit sich selbst, mit ihrem Ich. Siehatte gehofft, durch das Leinwandimagedas Gefühl der Wertlosigkeit zu verlieren,doch genau das Gegenteil trat ein.»Todeswünsche, suizidale Impulse undSuizidversuche begleiteten sie ihr Lebenlang. In einem Gedicht äußerte sie einmal:«Help Help Help, I feel life coming closer,when all I want is to die» («Hilfe Hilfe Hilfe,ich spür das Leben näher kommen, wenn ichdoch nur noch sterben möchte!»)Sie suchte Hilfe in der Psychoanalyseund in stundenlangen Telefonaten mit allenmöglichen Leuten. Sie sprach davon, inzwei Personen gespalten zu sein, die dessexy Mega-Stars Marilyn und die andere derkleinen zu kurz gekommenen Norma Jean,die so vieles nachzuholen hatte. In einemInterview sagte sie: «Ich habe das Gefühl,ich stehe neben mir. Ich fühle und höre, aberich bin es nicht wirklich.» Viele ihrer exzentrischenSzenen entsprangen einer tiefenAngst. In ihrem Notizbuch fanden sich folgendeWorte: «Wovor fürchte ich mich? Ichweiß, dass ich spielen kann. Doch ich habeAngst, sollte aber keine Angst haben.» Ihreraschen Stimmungsschwankungen, ihreReizbarkeit, ihre Gefühlsausbrüche und ihrehysterischen Anfälle waren bekannt und«Help, help, help,I feel life comingcloser,when all I wantis to die.»Marilyn Monroegefürchtet. Die Last wurde ihr zunehmendzu schwer: «Immer wieder wurden in ihremLeben jene Situationen ihrer Kindheit heraufbeschworen,die zu seelischen Schocksgeführt hatten. Mit Hilfe von Alkohol,Medikamenten und Drogen versuchte sieverzweifelt, jene quälenden Bilder zu verdrängen,die ihr regelmäßig das Gefühl derVerlassenheit gaben, das Gefühl, wertlosund ungeliebt zu sein.» Sie starb schließlichmit nur 36 Jahren an einer Überdosis vonMedikamenten und Alkohol. In der Handhielt sie noch den Telefonhörer.Zitate aus dem Buch von Joan Mellen: MarilynMonroe. Ihre Filme – ihr Leben. München, Heyne 1983.21


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENMultiple Persönlichkeit (MPD) oderDissoziative Identitätsstörung (DID)Die Störung mit multipler Persönlichkeit(MPD = Multiple Personality Disorder)ist eine sehr seltene Störung der Persönlichkeits-Identität.Nach der neuen Klassifikationder DSM-IV wird sie heute als DissoziativeIdentitätsstörung bezeichnet.(z.B. schwerer sexueller Mißbrauch) mit Beginnin der frühen Kindheit angenommen.Es kommt zur Abspaltung (Dissoziation)dieser unerträglichen Erlebnisse in wenigerzugängliche Bewusstseinsbereiche.Zur Diagnose der MPD sind zwei Voraussetzungenwichtig: Die erste beschreibtdie Existenz von zwei oder mehr Personenoder Persönlichkeitszuständen innerhalbeiner Person (jede mit einem eigenen, relativüberdauerndem Muster, die Umgebungund sich selbst wahrzunehmen, sich aufsie zu beziehen und sich gedanklich mitihnen auseinanderzusetzen). Die zweiteVoraussetzung fordert, dass mindestenszwei dieser Persönlichkeiten oder Persönlichkeitszuständewiederholt volle Kontrolleüber das Verhalten des Individuumsübernehmen.Diese Phänomene führen dazu, dass eine«Person» (bzw. ihr Körper) gelegentlichetwas sagt, fühlt oder macht, das sie selbstnie tun würde. Häufig besteht für den Zeitraumder Kontrolle durch eine andere «Person»oder einen Persönlichkeitsanteil einevöllige oder teilweise Erinnerungslücke.Die Diagnose der Störung wird kompliziertdurch die Mannigfaltigkeit der Symptome,die auch körperliche Beschwerden miteinschließen.Die Instabilität des Persönlichkeitsausdrucksist eine besonders dramatischeAuspräg ung der Phänomene, die beider Borderline-Persönlichkeit beobachtetwerden.Als Ursache dieser Identitätsstörung wirdheute eine langandauernde überwältigendepsychische und physische TraumatisierungWER BIN ICH?«Ich bin eine begabte Pianistin, ichlese gern und viel, ich bin jemand, dieKuscheltiere liebt, die gerne kocht,ABER bin ich auch diejenige, die8000.— Euro Schulden hat, ja, dieauf den Strich geht? Vielleicht drogenabhängig?Ich bin diejenige, die behauptet, dassihre Eltern schreckliche Sachen mitihren Kindern tun, aber ich bin auchdiejenige, die behauptet, dass nichtspassiert ist. Wer bin ich?»(eine junge Frau)Die TherapieDie Therapie erstreckt sich gewöhnlichüber viele Jahre, das Ziel ist die Reintegrationoder bessere Kooperation der «Personen»bzw. Persönlichkeitsanteile. Therapieerfolgewerden von den unterschiedlichstenTherapierichtungen beschrieben.Für christliche Therapeuten liegt eineGefahr in der Überinterpretation (z.B. zuschnelle okkult-dämonische Zuordnung)der eindrücklichen Phänomene.22


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENEin Modell der Entstehungvon abgespaltenen «Personen»Abbildung aus: Pfeifer et al (1994). Störung mit multipler Persönlichkeit.Darstellung von zwei Fällen und Entstehungsmodell. Nervenarzt 65:623-627.Weiterführende Literatur:– Friesen J.G.: Uncovering the mystery of MPD. Here is Life Publishers.– Huber M.: Multiple Persönlichkeiten. Fischer.– Pfeifer S.: Multiple Persönlichkeitsstörung. Kapitel 7, in «Die zerrissene Seele.Borderline und Seelsorge», Brockhaus Verlag23


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENErfahrungen bei der HospitalisationDie folgenden Tabellenentstammen einer Übersichtsarbeit,die die Befundevon 39 Patientenzusammenfasst, die wegeneiner Borderline-Störunghospitalisiert werdenmussten. Da Mehrfachnennungenmöglichwaren, ergibt sich nichtimmer die Summe von 39.UnmittelbarerAnlassfür die Hospitalisationwaren in 32 FällenSuizidalität oder ein Suizidversuch,in drei Fällenpsychotische Phänomene,in vier Fällen andereGründe.Einweisungssituation bei 39 PatientenSoziale Trennungserlebnisse innerhalb der letzten 6 Monate.. 12Trennung befürchtet............................................................................8Nicht zu bewältigender sozialer Konflikt......................................16Krise durch Isolation / Einsamkeit..................................................11Überwältigende Angst.........................................................................7Depression.............................................................................................10Unerträgliches Leeregefühl.................................................................2Hauptprobleme der stationären BehandlungSpaltungsmechanismen.................................................................... 18Kampf um “Rahmen”........................................................................13Anhaltende Suizidalität....................................................................13Depression............................................................................................10Regressive Tendenzen........................................................................ 17Fehlender sozialer Rahmen..............................................................12Suchtaspekt..........................................................................................10Zurückgezogenheit, Kontaktarmut................................................. 5Impulsdurchbrüche, Aggressivität................................................... 5Hauptakzente der BehandlungsstrategienKonfrontation mit Spaltungen und Widersprüchen................. 17Paargespräche........................................................................................ 9Klärung und Hilfe bei sozialen Problemen................................... 15Depressionsbehandlung (medikamentös)....................................10Setzen eines zeitlichen Rahmens....................................................... 6Klärung der Beziehungen zwischenaktuellen Konflikten und Symptomen............................................ 6Herstellen eines empathischen Kontaktes(bei sehr misstrauischen Pat).............................................................. 4«Trauerarbeit»..................................................................................... 224


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENSituation zum EntlassungszeitpunktQuelle: Pfitzer, F., Rosen, E., Esch, E. & T. Held (1990) Stationäre psychiatrischeBehandlung von Borderline-Patienten. Der Nervenarzt 61:294-300.jetzt in ambulanter Psychotherapie................................................10bemüht sich um ambulante Therapie............................................... 5sucht Facharzt für Psychiatrie/ Psychotherapie auf...................10keinerlei Behandlung......................................................................... 14neue berufliche Perspektive..............................................................10neue Bezugsperson aufgetaucht......................................................... 8Trennung vollzogen............................................................................. 8Trennung rückgängig gemacht.......................................................... 2Beziehungen geklärt............................................................................ 4gebessert, «aufgetankt»..................................................................... 8unverändert............................................................................................ 8Verabreichte Medikamente bei 39 PatAntidepressiva......................................................................................15Hochpotente Neuroleptika.................................................................8Niederpotente Neuroleptika............................................................14Tranquilizer............................................................................................4Beta-Rezeptorenblocker......................................................................1Keine Medikamente...........................................................................10PharmakotherapieDas Medikament gegen Borderline-Störungengibt es nicht. Oftmals sprechenPatienten mit einem Borderline-Syndromnicht oder nur ungenügend auf Medikamentean. Dennoch gibt es Situationen, woMedikamente hilfreich sein können, um denBetroffenen das Leiden zu erleichtern.Hilfreich ist die Unterteilung der Symptomatikin drei Bereiche und dementsprechendauch die medikamentöse Behandlung:Zielsymptomatik Neurotransmitter Medikamentea) affektive Instabilität:Depression, Stimmungswechselb) vorübergehende psychotischePhänomenec) impulsives, aggressives Verhalten.NoradrenalinSerotoninDopaminSerotoninKlassische AntidepressivaSerotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer(SSRI, SNRI)NeuroleptikaSerotonin-Wiederaufnahmehemmer(SSRI)25


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENÜberlegungen zur TherapieZwei BetrachtungsweisenVon außen betrachtet kann eine Borderline-Person beschrieben werden, die1. wiederholtes, unangepaßtes Verhaltenzeigt2. die irgendwie genießt, was sie tut3. die verantwortlich ist für ihr willentlichsteuerbares Verhalten.Von innen erlebt sich die Person wie folgt:1. Als passiv Zuschauende/Teilnehmerinin dem destruktiven Strom des Bewusstseins,das sie nicht kontrollierenkann.2. Sie hat eine begrenzte Wahrnehmungder Tatsache, dass ihr gegenwärtigesErleben durch die übermächtigen Skriptender Vergangenheit geprägt wird.3. Sie führt ihr Leben im subjektiven Gefühldes Zwangs und der Verzweiflung.Opfer oderverantwortlich?Die Sprache des Willens ist auch die Spracheder Verantwortung. Sie betrachtetden Patienten als verantwortlich und interpretiertsein Versagen beim Verändern vonVerhaltensweisen als Willensschwachheit.Die Sprache des Zwangs entbindet denPatienten von seiner Verantwortung undbetrachtet das Versagen als unwiderstehlicheImpulse.Möglicher Kompromiss:Man hat wohl keine volle Kontrolle überdie Gedanken und Impulse, jedoch bestehteine Kontrollmöglichkeit beim Verhalten.Doch auch hier ergeben sich Grenzen: Einerseitskann man den Aufmerksamkeits-Fokus der Gedanken verschieben, andererseitslassen sich Handlungen unter Stressnicht immer voll steuern.Die Sprache des Willens darf nicht dieSprache des Vorwurfs sein. Wir reden zwarvon dem, was der Patient in der Therapiewill, aber die Wirklichkeit der betroffenenPerson ist natürlich komplizierter: Gewohnheiten,Triebe, Verletzbarkeit, Muster undWahrnehmungen, die durch Erfahrungengeprägt wurden, das grundlegende Temperament,die genetische Mitgift, psychologischeAbwehr, existentielle Verzweiflung– alle diese Elemente spielen in die komplexenVerhaltensmuster hinein, die der Therapeutanzusprechen versucht, und die wiederumdurch die eigenen Wahrnehmungenund Vorstellungen des Therapeuten gesehenund gedeutet werden. (nach J. Kroll)26


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENDas Dilemma desTherapeutenDer Patient hat oft nicht die gleichenZiele wie der Therapeut: Zuerst einmalmöchte er seine Bedürfnisse durch denTherapeuten erfüllen. Er möchte eine weitereArena und Gelegenheit, in der er alteThemen inszenieren kann. Der Patient wirdseine bisherigen Muster auch in der Therapiewieder ausprobieren.Der Therapeut hat andere Ziele:Dem Patienten durch Einsicht und dentherapeutischen Prozess helfen, dasses zu einer Heilung kommt, ohne etwasvon sich selbst zu geben.Bearbeitung der alten, störenden Muster,ohne diese selbst in der Therapiezu erleben. So kann Therapie zu einerSerie von Frustrationen, Anpassungenund gegenseitigen Enttäuschungenwerden. Der Patient muss seinerseitsseine neurotischen Ziele loslassen,Liebe und Respekt vom Therapeuten zuergattern.Der Therapeut muss allmählich realisieren,dass seine therapeutischenZiele der Einsicht und der konstruktivenZusammenarbeit nicht den Zielen desPatienten entsprechen, dass er also gefordertwird, mehr als Logik und Interpretationzu geben: Der Patient möchteEngagement, nicht Situationsanalyse.Aus diesem Widerstreit von Zielen und Methodenwächst ein Kompromiss, in dembeide Partner etwas von dem aufgebenmüssen, was sie ursprünglich vorgesehenhatten. Dabei muss der Patient mehr aufgebenals der Therapeut.Die Aufgabedes TherapeutenDie alten Muster herausarbeiten, diedas Leben bestimmen.Dem Patienten die alten Muster zeigen,ihn konfrontieren, ihm erkennen helfen,welche Auswirkungen diese Musterund die einschießenden Bewußtseinsströmenauf sein Leben hat.(Fallweise) herleiten der alten Musteraus Kindheitsverletzungen, negativenErfahrungen und Reaktionen. Nicht immerist es möglich, eine klare Ursachefür die Verhaltensmuster in der Gegenwartzu finden. Nicht immer ist es gutfür den Betroffenen, sich intensiv mitden alten Traumata zu beschäftigen.Mit dem Patienten in der Therapie ringenund den Versuchen des Patientenwiderstehen, ihn zur Quelle von unvernünftigerZuwendung und zum Teilnehmerim Ausagieren von alten Themenzu machen.Dem Patienten Bestätigung für seinentiefen persönlichen Wert als Person gebenund ihm/ihr erlauben, in gesunderWeise zu wachsen. Dies bedeutet, dassder Therapeut in der Therapie spürbarbleibt ohne allzu große Regression undohne verführerische Ausbeutung zuerlauben, die die therapeutische Arbeitunterminieren würde.27


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENVier Bereiche der TherapiePositivBedürfniserfüllung− Wertschätzung: Bestätigungund Freiheit.− Unterstützung undErmutigung− Jemand haben, derfürsorglich ist− Trauern können− Neu-Fokussierung von Zorn− RollenmodellWiederholen alter Themen− Verbalisieren und Katharsis− Überprüfen vonVertrauensthemen− Kognitives Neuverpacken− Errichten von angemessenenGrenzen− Innere KontrollüberzeugungenNegativ− Abhängigkeit− Erlösung / Rettung− Sexualisierung− Anspruchshaltung− Ausagieren− Übernehmen der Opferrolle− Identifikation mit demAggressor− Ausweichen vor altenDenkschemata− Äußere Kontrollüberzeugungen(nach Kroll, 1993)28


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENGruppentherapieGruppentherapie mit Borderline-Patientenstellt hohe Ansprüche und setzterfahrene Gruppenleiter/innen voraus, diein der Lage sind, eine klare Struktur vorzugeben.Im Rahmen der Klinik Sonnenhaldewurde der Versuch einer solchen Gruppegemacht (Fr. Dr. Schleising und Fr. Jonckers,lic.phil.). Dabei wurden folgende Punktebetont:Rahmenbedingungen– Es nehmen nur Frauen teil, da sich manchedurch die Anwesenheit männlicherPatienten sehr bedroht gefühlt hätten.Neben der Gruppentherapie mussteauch eine Einzeltherapie gesichert sein.– Struktur: durch klare Regeln, Teilnehmerzahlmax 4 – 6.– Klarer Anfang: Einleitung der Stundedurch das Lesen einer (immer gleichen)Kurzgeschichte, die in eindringlicherWeise aufzeigt, dass es immer notwendigist, aufzustehen, auch wenn mangefallen ist, ja dass man sogar neueWege gehen lernen kann.– «Blitzlicht»: Alle können kurz einbringen,wie es ihnen aktuell geht, was esseit der letzten Stunde Neues gibt.– Thema der Stunde wird von den Leiterinnenin Rücksprache mit den Teilnehmerinnen«erspürt» und festgelegt.– Zum Schluss wird ein Feedback über dieGruppenstunde eingegeben.DynamikDie Patientinnen kamen anfangs kaum aussich heraus und waren sehr leiterzentriert.Immer wenn eine neue Teilnehmerin in dieGruppe kam, wurde die Gruppe bezugs desThemas um 1 bis 2 Sitzungen zurückgeworfen.Nach einer Einleitung durch die Leiteringelang es den Patientinnen sich stärker aufeinander einzugehen. Als sich der Weggangeiner Leiterin abzeichnete, war es sehr wichtig,das Thema «Abschied» zu erarbeiten.Hauptthemen– Alltagsprobleme– Beziehungsprobleme– autoaggressives Verhalten– RückzugstendenzenVorteil der GruppeDie Patientinnen merkten, dass sie mit ihrerInstabilität und ihren Konflikten nichtallein waren. Manche gaben sogar an, sichhier freier zu fühlen, als in der Einzeltherapie.Die Gruppe wurde zum Halt und ermöglichtees auch, gemeinsam etwas zuunternehmen. Die Teilnehmerinnen lernten,vermehrt auf andere einzugehen, was fürdie Therapeutinnen wie ein Wunder war,auch wenn der Prozess lange dauerte. DieHäufigkeit von Selbstverletzungen gingdeutlich zurück.Gefahr der GruppeBei sehr instabilen oder narzisstisch kränkbarenTeilnehmerinnen bestünde die Gefahr,dass einzelne nicht mit der Realitätumgehen könnten, dass sie im Mittelpunktdes Gesprächs stehen wollen und ihre Bedürfnissenicht erfüllt würden. Solche Konstellationenkönnten eine Gruppe sprengen.29


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENSpezielle ThemenDie Teilnehmerinnen erarbeiteten miteinanderMöglichkeiten, mit ihren Krisenumzugehen. Nachfolgend zwei Beispiele:«Katastrophenliste»:Jede Patientin erstellte sich eine individuelleListe, was sie machen kann, wenn siein einer emotional schwierigen Situationist (vor allem bei Tendenz zur Selbstverletzung).Die Patientinnen müssen sich in denentsprechenden Situationen entscheiden,ob sie die Katastrophenliste zur Erleichterungbenutzen oder nicht, d.h. sie übernehmenselbst die Verantwortung für sich.Betonung der Autonomie.Umgang mit Suizidalität:Sehr lange waren konkrete Suizidgedankenim Raum, was für die Therapeutinnenzusammen mit der passiven Erwartungshaltungder Teilnehmerinnen ziemlich lähmendwar (in diese Zeit fiel tatsächlich derSuizidversuch einer Patientin). Es wurde inintensiven Diskussionen ein Vertrag erarbeitet(vgl. S. 31). Danach ging das ständigeReden über Suizidgedanken schlagartig zurückund machte konstruktiveren ThemenPlatz.Liste konstruktiver Aktivitäten(«Katastrophenliste»)1. Bezugsperson(en) aus meiner SOS-Telefonliste anrufen.2. Mit anderen vertrauten Menschen Kontakt aufnehmen (per Telefon, Brief, Besuch).3. In einem nicht-abzuschickenden Brief meine Wut, Enttäuschung, Frust usw. herauslassen.4. Tagebuch schreiben.5. In einer sportlichen Tätigkeit (z.B. schwimmen) das “Ventil öffnen”.6. Spaziergang oder Velotour machen und die Natur auf mich wirken lassen.7. Entspannungs- (Duft) Bad nehmen und mich pflegen.8. Mir etwas Gutes gönnen (z.B. einen guten Tee/Kaffee kochen, beruhigende Musikhören, Lesen, usw.).9. Kreativ tätig sein (zeichnen, malen, mit Ton etwas gestalten, usw.).10. Mit Kindern oder Tieren spielen.11. .............................................................................................................(individuell zu ergänzen)30


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENBeispiel für einen Therapie-VertragPflichten der MitarbeitIch übernehme die Verantwortung, mir nicht das Leben zu nehmen, sondern in Krisenund in Situationen der Verzweiflung mich anhand der «Katastrophenliste» abzulenkenund/oder Kontakt mit anderen Menschen, insbesondere mit meinen Bezugspersonenaufzunehmen. Ferner gebe ich zu Beginn der Gruppentherapie den Namen, Adresse undTelefonnummer meines(r) EinzeltherapeutIn an.BegründungIch bin mir darüber im Klaren– dass niemand außer mir selber die Garantie für mein Leben übernehmen kann,auch nicht die GruppenteilnehmerInnen oder -leiterInnen– dass die gemeinsame Arbeit an unseren Problemen nur möglich ist, wenn wir genügendZeit und Kraft in den Gruppentreffen haben und nicht immer wieder inFrage stellen, ob wir weiterleben wollen (was allerdings nicht heißt, dass wir unsereSuizidalität verschweigen müssten oder gar nicht mehr zu den Gruppentreffenkommen dürften).– dass wir uns sonst gegenseitig zu sehr belasten bzw. überfordern.Dieser Vertrag gilt unserer eigenen Sicherheit sowie dem Schutz der Gruppe.KonsequenzenSobald ich merke, dass ich den Vertrag nicht mehr einhalten kann (z. B. wenn ich michselbst verletze), setze ich mich mit dem(r) behandelnden EinzeltherapeutIn in Verbindungund entscheide mit ihm (ihr) über weitere Schritte.Ich informiere die Gruppe (LeiterIn oder TeilnehmerIn) über den Grund meiner Abwesenheit(z. B. bei einem Spitalaufenthalt). Dies Verhalten darf ich auch von den anderenTeilnehmerInnen erwarten.Aufgabe der GruppenleiterInnenWir sehen unsere Aufgabe darin, durch die Gruppentherapie den ambulanten oder stationärenTeilnehmerInnen einen Rahmen zu bieten, um ihre Alltagsprobleme auszutauschenund Ansätze für konstruktive Lösungsstrategien zu erarbeiten und zu erproben.Wenn uns die Situation einer Teilnehmerin bedrohlich erscheint, werden wir den (die)Einzeltherapeuten(in) darüber informieren.Unterschriften31


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)nach M. LinehanMarshaLinehan,Psychologie-Professorin imamerikanischenSeattle, bezeichnetihreTherapie als «dialektisch-behavioral».Dialektikumschreibt einSpannungsfeldzwischen zweioder mehrerenPolen.DialektischeStrategien betonen«die kreativeSpannung,die durch widersprüchlicheEmotionen und gegensätzliche Denkmuster,Wertvorstellungen und Verhaltensstrategien– innerhalb einer Person oderzwischen Person und Umwelt – hervorgerufenwird.»Borderline-Patienten sind von der Naturihrer Störung her geprägt von solchenSpannungsfeldern zwischen Schwarz undWeiß, zwischen Liebesbedürftigkeit undHassgefühlen, zwischen Lebenshunger undTodessehnsucht, zwischen Sehnsucht nachAnnahme und einem Verhalten, das andereMenschen abstößt. Behavioral umschreibteinen verhaltenstherapeutischen Ansatz.Abbildung: Die obige Abbildungbeschreibt die Strategien der DBT inschematischer Weise. Patienten müsseneinerseits Akzeptanz, Fürsorglichkeit,wertschätzende Gegenseitigkeit und aktivesEngagement der Therapeutin erleben(rechte Seite). Doch sie brauchenauch die Herausforderung zur innerenVeränderung und zur Lösung anstehenderProbleme (linke Seite). In den Gesprächengeht es immer um die Balancezwischen Validierung (Wertschätzungder gegenwärtigen Situation) und Problemlösung(Veränderung, auch wenn sieAngst macht).32


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENVier BausteineDie Therapie wird in vier Bausteine (oderModule) unterteilt. Über zwei Jahre hinwegwird eine Einzeltherapie angeboten, die1 bis 2 Sitzungen pro Woche umfasst.Unterstützt wird sie durch eine wöchentlicheGruppentherapie, in der BPS-Patientinnensich spezifisch mit Fragen derpraktischen Lebensbewältigung und Beziehungsgestaltungbeschäftigen («Fertigkeitstraining»).Tritt dazwischen ein Notfallauf (z.B. einschießendeSuizidalität, eine erneuteTraumatisierung), so gibtdie Therapeutin – im Rahmenihrer Möglichkeiten– als dritten Baustein dasAngebot der telefonischenErreichbarkeit.Und schließlich ist alsviertes Modul der InformationsaustauschzwischenEinzeltherapeutin und Gruppentherapeutin(nicht unbedingt dieselbe Person), oderzwischen Einzeltherapeutin und therapeutischemTeam auf der Station ganz wichtig.Der Einzeltherapeut ist gehalten, die Fertigkeiten,die eine Person in der Gruppentherapiegelernt hat, auch in der Einzelberatungkonsequent einzusetzen und zu verstärken.Die gemeinsamen Sitzungen ermöglichenauch, das Verhalten einer BPS-Patientinnoch besser zu verstehen, mit derGrundfrage: «Was ist die Funktion desschwierigen Verhaltens; welche Auslösersetzen die fatale Kette von Reaktionen inGang? Wie können wir als Behandelnde diesesVerhalten verändern, oder wo verstärkenwir es noch?» Schließlich haben dieseKoordinations-Sitzungen auch die Funktionder gegenseitigen Unterstützung der Therapeuten,bedeutet doch eine solche intensiveBehandlung auch eine große Belastung fürdas ganze Team, die oft bis an die Grenze derErschöpfung geht.Therapeutische StrategienDas Buch von Linehan ist reich an therapeutischenStrategien. Die folgenden Stichwortekönnen nur ganz wenig von dieserVielfalt wiedergeben.a) Dialektische Strategien: Balance zwischenAnnahme und Veränderung. Widersprüchein Erlebnisweisen, Denk- und Verhaltensmusternherausarbeiten, aufzeigen.Gleichzeitig gilt es anzunehmen, dass diesezur Zeit so sind und auch verständlich sind,aber dass sie dem Wohlbefinden, den Beziehungenund der Lebensbewältigung nichtdienen, dass also Veränderung nötig ist.b) Validierungsstrategien: Auch wenn BPS-Patienten sich verändern möchten, sosehnen sie sich doch nach Wertschätzungund Akzeptanz. Ohne diese «validierende»Grundhaltung ist eine Therapie kaummöglich. Es gilt daher, den jeweiligen Sinnim Erleben und Verhalten herauszuarbeitenund dem Patienten zu vermitteln,dass seine Reaktionen auch zum gegenwärtigenZeitpunkt nachvollziehbar sind.Fortsetzung Seite 3433


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENErst diese Wertschätzung eröffnet dieMöglichkeit, auf andere Ressourcen zurückzugreifenund neue Verhaltensmuster zu erlernen.Aus diese beiden «Basis-Strategien»bauen dann die spezifischen Strategien auf:c) Kontingenzmanagement: Dieser Begriffaus der Verhaltenstherapie umschreibt denUmgang mit positiven und negativen Verstärkern.Für den Patient kann das heißen:«Wenn es mir besser geht, kann ich auchmein Verhalten ändern.» Der Therapeutverstärkt diese Einsicht vielleicht mit demSatz: «Ihr Verhalten beeinflusst ganz wesentlichihr Befinden, und dieses wiederumwirkt auf ihr Verhalten zurück.»Dabei kann man die Patienten laufendüber die Grundlagen der Lerntheorie aufklären.Wesentlich ist auch hier eine tiefeWertschätzung: «Nicht der Patient erfährtnegative Konsequenzen, sondern sein Verhalten.»Somit wird auch hier Verhaltenssteuerungangestrebt durch die Balancezwischen menschlicher Wärme und Zuneigungund dem Einsatz der therapeutischenBeziehung.d) Ausdruck von Gefühlen: Patienten, dieso oft erlebt haben, dass ihre Gefühle nichternst genommen wurden, die vielfach undz. T. schwer verletzt worden sind, müssenneu lernen, ihre Gefühle auszudrücken.Doch auch hier gilt: Lernen, Gefühle auszudrücken,aber in einer angepassten Weise,die nicht zu negativen Folgen für das eigeneLeben und die Beziehungen führen.e) Kognitive Umstrukturierung: Bei Denkmustern(Schwarz-Weiß, rigid) ist immerdie Lebensgeschichte zu berücksichtigen.Sehr häufig werden pathologische kognitiveSchemata als Überlebens-Strategieim traumatischen Kontext verständlich(Validierung). Erst dann kann an einer Aufweichungund konstruktiven Veränderunggearbeitet werden.«Aus Zitronen Limonade machen»und andere TechnikenNicht immer muss man direkt über die Problemesprechen. Manchmal ist es geradeeine unerwartete Antwort oder eine Geschichte,die eine Patientin zum Nachdenkenanregt. Manchmal spielt die Therapeutinden «Advocatus diaboli»: Sie nimmt alsogerade die falsche Position ein und fordertdie Patientin auf, Gegenargumente zu bringen.Manchmal ist es notwendig der Patientinbewusst zu machen, dass sie beides hat:eine emotionale Blockade, die zu Kurzschluss-Reaktionenneigt und einen «wissendenZustand», der sehr wohl weiß, wasgut für sie wäre.Ziel sei es oftmals nicht, die Zitronen insüße Früchte zu verwandeln, sondern sichdamit zu begnügen, «aus Zitronen Limonadezu machen.»34


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENBorderline undSeelsorgeMenschen mit einer Borderline-Störungsind eine besondere Herausforderungan die Seelsorge. Vieles, was über die therapeutischenAspekte gesagt wurde, giltauch hier (vgl. Überlegungen zur Therapie,S. 26 ff). Der Seelsorger muss oft am eigenenLeib erfahren, wie die Person üblicherweisemit anderen Menschen umgeht. Dieseelsorgliche Beziehung kann intensiv, abersehr wechselhaft sein.Anfangs wird man vielleicht mit Komplimentenüberhäuft: «Sie sind der ersteMensch, der mich ernst nimmt und mir zuhört.Sie verstehen meine Probleme undgehen darauf ein. Sie sind ein wunderbarerSeelsorger!» – «Sie verurteilen mich nicht.Mit Ihrer Hilfe kann ich einen Neuanfangmachen! Versprechen Sie mir, dass Sie immerfür mich da sind!»Doch dann wird immer mehr gefordert– häufige Telefonate, oft zu unmöglichenZeiten, der Wunsch nach Hausbesuchen und«Ich kann nicht glauben,dass jemand mich liebt, weilich es bin. So habe ich auchMühe zu glauben, dass Gottmich liebt.»anderen Zeichen besonderer Zuwendung.Vorsichtige Zurückhaltung und prüfendeRückfragen können zu heftigen Reaktionenführen. Hier ist es besonders wichtig, dieBalance zwischen Wertschätzung (seelsorglicherZuwendung) und Herausforderung(Ermahnung) zu finden.Drei Formen der KommunikationHinweis: Eine ausführlicheDarstellung dieser drei therapeutischenGrundhaltungen findetsich in dem Buch «Ich hasse dich– verlass mich nicht. Die schwarzweißeWelt der Borderline-Persönlichkeit»,von Kreisman undStraus.35


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENDämonische Einflüsse?Christen mit Borderline-Störungen neigendazu, ihre Erlebnisse durch übernatürlicheEinwirkungen zu erklären. «Das binnicht mehr ich selbst, wenn ich so aggressivausraste,» sagte mir eine junge Frau. «Es ist,als würde mich eine fremde Kraft erfassenund zu einem Verhalten treiben, das ich garnicht will.»Die geistige Deutung erfordert dannauch eine geistliche Gegenmaßnahme. VomSeelsorger wird eine Freibetung von ihrer«Beses senheit» gefordert.Setzt man dem Wunsch nach einer dramatischenHeilung Grenzen, so können dieBetroffenen recht enttäuscht und schroffreagieren. Nicht selten wird dann zu einemSeelsorger gewechselt, der «mehr Vollmacht»hat.Es gibt Menschen, die durch ein «Befreiungsgebet»eine erstaunliche Verbesserungerfahren haben. Die Erfahrung zeigtaber, dass die Schwierigkeiten unter Stresswieder auftreten können. Deutet man diestheologisch als eine erneute dämonischeBelastung, so kann dies schwerwiegendeFolgen für das gläubige Vertrauen eines ohnehininstabilen Menschen haben.Gibt es andere Deutungen?Aus diesem Grunde neige ich dazu, nichtimmer nach den Ursachen zu fragen, sonderndas Augenmerk auf die Frage zu legen:Wie kann ich die betroffenen Menschen inihrer Not ernst nehmen, ihnen Gegenübersein, und ihnen helfen, besser mit ihrenStörungen umzugehen?Wie gehe ich nun aber mit Menschenum, die selbst die okkulte Erklärung ins Gesprächbringen, oftmals von großen Ängstenbesetzt?Hier gilt es nüchtern und bescheiden zugleichzu sein. Hilfreich ist hier ein genauesBetrachten derjenigen Störungen, die alsokkult erlebt werden. Ich erkläre dann, dassAlpträume, Flashbacks und Stimmungsschwankungennatürliche Reaktionen desmenschlichen Geistes sind, mit schwerenErfahrungen umzugehen.Manchmal treten sie auch ohne solcheTraumata als Ausdruck einer starken seelischenAnspannung auf. Ängste könnensich manchmal durch schreckliche Bilderausdrücken, die wir vernunftmäßig garnicht verstehen. Aber sie müssen deshalbnicht gleich dämonisch sein.«Das bin nicht mehr ichselbst, wenn ich soaggressiv ausraste.»Auch psychosomatische Reaktionendürfen nicht gleich dämonisch gedeutetwerden, selbst wenn sie von den Betroffenenin so dramatischer Form erlebt werden.Wenn jemand den Eindruck hat, in derNacht sitze ihr der Teufel auf der Brust, sohandelt es sich dabei um ein Engegefühl,das viele Menschen in Depressionen undAngstzuständen erleben.Ein solches Entkoppeln von Erfahrungund dämonischer Deutung hat oft therapeutischeWirkung: Die Betroffenen erlebendann nur schon durch den Zuspruch eineBeruhigung, manchmal bedarf es vorübergehendeiner zusätzlichen Medikation.36


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENZusammenarbeit von Arzt und SeelsorgerWelche Wünsche hat der Arzt an denSeelsorger? Was wäre für eine guteZusammenarbeit wünschenswert?Wie schon erwähnt, gibt es Borderline-Patienten, die sich ein ganzes Netz vonBetreuern aufbauen, Lehrer, Sozialarbeiter,Ärzte, Seelsorger, engagierte Laien. Manchmalhandelt es sich aber nicht mehr umein tragfähiges Netz, sondern eher um einKnäuel, aus dem sich am liebsten alle verabschiedenwürden.Beziehungsknäuel entwirrenAuf der einen Seite ist es ja eine beachtlicheLeistung, so viele Leute für sich aktivierenzu können. Aber als Arzt ist manzeitlich oft nicht in der Lage, ein solchesBeziehungsknäuel zu entwirren. Nach einerAbklärung der Situation frage ich die Patientin,zu wem sie Vertrauen hat. Manchmalist es eine Sozialarbeiterin, manchmalein verständnisvoller Lehrer. Nicht seltengibt es aber auch wichtige Bezugspersonenin ihrer Gemeinde, sei dies ein Pfarrer, einGemeindehelfer oder eine therapeutischeSeelsorgerin.Die Zusammenarbeit kann nun darinbestehen, dass man sich einmal zu drittzusammensetzt und mit der Betroffenenihre Bedürfnisse klärt.Oft ist es für den Arzt eine große Hilfe,wenn der Seelsorger die Aufgabe übernimmt,die äußeren Belange wie Wohnung,Arbeit oder Sozialhilfe zu organisieren, undder Person zudem regelmäßige Gesprächeanzubieten, um die Abstände zwischen denärztlichen Konsultationen zu überbrücken.Vielleicht existiert in der Gemeinde sogarein kleines Netz geschulter HelferInnen. Esgibt ja heute eine ganze Reihe von Ausbildungs-Angeboten.Dabei erwarte ich voneiner seelsorglichen Schulung, dass sieden Seelsorgern nicht nur geistliche Impulsegibt, sondern auch ganz praktischeVerständnishilfen für die psychischen Nöteinstabiler Menschen.37


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGEN«Trotzig und verzagt»«Es ist das Herz ein trotzigund verzagt Ding; werkann es ergründen?»Jeremia 17,9Bei solch instabilem Verhalten ist ein Textaus Jeremia 17,9 hilfreich, um nicht ineine schroffe Ablehnung (eine negative Gegenübertragung)auf Seiten des Seelsorgerszu verfallen: Das menschliche Herz istin der Tat trotzig, aber hinter der stachligverletzendenFassade verbirgt sich oft einezutiefst verzagte und verletzte Person.Die untenstehende Tabelle zeigt einige Synonyme,mit denen die biblischen Begriffein heutiger Sprache umschrieben werdenkönnen.Trotzig- verschlossen- abweisend- zornig, aggressiv- verletzend- wechselhaft,launisch- vorwurfsvoll- anklammerndfordernd- widerspenstig- manipulativVerzagt- ängstlich- deprimiert- leidend- übersensibel- sehnsüchtignach Liebe- resigniert- enttäuscht- verzweifelt- reuevollProbleme in der Seelsorgebei Borderline-StörungDramatische Deutungen undbeschuldigungenDramatische MaSSnahmenDramatische Überforderungder betreuenden PersonDramatische Spaltungen vonGemeinschaftenDiese Problemkreise werden ausführlichbeschrieben im Buch von S. Pfeifer und H.Bräumer: Die zerrissene Seele. Borderlineund Seelsorge. SCM Hänssler Verlag, 7.Auflage 2011.38


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENWas ist in der Seelsorge zu beachten?Beachtet man die Besonderheiten im Umgangmit instabilen Persönlichkeiten, sokann geistlicher Beistand während Borderline-Krisenzu einem sehr hilfreichen Geschehenwerden.Gerade in depressiven Phasen sind Trostund Zuspruch enorm wichtig.Doch leider lässt sich eine positive Auswirkungeines seelsorglichen Zugangsletztlich nicht kontrollieren und vorhersehen.So erscheint manchen Betroffenendie «nüchterne», auf Trost, Mittragen undStrukturierung ausge rich tete Seelsorge zuwenig hilfreich, denn es kommt dadurchnicht zu den von ihnen erwarteten schlagartigenÄnderungen.Es wäre nun aber falsch, das instabileVerhalten von Borderline-Persönlichkeitenals bloßen Manipulationsversuch abzutun.In den Beschreibungen dieses Heftes wurdedas intensive Leiden deutlich, das hinterdiesen Verhaltenweisen steht.Es handelt sich um ein Muster besonderssensibler Personen, das sie nicht immer vollsteuern können. Ja, sie sind im Nachhineinoft selbst entsetzt, wenn sie merken, wiesie sich von ihren Gefühlen fort tragen ließen.Mit der allgemeinen Beruhigung desZustandsbildes kommt es meist auch zurRückbildung der instabilen Symptome.Der Seelsorger als Fels?Was diese Menschen in den tosendenWellen ihrer Empfindungen brauchen,ist ein seelsorglicher Fels, der ihnen Halt,Schutz und Ufer bietet– ein Seelsorger also, der sie ernst nimmt,aber ihren Gefühlen mit nüchternerGelassenheit entgegentritt und die nötigenGrenzen setzt;«Was diese Menschen inden tosenden Wellen ihrerEmpfindungen brauchen,ist ein seelsorglicher Fels,der ihnen Halt, Schutz undUfer bietet.»– ein Seelsorger, der auch in unreifenTrotzreaktionen fest bleibt, ohne sie zuverstoßen, und– ein Seelsorger, der sie trotz ihrerAbhängig keitswünsche zur Selbständigkeitermutigt und begleitet.Eigene Grenzen wahrnehmen!Seelsorglich Tätige müssen darauf achten,ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen,um nicht selbst in eine Erschöpfung hineinzugeraten(Burnout). Aus diesem Grundemuss man manchmal Grenzen setzen, umhelfen zu können.39


DR. SAMUEL PFEIFER: BORDERLINE-STÖRUNGENWeiterführende LiteraturDie folgenden Bücher enthaltenweitere Informationen zur Thematik.Gneist J.: Wenn Hass und Liebe sich umarmen.Piper.Herman J.: Die Narben der Gewalt. Junfermann.Huber M.: Multiple Persönlichkeiten. Fischer.Huber M.: Trauma und die Folgen. Junfermann.Kernberg O.: Psychodynamische Therapiebei Borderline-Patienten. Huber.Kreisman J. und Straus H.: Ich hasse Dich- verlaß mich nicht. Die schwarzweißeWelt der Borderline-Persönlikchkeit.Kreuz.Kreisman J. und Straus H.: Zerrissenzwischen Extremen. Leben mit einerBorderline-Störung. Kösel.Knuf A. Leben auf der Grenze. Erfahrungenmit Borderline. Psychiatrie-Verlag.Knuf A. und Tilly C.: Das Borderline-Selbsthilfebuch.Psychiatrie-Verlag.Kroll J.: The challenge of the borderlinepatient. Competency in diagnosis andtreatment. Norton.Linehan, M.M.: Dialektisch-BehavioraleTherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung.CIP-Medien, München.Linehan, M.M.: Trainingsmanual zurDialektisch-Behavioralen Therapie derBorderline-Persönlichkeitsstörung. CIP-Medien, München.Lison K., Poston C.: Weiterleben nach demInzest. Fischer.Pfeifer S.: Wenn der Glaube zum Problemwird. Online als PDF: www.seminare-ps.net.Pfeifer S. & Bräumer H.: Die zerrissene Seele.Borderline-Störungen und Seelsorge.Brockhaus.Rahn E.: Borderline - ein Ratgeber für Betroffeneund Angehörige. Psychiatrie-Verlag.Reddemann L.: Imagination als heilendeKraft. Klett-Cotta.Stauss K.: Neue Konzepte zum Borderline-Syndrom. Junfermann.Internet-Ressourcenwww.borderline-community.de:Internetgemeinschaft zur Borderline-Persönlichkeitsstörungmit vielen hilfreichenTipps, Literaturangaben, Hinweisen aufTherapeuten und Kliniken.www.borderline-online.de:Informationen der Arbeitsgemeinschaftfür wissenschaftliche Psychotherapie mitHinweisen auf Kurse für Dialektisch-BehavioraleTherapie nach Linehan (DBT)Weitere Online-Angebote: Das Internetist ein kurzlebiges und sehr mobilesMedium. Websites kommen und gehen.Tippen Sie deshalb Ihre Frage einfach beiwww.google.de ein und Sie werden aktuelleInformationen finden!40


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZWANG UND ZWEIFELZwanghaftes Verhalten,rätselhafte Rituale und obsessive Gedanken.Diagnose und Therapie.3


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELInhaltWas ist eine Zwangskrankheit?................................................................2Häufigkeit, Verlauf, Entstehung ..............................................................4Zwanghafte Persönlichkeit.......................................................................5Diagnostik mit der YBOCS.........................................................................6Zwangsgedanken ......................................................................................6Zwangshandlungen...................................................................................9Schweregrad.............................................................................................. 11Unterscheidung von anderen Störungen................................................15Religiöse Rituale oder Zwänge?...............................................................17Ticstörungen und Gilles-de-la-Tourette Syndrom .................................18Erklärungen früher und heute................................................................20Biologische Aspekte der Zwangsstörung................................................21Das Erleben der Zwangsstörung.............................................................22Zur Zwangsthematik............................................................................... 23Wenn der Filter der Gedanken versagt...................................................24Triebkonflikt und Gewissen....................................................................26Zwangsrituale – Was sollen sie bewirken?.............................................28Vermüllungssyndrom und Trichotillomanie .........................................29Angehörige leiden mit.............................................................................30Was bringen Medikamente?.................................................................... 32Therapie - Möglichkeiten und Grenzen.................................................. 33Zweifel und Skrupel.................................................................................34Seelsorge bei Zwangsstörungen.............................................................36Wann ist eine Abklärung angezeigt?......................................................39Literatur und Internetlinks.................................................................... 404


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZwang und Zweifel – Herausforderungan Therapie und SeelsorgeZwangsstörungen sind häufiger als manvermuten würde, so häufig, dass mancheAutoren von einer heimlichen Epidemiesprechen. Rund zwei Prozent der Bevölkerungleiden an dem unerklärten Zwang zuzählen, und zu kontrollieren, zu putzen undzu wiederholen. Alles wird von Zweifeln unterhöhlt,die danach verlangen, sich gegenalle möglichen und unmöglichen Gefahrenabzusichern. Das daraus entstehende Leidenist oft erheblich und belastet nichtnur die Betroffenen selbst, sondern auchihre Familien.Gläubige Menschen leiden zudem darunter,dass auch ihr Glaube von Zweifelnüberschattet wird oder dass sich ihnen Gedankenaufzwingen, die sie doch gar nichtdenken wollen. Manchmal ist das Erlebender Fremdbestimmung so intensiv, dass siean eine dämonische Beeinflussung denken,und dies, obwohl sie doch alles daran setzen,ein christliches Leben zu führen.Was sind die Gründe für Zwangsstörungen?Ist es die Erziehung oder einefalsche Lebenshaltung? Sind es innerseelischeVorgänge oder von aussen sichaufdrängende Kräfte? Welche Rolle spieltdie Biochemie des Gehirns? Wie kann manzwangskranke Menschen in ihrer Not ernstnehmen und ihnen ärztlich und seelsorglichhelfen? Welche Behandlungsmöglichkeitengibt es?Dieses Seminarheft wird Sie bekanntmachen mit verschiedenen Sichtweisenund Modellen, die in der heutigen medizinischenPsychologie aktuell sind. Mögendie Informationen die Grundlage legen,diese Menschen besser zu verstehen undfachgerecht und einfühlsam zu begleiten.Dr. med. Samuel Pfeifer«Zwangskrankeleben in einemständigen Schwanken,in einem Auf- und Niederwogender Affekte.Selbst wenn sie ganz ruhig sind,lauert im Hintergrund die Angst,es könnte sich eineZwangsvorstellung melden.Sie trauen der Ruhe nichtund jede Stilleist die Stille vor dem Sturm.»Wilhelm Stekel, 1927Schrulle oder Spleen?«Ob Schrulle oder Spleen, meist führendie Betroffenen einen ruinösen Kampfgegen sich selbst, zählen, prüfen oderreinigen ohne Unterlass. Zum Arzt gehendie Kranken meist erst bei extrem hohemLeidensdruck, wenn sich der geheimeVerhaltenskodex ins Absurde steigert oderimmer mehr Zeitaufwand erfordert.»(aus einem SPIEGEL-Bericht).1


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELWas ist eine Zwangskrankheit?Das Hauptmerkmal einer Zwangskrankheitbesteht in wiederholten Zwangsgedankenoder Zwangshandlungen. Diesesind so schwer, dass sie erhebliches Leidenverursachen, zeitraubend sind oder den normalenTagesablauf, die beruflichen Leistungenoder die üblichen sozialen Aktivitätenoder Beziehungen beeinträchtigen.Zwangsgedanken sind länger andauerndeIdeen, Gedanken,Impulse oder Vorstellungen,die, zumindest anfänglich, alslästig und sinnlos empfundenwerden - z. B. ein Elternteilhat wiederholte Impulse, daseigene geliebte Kind zu töten oder ein religiöserMensch hat wiederholt gotteslästerlicheGedanken. Die Person versucht, solcheGedanken bzw. Impulse zu ignorieren, zuunterdrücken oder sie mit Hilfe anderer Gedankenoder Handlungen auszuschalten. DiePerson erkennt, dass die Zwangsgedankenvon ihr selbst kommen und nicht von aussenaufgezwungen werden (wie beim Eindruckder Gedankeneingebung der Schizophrenie).Die häufigsten Zwangsgedanken sindwiederkehrende Vorstellungen von Gewalttätigkeiten,Angst vor Verschmutzung undzwanghafte Zweifel (vgl. Diagnostik, S. 6 ff.)Zwangshandlungen sind wiederholte,zweckmässige und beabsichtigte Verhaltensweisen,die auf einen Zwangsgedankenhin nach bestimmten Regelnoder in stereotyper Form ausgeführtwerden. Das Verhaltendient dazu, Unbehagenoder schreckliche Ereignissebzw. Situationen unwirksamzu machen bzw. zu verhindern. Jedoch stehtdie Handlung in keinem realistischen Bezugzu dem, was sie unwirksam machen bzw.verhindern soll, oder sie ist eindeutig übertrieben.Die Handlung wird mit einem Gefühldes subjektiven Zwangs durchgeführt mitdem gleichzeitigen Wunsch, Widerstand zuleisten (zumindest anfänglich). Die Personsieht ein, dass ihr Verhalten übertrieben oderunvernünftig ist. Die betroffene Person hatkeine Freude am Ausführen der Handlung,obwohl dies zu einer Spannungsverminderungführt. Die häufigsten Zwangshandlungenbeziehen sich auf Händewaschen,Zählen, Kontrollieren und Berühren.Versucht die Person, gegen einen Zwanganzugehen, kommt es zu einem Gefühl steigenderSpannung, die sich sofort lösen kann,wenn dem Zwang nachgegeben wird (vgl. S.24). Im Verlauf der Störung gibt die Personnach wiederholtem Versagen zunehmendnach, und kann sich immer weniger dagegenwehren.Begleiterscheinungen:Depression und Angst sind häufig. Oftbesteht ein phobisches Vermeiden vonSituationen, die den Inhalt des Zwangsgedankensbetreffen, wie Schmutz oder Verschmutzung.Beispielsweise vermeideteine Person mit Zwangsgedanken, die sichauf Schmutz beziehen, öffentliche Toiletten;eine Person mit Zwangsgedanken, diesich auf Verschmutzung beziehen, vermeidet,Fremden die Hand zu schütteln.2


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELDiagnostische Kriterien nach DSM-IV *A) Es bestehen entweder Zwangsgedankenoder Zwangshandlungen:Zwangsgedanken:(1) wiederholte, länger andauernde Ideen,Gedanken, Impulse oder Vorstellungen,die als lästig und sinnlos empfundenwerden und ausgeprägte Angst undSpannung erzeugen(2) die Gedanken, Impulse und Vorstellungensind nicht einfach Sorgen überProbleme im realen Leben.(3) die Person versucht, solche Gedankenbzw. Impulse zu ignorieren oder zuunterdrücken oder sie mit Hilfe andererGedanken oder Handlungen zu neutralisieren.(4) die Person sieht ein, dass die Zwangsgedankenvon ihr selbst kommen undnicht von aussen aufgezwungen werden(wie bei der Gedankeneingebung).Zwangshandlungen:(1) wiederholte Verhaltensweisen (z.B.Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren)oder gedankliche Handlungen (z.B.Beten, Zählen, stilles Wiederholen vonWörtern), die auf einen Zwangsgedankenhin nach bestimmten Regeln oderstereotyp ausgeführt werden.(2) das Verhalten dient dazu, äusserstesUnbehagen oder schreckliche Ereignissebzw. Situationen unwirksam zu machenbzw. zu verhindern. Jedoch steht dieHandlung in keinem realistischen Bezugzu dem, was sie unwirksam machenbzw. verhindern soll, oder sie ist eindeutigübertrieben.B) Die Person sieht ein, dass ihr Verhaltenübertrieben oder unvernünftig ist.C) Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungenverursachen erhebliches Leiden,sind zeitraubend (mehr als eine Stundepro Tag) oder beeinträchtigen den normalenTagesablauf, die beruflichen Leistungenoder die üblichen sozialen Aktivitätenoder Beziehungen zu anderen.D) Falls eine andere Störung von Krankheitswertbesteht, steht deren Inhalt inkeiner Beziehung dazu; z.B. die Ideen,Gedanken, Impulse oder Vorstellungenbeziehen sich nicht auf Essen bei Essstörung,nicht auf Drogen bei einer Störungdurch psychoaktive Substanzen oderSchuldgefühle bei einer Major Depression.E) Die Störung ist nicht Folge eines vorübergehendenEinflusses einer medizinischenStörung (z.B. Enzephalitis) odereines Drogengebrauchs.Komplikationen:Bei schweren Verläufen können die Zwängezum beherrschenden Lebensinhalt werden.Die daraus folgende Vereinsamungführt zu Depressionen und der Versuch,die Ängste und Zwänge zu dämpfen, kannin einen Missbrauch von Alkohol oderTranquilizern führen.*DSM-IV = Diagnostisches und Statistisches Handbuch PsychischerStörungen, 4. Revision3


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELHäufigkeit und VerlaufHäufigkeit: Leichte Formen der Störungkommen relativ häufig vor (ca. 2,5 %),schwere Verlaufsformen sind selten (ca. 0,4%). Männer und Frauen sind gleich häufigbetroffen.Alter bei Beginn: Obwohl die Störungüblicherweise in der Jugend oder im frühenErwachsenenalter beginnt, kann sie auch inder Kindheit anfangen (häufiger bei Knaben).Verlauf: Der Verlauf ist gewöhnlich langwierigmit einer wellenförmigen Zu- und Abnahmeder Symptome. Bei etwa 15 Prozentder Betroffenen kommt es zu einem schwerenVerlauf, bei dem die beruflichen undsozialen Möglichkeiten stark eingeschränktwerden (Invalidität und Vereinsamung). In 5Prozent wird ein phasischer Verlauf mit völligfreien Intervallen zwischen den Episodenbeobachtet.EntstehungsbedingungenAnlagefaktor: familiäre Häufung,Zwillinge häufiger betroffen.Disponierte Persönlichkeit: wenigInformation. Bleuler schreibt jedoch: «Die eigentlichenZwangsneurosen entwickeln sichnur bei ängstlichen, aber gewissenhaftenMenschen. Sie leiden darunter, dass ihrSelbstvertrauen und ihre Tatkraft in keinemrichtigen Verhältnis zu ihrem Ehrgeiz stehen.Oft sind sie hochintelligent. Innere Schwächeund Ängstlichkeit schrecken sie vor derÜbernahme der grossen Aufgaben, die siesich stellen, ab. Sie können besser überlegenals handeln ... Einen Fehler begangen zuhaben, ist ihnen unerträglich.»Häufige Kombinationmit Angst, Depression, allgemeiner körperlicherErschöpfung, In leichteren Fällenkommt es nur phasenweise zur Verstärkungder zwangshaften Züge unter Belastungen:Schwangerschaft, Wochenbett, Klimakterium,Erschöpfungszustände, belastendeEreignisse und konflikthafte Situationen.Auch im Alter beobachten wir manchmalZwangsstörungen (Störung des Gehirnstoffwechsels?).Biologische BefundeNeuere Forschungen weisen eindeutigauf eine Störung des Gehirnstoffwechselshin. So haben Untersuchungen der Gehirndurchblutung(PET, SPECT, funkt. MRI)deutliche Unterschiede in der Informationsverarbeitungzwischen normalen Versuchspersonenund zwangskranken Menschengezeigt (vgl. S.21). Den Zwangskranken fehltes sozusagen an einer ausreichenden Kontrolleder Gedanken, die dann immer wiederauftreten, obwohl der auslösende Zustandlängst erledigt ist (z.B. schmutzige Händewurden bereits gewaschen).Ein weiterer Hinweis auf biologische Ursacheist die gute Wirksamkeit von Medikamenten(vgl. S. 32)4


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZwanghafte PersönlichkeitDiagnostische Kriterien nach DSM-IV *Ein durchgängiges Muster von Perfektionismusund Starrheit. Der Beginnliegt im frühen Erwachsenenalter, unddie Störung manifestiert sich in den verschiedenstenLebensbereichen. Mindestensvier der folgenden Kriterien müssenerfüllt sein:1. Übermässige Beschäftigung mit Details,Regeln, Listen, Ordnung, Organisationoder Plänen, so dass dieHauptsache dabei verlorengeht.2. Nichterfüllung von Aufgaben durchStreben nach Perfektion, z.B. könnenVorhaben aufgrund der übermässigstrengen eigenen Normen häufignicht realisiert werden.3. Arbeit und Produktivität werden überVergnügen und zwischenmenschlicheBeziehungen gestellt (ohne materielleNot).4. Übermässige Gewissenhaftigkeit, Besorgtheitund Starrheit gegenüberallem, was Moral, Ethik oder Wertvorstellungenbetrifft (dies ist allerdingsvon kulturellen oder Glaubensüberzeugungenzu unterscheiden!).5. Unfähigkeit, sich von verschlissenenoder wertlosen Dingen zu trennen,selbst wenn diese keine persönlicheBedeutung besitzen.Überzeugung, dass diese nicht korrektausgeführt werden.7. Knausrigkeit sich selbst und anderengegenüber; Geld wird für den Fall einerzukünftigen Notlage gehortet.8. Mangelnde geistige Beweglichkeit(Rigidität) und Starrsinn.Nebenmerkmale: umständliche Sprache,Übergewissenhaftigkeit, moralistisch,skrupelhaft; neigen dazu, sichund andere zu verurteilen; haben in ihrerförmlichen Art Probleme mit emotionalausdrucksstarken und flexiblen Personen.In die Beratung kommen die Betroffenenhäufig wegen depressiver Verstimmung,weil die Betroffenen durch ihre StörungKonflikte mit Partnern, Freunden undVorgesetzten haben und in ihrer kompliziertenArt Probleme am Arbeitsplatzbekommen (Schwierigkeiten, sich aufNeues einzustellen; Verlangsamung durchPedanterie).Häufigkeit: ca. 1 % in der Bevölkerung.Beachte: Eine zwanghafte Persönlichkeitist nicht einer Zwangskrankheitgleichzusetzen; zudem kommt es häufignicht zu einem Übergang von einerzwanghaften Persönlichkeit zur Zwangskrankheit.6. Unmässiges Beharren darauf, dass dieeigenen Arbeits- und Vorgehensweisenübernommen werden, oder unvernünftigerWiderwille dagegen, anderenTätigkeiten zu überlassen, aus*DSM-IV = Diagnostisches und Statistisches Handbuch PsychischerStörungen, 4. Revision5


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELDiagnostik von ZwangsstörungenDie folgenden Listen sind aus der Arbeit vonGoodman, Rassmussen et al. entnommenund finden sich in der Yale-Brown-Obsessive-Compulsive-Scale(YBOCS). Ein Stern(*) bedeutet, dass das betreffende Itemein Zwangssymptom sein kann, aber nichtmuss. Um zu entscheiden, ob Sie ein bestimmtesSymptom haben, ziehen Sie bittedie Beschreibung bzw. die Beispiele heran.ZwangsgedankenZwangsgedanken mit aggressivem Inhalt1. Ich habe Angst, ich könnte mir Schadenzufügen. Angst, mit Messer undGabel zu essen; Angst, mit scharfenGegenständen zu hantieren; Angst,an Glasscheiben vorbeizugehen.2. Ich habe Angst, ich könnte anderenSchaden zufügen. Angst, das Essenanderer Leute zu vergiften; Angst,Babys zu verletzen; Angst, jemandenvor den Zug zu stossen; Angst, dieGefühle eines anderen zu verletzen;Angst, sich schuldig zu machen, weilman bei einer Katastrophe keine Hilfeleistet; Angst, jemanden durch einenschlechten Ratschlag zu schaden.3. Ich habe gewalttätige oder grauenvolleBilder im Kopf. Vorstellungenvon Gewaltverbrechen, Körpern mitabgetrennten Gliedmassen oder anderenentsetzlichen Szenen.4. Ich habe Angst, obszöne oder beleidigendeDinge zu sagen. Angst, inöffentlichen Situationen, z.B. in derKirche, Obszönitäten auszustossen;Angst, unanständige Wörter oder Sätzezu schreiben.5. Ich habe Angst, ich könnte etwas anderesPeinliches tun. Angst, sich voranderen zu blamieren.6. Ich habe Angst, ich könnte einemungewollten Impuls folgen. Angst,an einen Baum zu fahren; Angst, jemandenzu überfahren; Angst, miteinem Messer auf einen Freund einzustechen.7. Ich habe Angst, ich könnte zum Diebwerden. Angst, die Kassiererin imLaden zu betrügen; Angst, wertloseDinge aus einem Geschäft zu stehlen.8. Ich habe Angst, ich könnte anderenaus Unvorsichtigkeit Schaden zufügen.Angst, einen Unfall zu verursachen,ohne es zu bemerken (wie einVerkehrsunfall mit Fahrerflucht).9. Ich habe Angst, ich könnte daranschuld sein, dass sich irgend etwasanderes Furchtbares ereignet. Angst,beim Verlassen des Hauses nichtsorgfältig genug alles zu überprüfenund dadurch ein Feuer oder einen Einbruchzu verursachen.Zwanghafte Angstvor einer Verseuchung10. Der Gedanke an körperliche Ausscheidungenbeunruhigt mich sehr,bzw. ich empfinde grosse Abscheuvor ihnen. Angst, sich in öffentlichenToiletten mit Aids, Krebs oder anderenKrankheiten zu infizieren; Angstvor dem eigenen Speichel, Urin, Kot,Samen oder Vaginalsekret.11. Ich mache mir grosse Sorgen überDreck oder Bazillen. Angst vor Übertragungvon Krankheitserregerndurch Sitzen auf bestimmten Stühlen,6


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELHändeschütteln oder Berühren vonTürgriffen.12. Ich habe übergrosse Angst vor Umweltgiften.Angst vor Verseuchungdurch Asbest oder Radon; Angst vorradioaktiven Stoffen; Angst vor Dingen,die aus Städten mit Giftmülldeponienkommen.13. Ich habe grosse Angst vor bestimmtenHaushaltsreinigern. Angst vor giftigenKüchen- oder Sanitärreinigern,Lösungsmitteln, Insektensprays oderTerpentin.14. Ich habe grosse Angst davor, mit Tierenin Berührung zu kommen. Angst,mich über ein Insekt, einen Hund, eineKatze oder ein anderes Tier mit einerKrankheit zu infizieren.15. Klebstoffe oder andere klebrige Materialienverursachen mir grosses Unbehagen.Angst, vor Krankheitserregernoder Giften, die an Klebeflächenoder anderen klebrigen Substanzenhaften könnten.16. Es macht mir grosse Sorgen, dass ichmich irgendwo anstecken und krankwerden könnte. Angst, durch eine Infektionoder Verseuchung nach kürzereroder längerer Zeit schwer zuerkranken.17. Ich bin besorgt darüber, dass ich andereanstecken könnte. Angst, nachKontakt mit giftigen Stoffen (z. B.Benzin) oder nach Berührung bestimmterStellen des eigenen Körpersandere anzufassen oder für sie Mahlzeitenzuzubereiten.Zwangsgedankenmit sexuellem Inhalt18. Ich habe verbotene oder perverse sexuelleGedanken, Vorstellungen oderImpulse. Belastende sexuelle Gedanken,die sich auf Fremde, Freundeoder Familienmitglieder beziehen.19. Ich habe sexuelle Zwangsvorstellungen,in denen Kinder oder eigeneenge Verwandte (Inzest) eine Rollespielen. Ungewollte Gedanken, eigeneoder andere Kinder sexuell zu belästigen.20. Ich habe Zwangsgedanken, die Homosexualitätbetreffen. Zweifelwie: «Bin ich homosexuell?»,oder:«Was, wenn ich plötzlich schwulwerde?»,wenn es keine Grundlage fürsolche Gedanken gibt.21. Ich habe Zwangsgedanken, die sichum sexuelle Übergriffe gegen anderePersonen drehen. Belastende Vorstellungenüber gewalttätige sexuelle Annäherungenan erwachsene Fremde,Bekannte oder Familienmitglieder.Zwangsgedanken über dasSammeln und Aufbewahrenvon Gegenständen22. Ich habe Zwangsgedanken, die dasAufheben und Sammeln von Sachenbetreffen. Angst davor, etwas scheinbarUnwichtiges wegzuwerfen, wasman in Zukunft noch einmal gebrauchenkönnte; der Drang, unterwegsGegenstände aufzuheben und wertloseDinge zu sammeln.Zwangsgedankenmit religiösem Inhalt23. Ich mache mir Sorgen, etwas tun zukönnen, was ein Vergehen gegen meinenGlauben darstellen würde. Angst,gotteslästerliche Dinge zu denkenoder zu sagen bzw. dafür bestraft zuwerden.24. Ich habe übermässig strenge Moralvorstellungen.Die Sorge, auch wirklichimmer «das Richtige» zu tun;Angst, gelogen oder jemanden betrogenzu haben.7


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZwanghaftes Bedürfnis nachSymmetrie und Genauigkeit25. Ich habe Zwangsgedanken über Symmetrieund Genauigkeit. Die Sorge, Bücherkönnten unordentlich im Regalstehen oder Zeitungen nicht ordentlichaufeinander liegen; Angst, dass dieHandschrift oder angestellte Berechnungenunvollkommen sind.Andere Zwangsgedanken26. Ich habe das Gefühl, bestimmte Dingeunbedingt wissen oder mir merken zumüssen. Die Überzeugung, man müsstesich bestimmte unwichtige Dinge merkenwie Nummernschilder, die Namenvon Schauspielern in Fernsehfilmen, alteTelefonnummern oder Sprüche vonAutoaufklebern oder T-Shirts.27. Ich fürchte mich davor, bestimmte Dingezu sagen. Angst, bestimmte Wörterzu benutzen (z.B. die Zahl dreizehn), dasie Unglück bringen könnten; Angst,etwas Respektloses über einen Totenzu sagen.28. Ich habe Angst davor, etwas Falscheszu sagen. Angst, nicht das zu sagen,was man sagen will, oder sich nichtrichtig auszudrücken.29. Ich habe Angst davor, Dinge zu verlieren.Angst, die Brieftasche oder unwichtigeGegenstände, wie ein StückPapier zu verlieren.30. Lästige (neutrale) Gedanken dringen inmein Bewusstsein ein. Nichtssagende,aber störende Vorstellungen, die sicheinem aufdrängen.31. Ich fühle mich durch lästige und sinnloseimaginäre Geräusche, Wörter oderMusik gestört, die in mein Bewusstseineindringen.Wörter, Lieder oder Geräusche,die sich nicht abstellen lassen.32. * Bestimmte Klänge oder Geräuschestören mich. Sich stark durch Geräuschewie laut tickende Uhren oderStimmen aus einem anderen Zimmer,die einen vom Schlafen abhalten, gestörtfühlen.33. Ich habe Glückszahlen und Unglückszahlen.Gedanken, die sich um bestimmteZahlen (z. B. die 13) drehen ,und einen veranlassen, Dinge soundsooft zu tun oder mit etwas solange zuwarten, bis die «richtige» Uhrzeit dafürda ist.34. Bestimmte Farben haben eine besondereBedeutung für mich. Angst, Gegenständemit einer bestimmten Farbezu benutzen (z. B. weil Schwarz für denTod und Rot für Blut und Verletzungstehe).35. Ich habe abergläubische Ängste.Angst, an Friedhöfen, Leichenwagenoder schwarzen Katzen vorbeizugehen;Angst vor «Todesboten». Zwangsgedanken,die um bestimmte körperliche Aspektekreisen36. Ich beschäftige mich sehr mit derGefahr, von Krankheiten befallen zuwerden. Angst, Krebs, Aids, eine Herzkrankheitoder etwas anderes zu haben,obwohl der Arzt sagt, dass alles inOrdnung ist.37.* Ich mache mir Sorgen, dass etwas mitmeinem Körper oder meinem Äusserennicht stimmt ... fürchterlich entstelltzu sein, obwohl andere einem versichern,dass dies nicht so ist.8


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELmit diesen Dingen nicht vermeidenlässt.ZwangshandlungenSäuberungs- und Waschzwänge38. Das Händewaschen nimmt bei mirunverhältnismässig viel Zeit in Anspruchoder ist mit einem bestimmtenRitual verbunden. Viele Male amTag die Hände waschen oder langesHändewaschen nach der - tatsächlichenoder vermeintlichen - Berührungeines unreinen Gegenstandes.Dies kann sich auch auf die Arme biszu den Schultern erstrecken.39. Ich habe übertriebene oder mit ganzbestimmten Ritualen verbundene Gewohnheiten,die das Duschen, Baden,Zähneputzen, Kämmen und Schminkenoder das Benutzen der Toilettebetreffen. Handlungen, die der Körperpflegedienen, z.B. Duschen oderBaden, dauern Stunden. Wird die Abfolgeunterbrochen, muss u.U. wiederganz von vorn begonnen werden.40. Ich habe zwanghafte Gewohnheiten,die die Reinigung verschiedener Dingeim Haushalt betreffen. ÜbermässigesSäubern von Wasserhähnen,Toiletten, Fussböden, Küchentischenoder Küchenutensilien.41. Ich treffe andere Vorkehrungen,um nicht mit Krankheitserregern inBerührung zu kommen. Familienangehörigedarum bitten, Insektenvernichtungsmittel,Müll, Benzinkanister,rohes Fleisch, Farben, Lack,Medikamente aus der Hausapotheke.oder Katzen dreck anzufassen bzw.wegzuschaffen, anstatt es selbst zutun. Möglicherweise der Einsatz vonHandschuhen, wenn sich der UmgangKontrollzwänge42. Ich muss kontrollieren, ob ich niemandemSchaden zugefügt habe.Kontrollieren, ob man jemanden verletzthat, ohne es zu bemerken. Anderebitten, zu bestätigen, dass allesin Ordnung ist, oder anrufen, um zufragen, wie es ihnen geht.43. Ich überprüfe, ob ich mich nichtselbst verletzt habe. Nach Blut oderVerletzungen suchen, wenn man mitscharfen oder zerbrechlichen Gegenständenhantiert hat. Häufige Arztbesuche,um sich bestätigen zu lassen,dass man unverletzt ist.44. Ich überprüfe, ob sich etwas Furchtbaresereignet hat. Die Zeitungennach Berichten von Katastrophendurchforsten, die man selbst verursachtzu haben glaubt oder im Fernsehenauf solche Berichte warten. Anderefragen, ob man nicht einen Unfallverursacht hat.45. Ich kontrolliere, ob ich keine Fehlergemacht habe. Mehrfaches Überprüfenvon Türschlössern, Küchenherdenund elektrischen Anschlüssen vorVerlassen des Hauses; mehrfachesÜberprüfen des Gelesenen, Geschriebenenoder Berechneten, um sicherzugehen,dass einem kein Fehler unterlaufenist.46.* Meine Zwangsgedanken über verschiedeneDinge, die mit meinergesundheitlichen Verfassung odermeiner äusseren Erscheinung zu tunhaben, veranlassen mich, zu überprüfen,ob alles mit mir in Ordnungist. Sich von Freunden oder Ärztenbestätigen lassen, dass man keinenHerzanfall hat oder Krebs bekommt;häufiges Puls-, Blutdruck- oder Temperaturmessen;überprüfen, ob man9


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELschlecht riecht; sein Spiegelbild überprüfenund nach hässlichen Merkmalenabsuchen.Wiederholzwänge47. Ich muss Dinge immer wieder neuschreiben oder lesen. Stunden brauchen,um ein paar Seiten einesBuches zu lesen oder einen kurzenBrief zu schreiben; besorgt sein, dassman nicht versteht, was man geradegelesen hat; den hundertprozentigpassenden Ausdruck oder Satz findenwollen; sich zwanghaft auf dieäussere Form bestimmter gedruckterBuchstaben in einem Buch konzentrierenmüssen.48. Ich muss bestimmte Routinehandlungenimmer mehrfach durchführen.Zahlreiche Wiederholungen vonHandlungen durchführen, z. B. beimEin- und Abschalten von Geräten,Haarekämmen oder Betreten und Verlasseneines Raumes; sich unwohlfühlen, wenn man diese Wiederholungenunterlässt.Zählzwänge49. Ich habe Zählzwänge. Dinge zählenwie Decken- oder Fussbodenfliesen,Bücher im Regal, Nägel in der Wandoder sogar die Sandkörner am Strand;mitzählen, wenn man bestimmte Dingewiederholt, wie z. B. das Wascheneinzelner Körperpartien.Ordnungszwänge50. Ich habe Ordnungszwänge. Papiereoder Stifte auf dem Schreibtisch oderBücher im Regal ordnen; Stunden damitverbringen, Dinge im Haus in dierichtige Ordnung zu bringen, und sichdarüber aufregen, wenn diese Ordnunggestört wird.Hort- und Sammelzwänge51. Ich habe den Zwang, Dinge zu hortenund zu sammeln. Aufbewahren alterZeitungen, Notizen, Dosen, Papiertücher,Verpackungen und Flaschen, ausder Sorge, man könnte sie eines Tageseinmal benötigen; unnütze Dinge vonder Strasse auflesen oder aus Mülleimernherausholen.Andere Zwangshandlungen52. Es gibt Rituale, die ich im Geist ausführe(andere als Zählen oder Kontrollieren).Im Kopf Rituale ausführen,z. B. Gebete aufsagen oder einen«guten» Gedanken denken, um einen«schlechten» wiedergutzumachen.Der Unterschied zu Zwangsgedankenist, dass man diese Rituale einsetzt,um eine Angst zu bekämpfen oderum sich besser fühlen zu können.53. Ich muss anderen Menschen bestimmteDinge sagen oder gestehenoder ihnen bestimmte Fragen stellen.Andere Leute bitten, zu bestätigen,dass alles in Ordnung ist; Taten zugestehen,die man niemals begangenhat; glauben, man müsste anderenLeuten bestimmte Sachen sagen, umsich besser zu fühlen.54. * Ich muss Dinge berühren, beklopfenoder an ihnen reiben. Dem Drangnachgeben, rauhe oder heisse Oberflächen(z. B. Holz oder Herdplatten)zu berühren oder andere Leute im Vorübergehenzu streifen; glauben, manmüsse einen bestimmten Gegenstandwie den Telefonapparat berühren, umdie Erkrankung eines Familienangehörigenzu verhindern.55. Ich treffe Vorkehrungen (andere alsKontrollhandlungen), um Schadenvon mir oder anderen abzuwendenoder das Eintreten furchtbarer Dingezu verhindern. Sich von scharfen oderzerbrechlichen Dingen wie Messern,10


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELScheren oder Glas fernhalten.56. * Das Einnehmen von Mahlzeitenist bei mir mit ganz bestimmten Ritualenverknüpft. Nicht in der Lagesein, mit einer Mahlzeit zu beginnen,ehe alles auf dem Tisch in einebestimmte Anordnung gebracht ist;beim Essen strikt auf die Einhaltungeines bestimmten Rituals achten;nicht essen können, bevor die Zeigerder Uhr nicht genau auf einem bestimmtenPunkt stehen.57. * Ich habe abergläubische Verhaltensweisen.Nicht mit einem Bus odereiner Bahn fahren, dessen Nummereine «Unglückszahl» (z. B. 13) enthält;am 13. des Monats nicht ausdem Haus gehen; Kleidungsstückefortwerfen, die man beim Vorbeigehenan einem Friedhof oder einer Leichenhalletrug.58. Ich reisse mir Haare heraus (Trichotillomanie).Mit den Fingern oder einerPinzette Kopfhaare, Wimpern, Augenbrauenhärchenoder Schamhaare herausziehen.Dabei können kahle Stellenentstehen, die einen zum Trageneiner Perücke zwingen.Quelle:Goodman, W.K., Price, L.H., Rasmussen, S.A. et al. (1989): TheYale-Brown Obsessive Compulsive Scale. Archives of GeneralPsychiatry 46:1006 – 1016.Deutsche Fassung bei Baer L. (1993): Alles unter Kontrolle?Zwangsgedanken und Zwangshandlungen überwinden. Bern,Toronto (Huber).Schweregrad (YBOCS)ZwangsgedankenZu Ihrer Erinnerung wiederholen wir hiernoch einmal die Definition von Zwangsgedanken(Obsessionen): Es sind unerwünschteund belastende Ideen, Gedanken,bildliche Vorstellungen oder Impulse,die sich immer wieder Ihrem Bewusstseinaufdrängen. Sie scheinen gegen Ihren Willenaufzutreten, und oft finden Sie sieabstossend. Vielleicht erkennen Sie ihreSinnlosigkeit, und vielleicht vertragensich die Zwangsgedanken nicht mit demBild, das Sie von Ihrer Persönlichkeit haben.Zur Beantwortung der ersten fünfFragen sehen Sie sich bitte noch einmaldie Zwangsgedanken von der Symptomlistean, die Sie abgehakt haben. DenkenSie beim Beantworten der Fragen bittean die letzten sieben Tage (einschliesslichdes heutigen), und markieren Sie eineAntwort pro Frage.1. Ein wie grosser Teil Ihrer Zeit ist durchZwangsgedanken ausgefüllt? Wiehäufig treten die Zwangsgedankenauf?0 = Habe keine Zwangsgedanken.1 = Weniger als eine Stunde am Tag bzw.gelegentliches Auftreten (nicht mehrals achtmal am Tag)2 = Eine bis drei Stunden am Tag bzw.häufiges Auftreten (mehr als achtmalam Tag, aber die meisten Stunden desTages sind frei von Zwangsgedanken).3 = Mehr als drei Stunden und bis zu achtStunden am Tag bzw. sehr häufige Auftreten(mehr als achtmal am Tag und inden meisten Stunden des Tages).4 = Mehr als acht Stunden am Tag bzw.ständige Anwesenheit (zu oft, um siezählen zu können, und es vergeht kaumeine Stunde ohne mehrfaches Auftre-11


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELten von Zwangsgedanken).2. Wie stark beeinträchtigen Sie dieZwangsgedanken in Ihrem Privat- undBerufsleben, bzw. bei Ihren täglichen Aktivitäten?(Denken Sie zur Beantwortungdieser Frage bitte an die Dinge, die Siewegen der Zwangsgedanken nicht tun oderweniger tun.)0 = Keine Beeinträchtigung.1 = Geringe Beeinträchtigung bei beruflichenoder privaten Aktivitäten, insgesamtaber keine Einschränkung derLebensführung.2 = Mässige Beeinträchtigung in bestimmtenBereichen des beruflichenoder privaten Lebens, aber noch zuverkraften.3 = Schwere Beeinträchtigung, führt zustarken Einschränkungen der beruflichenoder privaten Lebensführung.4 = Extreme, lähmende Beeinträchtigung.3. Wie stark fühlen Sie sich durch IhreZwangsgedanken belastet?0 = Gar nicht.1 = Gelegentliche, schwache Belastung.2 = Häufige, mässig starke Belastung,aber noch zu verkraften.3 = Sehr häufige, schwere und nurschwer zu ertragende Belastung.4 = Beinahe ständige, extreme und unerträglicheBelastung.4. Wie gross sind Ihre Bemühungen, gegendie Zwangsgedanken anzugehen?Wie oft versuchen Sie, ihnen keine Beachtungzu schenken oder sich auf etwasanderes zu konzentrieren, wenndiese Gedanken in Ihr Bewusstsein eindringen?(Es geht uns hier nicht darum,wie erfolgreich Sie dabei sind, die Gedankenin den Griff zu bekommen, sondernnur, wie sehr und wie oft Sie esversuchen.)0 = Ich versuche jedesmal, dagegen anzugehen(oder die Zwangsgedankensind so schwach, dass es nicht nötigist, aktiv dagegen anzugehen).1 = Ich versuche meistens (d. h. in mehrals der Hälfte der Fälle), dagegen anzugehen.2 = Ich versuche manchmal, dagegen anzugehen.3 = Es widerstrebt mir zwar ein wenig,aber ich lasse alle Zwangsgedankenzu, ohne zu versuchen, sie unterKontrolle zu bekommen.4 = Ich lasse den Gedanken stets freienLauf.5. Wieviel Kontrolle haben Sie über IhreZwangsgedanken? Wie gut gelingt esIhnen, sie zu stoppen oder sich auf etwasanderes zu konzentrieren? (WennSie nur selten versuchen, die Gedankenzu kontrollieren, denken Sie zur Beantwortungdieser Frage bitte an eineder wenigen Gelegenheiten zurück, beidenen Sie es versucht haben.) (Anmerkung:Diese Frage bezieht sich nichtauf Zwangsgedanken, die Sie durch dieAusführung von Zwangshandlungenstoppen.)0 = Völlige Kontrolle.1 = Grosse Kontrolle; meist gelingt esmir, die Zwangsgedanken mit einigerAnstrengung und Konzentration zustoppen oder mich abzulenken.2 = Etwas Kontrolle; manchmal gelingtes mir, die Zwangsgedanken zu stoppenoder mich auf etwas anderes zukonzentrieren.3 = Wenig Kontrolle; ich schaffe es nurselten und nur mit grossen Schwierigkeiten,mich auf etwas anderes zukonzentrieren.4 = Keine Kontrolle; ich bin kaum in derLage, meine Zwangsgedanken auchnur für einen kurzen Augenblick zuignorieren.12


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELSchweregradbei ZwangshandlungenDie Definition von Zwangshandlungenlautet – damit Sie es sich noch einmalvergegenwärtigen können – wie folgt:Es sind Verhaltensweisen oder Handlungen,zu denen Sie sich gedrängt fühlen,obwohl Sie vielleicht ihre Sinnlosigkeitoder Übertriebenheit erkennen. Vielleichtversuchen Sie zuzeiten, sich demDrang zur Ausführung dieser Handlungenzu widersetzen, was Ihnen jedochmeist schwerfällt. Vielleicht verspürenSie eine innere Spannung oder Angst, dieerst dann abklingt, wenn das bewussteVerhalten ausgeführt ist. Zur Beantwortungder folgenden fünf Fragen sehenSie sich bitte noch einmal die Zwangshandlungenvon der Symptomliste an,die Sie markiert haben. Denken Sie beimBeantworten der Fragen bitte an dieletzten sieben Tage (einschliesslich desheutigen), und markieren Sie eine Antwortpro Frage.6. Wieviel Zeit verbringen Sie mit derAusführung von Zwangshandlungen?Wie oft kommt es zu den Zwangshandlungen?(Wenn Ihre Rituale normale Alltagsverrichtungenmit einschliessen,überlegen Sie bitte, wieviel mehr ZeitSie wegen Ihrer Zwangshandlungen fürdiese Dinge brauchen.)0 = Führe keine Zwangshandlungen aus.1 = Ich verbringe weniger als eine Stundeam Tag mit Zwangshandlungen, bzw.gelegentliche Ausführung zwanghaftenVerhaltens (nicht öfter alsachtmal am Tag).2 = Eine bis drei Stunden am Tag verbringeich mit Zwangshandlungen,bzw. häufige Ausführung zwanghaftenVerhaltens (öfter als achtmalam Tag, aber in den meisten Stundendes Tages kommt es nicht zu Zwangshandlungen)3 = Mehr als drei und bis zu achtStunden am Tag verbringe ich mitZwangshandlungen, bzw. sehr häufigeAusführung zwanghaften Verhaltens(öfter als achtmal am Tag, undin den meisten Stunden des Tageskommt es zu Zwangshandlungen).4 = Mehr als acht Stunden am Tag verbringeich mit Zwangshandlungen,oder fast ständige Ausführungzwanghaften Verhaltens (zu oft, umdie Zwangshandlungen zählen zukönnen, und es vergeht kaum eineStunde ohne mehrfaches Ausführenvon zwanghaften Handlungen).7. Wie stark beeinträchtigen Sie dieZwangshandlungen in Ihrem PrivatundBerufsleben? (Wenn Sie momentannicht beschäftigt sind, überlegen Siebitte, wie sehr die ZwangshandlungenSie bei Ihren täglichen Aktivitäten einschränken.)0 = Keine Beeinträchtigung.1 = Geringe Beeinträchtigung bei beruflichenoder privaten Aktivitäten, insgesamtaber keine Einschränkung derLebensführung.2 = Mässige Beeinträchtigung in bestimmtenBereichen des beruflichenoder privaten Lebens, aber noch zu13


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELverkraften.3 = Schwere Beeinträchtigung, führt zustarken Einschränkungen der beruflichenoder privaten Lebensführung.4 = Extreme, lähmende Beeinträchtigung.8. Wie würden Sie sich fühlen, wennSie an der Ausführung Ihrer Zwangshand-lung(en)gehindert würden? Wieunruhig würden Sie werden?0 = Gar nicht unruhig.1 = Nur ein bisschen unruhig.2 = Es würde eine spürbare, aber erträglicheinnere Unruhe entstehen.3 = Es würde zu einem starken undkaum erträglichen Anstieg an innererUnruhe kommen.4 = Extreme, lähmende Unruhe oderAngst.9. Wie stark sind Ihre Bemühungen,gegen die Zwangshandlungen anzugehen?Wie oft versuchen Sie, mit einerZwangshandlung auf zuhören? (ÜberlegenSie nur, wie oft oder wie sehrSie versuchen, gegen die Zwangshandlungenanzugehen, nicht, wie gut esIhnen gelingt.)0 = Ich versuche jedesmal, dagegen anzugehen(oder der Drang, die Handlungenauszuführen, ist so schwach,dass es nicht nötig ist, aktiv dagegenanzugehen).1 = Ich versuche meistens (d. h. in mehrals der Hälfte der Fälle), dagegen anzugehen.2 = Ich versuche manchmal, dagegen anzugehen.3 = Es widerstrebt mir zwar ein wenig,aber ich gebe jedem Drang zur Ausführungeiner Zwangshandlung nach,ohne zu versuchen, dagegen anzugehen.4 = Ich gebe jedem Drang zur Ausführungder Handlungen bereitwillignach.10. Wieviel Kontrolle haben Sie über IhreZwangshandlungen? Wie gut gelingtes Ihnen, sie zu stoppen? (Wenn Sienur selten versuchen, dem Drang zurAusführung der Handlungen zu widerstehen,denken Sie zur Beantwortungdieser Frage bitte an eine der wenigenGelegenheiten zurück, bei denen Sie esversucht haben.)0 = Völlige Kontrolle.1 = Meist gelingt es mir, die Zwangshandlungenmit einiger Anstrengungund Willenskraft zu stoppen.2 = Manchmal gelingt es mir, dieZwangshandlungen zu stoppen, aberes fällt mir schwer.3 = Ich schaffe es nur, das zwanghafteVerhalten eine Weile hinauszuzögern,aber schliesslich muss ich es dochkomplett ausführen.4 = Ich bin selten in der Lage, daszwanghafte Verhalten auch nur für einekurze Zeit hinauszuzögern.Auswertung:Der Gesamtpunktwert wird berechnet,indem die markierten Zahlen neben denAntworten zusammengezählt werden.PunkteSchweregradUnter 10 Sehr schwacheSymptomatik10 bis 15 SchwacheSymptomatik16 bis 25 MittelschwereSymptomatikÜber 25 SchwereSymptomatik14


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELUnterscheidung von anderen Störungen(Differentialdiagnose)Abgrenzung von normalen«zwanghaften»Symptomen:Beispiele: Eine Melodie gehteinem nicht aus dem Kopf,man zählt immer Treppen oderPflastersteine, versucht sichjede Autonummer zu merken,man kontrolliert mehrmals, obdie Haustür abgeschlossen ist,man kann das Zimmer nichtverlassen, wenn es nicht aufgeräumtist, GuteNachtritualebei Kindern, Rituale beim Essen.Die Beispiele zeigen, dass esviele Übergänge zwischen «normal»und «krankhaft»” gibt.Normalerweise lassen sich solche Gedankenund Rituale leicht unterbrechen, ohne dasses zu seelischem Leiden kommt.Süchte und Triebstörungen:Manche Aktivitäten, die im Übermassbetrieben werden, werden bisweilen als«zwanghaft» bezeichnet, so z.B. übermässigesoder abweichendes Sexualverhalten(z.B. Fetischismus und andere Perversionen),Glücksspiel und Kaufrausch, Alkohol- undDrogenmissbrauch sowie Essstörungen(Anorexie oder Bulimie).Jedoch handelt es sich bei diesen Aktivitätennicht um echte Zwänge, denn die Person beziehtaus dem jeweiligen Verhalten (wenigstenskurzfristig) Lustgefühle und möchtedagegen Widerstand leisten, weil aus demVerhalten schädliche Konsequenzen folgenkönnen.Die Abbildung zeigt einige (nicht alle!)Übergänge von normaler wiederholterAktivität (meist mit kurzfristigerLust oder Genuss verbunden) bis hin zupsychotischen Phänomenen, die wedernachvollziehbar noch vergnüglich sind.Grübeln bei depressionBei einer schweren Depression ist zwanghaftesGrübeln über eine schwere Lebenssituationoder über andere Lösungsmöglichkeitenhäufig. Oft ist das Grübeln mitausgeprägten Ängsten verbunden. Jedochfehlt diesen Symptomen die Eigenschaft, alssinnlos empfunden zu werden, da die Personim allgemeinen ihre Gedankengänge alssinnvoll ansieht, wenn auch möglicherweiseals übertrieben. Deshalb sind es keine echtenZwangsgedanken.15


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELFortsetzungDifferentialdiagnoseManchmal kann der Zwangsgedanke zurüberwertigen Idee werden, wie etwader nahezu unerschütterliche Glaube, manbeschmutze andere Leute. Solche überwertigenIdeen können bizarr sein und legen eineSchizophrenie nahe. Jedoch kann die Personmit einer Zwangsstörung, die eine überwertigeIdee hat, üblicherweise nach einigerDiskussion die Möglichkeit anerkennen, dassihr Glaube unbegründet ist.Abgrenzung vom Wahn: Zwangskrankeleiden unter ihren Gedanken, während derWahnkranke davon überzeugt ist. Bei einerSchizophrenie ist stereotypes Verhaltenhäufig; es ist aber eher auf Wahnphänomenezurückzuführen als auf echte Zwangshand-lungen. Beispiel: Eine junge Frau fühlt ständig«eine schwarze Masse in meinem Körperaufsteigen, die mich ersticken wird.» Siegeht deshalb bis zu zehnmal täglich ins Bad,um den Schmutz abzuwaschen.Tics: Schliesslich müssen hier noch Tics undkomplexe Impulsstörungen erwähnt werdenwie z.B. das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom(vgl. Seite 18–19).BEISPIEL:«Kaufzwang» in der Manie oder Zwangskrankheit?Kaufzwang / ManieZwangskrankheitGrund-StimmungUrteilsfähigkeitImpulskontrollegehoben mit Begleiterscheinungender Manie (euphorisch, angetrieben,überaktiv, ideenflüchtig, distanzlos,weniger Schlafbedürfnis)vermindert («kein Gefühl mehr fürPreise und den Sinn der eingekauftenSachen»)Verminderung der Kontrolle von ansich normalen Impulsen («DiesesKleid gefällt mir! Das kauf ich!»)gedrückte Stimmung, angespannt,deprimiert, deutlicherLeidensdruckintakt: sieht die Unsinnigkeit desZwangs ein, muss aber einen Impulsausführen, weil sonst die innereSpannung unerträglich wirdVermehrte, drängende und in sichunsinnige Impulse, die von irrationalerAngst diktiert werdenManische Patientenkönnen einen Kaufrauscherleben, der für sie«wie ein Zwang» ist.Dennoch kann man ihnnicht mit einer Zwangskrankheitgleichsetzen.Erst die Betrachtung dergesamten Lebensumstände,der Grundstimmung,der Urteilsfähigkeitund der Impulskontrolleermöglicht eineUnterscheidung. Die nebenstehendeTabelle sollals Beispiel für das Vorgehender Unterscheidungsein, das auch beianderen Störungen angewandtwerden kann.16


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELReligiöse Ritualeoder Zwänge?In vielen Religionen gibt es genaue Vorschriftenund Regeln. Hält man sie nicht ein, sokann Gott Gebete nicht hören, oder der Regelverstosswird als Sünde bezeichnet undführt zum Verlust von Gottes Segen.Nicht weniger als 613 Gebote umfasstdas jüdische Gesetz, 248 Anweisungen und365 Verbote. Alles hat seine Bedeutung: 248entspricht der Anzahl der Gebeine eines Menschen,365 der Anzahl der Tage eines Jahres.Darunter sind die 10 Gebote, aber auch ganzspezifische Anweisungen für die Zubereitungvon Speisen oder für die persönliche Hygiene.Im Bemühen, Fleisch und Milch nicht zuvermischen, ergeben sich für gläubige Judensehr komplizierte Rituale und Regeln. So mussman nach dem Genuss von Fleisch mindestens6 Stunden warten, bis man wieder eine Milchspeisezu sich nimmt. Zur Bestimmung, ob einLebensmittel «kosher» ist, muss ein Rabbinerkonsultiert werden, der nach komplexen RegelnRecht spricht. Hat eine Frau die Mens, sogilt sie rituell als unrein und muss warten, biskeine Spur von Blut mehr zu finden ist. Erstnach dem rituellen Bad gilt sie wieder als rein.Für zwanghafte Frauen kann dies zueinem echten Problem werden, wenn sie dieReinlichkeitskontrollen zu einem aufwendigenProzedere machen. Waschungen vordem Gebet müssen nach einer ganz genauenOrdnung vorgenommen werden. Kleider dürfennicht aus einem Gemisch von Wolle undLeinen sein. Gebetsriemen müssen in einerganz bestimmten Vorgehensweise und unterspeziellen Gebeten angezogen werden. DieTätigkeiten am Sabbath sind genauestensvorgeschrieben. Nicht einmal einen Lichtschalterdarf ein frommer Jude betätigen.Dies führte Sigmund Freud dazu, die ReligionIm Judentum, aber auch im Islam regelnviele Vorschriften das Gebet, das Essen, dieReinlichkeit und die Kleidungsvorschriften.pauschal als «universelle Zwangsneurose»zu bezeichnen.Ritual oder Zwang?Doch selbst solche ausführlichen Ritualemüssen nicht zu Zwangsstörungen führen.Gesunde Menschen können zwischen Ritualund Zwang unterscheiden.So schreibt ein jüdischer Rabbiner:«Manche Nichtjuden kritisieren diesen gesetzlichenAspekt des traditionellen Judentumsund sagen, dass dadurch Religion aufeine Reihe von Ritualen ohne spirituellenInhalt reduziert werde. Obwohl es sichermanche Juden gibt, die die Halacha so vollziehen,so ist dies nicht deren Absicht. ImGegenteil, wenn man das Gesetz richtigbeachtet, so kann es die Spiritualität imLeben einer Person noch verstärken, weildie trivialen, gewöhnlich weltlichen Handlungenwie Essen oder sich kleiden in einenAkt religiöser Bedeutung verwandelt».(vgl. Internet: www.jewfaq.org).In der Therapie von religiösen Patienten istes wichtig, die Rituale zu kennen, um sie voneinem Zwang oder von einem religiösen Wahnzu unterscheiden.17


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELTic-StörungenTics sind unwillkürliche, plötzliche,schnelle, wiederholte, arrhythmische,stereotype motorische Bewegungen oderLautäusserungen. Sie werden als unvermeidbarempfunden, können jedoch überverschieden lange Zeiträume unterdrücktwerden. Tics verschlimmern sich häufigunter Stress und schwächen sich in der Regelwährend des Schlafs weitgehend ab, aberauch bei Tätigkeiten, die eine gezielte Aufmerksamkeiterfordern (z.B. Lesen, Nähen,Spielen eines Musikinstruments).Einfache motorische Tics: Augenblinzeln,Hals- und Schulterzucken undGesichtsgrimassen.Einfache vokale Tics: Hüsteln, Räuspern,Grunzen, Schnüffeln, Schnarchen,BellenKomplexe motorische Tics: Bewegungendes Tics, Spielen mit den Haaren,Schlagen oder Beissen eigener Körperteile,Springen, Berühren, Stampfen und Beriechenvon Gegenständen.Komplexe vokale Tics: zusammenhanglosesWiederholen von Worten oderSätzen, Koprolalie (Verwendung von unanständigen,häufig obszönen Ausdrücken),Palilalie (krankhafte Wiederholung voneigenen Lauten und Wörtern), Echolalie(Wiederholung des zuletzt gehörten Lautes,Wortes oder Satzes)Nebenmerkmale: Unbehagen in sozialenSituationen, Scham, Befangenheit sowiedepressive Stimmung. Einschränkungen inAusbildung und Beruf sind möglich, wennder Tic sehr störend ist.Häufigkeit und Verlauf: etwa bei 5bis 20 % aller Kinder, dreimal häufiger beiJungen als bei Mädchen, Beginn in Kindheitund Adoleszenz, Verlauf: vorübergehendoder chronisch.Drei Hauptformenvon Ticstörungen:A) Gilles-de-la-Tourette-SyndromB) Chronische Tic-Störung (entwedermotorische oder vokale Tics, abernicht beides)C) Vorübergehende Tic-StörungsUPERMARIO IM gEHIRNDie drängendeKraft von einschiessendenImpulsenwird erfahrbarin den modernen Videospielen.Ständig tauchenHindernisse auf, die den fröhlichen Supermarioin Trab halten: Er muss springen,rennen, zurückweichen, sich ducken odereinen Taler holen. Wehe, wenn er nichtrechtzeitig ausweicht, dann ist er baldGAME OVER.Bei hoher Konzentration ist man in derLage, die plötzlichen Hindernisse zu bewältigen,doch die Anstrengung wird immergrösser, bis es den armen Supermario docherwischt – der Tic bricht also wieder durch.18


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELGilles-de-la-Tourette SyndromEs handelt sich bei der Tourette-Störung umein neurologisches Leiden, das nach neuenForschungen genetisch bedingt ist (Veränderungauf dem Chromosom 18).Häufigkeit: Jungen dreimal häufiger betroffenals Mädchen.Vokaltics: Was die Störung so beängstigendund bizarr machen kann, sind dieLaute, die die Patienten von sich geben,insbesondere wenn sie Tierlauten (wie Jaulenoder Bellen) ähneln. Diese lassen sich jedochdurch das plötzliche Zusammenziehen vonMuskeln im Zwerchfell, dem Brustkastenund der Stimmritze erklären, wodurchLuft rasch herausgepresst wird und die Geräuscheerzeugt.Noch verwirrender ist das wiederholteungewollte Hervorstossen von anstössigenWörtern (wie z.B. «Scheisse»), auch Koprolaliegenannt. Es handelt sich dabei umkomplexe Tics, die offenbar ganze Wortfolgenaus dem Gehirn aktivieren können. DieVokaltics können sehr auffällig und störendsein, sodass es zu Schulschwierigkeiten,Vereinsamung und depressiven Verstimmungenkommen kann.Behandlung: Aufklärung der Betroffenenund ihrer Eltern. Behandlung mitMedikamenten (spez. Haldol, Risperdal,Dipiperon und Tiapridal) bringt oft deutlicheVerbesserung. Unterstützung in Krisen.Betroffene können ihre Tics manchmalin Bewegungen und Worte einbauen.Nach der Pubertät erfolgt oft deutlichesNachlassen der Tics.Info im Internet:www.tourette.dewww.tourette.chDEFINITION nach DSM-IVA. Kombination von motorischen undvokalen Tics (Schnalzen, Grunzen, Jaulen,Bellen, Schnüffeln, Husten oderWörter), allerdings nicht unbedingtgleichzeitig.B. Die Tics treten mehrmals täglich (meistensanfallsartig), fast jeden Tag oderschubweise über einen Zeitraum vonmehr als einem Jahr auf.C. Der betroffene Körperteil, die Anzahl,die Häufigkeit, die Komplexität undder Schweregrad der Tics ändern sichmit der Zeit.D. Beginn vor dem 21. Lebensjahr.E. Kein Zusammenhang mit neurologischenErkrankungen oder Drogengebrauch.Unterschied zwischenTics und Zwang:Eine Zwangshandlung wird als bewusstewillentliche Handlung erlebt,die Antwort auf einen komplexen Gedankenist und in ein genau festgelegtesRitual eingebaut wird.Tics hingegen sind meist einfache,stereotype Bewegungen oder Laute,die unbewusst und ungewollt erfolgen.Sie dienen keinem nachvollziehbarenZweck und lindern auch nicht irgendwelcheÄngste, wie dies bei Zwangshandlungender Fall ist. Manchmal könnenallerdings Zwangsstörungen undTic-Störungen gleichzeitig nebeneinanderauftreten.19


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELWie man sich früherZwänge erklärteAlle Theorien zur Erklärung von Zwängendienten dazu, das Unverständlicheverständlich zu machen und damitvielleicht auch einen Weg zur Heilung zufinden. Die Theorien wurden jeweils durchden herrschenden Zeitgeist mitbestimmt.So erklärte man im Mittelalter Zwängeund Tics als Zeichen einer dämonischenBesessenheit. Heilung könne nur durcheine Dämonenaustreibung (Exorzismus)erzielt werden.Im 19. Jahrhundert kamen psychologischeTheorien auf. Eine lautete: Zwängesind die Folge einer Störung der intellektuellenFunktion, der es den Kranken«Die Zwangsneuroseist der Psychoanalyseliebstes, aber auch ihrschwierigstes Kind.»Geflügeltes Wortnicht mehr erlaubt, zwischen wichtig undunwichtig zu unterscheiden. Die zweitelautete: Zwangskranke leiden an einer Störungdes Gefühlslebens: Ängste besetzeneinen Gedanken und drängen diesen dannmit übermässiger Kraft ins Bewusstsein.Der französische Psychiater Janetvermutete eine Verminderung mentalerEnergie, die zu einer Desorganisation derGedanken und zum Verlust der Willensherrschaftüber die Gedanken führte.Sigmund Freud sah hinter den Zwängeninnerpsychische Konflikte, die durchAbspaltung von Affekten, durch Ungeschehenmachenund durch ReaktionsbildungZwänge werden durch Verhexung undBesessenheit hervorgerufen.Der Hexenhammer«Zwangsvorstellungen haben einengeheimen Sinn. Es gibt keinen Unsinn,wenn man die Sprache des Unbewusstenversteht.» Wilhelm Stekel«Die Zwangsneurose ist als pathologischesGegenstück zur Religionsbildungaufzufassen, die Neurose als eine individuelleReligiosität, die Religion als eineuniverselle Zwangsneurose zu bezeichnen.»Sigmund Freud«Zwangskranke sind Verbrecher ohne denMut zum Verbrechen.»Wilhelm StekelZweifel entstehen aus der Verwechslungvon Schein und Sein. Die Angst, einen Gashahnnicht richtig zugedreht zu haben, istin Wirklichkeit die Angst, seine Sexualitätnicht im Griff zu haben.Wilhelm Stekelabgewehrt würden. Häufig seien dieseKonflikte in letzter Konsequenz sexuellerArt, dürften jedoch nicht in dieser Formzugelassen werden und zeigten sich dannin scheinbar weniger anstössigen Zwängen.Obwohl die Deutungen Freuds unddie psychoanalytische Behandlung vonZwangsstörungen sich in der Behandlungnicht bewährt haben, lassen sich doch ausseinen Schriften hochinteressante Beobachtungenableiten.20


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELBiologische UrsachenStirnhirnIm Jahre 1987 revolutionierte eine Studieaus Los Angeles die Vorstellungen überdie Entstehung der Zwangsstörungen. DieForscher hatten in bildgebenden Verfahren(PET = Positronen-Emissions-Tomografie)deutliche Unterschiede zwischen der Hirnaktivitätbei Gesunden und zwangskrankenPatienten gefunden. Seither wurdendie Befunde von vielen Arbeitsgruppenweltweit bestätigt. Bei den Betroffenenliegt eine Störung in zwei Bereichen vor:a) Basalganglien und Nucleus caudatus,steuern und filtern die Informationsverarbeitung(vgl. S. 24).b) Orbitale Rindenbereiche des Stirnhirns.Das Stirnhirn ist der Sitz der Persönlichkeitmit ihren Grundhaltungen, Werten,der Fähigkeit zum Beurteilen und Planen.Man nimmt an, dass im orbitalenStirnhirn wichtige Bezüge zu den ThemenOrdnung, Gewalt, Hygiene, Sex,Nähe/Distanz vermittelt und beeinflusstwerden. Beim Normalen bleibenGedanken zu diesen Themen wenigerhängen als beim Zwangskranken.Eine Störung in diesen beiden Bereichenkann dazu führen, dass es zu kreisendenGedanken kommt, die vom Restdes Bewusstseins als fremd und damitals Zwang erlebt werden. Die Störung desZusammenspiels der cerebralen Systemekönnte dafür verantwortlich sein, dassWerte, Gefühle und Handlungsmusternicht mehr flexibel an neue Situationenangepasst werden können.Trotz einzelner Befunde besteht weiterhinein grosser Forschungsbedarf.Literaturhinweis: S. Karch & O. Pogarell (2011): Neurobiologie der Zwangsstörung. Nervenarzt82:299–307.21


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELDas Erleben der ZwangsstörungViele Zwangskranke erleben ihren Zwangals völlig sinnlos. Andere wissen um Auslöser,die sich später zum bizarren Zwangausweiteten. Die Deutung von Zwangsgedankenund Zwangshandlungen sollte jedochsehr vorsichtig angegangen werden.Die Erfahrung hat gezeigt, dass psychodynamischeDeutungen nicht zur Lösung derZwangsstörungen führen.Auch wenn Patienten sich selbst Vorwürfemachen («Habe ich diese Zwänge,weil ich als junger Mann onaniert habe?»),so muss man sie auf die grösseren Zusammenhängeund die heute bekannten Ursachenhinweisen.Die einseitige Frage nach psychologischenoder spirituellen Ursachen kannneue Schuldgefühle erzeugen und verhindern,dass der Betroffene und seine Angehörigesinnvolle und wirkungsvolle Wegezur Bewältigung finden.1. Einschiessender Zwangsimpulsoder Zweifel: Der Impuls wird alsunsinnig empfunden; die Vernunft versuchtWiderstand entgegenzusetzen.2. Spannungsaufbau: Es kommt zueiner langsam ansteigenden Spannungzwischen Zwang und Vernunft. Dieinneren Diskussionen und Kämpfewerden immer heftiger. Der Drang, denImpuls auszuführen bzw. der drohendenGefahr entgegenzuwirken, wird immerintensiver, manchmal verbunden mitpsychosomatischen Symptomen. DieGedanken sind so absorbiert, dass dienormalen Tätigkeiten und Aufgaben beeinträchtigtwerden; man wirkt häufigergedankenverloren, angespannt, innerlichweggetreten.3. Nachgeben: Die Spannung wirdderart unerträglich, dass man sich entschliesst,den Widerstand aufzugeben.4. Zwangshandlung: Diese wird oftwie eine Befreiung erlebt, auch wennman sich gleichzeitig schämt, dem unsinnigenImpuls nachgegeben zu haben.Das Ausführen des Zwanges bedeutetein Ende des Kampfes und gibt vorübergehendeine gewisse Ruhe.5. Ruhephase: Allmähliche Beruhigungder Spannung bis es zu einem erneutenZwangsimpuls kommt.22


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZur ZwangsthematikDie Thematik von Zwangsgedanken isthäufig geprägt von Dingen,— die für den Betroffenen anstössig,verboten, oder mit Angst besetzt sind(Schmutz, Krankheit, sexuelle Nähe,Flüche, Obszönitäten).— ein überhöhtes Gewissensziel darstellen(umfassende Sauberkeit, vollständigerGlaube).— etwas Schlimmes gegen eine geliebtePerson darstellen (z.B. die geliebteFreundin verletzen, oder im religiösenBereich, Gott oder Jesus Christus zuschmähen, die man doch liebt und verehrt).Zwänge sind bestimmt von Ängsten(es könnte einem selbst oder jemand anderemetwas passieren) und von Schuldgefühlen(man sei schuld, dass etwas passierenkönnte; man könnte sich versündigen).Ziel der Zwangshandlungen:Angst abbauen; Absicherung gegen Fehler;Versuch, Schlimmeres zu verhüten.Zwangshandlungen dienen dazu, Gefahrenzu vermeiden und Gefahren abzuwenden,allerdings Gefahren, die der«Normale» nicht als Gefahr empfindet. Daimmer neue Gedanken einschiessen («Wieeine Kugel im Flipperkasten»), werden dieRituale immer komplizierter und nehmenoft deutlich magische Züge an, die Unglückverhindern sollen. — Bei religiösenMenschen häufig geistlich motivierte magischeHandlungen, die das grösste Unglückfür einen Christen, die Verdammnis,abwenden sollen (Beispiel: eine Fraumöchte sich durch und durch vom WortGottes beeinflussen lassen. Sie legt daherauch nachts die Bibel unter ihr Kopfkissen).Ein Jurist verlässt am Abend seineWohnung, um ein wenig Luft zuschöpfen. Vorher sagt er sich: Dumusst alle Gashähne ordentlich zumachen,damit in deiner Abwesenheitkein Unglück geschieht. Er dreht alleHähne ab und geht auf die Strasse.Kaum ist er vor dem Haustor, soüberfällt ihn der Zweifel: Hast duwirklich alle Gashähne abgedreht? Erbekommt nun Angst, er könnte docheinen Hahn nicht recht abgedreht haben,etwa nach links statt nach rechts.«Unsinn!» — sagt er sich. «Du hastihn doch abgedreht. Übrigens ist jadeine Wirtschafterin da, die nachsehenwird, wenn sie die Betten machenwird.» Bei diesem Gedanken steigertsich die Angst. Wie? Wenn sie miteinem brennenden Zündholz ins Zimmerkäme? Da würde ja eine Explosionentstehen und das Mädchen gingezugrunde. Dann würde er zur Verantwortunggezogen werden. «Nein!Es ist alles doch ein Unsinn!» sagter sich. «Du hast den Gashahn abgedreht,die kleine Flamme hörte sofortzu brennen auf, folglich ist sie abgedreht.»Trotz dieser deutlichen Erinnerungsetzt der Zweifel wieder einund sagt: «Du hast den Gashahn nichtzugemacht.» Schließlich eilt er nachHause, stürzt atemlos in das Zimmerund überzeugt sich, dass er den Hahnganz, wie es sich gehört, zugemachthat.(nach W. Stekel)23


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELWenn der Filter der Gedanken versagtDie Erkenntnisse der modernen Hirnforschungund die vielfältigen Beobachtungenvon Zwangskranken haben gezeigt,dass beim normalen Menschen eine gesunde«Dämpfung» oder ein Filter eingebaut ist,der einschiessende Ängste und Impulsekritisch überprüft. Als Richtschnur dientdas Wertsystem eines Menschen und diebisherigen Erfahrungen, die stark von Gefühlengeprägt werden. Diese Strukturenbefinden sich in den Basalganglien undim limbischen System. Wenn jemand z.B.eine Türklinke berührt, wird der Gedanke«Ich habe mich beschmutzt» entwedergar nicht auftreten oder sofort durch dieVernunft als unwahrscheinlich oder ungefährlichverworfen. Selbst bei Themen, diemit mehr Gefühlen besetzt sind (z.B. Angstvor Ansteckung mit AIDS, Gedanke an einobszönes Wort etc.) wird kein Alarm ausgelöst,weil der Filter seine Funktion erfüllt.Anders beim Zwangskranken: weilhier der Filter seine Funktion nicht erfüllt,werden angstbesetzte Impulse ohne dienötige Dämpfung ins Stirnhirn weitergeleitet,wo sie wie eine zweite, von aussenaufgezwungene Wirklichkeit erlebt werden.Zudem wird das Referenzsystem der Werteverzerrt und in erhöhte Alarmbereitschaftversetzt. So wird statt einer angepasstenVerhaltensreaktion das oberste Ziel allenHandelns und Denkens die Abwehr einersubjektiv erlebten Gefahr.Anmerkung: Die hier geschildertenVorgänge sind natürlich außerordentlichvereinfacht dargestellt, decken sichaber doch mit dem heutigen Wissens standder Neurobiologie (vgl. auch S. 21).BEISPIELDie 32-jährige Bettina R. wagt sich wegenihrer Zwänge kaum mehr in denBus. «Wenn ich im Bus sitze, beobachteich genau die Menschen um mich herum.Ich unterscheide zwischen sauberenund nicht sauberen Mitfahrern.Vor allem bei den Nichtsauberen achteich darauf, wo sie stehen und wo siesich festhalten. Setzt sich jemand nebenmich, dann achte ich darauf, dassich ihn nicht berühre. Auch kann ichmeine Einkaufstasche nicht auf den Bodenstellen, sonst wird sie verschmutzt.Mit meinen Augen kontrolliere ich dieFahrgäste um mich herum. Zuhausemuss ich nach einer Fahrt erst einmalduschen.»NORMALER FILTER: ein wenigSchmutz gehört zum Alltag. NORMA-LE WERTE: Normale Berührungen imBus sind nicht gefährlich. VERZER-RUNG: übermäßiges Gefühl der Verschmutzung,FILTER: ständige Wachsamkeitbei kleinsten Risiken.24


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFEL25


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELTriebkonflikt und Gewissen«Wie ein Zwang!»An den Grenzbereichen der Zwangsstörungbeobachtet man verschiedene Impulsstörungen,die von den Betroffenen«wie ein Zwang» erlebt werden. Das untenstehendeSchema des Ablaufs einersolchen Störung kann man bei folgendenBildern beobachten:— Sexualprobleme (z.B. Fetischismus,Voyeurismus, Porno-Konsum)— Pathologische Eifersucht— Kleptomanie— Bulimische Fressattacken— Episodischer DrogenmissbrauchZwanghafte Variantender NormWährend Zwang als unsinnig erlebt wird,sind Störungen von Trieb und Impuls eherals überhöhte und in ihrer Qualität zwanghafterlebte Varianten der Norm zu betrachten,die zumindest in ihrer Entladungals lustvoll oder befriedigend erlebt werden.Allerdings erleben die Betroffenenähnliche Vorgänge bzw. Phasen wie derZwangskranke. Während beim Zwangskrankendie Vernunft das Gegenüber ist,erleben die Betroffenen hier oft die mahnendeStimme des Gewissens.Störungen der ImpulskontrolleDazu werden folgende Störungen gezählt:- Pyromanie (Feuer legen)- Kleptomanie (impulshaftes Stehlen)- Trichotillomanie (vgl. S. 29)Compulsive Sexual Behavior:Unter diesem Begriff werden als zwanghaftempfundene sexuelle Handlungenund Perversionen zusammengefasst.Eine besondere Form, die zunehmend anBedeutung gewinnt, ist CYBERSEX oderAbhängigkeit von Internet-Pornographie.Links zum Thema: www.seminare-ps.net26


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELSechs Phasen1. Erster Impuls: Erste Versuchung,etwas Verbotenes oder Unanständiges zutun; erstes Auftreten von eifersüchtigemVerdacht; zunehmende innere Leere undSehnsucht nach dem «Kick». Das Gewissenoder die Vernunft erwacht und es kommtzu einer langsam ansteigenden Spannungzwischen Trieb und Gewissen.2. Spannungsaufbau: Die Gedankenwerden immer stärker von dem Impulsgefangen und absorbiert. Die inneren Diskussionenund Kämpfe werden immer heftiger.Der Drang, das Verbotene zu tun,wird immer intensiver, oft verbunden mitkörperlichen Symptomen einer innerenSpannung (Verspannungen, Herzklopfenetc.). Die Gedanken sind so absorbiert,dass die normalen Tätigkeiten und Aufgabenbeeinträchtigt werden, man wirkthäufiger gedankenverloren, angespannt,innerlich weggetreten.löst durch einen Anstieg der Gewissensspannung.5. Gewissenskonflikt: RascherAnstieg von Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen,Schuldgefühlen, Gefühl des Beschmutztseins.Bemühungen um Wiedergutmachung.6. Refraktärphase: Allmähliche Beruhigungder Selbstvorwürfe («Mir ist vergeben»,«Ich habe es abgelegt und hintermir gelassen», «Es plagt mich nicht mehr»),Entschlossenheit, nicht mehr rückfälligzu werden («Das tue ich mir nicht mehran!», „Ich mag gar nicht mehr»). Ruhenvon Trieb- und Gewissensspannung bis eszu einer erneuten Phase 1 kommt.3. Nachgeben: Die Spannung wirdderart unerträglich, dass man sich entschliesst,den Widerstand aufzugeben.Man nimmt die Niederlage hin und lässtzu, dem Drang nachzugeben. Angesichtsder inneren Kämpfe gleicht dieser Entschlussimmer noch einer Erleichterung,einem Dampfablassen, das eine Katastropheverhindert. Gleichzeitig wird die Stimmedes Gewissens unterdrückt bzw. ausgeblendet.4. Entladung: Diese wird oft wie eineBefreiung erlebt, im sexuellen Bereichvielleicht auch als lustvoll. Sie bedeutetein Ende der langen Kämpfe. Das Gefühlder Befreiung, Entlastung, Entspannungim Trieb-/Zwangsbereich wird nun abge-27


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZwangsrituale: Was sollen sie bewirken?Kaum eine Erscheinungsform des Zwangsist so schwer zu verstehen wie ein Ritual.Unter einem Ritual versteht man einenfestgelegten Ablauf von Handlungen oderGedanken, die einem bestimmten Zweckdienen. Beim Zwangskranken kommen oftäußerlich sehr uneinfühlbare Rituale vor.Erst ein genaueres Gespräch über denSinn kann Aufschluss über den verborgenenSinn bzw. über den ursprünglichenAuslöser geben. Dieser Auslöser kann banalsein, wie die Verknüpfung der Dreieinigkeitmit dreimaligem Atmen. Er kann aberauch dramatisch sein: Eine junge Frau wirdZeugin eines Unfalls, bei dem ein Radfahrerschwer verletzt wird. Seither ist sie niesicher, ob sie nicht auf dem Heimweg mitdem Auto einen Radfahrer angefahren hat,ohne es zu merken. Oft fährt sie die ganzeStrecke nochmals ab, um sich Gewissheitzu verschaffen.Wesentliches Ziel zwanghaftenVerhaltens ist es, eine drohende Gefahrabzuwehren. Doch für den Zwangskrankenbergen auch scheinbar harmloseEreignisse und Gedanken tiefeGefahren, die dann nur durch ein Gegenritual«gebannt» werden können.Ihnen fehlt es an der gedanklichen Filterfunktion,die ihnen die Gewissheit undGelassenheit gibt, die für den Nicht-Betroffenenselbstverständlich ist.Ein 22-jähriger Student berichtet: «Esist verrückt, aber in meinen Gedankenmache ich mir ein eigenartiges Gesetz.Wenn ich zweimal atme, darf ich nuretwas Gewöhnliches denken; wenn ichdreimal atme, darf ich nur etwas Heiligesdenken. Wenn ich dreimal nacheinanderatme, während ich die Zeitung lese, habeich einen Fehler gemacht, denn die Zeitungist nicht heilig. Ich muss deshalbdreimal zwei Atemzüge nehmen, um demFehler entgegenzuwirken. Sonst habeich Angst, es könnte etwas passieren. Ichweiß, dass das unsinnig ist, aber wenn ichnicht das Gegenritual mache, steigt eineunerträgliche Angst in mir auf.»ÜBUNGDiskutieren Sie über Rituale undihre Bedeutung!Auch im Alltag machen wir manchmalkleine Rituale (z.B. beim Waschen oderbeim Zubereiten von Essen oder beim Starteneines Autos). Sammeln Sie Beispiele!Aberglaube enthält viele Rituale (z.B.Holz anfassen!). Tragen Sie weitere Beispielezusammen!Welche Rituale lassen sich im religiösenLeben beobachten?Was sind Dinge, die uns Angst machenund denen wir um jeden Preis entgegenwirkenwürden, selbst wenn sie uns nur inGedanken auftreten? Vergleichen Sie mitden Ängsten von Zwangskranken auf denSeiten 6 – 11.28


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELDas Vermüllungs-SyndromIn seltenen Fällen kann es bei zwangskrankenMenschen zu einem enormenSammeltrieb kommen. Die Betroffenensind unfähig, Wertvolles von Wertlosem zuunterscheiden und können sich von nichtstrennen. Ihre Räume quellen über von Dingen,die andere als Abfall aussortieren.Manchmal ist eine Wohnung derart mitMüll angefüllt, dass zwischen den Stapelnnur noch schmale Gänge den Weg zum Bettoder zum WC offen halten.Unterschieden wird zwischen Menschen,die zwanghaft Müll sammeln undPersonen, denen die Kraft abhanden gekommenist, irgendetwas wegzuwerfen.Diagnostisch kann es sich nebeneinem schweren Zwangssyndrom auch umPsychosen oder schwere Depressionen mitTrichotillomanieTrichotillomanie wird allgemein als Störungder Impulskontrolle bezeichnet. Wiegenau die Störung klassifiziert werdenmuss, wird derzeit noch kontrovers diskutiert.definitionA. Sich wiederholende und unwiderstehlicheImpulse, sich die eigenen Haareauszureißen, mit der Folge sichtbarenHaarverlustes.B. Verstärktes Gefühl von Spannung unmittelbarvor dem Haarausreißen.C. Eine Befriedigung oder Erleichterungwährend des Haareausreißens.D. Kein Zusammenhang mit einer vorhervorhandenen Hautentzündungund keine Reaktion auf Wahnvorstellungenoder Halluzinationen.E. Die Störung verursacht in klinischAntriebshemmung handeln.Chaotische «Messies»Abzugrenzen sind schliesslich die„Messies“ (= Unordentliche). Darunterversteht man Menschen, die ihren Alltagnicht unter Kontrolle bringen können: siesind Chaoten, vergesslich, unpünktlich,unzuverlässig, schlampig; ihre Persönlichkeitist aber weitgehend intakt. Grundlageist wahrscheinlich eine erwachsene Formder Hyperaktivität (ADHD). Für sie gibt esheute in verschiedenen Städten Selbsthilfegruppen.Weitere Informationen:Dettmering P. & Pastenaci R. (2000): Das Vermüllungssyndrom.Theorie und Praxis. Verlag Dietmar Klotz.bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungenin sozialen, beruflichenoder anderen wichtigen Funktionsbereichen.Der wichtigste Unterschied zu einerZwangsstörung ist das angenehmeGefühl, das sich während des Reißensbemerkbar macht; dieses ist bei Zwangsstörungennicht vorhanden. Auch habendie Betroffenen nicht den Wunsch, aufzuhören.Daher sollte man sie eher als Verwandteder Zwangsstörung bezeichnen,denn völlig gegensätzlich sind sie natürlichnicht. Man bezeichnet die Trichotillomanieauch als Zwangsspektrumsstörung.Weitere Informationen:www.trichotillomanie.chwww.trichotillomanie.de29


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELAngehörige leiden mitDie Zwangskrankheit kann zu einer Familienkrankheitwerden. Ähnlich wie beianderen schweren psychischen Störungenwird die Familie unausweichlich in die Krankheitmiteinbezogen.Vielfach kommt esdurch die Zwangsritualezum Familienkonflikt.Natürlich sindnicht alle in gleicherWeise betroffen,aber die Störunglässt keinenunberührt. Obwohldie Angehörigen immer wieder heroischeAnstrengungen unternehmen, um ihrenLieben zu helfen, brauchen auch sie Hilfefür sich selbst.Co-DependenzHäufig lässt sich eine Co-Dependenz(Mit-Abhängig keit) beobachten, eine intensiveVerstrickung in die Probleme desUnterstützendeBegleitungder AngehörigenDie Angehörigen brauchen Aufklärungüber die Natur der Störung, derBehandlungsmöglichkeiten und Ermutigung,den Betroffenen zu fachgerechterBehandlung zu motivieren.Anerkennung ihrer Anstrengungen inder Unterstützung des Zwangskranken.Kranken, ähnlich wie in Familien von Alkoholkranken.Ohne es zu wollen, dominierenZwangskranke ihre Familie durchKontrolle, Einschüchterung und Angst. Allesund jeder kann sich zunehmend um diezwangskranke Person drehen. Alle Fragendes täglichen Lebens können durch dieStörung betroffen sein. Angst, Depression,ja ein panisches Gefühl des Terrorskann das Familiensystem durchdringen.Es kann zur Trennung, zur Scheidung oderzum Zerbrechen der Familie kommen.Ansprechen ihrer eigenen Bedürfnisse.Ermutigung zur Abgrenzung: Wenn derZwangskranke keine Einsicht zeigt,darf man sich nicht in die Rituale hineinziehenlassen und muss klarstellen,dass man nicht die Person ablehnt,sondern das Zwangsverhalten. Mandarf auch keine Kontrollfunktion übernehmenoder den Patienten bei seinenRitualen unterstützen, da dies dieSymptomatik verstärkt und die ganzeSituation verfestigt.Toleranz bei Rückfällen, geduldige Begleitung.30


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELEin 14-jähriges Mädchen hatte dieAngst, nach dem Besuch der Toilettenicht sauber zu sein und verbrauchtedeshalb bei jeder Reinigungsaktionbis zu zehn Rollen Toilettenpapier.Ein Familienangehöriger musstestundenlang vor der Toilette stehenund das benötigte Papier zur Toilettehereinreichen. Die Mutter gab nach,weil die Tochter sonst mit schrecklichenAngstausbrüchen reagierte.Damit konnte sich das Zwangsverhaltenweiter verfestigen. (nach U. Knölker)Zentrale Themen imErleben der Angehörigen1. Verleugnen und Verharmlosen:Anfänglich hofft die Familie, dass essich bei den sonderbaren Verhaltensweisennur um eine vorübergehende«Marotte» oder ein «Mödeli» handelt.Oft verheimlicht man das Vorgefallenevor der Umgebung.2. Unterstützung der Zwänge undErdulden von unangebrachtem Verhalten:Weil Widerstand gegen die Zwängezu Ängsten und Spannungen führt,versucht man die leidende Person zuunterstützen und toleriert das Problemverhalten.Doch jede Anstrengung derFamilie, den Betroffenen zu beruhigen,kann zu neuen Zwängen führen.3. Ausschliessliche Beschäftigungmit der leidenden Person: Fastalle Gedanken der Familie kreisen umden Kranken. Man fühlt sich schuldig,wenn man nicht mithilft bei seinen Ritualen,wenn man seine lästigen Fragennicht geduldig beantwortet. Es kommtzu einer angespannten Überwachheit,um alles zu vermeiden, was neue Zwängeauslöst.4. Hilflosigkeit und Selbstzweifel:Wenn alle Anstrengungen nichtsnützen, kommt es zunehmend zum Gefühlder Hilflosigkeit. Einerseits möchteman helfen, andererseits hält manden Schmerz kaum noch aus. Auch derGlaube kann verdunkelt werden: Warumnützen die Gebete nichts? Wo ist Gott indieser Not?5. Schuldgefühle, Depression undSelbstentwertung: Die langdauerndeSpannung führt zu seelischenProblemen bei den Angehörigen selbst.Oft kommt es zum Rückzug von anderenund zur Vereinsamung der Familie.6. Indirekte Kommunikation: Umsich vor weiteren Vorwürfen zu schützen,redet man nicht mehr direkt miteinander.Eine andere Person in der Familiewird vorgeschickt, um Dinge mit demKranken zu besprechen, oder man hatgewisse Anzeichen, die auf sein Ergehenschliessen lassen.7. Körperliche und psychischeSymptome: Das ständige Gefühl derVerantwortung, die pausenlose Abschirmungdes Kranken vor neuen Belastungen,die widerstrebende Unterordnungunter seine bizarren Forderungengönnen den Angehörigen keine Ruhe.Der Stress führt zu psychosomatischenBeschwerden: Sie können Migräne oderMagen-Darm-Beschwerden entwickeln,nervöses Herzklopfen oder Schlafstörungen.Manche Angehörige stehenauch in der Gefahr, ihre Spannungen mitAlkohol oder Beruhigungsmitteln zu behandelnund selbst in eine Abhängigkeitzu geraten.31


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELDie Rolle der MedikamenteMedikamente haben die Behandlungder Zwangsstörung revolutioniert.Selbst schwere Zwänge können unter einerausreichend dosierten medikamentösenTherapie völlig abklingen. Am wirkungsvollstensind Antidepressiva, die über eineWiederaufnahmehemmung von Serotoninwirken (SSRI = Selective Serotonin ReuptakeInhibitors). Folgende Medikamente habensich als wirksam erwiesen:1. Clomipramin (Anafranil)2. Fluoxetin (Fluctine)3. Sertralin (Zoloft, Gladem)4. Fluvoxamin (Floxyfral, Fevarin)5. Venlafaxin (Efexor)Wirksamkeit: Man schätzt, dass etwaein Drittel sehr gut auf Medikamenteanspricht, ein Drittel teilweise und einDrittel leider nicht. Das ergibt aber dochErfolgsaussichten von über 60 Prozent. InUntersuchungen mit bildgebenden Verfahrenkonnte gezeigt werden, dass sichin den überaktiven Bereichen des Gehirns(vgl. S. 21) tatsächlich eine Normalisierungder neuronalen Aktivität einstellte.Weitere Studien haben gezeigt, dasses nach dem Absetzen von Anafranil zuVerhaltenstherapieVerhaltenstherapie geht davon aus,dass falsches Denken und Verhaltenwesentlich zu einem Problem beitragen.Ziel ist es deshalb, Denken und Verhaltenso zu verändern, dass es dem Patientengelingt sein Leben im Hier und Jetzt besserzu bewältigen. Statt nur über die möglichenUrsachen nachzudenken, geht mandie Zwänge ganz praktisch an. Dabei sindzwei Techniken wichtig:einem erneuten Auftreten von Zwängenund depressiven Symptomen kam. Ausdiesem Grund ist eine Langzeitbehandlungmit Anafranil oder einem anderenSSRI angezeigt.Wirkmechanismus: Wesentlich imZwangsgeschehen scheint ein Mangeldes Neurotransmitters Serotonin in denBasalganglien zu sein. Die Medikamenteerhöhen den Serotoninspiegel in den Synapsenund ermöglichen dadurch einenormalisierte InformationsverarbeitungWeitere Informationen:Greist, J.H. et al. (1995): Efficacy andtolerability of serotonin transport inhibitorsin obsessive-compulsive disorder:a meta-analysis. Archives of GeneralPsychiatry 52:53–60. — Süllwold, L. etal.: Zwangskrankheiten: Psychobiologie,Verhaltenstheapie, Pharmakotherapie.Reizkonfrontation: Der Zwangskrankesetzt sich ganz bewußt denjenigenReizen aus, die ihm Angst machen, d.h.vermiedenen Gegenständen, Situationen,Orten und manchmal auch Gedanken undBildern.Reaktionsverhinderung: Der Krankewird zuerst ermutigt, die Zeit bis zumAusführen des Rituals zu verlängern, dieZahl der Wiederholungen zu vermindern32


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELund schließlich ganz auf die Rituale zuverzichten.So wird beispielsweise eine Patientinmit zwanghaften Verschmutzungsängstenund Waschzwängen ermutigt, Gegenständezu berühren, die sie als «schmutzig»empfindet (z.B. Türgriffe, Haustiere,die Wand einer Toilette in einem Restaurant).Sie soll dann die Waschzwänge solange wie möglich hinausschieben.Die Wirksamkeit der Verhaltenstherapiebei Zwangsstörungen hat sich in breitenStudien klar bestätigt. So zeigte eineStudie an 300 Patienten eine Verbesserungum durchschnittlich 76 Prozent,die bis zu 6 Jahren anhielt. Die Erfolgetreten aber vor allem bei einer leichterenAusprägung eines Zwangssyndroms auf,nämlich bei Patienten, die folgende Bedingungenerfüllen: weniger Symptome,Fehlen zusätzlicher Persönlich-keitsstörungenund gutes soziales Funktionierenund gute Motivation. Zudem sind Störungenmit Wasch-, Putz- und Kontrollierzwängendeutlich leichter mit Verhaltenstherapiebehandelbar, als Störungenmit Zwangsgedanken.In jedem Fall sollte eine Verhaltenstherapiemit einer medikamentösenTherapie kombiniertwerden.Weitere Informationen:Einen breiten und gut verständlichenÜberblick über Verhaltenstherapie beiZwangskranken gibt das Buch vonHoffmann & Hofmann. ZwanghaftePersönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen.Therapie und Selbsthilfe.Springer 2010.Chancen und GrenzenWie aus dem oben Gesagten hervorgeht,lassen sich heute Zwangsstörungendeutlich besser behandeln als früher. Alswesentlich hat sich die Kombination derfolgenden vier Ansätze erwiesen:MedikationVerhaltenstherapieTagesstrukturAngehörigengesprächeTherapieresistenzund rESIDUALZUSTANDLeider hat sich gezeigt, dass mancheZwangsstörungen sich trotz intensiverTherapie nicht wesentlich bessern.Manchmal bildet sich ein Residualzustandmit affektiver Abflachung aus, der kaumvon einer chronischen Depression odergar einer chronischen Schizophrenie unterschiedenwerden kann.SPONTANVERLAUF UNDÜBERRASCHENDE bESSERUNGIn manchen Fällen kommt es aber überdie Jahre auch ohne Therapie zu einer erstaunlichenBeruhigung.Gerade bei Depressionen verschwindendie Zwänge mit dem Aufhellen der Depression.Bei einem therapieresistenten Verlaufgilt es die Patienten mit ihren Behinderungenanzunehmen und sie gleichzeitigzu ermutigen, die vorhandenen Möglichkeiten(Arbeit, Wohnung) auszuschöpfen,um das Leben möglichst selbständig zugestalten.33


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELZweifelZwei BegriffeSkepsis = kritisches Denken, Hinterfragen,Urteilen, Prüfen, um das Gute zubehaltenSkrupel = grundlose Ängste, etwasfalsch zu machen, sich oder anderen zuschaden, zu sündigen, keine Vergebungzu erlangen. «Kann ich, darf ich, soll ich?»Gesunder ZweifelZweifel gehören zur Existenz des denkendenMenschen. Nicht alles ist wahr,nicht alles ist gut, nicht alles ist hilfreich.Das Hinterfragen von überlieferten Annahmengehört zur normalen Entwicklungeines Menschen, mit der er seine Weltausgestaltet. Selbst zum gesunden Glaubengehören Zweifel und Wagnis. Zweifeltreten mit jeder Veränderung auf. Ein gesunderGlaube wird die Frag-Würdigkeitder christlichen Gemeinschaft, der Lehreoder der Erfahrung aushalten. Ein rigiderGlaube wird durch solche Rückfragen bereitserschüttert und erlebt den Zweifelals destruktiv. Wer versucht, den Zweifelvöllig auszuschalten, steht in der Gefahrder Sektenbildung. — Doch jedes prüfendeZweifeln hat einmal ein Ende. Der gesundeZweifel hält eine Restspannung aus, ohneunbedingt letzte Gewissheit zu verlangen.Er kann «sein Herz stillen» (1. Jo. 3:19), auchwenn Fragen offen bleiben. Diese gesundenFormen des Zweifels kontrastieren nun abermit dem krankhaften Zweifel.Krankhafter Zweifel oder SkrupulositätIn der Literatur findet man immer wiederAuseinandersetzungen mit dem Phänomenkrankhafter Zweifel, insbesonde-re im Bereich religiöser Fragen. So ist vonIgnatius von Loyola folgende Beschreibungüberliefert: «Nachdem ich auf einaus zwei Strohhalmen gebildetes Kreuzgetreten bin oder auch etwas gedacht,gesprochen oder getan habe, kommt mirwie von außen ein Gedanke, dass ich eineSünde begangen hätte; doch scheintes mir wieder andererseits, dass ich nichtgesündigt habe: dennoch fühle ich michbeunruhigt, insofern ich nämlich zweifle,ob ich wirklich gesündigt habe und wiederumauch nicht zweifle.»«Ich kann an allem zweifeln,nur dass ich zweifle,kann ich nicht bezweifeln.Folglich ist das einzige Gewissemein Zweifeln, dasheisst aber, mein Denken.Solange ich zweifle, denkeich. Solange ich denke, binich.» DescartesIn einer Abhandlung über den Zweifel(Ductor Dubitantium, 1660) beschrieb derTheologe Jeremy Taylor ausführlich dasLeiden der chronisch Skrupulösen. Skrupelseien eine Abart normaler Ängstlichkeitund würden das religiöse Leben empfindlichstören. Obwohl die Zweifel aucheinmal als Prüfung von Gott gesandt werdenkönnten, sei doch häufig Satan als dieUrsache zu sehen. Der Teufel bewirke beiden Bösen eine unzulässige Ausweitungdes Gewissensspielraums im Vertrauenauf Gottes Gnade; bei den Guten hingegeneine Einengung des Gewissens durchunmäßige Furcht.«Er ergreift von ihrer Phantasie Besitzund gibt ihnen dunkle und gespenstischeIdeen ein: Er entfacht in gerechten Menschendunkle Ahnungen von Sünde, die34


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELsie, wenn auch grundlos, in Schrecken versetzenund ihnen schlimmste Befürchtungeneinflößen; er greift ihren Sinn fürHumor an und erzeugt dadurch gewöhnlichinnere Bestürzung, Pein, Bitterkeitund Verstörung, sodass die armen Seelenwie Nußschalen dem Wüten einer aufgewühltenSee ausgeliefert sind.»Religiöse Skrupel sind nicht nurim Christentum, sondern auch in anderenReligionen beschrieben (Islam, Hinduismus,Judentum, vgl. S. 17). Häufig«Die Zweifler bereuen,wenn sie nicht gesündigthaben. Skrupel bedeutenLeiden, wenn das Leidenvorbei ist; Zweifel, wenn dieZweifel zerstreut sind.»Jeremy Taylor 1660werden religiöse Vorschriften und Reinigungsritualezwanghaft hinterfragt undbis zum Exzess übertrieben. Dies hat SigmundFreud veranlasst, die Parallelen zwischenReligion und Zwangsneurose soweitzu treiben, dass er die Religion als universelleZwangsneurose bezeichnete. Einegenaue Analyse von religiösen Menschen,die an Zweifeln und Zwängen leiden, zeigtjedoch, dass ihre Verhaltensweisen auchvon Gleichgesinnten als übertrieben undkrankhaft erlebt werden. Um also zu beurteilen,ob ein Zwang religiös verursachtist, muss man genaue Kenntnis des kulturellenbzw. religiösen Umfelds haben(vgl. auch S. 17).Häufig finden sich bei Menschen mitreligiösen Zwängen auch andere Zwänge.Fachleute sind sich heute einig, dassreligiöse Zwänge nur eine besondere Ausprägungeiner Zwangskrankheit sind. DerZwang ist sozusagen das Gefäß, in demsich verschiedene Themen als Inhalte befindenkönnen. Ist der Glaube für eine Personwichtig, so können die Zwänge ebenreligiös gefärbt sein.«Es gibt nichts Zweifelhafteresals einen Glauben,der den Zweifel unterdrückt.Gibt es einen Gott, über dessenExistenz kein Mensch zu entscheidenvermag, so ist derZweifel an seiner Existenznichts als der von Gottgewählte Schleier, den er vorsein Antlitz senkt, seineExistenz zu verbergen.»Friedrich Dürrrenmatt 1980Literaturhinweis: Beachte besonders den Anhang «Die religiöse Sichtweise» indem Buch von J. Rapoport (S. 337–349) sowie das nur auf englisch veröffentlichte Buchvon Ciarrocchi.35


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELSeelsorge bei ZwangsstörungenVermitteln Sie der Person Ihre Anteilnahmeam Leiden unter den Zwängen.Ermutigen Sie zur Aussprache, auchwenn der Person die Zwänge peinlich odergar gotteslästerlich vorkommen.Klären Sie die Natur der Störung durchdie Anwendung der in diesem Heft abgedrucktenFragebogen (YBOCS, S. 6–15).Denken Sie daran, dass es auch Depressionengibt, welche vorübergehend vonZwangsgedanken begleitet werden können.Geben Sie der Störung einen Namen. ErklärenSie, dass das Zustandsbild bekanntsei unter dem Namen «Zwangskrankheit»«Wenn unser Gewissenuns anklagtund schuldig spricht,dürfen wir daraufvertrauen,dass Gottgrösser ist als unserGewissen. Er kennt unsganz genau.»und betonen Sie, dass es sich um einekrankhafte Störung der Gedankenkontrolleim Gehirn handelt.Erarbeiten Sie mit der betroffenen Persondie Psychodynamik (vgl. S. 17, 23, 28).Betonen Sie insbesondere, dass das Leidenan anstößigen Gedanken und Impulsenzeigt, dass dies gerade nicht in ihrer Absichtliegt.Betonen Sie, dass religiöse Zwangsgedankennicht durch den Glauben verursachtsind, sondern nur eine religiöse Ausprägungder Zwangskrankheit darstellen.Vermeiden Sie eine Dämonisierung derZwänge. Auch wenn die Impulse und Gedankenwie von außen aufgedrängt wirken,so gibt es noch andere Erklärungen.Dämonische Deutungen verschärfen oftdie Glaubensprobleme, weil auch ein «Befreiungsdienst»eine Zwangsproblematikin der Regel nicht lösen kann.Orientieren Sie die Person über dieVerläufe und die Behandlungsmöglichkeiten.Arbeiten Sie mit einem Arzt zusammen,der die notwendigen Medikamenteverschreiben und allfällige weitereAbklärungen vornehmen kann.1. Johannes 3,20 (Hoffnung für alle)36


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELSeelsorge bei zwanghaften ZweifelnBei zwanghaften Zweifeln, die den Glaubenbetreffen, ist es wichtig zu vermitteln,dass Gott über den Anklagen unseres Gewissenssteht und unsere tiefsten Beweggründesieht. Die persönliche Beziehungzu Gott und die Gewißheit der Erlösungist nicht von einschießenden Zwängenabhängig, sondern beruht auf der TreueGottes zum Menschen. Das Heil ist nichtvon der «Heilsgewissheit» abhängig.Denken Sie an die Angehörigen undbeziehen Sie die Familie ein (vgl. S. 30-31). Ermutigen Sie – wenn nötig – auchzur Abgrenzung von tyrannischen Verhaltensweisen.Entlasten Sie die Person, wo sie zuhohe Anforderungen an sich selbst stellt(z.B. skrupulöse Gewissensprüfung vordem Abendmahl).Haben Sie Geduld: Stellen Sie sich daraufein, dass es bei manchen Betroffenennicht zu einer völligen Heilung kommt.Begleiten Sie sie mit Trost und praktischerUnterstützung auch in der Not der Invaliditätund der empfundenen Wertlosigkeit.Zwänge als negatives Abbildtiefster Wünsche:Wenn eine zwangskranke Personüber ihre schrecklichen Gedankenklagt, so sind diese nichtsanderes als das negative Abbildihrer tiefsten Wünsche undSehnsüchte. Ihre gewalttätigenPhantasien sind nichts anderesals die Angst um die geliebte Person,ihre zwanghaften Zweifelnur ein krankhafter Ausdruckihres tiefen Glaubens.Gerade die zwanghaften Zweifelzeigen die tiefe Sehnsucht nachGott. Gerade die obszönen Gedankenzeigen die Sehnsuchtnach einem reinen Denken vorGott.37


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELMit Spannungsfeldern leben lernenMenschen mit leichteren Zwangs störungenoder mit einer zwanghaftenPersönlichkeit möchten möglichst exaktnach den Regeln und Idealen leben, die für siewichtig sind. Es fällt ihnen schwer, mit ungelöstenFragen und Spannungen zu leben.Dies kann sich auch auf den Glaubenund auf die Gestaltung des persönlichenLebens im Kontext ihres Glaubens auswirken.Doch manchmal muss man Zweifel«stehen lassen» ohne sie lösen zu können.Man muss damit leben, dass manpersönliche Bedürfnisse und Impulse ver-spürt, die den herrschenden Regeln oderder Lebens realität zuwiderlaufen.Der «Kampf zwischen Fleisch undGeist» kann oft sehr quälend sein. Ist dasGewissen wirklich immer Gottes Stimme?Oder wird es nicht viel mehr durch die Erziehungund durch negative Erfahrungengeprägt? Diese Themen können im Seelsorgegesprächwesentlich werden. Dasuntenstehende Schema zeigt etwas vonden Spannungsfeldern auf, die es zu besprechengilt.Weitere Informationen:vgl. das Buch von S. Pfeifer: «Wenn der Glaube zumProblem wird». (Download als PDF von www.seminareps.net).38


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELWann ist eine Abklärung angezeigt?Die Früherkennung ist außerordentlichwichtig, da sich der Behandlungserfolgwesentlich rascher einstellt und eher vonDauer ist, als wenn die Störung über Jahreoder Jahrzehnte bestanden hat. WennSie den Eindruck haben, selbst an einerZwangsstörung zu leiden – oder wenn dieSymptome auf einen Ihnen nahestehendenMenschen zutreffen, können bereits einigewenige Fragen auf die richtige Spur führen:Werden Sie durch Gedanken gequält,die keinen Sinn machen oder die Ihnenlästig sind?Tauchen diese Gedanken immer wiederauf, obwohl sie sich dagegen wehren?Müssen Sie immer wieder eine ganz bestimmteHandlung durchführen, z.B. prüfen,ob der Wasserhahn zugedreht oderdie Tür abgeschlossen ist, oder müssen Siesich – um innere Spannungen abzubauen– ausgiebig waschen oder duschen? Unddas, obwohl Sie wissen, dass das, was Sietun, durch die stereotype Wiederholungvöllig unsinnig ist?Ein Gespräch mit dem Arztdrängt sich auf,wenn Zwangsgedanken und Zwangshandlungeneine erhebliche Belastung darstellen,pro Tag mehr als eine Stunde inAnspruch nehmen,negative Auswirkungen auf dieKontakte mit anderen Menschenhabenund Sie beim Erfüllen der alltäglichenAufgaben beeinträchtigen.Manchmal sind die Symptome bei Angehörigenauch versteckter: Hier einigeHinweise:1. Große Abschnitte von unerklärter(vertrödelter) Zeit.2. Wiederholte Verhaltensweisen.3. Ständige Fragerei zur Absicherung.4. Einfache Aufgaben dauernungewöhnlich lang.5. Ständige Verspätung.6. Vermehrtes Haften an Kleinigkeitenund Details.7. Starke Gefühlsreaktionen auf kleineVeränderungen.8. Schlafstörungen.9. Langes Aufbleiben, um Dingezu erledigen.10. Deutliche Veränderung bei den Essgewohnheiten.11. Alltag wird als Kampf erlebt.12. Vermeidungsverhalten.Weitere Informationen:Zusammengestellt nach dem Buch von L. Baer und nach einemAngehörigen-Manual «Living with OCD» von VanNoppen, Patound Rasmussen 1993.39


DR. SAMUEL PFEIFER: ZWANG UND ZWEIFELLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitere Informationenzur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersicht ist es jedochnicht möglich, alle Aspekte ausreichendzu beleuchten.Ambühl H.: Psychotherapie der Zwangsstörungen.Thieme.Baer L.: Alles unter Kontrolle. Zwangsgedankenund Zwangshandlungen überwinden.Huber.Brandt H.M.: Der Hiob in uns. Vertrauen imZweifeln. Vandenhoeck & Ruprecht.Ciarocchi, J.: The Doubting Disease. Helpfor scrupulosity and religious compulsions.Paulist Press.Fricke S. & Hand I.: Zwangsstörungen verstehenund bewältigen. Hilfe zur Selbsthilfe.Balance.Hoffmann, N. & Hofmann B.: ZwanghaftePersönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen.Therapie und Selbsthilfe.Springer 2010.Hoffmann S.O. und Hochapfel G.: Einführungin die Neurosenlehre und psychosomatischeMedizin. UTB.Knölker U.: Zwangssyndrome im KindesundJugendalter. Vandenhoeck & Ruprecht.Internet-Ressourcenwww.zwaenge.dewww.zwang.chInfos für Betroffene und Experten.www.zwangserkrankungen.deHomepage von Betroffenen(Forum, Chat, Therapie-Adressen).www.geonius.com/ocd/Sammlung von Artikeln und Links zumThema Zwangskrankheit.www.ocfoundation.orgLichtenberger S.: Als sei mein Zweifel einWeg. Gebet-Gedichte. Vandenhoeck &Ruprecht.Osborn I.: Can Christianity cure Obsessive-Compulsive Disorder? Brazos Press.Pfeifer S.: Wenn der Glaube zum Problemwird. PDF - Download von dieser Seite:www.seminare-ps.net.Rapoport J.: Der Junge, der sich immerwaschen mußte. Wenn Zwänge den Tagbeherrschen. Münchner Medizin Verlag.Rothenberger A.: Wenn Kinder Tics entwickeln.Gustav Fischer.Ruthe R.: Wenn Zwänge das Leben beherrschen.Brendow.Schwartz J.M.: Zwangshandlungen und wieman sich davon befreit. Fischer TB.Süllwold L., Herrlich J. & Volk St.: Zwangskrankheiten.Psychobiologie, Verhaltenstherapie,Pharmakotherapie.Kohlhammer.VanNoppen B.L., Pato M.T. & Rasmussen S.:Learning to live with OCD –www.ocfoundation.org.www.tourette.de — www.tourette.chInfos über das Gilles-de-la-Tourette-Syndromfür Angehörige und Betroffene.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.40


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESCHIZOPHRENIEVerstehen, Beraten, BewältigenB


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEInhaltDer Schizophrenie-Begriff — Psychosen ................................................................ 2Abgrenzung — Einige Zahlen .................................................................................. 3Schizophrenie und Kultur......................................................................................... 4Frühe Anzeichen einer Schizophrenie ..................................................................... 6Der schizophrene Wahn ........................................................................................... 7Diagnose der Schizophrenie .....................................................................................8Was erleben schizophrene Menschen? ................................................................. 10Formen der Schizophrenie ...................................................................................... 12Sonderformen .......................................................................................................... 14Schizophrenie im Kindesalter ................................................................................. 15Entstehungsmodell ..................................................................................................16Vulnerabilität und Stressbewältigung ................................................................... 17Positive und negative Symptome .......................................................................... 18Hirnbiologie und Schizophrenie............................................................................. 20Risikofaktor Cannabis............................................................................................. 22Behandlung der Schizophrenie.............................................................................. 23Medikamentöse Behandlung .................................................................................24Soziales Training...................................................................................................... 28Wie beugt man Rückfällen vor? ..............................................................................29Psychotherapie bei Schizophrenie ..........................................................................31Der religiöse Wahn und seine Erklärung................................................................ 32Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger............................................................ 35Wie verhält man sich in der Akutphase? ................................................................26Mitbetroffen und mitleidend: Die Angehörigen .................................................. 38Selbsthilfegruppen und Internetadressen............................................................. 39Weiterführende Literatur und Internetlinks......................................................... 40C


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESchizophrenie als HerausforderungSie ist noch immer geheimnisvollund unheimlich. Unddoch ist etwa ein Prozent derBevölkerung davon betroffen:Die Schizophrenie mit ihrenmannigfachen Gesichternstellt eines der größten Problemein der Psychiatrie dar.Uneinfühlbare Ängste, eigenartigesVerhalten, Stimmenhörenund Halluzinationen, beruflicheÜberforderung, sozialerRückzug – Menschen mit einerschizophrenen Störung fallenaus vielen Bereichen des Lebens heraus. Keineandere psychische Krankheit macht so vielejunge Menschen in ihren blühendsten Jahrenarbeitsunfähig. Oftmals haben sie nur noch dieFamilie, die zu ihnen steht.Es war Prof. Eugen Bleuler in Zürich, der 1911den Begriff der «Schizophrenie» prägte. Seinewissenschaftliche Arbeit war gepaart mit tiefermenschlicher Einfühlung. Er sah in jedem krankenMenschen auch seine gesunden Anteile. Eigentlichwerde das Gesunde nicht aufgelöst, essei nur von der Psychose verdeckt.Vorurteile und Hoffnungtroffen sind, kann man nicht verdrängen.Schizophrenie wird heute als schwereStörung der Informationsverarbeitung imGehirn verstanden. Neue Medikamente habenHoffnung gebracht und ermöglichenvielen Betroffenen, in ihrem normalen Umfeldzu leben. Dadurch ist aber die Gesellschaftviel stärker mit ihren besonderenGrenzen und Bedürfnissen konfrontiert. Eineumfassende Betrachtung ist dringendnotwendig.Das vorliegende Seminarheft soll dazubeitragen, diese Krankheit und ihre Auswirkungenbesser zu verstehen. Neben vielfältigenmedizinischen und sozialen Aspektenwerden auch Fragen angesprochen, die sich inPatienten sind Menschen.Die Krankheit istTeil ihrer Biografie. Aber sie sindnicht nur Kranke. Sie haben ein Lebenjenseits der Krankheit – davor, danach,daneben.Asmus FinzenDie Gesellschaft hat Mühe mit der Erkrankung.Der Begriff Schizophrenie ist mit vielfältigenVorurteilen behaftet: Gewalttaten machenSchlagzeilen; schizophrene Menschen werdenals «verrückt» abgeschrieben und gemieden;der alltägliche Missbrauch des Wortesprägt die Sprache. Der Umgang mit Schizophreniehängt von der Betrachtungsweise ab. Psychiatriekritikerbehaupten sogar, die Schizophreniesei eine Erfindung der Psychiater. Man kann vielleichtdie Existenz der Schizophrenie leugnen,aber die Menschen, die von der Erkrankung bederBeratung von gläubigen Menschen ergeben.Wenn das Heft dazu beitragen kann, Menschenmit einer schizophrenen Erkrankung besser zubegegnen, so hat es sein Ziel erreicht.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDer SchizophreniebegriffÜber lange Zeit hinweg wurdedie Diagnose einer Schizophreniesehr weit gestellt. Vieleamerikanische Untersuchungenaus den Vierziger- und FünfzigerJahren wurden also an Patientendurchgeführt, die nach der strengerenDiagnostik unserer Zeit garnicht an einer Schizophrenie litten.«Es spricht einiges dafür, dassetwa das berüchtigte Konzept vonder ‹schizophreno ge nen› Mutterauf der Grundlage der Beobachtungvon Kranken entwickeltworden ist, die aus heutiger Sichtzum beträchtlichen Teil gar nichtschizophren waren.»(Finzen, Schizophrenie, S. 74)Der Begriff der «Psychosen»Die Schizophrenien gehören zu der Gruppe derPsychosen.Definition : Umfassender Begriff für schwerePersönlich keits störun gen, charakterisiert durchabnormes Verhalten und Erleben und ausgeprägteDesorganisation der Persönlichkeit mitnachteiligen sozialen Folgen. Der Betroffeneist unfähig, äußere Erfahrungen und eigeneErlebens weisen auseinander zu halten. Zu denPsychosen gehören zudem:manisch-depressive Psychosenorganische Psychosen (ausgelöst durch Gifte,wie z. B.. Drogen oder Infektionen, wie z.B.Fieberdelir bei Malaria)Folgen schwerer Hirnabbauprozesse, häufigim Altervorübergehende Reaktionen auf belastendeSituationen (z.B. nach einem Zugsunglückoder im Krieg)Die Dauer und die Behandlung einer Psychoseist äusserst unterschiedlich. Der Psychosebegriffist daher nur beschreibend, sagt abernichts über den Verlauf oder den Erfolg der Behandlungaus.Weil der Schizophrenie-Begriff immer nochmit vielfältigen Vorurteilen und Ängsten behaftetist, braucht man bis zur Erhärtung der Diagnoseoft den Begriff «Psychose».2


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEAbgrenzung (Differenzialdiagnose)Organisch bedingte wahnhafte Störungen(Drogen, spez. Amphetamine, Phencyclidin)Affektive und schizoaffektive Störungen(spez. manische Episoden)Schizophreniforme Störung (Dauer 4 bis 12Wochen, kurze Akutphase)Wahnhafte Störung (Fehlen von Halluzinationenund Denkstörungen)Reaktive Psychose (sehr kurz)Frühkindlicher Autismus (im Vordergrundschwere Kommunikationsstörg)Zwangssyndrom oder Hypochondrie (mehrDistanz zu den beherrschenden Gedanken)Persönlichkeitsstörungen– schizotypische P.– Borderline P.– Schizoide P.– Paranoide P.Subkulturelle Glaubensinhalte (z.B. ist dieVorstellung, besessen zu sein, nicht immerein Wahn; ähnliches gilt für komplexe Rituale,wie sie z.B. im orthodoxen Judentum vorgeschriebensind)Einige Zahlen0.4 % der Bevölkerung leiden an einem Stichtagan Symptomen einer Schizophrenie (akutoder chronisch)1.0 % der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebenseinmal an einer Schizophrenie.Zum Vergleich: Etwa 15 – 20 % sind an einemStichtag depressiv, etwa 12 % leiden an Symptomeneiner Angst- oder Anpassungsstörung.Wahrscheinlichkeit derErkrankung an einer Schizophrenie– wenn 1 Elternteil schizophren 15 %– beide Eltern schizophren 40 %– 1 Geschwister schizophren 15 %– eineiiger Zwilling schizophren 50 %– 1 Onkel oder Tante schizophren 3 %Genetik der SchizophrenieVieles deutet darauf hin, dass schizophrenePsychosen vererblich sind (vgl. Tabelle). ImGespräch sind die Chromosomen 8 und 13.Allerdings ist es bis heute nicht gelungen, spezifischeVeränderungen auf den Chromosomenfestzustellen, die die Vorhersage einer psychotischenErkrankung erlauben würden.Erkrankungsalter / SuizidrisikoMänner erkranken durchschnittlich einigeJahre früher als Frauen. Man nimmt einen schützendenFaktor durch Östrogene an. Als Folge desfrühen Beginns heiraten erkrankte Männer seltenerund haben öfter keinen Berufsabschluss.Das Suizidrisiko ist hoch: Etwa die Hälfte allerPatienten machen einmal einen Suizidversuch;ca. 10 Prozent begehen Suizid, oftmals aus Verzweiflungüber die schwere Behinderung undden zunehmenden Abbau.3


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESchizophrenie und KulturSchizophrenie kommt in allenKulturen der Welt vor, sei esin China, in Indien, in Afrika oder inEuropa. Und überall beschreiben diePatienten ein ähnliches Erleben:Eingebung von Gedanken, Gedankenübertragung,Gedankenentzug;Stimmen, die der Betreffende übersich sprechen hört oder die seineHandlungen und Gedanken begleiten.Veränderte Wahrnehmung in seinerpsychischen und sozialen Umgebung;beispielsweise kann die ganze Welt ineinen so intensiven persönlichen Bezug zu ihmtreten, dass sich jedes Geschehene speziell aufihn zu beziehen scheint und eine besondere Mitteilungan ihn enthält.Gemeinsame Symptome bei paranoider Schizophreniein verschiedenen Kulturen (Aarhus,Agra, Cali, Ibadan, London, Moskau, Prag,Taipeh, Washington):– Mangelnde Einsicht– Mißtrauen– Verfolgungswahn– Beziehungswahn– Beziehungsideen– übermässige Religiosität– Mangelnde Zusammenarbeit– Inadäquate Beschreibung– Wahn-bezogene Stimmung– Flacher AffektIn einfacheren Kulturenleben Patienten(sofern sie eher ruhig undzurückgezogen sind) inihren Familien und in ihrenDörfern. Sie verrichteneinfache Arbeiten in Hausund Hof und werden mitgetragen.Wenn sie sehrauffällig werden und dasZusammenleben stören, istdie Gemeinschaft überfordert:manche werden eingesperrt,z.T. angekettet.Andere fliehen in die Wälder oder reisen in diegrossen Städte, wo ihnen ein unsicheres Schicksaldroht.Werden sie gewalttätig, so landen sie nicht seltenim Gefängnis. In manchen Ländern Afrikas gibtes Naturheiler, die ausserhalb der Dörfer wohnenund dort Kranke aufnehmen, wo ihnen ein ruhigesLeben, Kräuterheilmittel und Rituale helfensollen, die Besonnenheit wieder zu finden.In Indien gibt es neben wenigen psychiatrischenKliniken sogenannte «Schreine», wo hinduistische,buddhistische oder christliche Möncheneben einem Tempel oder einer Kirche Wohnmöglichkeitenfür Kranke und ihre Angehörigeneingerichtet haben. Auch dort werden mancheKranke in unruhigen Zeiten angekettet.Selbst im hochentwickelten Westenfallen schizophrene Menschen durch die Netze:In den USA sind nicht wenige Obdachlose eigentlichpsychisch krank und würden Behandlungbrauchen.4


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEGeschichtliche StreiflichterNicht immer ging es psychisch Kranken so gutwie heute:a) ruhige Patienten lebten- in einfacheren Kulturen bei den Angehörigen,oft unter elenden Umständen.- in höher zivilisierten Kulturen auch inbesonderen Hospizen, «Asylen», Anstalten.b) störende Kranke wurden je nachZeit in besonderen Anstalten untergebracht:- Gefängnisse oder Irren-Anstalten- z.T. in Ketten, auf Stroh- Problematik der Zwangsmaßnahmenc) Befreiung der Geisteskranken durch- menschlichere Betrachtungsweise- besseres Verständnis für Krankheiten- Medikamente ab 1953 (Largactil)Philippe Pinel (1745 –1826) führtein Paris die menschlichere Behandlungvon psychisch Kranken einund gilt als einer der Begründer dermodernen Psychiatrie.5


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEFrühe Anzeichen einer SchizophrenieErste Anzeichen für eineSchizophrenie (Prodrome)Anspannung, Angst, UnruheGefühlsverstimmung, DepressionKonzentrationsstörungenSchlafstörungenAngetriebenheit und ReizbarkeitEigenartiges VerhaltenSozialer RückzugEindruck, beeinflusst zu werdenManchmal extreme Beschäftigung mit Religionoder Esoterik.«Er habe das Gefühl, die Menschen kämen ihmeinfach zu nahe. Überhaupt werde ihm alleszuviel, zu laut und zu grell. Er fühle sich voninnen durch seine Gedanken und von aussendurch die Menschen bedrängt. . . . Immer wiederpassiere ihm das: Er werde gerempelt. Autoskämen auf ihn zu. Alte Frauen starrten ihnan. Jugendliche riefen ihm Unverschämtheitennach. Er begreife das alles nicht mehr.»(aus der lebendigen Schilderung einer Ersterkrankungbei A. Finzen, Schizophrenie, S. 16)Diese Anzeichen können nach neuen Forschungen(z.B. Häfner 1998) bereits bis zu zwei Jahrevor der ersten Einweisung in eine Klinik auftreten.Prämorbide PersönlichkeitMenschen, die später an einer Schizophrenieerkranken, wirken oft schon in der Kindheitauffällig. In verschiedenen Studien zeigtensich gehäuft folgende Eigenschaften des Charakters,die lang vor der Erkrankung auftraten:Als Kinder oft problemlos und lieb.In sich gekehrt und ungesellig; können gutfür sich allein spielen.Schwierigkeiten mit Beziehungen; wenigeFreundschaften.Vermindertes Selbstwertgefühl.Die Intelligenz ist hingegen in den meistenFällen nicht eingeschränkt.«Ich konnte es einfach nichtbegreifen: er war so intelligent,sah so gut aus, hatte eineso liebenswürdigePersönlichkeit —und war doch so krank!»Zitat einer Mutter6


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDer schizophrene WahnWie kommt es zum Wahn?Menschen, die einen Wahn entwickeln, sindvon Grund auf verunsichert. Ängstlich prüfensie die eigene Befindlichkeit im Bezug zurUmwelt. Sie beginnen ängstlich zu forschen,was die anderen wohl über sie denken; was derGrund für ihre befremdlichen Wahrnehmungenist. Jedes erahnte Gefühl von Ablehnung oderZurückweisung bestärkt ihre Ängstlichkeit. DieGedanken werden laut, man beginnt zu «hören»,was die andern «sagen». Es entsteht eine eigenePrivatlogik, in der alles eine Bedeutung erhaltenkann: das rote Auto vor dem Haus, Gespräche imTram, die Nachrichten im Fernsehen etc. So werdendie Ängste und Bedürfnisse, die Ahnungenund Empfindungen mit den Beobachtungender Aussenwelt zu einem Mosaik verdichtet,das der zerbrochenen Wirklichkeit wieder Sinnverleihen soll; ein Sinn, den allerdings die Aussenweltnicht mehr versteht.HalluzinationenHalluzinationen sind Sinneswahrnehmungenohne äusseren Reiz. Wer halluziniert, hört,sieht, spürt, riecht, schmeckt Dinge, ohne dassin der äusseren Welt etwas vorhanden wäre,an dem sich diese Wahrnehmung festmachenkönnte.Akustische Halluzinationen können sein:Geräusche wie Klopfen, Summen, Schritte;Murmeln oder ganze Sätze / Dialoge, freundlichoder drohend, von aussen oder von innen;manchmal einfach Gedankenlautwerden, oftverbunden mit Angst.Körperliche Halluzinationen (werden alsvon aussen gemacht erlebt): z.B. Gefühl derBestrahlung, Magnetisierung; z.B. Herz wirdgestört; z.B. sexuelle Belästigung.WahnthemenBeziehungswahnBeeinträchtigungswahnVerfolgungswahnLiebeswahnEifersuchtswahnGrössenwahnReligiöser WahnANGST bei SchizophrenieAngst ist ein zentrales Symptom im Erlebenschizophrener Kranker. Der Einbruch der Psychosein das Erleben und Fühlen, das Entgleitender Steuerbarkeit des Denkens und schliesslichdie Verzerrung der Wirklichkeit im Wahn führenunweigerlich zu Angst. Vorher Vertrauteswird unbekannt und unheimlich. Früher selbstverständlicheBeziehungen sind nicht mehrstimmig.Die Orientierung in der Welt ist von Grundauf gestört. Alles dies ist mit Angst verbunden,die sehr tief gehen, sehr elementar sein kann,die schlimmstenfalls Vernich tungs gefühle auslösenund die Kranken auf den Weg in den Suizidtreiben kann. Auch wenn Angst an sich angemessenist, kann sie bei Psychosekranken ineiner Intensität auftreten, die für den Aussenstehendennicht mehr einfühlbar ist. Die emotionaleBelastbarkeit vieler Schizophrener istvermin dert. Sie sind über die Massen sensibelund verletzlich. (vgl. Finzen, Schizophrenie,S. 56)HINWEIS: Die hier aufgezählten Details sindnur einige Facetten des schizophrenen Erlebens.Weitere Informationen finden sich in zahlreichenLehrbüchern.7


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDiagnose der SchizophrenieDie Diagnose einer Schizophrenie wird anhandklar definierter Kriterien (DSM-IV *)sehr zurückhaltend gestellt. Doch ist es selbstfür Erfahrene schwierig, sich in Grenzfällenfestzulegen. Oft braucht es eine längere Verlaufsbeobachtung.Im Verlauf einer schizophrenen Erkrankung gibtes drei Phasen:A. ProdromalphaseB. Aktive PhaseC. ResidualphaseDauer: Gesamtdauer min. 6 Monate, verschiedeneDauer der einzelnen Phasen möglich,z.B. gutartiger Verlauf: 2 Wochen Phase A,2 Wochen Phase B und 6 Monate Phase C, dannkeine Episode mehr.z.B. schubweiser Verlauf: 4 Wochen PhaseA, 2 Wochen Phase B, 6 Monate Phase C, dannüber 2 Jahre symptomfrei, wieder 4 Wochen PhaseB, 6 Mo nate Phase Cz.B. chronischer Verlauf: 3 Monate PhaseA, 4 Monate Phase B, 6 Monate Phase C, dannwieder 1 Monat Phase B, 5 Monate Phase C etc.Beginn: meist vor dem 45. Lebensjahr* DSM-IV = Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, 4. Revision8


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDrei Phasen der SchizophrenieA. Prodromalphase(Prodrom = Vorläufer) Deutliche Verschlechterunggegenüber dem früheren Leistungsniveau(Berufs tätigkeit, soziale Be ziehungen, Selbstversorgung).Mindestens zwei der unten genann tenSymptome, die nicht durch eine Verstimmungoder durch Drogen verur sacht sind.Symptome während der Prodromal- und Residualphase:1. soziale Isolation oder Zurückgezogen-heit2. ausgeprägte Beeinträchtigung in Beruf, Haushaltoder Ausbildung3. ausgeprägt absonderliches Verhalten (Sammelnvon Abfällen, Horten von verrottetenLebensmitteln, enthemmtes Verhalten...)4. ausgeprägte Vernachlässigung der Hygieneund der Kleider5. abgestumpfter, verflachter oder unan-gepaßterGefühlsausdruck6. abschweifende, vage, übergenaue, umständlicheoder bildhafte Sprache7. eigentümliche oder bizarre Vorstellungen odermagisches Denken; Gefühl, beeinflußt zuwerden oder andere beeinflussen zu können,über wertige Ideen, Beziehungsideen8. ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse,z.B. wiederholte Illusionen, jemand oder eineunsichtbare Macht sei anwesend, die von andernnicht wahrgenommen werden kann.B. Aktive PhaseMindestens eines der folgendenMerkmale:1. bizarre Wahnphänomene (inhaltlich offensichtlichabsurd und ohne mögliche realeGrundlage), z.B. Gefühl der Beeinflussung,des Ge mach ten, der Gedankenausbreitung,Gedankeneingebung oder Gedankenentzug2. körperbezogene, Größen-, religiöse, nihilistischeoder andere Wahnphäno-mene3. Verfolgungs- und Eifersuchtswahn, kombiniertmit Halluzinationen4. Stimmenhören (Kommentare zum Verhaltendes Betroffenen, Beschimpfungen, sich unterhaltendeStimmen)5. zerfahrenes Denken, deutliche Lockerung derAssoziationen, ausgeprägt unlogisches Denkenund ausgeprägte Verarmung der sprachlichenÄußerungen, wenn sie mit mindestenseinem der folgenden Merk male einhergehen:- abgestumpfter, verflachter oder unpassenderGefühlsausdruck- Wahnphänomene oder Halluzinationen- katatones oder sonst grob desorganisiertesVerhaltenC. ResidualphaseMindestens zwei der unter A genannten Symptome,die nach einer aktiven Krankheitsphaseanhalten und nicht durch eine Verstimmung oderdurch Drogen verursacht sind.9


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEWas erleben schizophrene Menschen?Psychotisches Erleben lässt sich nicht mitobjektiven Messungen erfassen. Untersucherund Betreuer sind daher auf die Schilderungender Betroffenen angewiesen. Zudemlassen sich manchmal Beobachtungen machen,die Hinweise auf das Erleben geben. Will mandeshalb schizophrene Menschen verstehen, soist es ganz wichtig, sie in ihrem Erleben ernstzu nehmen. Die folgenden Bereiche sind in sehrwechselhaftem Ausmass betroffen. Die Erläuterungensind stichwortartig (in Anlehnung anDilling und Reimer 1990)1. Störungen des Denkens: Der formaleZusammenhang wird zerfahren, zusammenhanglos,alogisch, verworren. Es kommtzu Sperrungen, Gedankenabreissen; Gedankenwerden als gemacht erlebt oder «weggenommen».Begriffe zerfallen, werden überkonkretoder symbolisch aufgefasst.2. Störungen des Gefühls: Nicht übereinstimmendmit der Situation und dem Erleben(Parathymie). Ambivalenz (beziehungslosesNebeneinanderbestehen, unvereinbareErlebnisqualitäten); instabile Stimmungslage;mangelnder Kontakt. Gefühlsmässige Steifigkeit,Verflachung, Verlust der Schwingungsfähigkeit.Daneben auch Phasen von ekstatischerStimmung mit Glücksgefühl und Entrücktheit,Ratlosigkeit, Gefühlsverarmung und depressiveVerstimmung.3. Ich-Störungen: Auseinanderbrechenvon Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Rückzugnach innen (Autismus), Entfremdungserlebnisse,Verlust des Ich-Gefühls verbundenmit dem Erleben des von aussen Gemachtenund der Beeinflussung von Fühlen, Wollen undDenken.Abbildung: Die Desorganisation des Denkenskann sich auch im Schriftbild zeigen.Zusätzliche Merkmale(Akzessorische Symptome)Wahn: Verfolgung, Beeinträchtigung, Vergiftung,aber auch Berufung und GrösseHalluzinationen: Stimmenhören, Wahrnehmungvon Gerüchen, Bildern etc.Störungen der Motorik und des Antriebs(katatone Symptome): Erstarrung(Stupor) oder Erregungs-zustände; wachsartigeBewegungserstarrung mitten im Ablauf(Flexibilitas cerea bei Katatonie), wiederholtegleichförmige Bewegungen etc.Anmerkung:Eine umfassende Darstellung dieser Symptome im Detail findetsich in vielen Lehrbüchern der Psychiatrie.10


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIENicht-Wollen-KönnenAls Aussenstehender ist man versucht, Schizophreniekrankezu drängen, wenigstensminime Aktivitäten zu entwickeln (Aufstehen,die Medikamente regelmässig zu nehmen, zurArbeit gehen, sich an Regeln halten).Dies ist aber im akuten Schub für die Betroffenennicht mehr möglich. Sie leiden untereinem Nicht-Wollen-Können. Bei der psychotischenAmbivalenz stehen die gegensätzlichenGefühle und Strebungen weitgehend be-ziehungslos nebeneinander. Lachen und Weinen,Liebe und Hass, Wollen und Nicht-Wollen,Angst und Glück bestehen nebeneinander.In ihrem gleichzeitigen Auftreten blockierensie sich gegenseitig, ohne dass die Kranken sichdessen bewusst sind. Damit wird das Nicht-Wollen-Können zum Hindernis für Behandlungund Rehabilitation.BasisstörungenIm Bemühen, das subjektive Erleben von Schizophreniekrankenbesser zu erfassen wurdenverschiedene Fragebogen aufgebaut, die diesermöglichen sollen. Wohl das umfassendsteKonzept wurde von Huber und Süllwold inForm des Frankfurter Beschwer defragebogensentwickelt. In 98 Fragen bzw. Feststellungen«Meine Gedanken sind öfter so aufdringlich,als ob etwas laut denkt in mir» (DE)«Zeitweise kann ich nicht reagieren und musseinfach abwarten, bis es wieder geht» (KO)«Manchmal stoppe ich mitten in einer Bewegungund überlege, wie es weitergeht»(MO)«Manchmal kommt es mir vor, als ob derBoden, auf dem ich gehe, sich hebt oderkrümmt» (WAK)«Ganz normale Nebengeräusche, die ich frühernicht beachtet habe, lenken mich jetztübermässig ab» (REI)werden die auf Seite 5 beschriebenen Störungendetailliert in Worte gefasst. Huber und Süllwoldsprechen bei den Störungen des Denkens,der Gefühle und des Ich-Erlebens von schizophrenenBasis störun gen. Diese werden in zehnKategorien eingeteilt:1. KO = Verlust der Kontrolle (Selbstverfügbarkeit)2. WAS = Wahrnehmung (sensorische Irritation)3. WAK = Wahrnehmung komplex4. SP = Sprache5. DE = Denken6. GED = Gedächtnis7. MO = Motorik8. AU = Automatismenverlust9. AN = Anhedonie und Angst10. REI = ReizüberflutungANMERKUNG:In der Internationalen Literatur ist von «kognitiven Störungen»die Rede.Literatur:Süllwold L & Huber G: Schizophrene Basisstörungen, Springer1986.11


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEFormen der Schizophrenie1. Hebephrenie(desorganisierte Form der Schizophrenie).Früher Beginn, Stimmungslage gleichgültig,freundlich, oberflächlich heiter, situations-unangemessenfröhlich, distanzlos nett und unkritisch(«läppisch»), deutlich verminderteArbeits fähigkeit.2. Katatone SchizophrenieAuch wenn zeitweise eine Form besonders imVordergrund steht, kann es bei ein und derselbenPerson im Verlauf der Krankheit zu unterschiedlichenAusprägungen kommen.(z.B. eine Phase hebephren, dann eher kataton,später wieder mehr paranoid).Kombination mit ausgeprägten motorischenStörungen (z.B. stundenlanges Verharren in einerungewöhnlichen Kör per stellung, oder aberErregungszustand)3. Paranoide SchizophrenieIm Vordergrund steht ein deutliches Wahnsystem(z.B. Größenwahn, Erfinderwahn, Verfolgungswahn).4. Schizoaffektive PsychoseSchizophrene Symptome und Verlauf mitaus geprägten Gefühlsstörungen (Depression,Manie).5. Schizophrenia SimplexAllmähliche Persönlichkeitsveränderung ohneakuten Schub mit "Versandung" der Gefühle,des Denkens und allgemeiner Lebensuntüchtigkeit,ohne dass es je zu einem akuten Schub einerPsychose gekommen wäre.12


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEVerlaufsformenGrundsätzlich beobachtetman drei Ver laufsformen:a) einmaligeEpisodeb) wiederholte Schübemit Abfall der Leistungsfähigkeitc) chronische VerschlechterungmitschweremRestzustand.ResidualzustandAnzeichen für guten VerlaufKurze KrankheitsdauerRegelmässige MedikamenteneinnahmePatient wird nicht als gefährlich erlebtPatient wird nicht gemiedenKeine finanziellen/ berufl. ProblemeLändlicher HintergrundWährend die Residualphase (S. 8) sozusagendie «Erholungsphase» nach einem akutenschizophrenen Schub ist, handelt es sich beieinem Residualzustand um die langfristigenRestfunktionen einer schizophrenen Person.Diese können mit erheblichen Benachteiligungeneinhergehen:«Im durchschnittlichen Alter von 35 Jahrensind 60 Prozent ledig geblieben, gut die Hälftelebt allein oder noch bei den Eltern, und einDrittel ist sozial sehr isoliert. Ein Drittel kannam Ende der 2-jährigen Nachsorge den Lebensunterhaltselbst bestreiten, knapp die Hälfte istvorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden.Verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarktund erhöhte Anforderungen benachteiligenSchizophrene besonders, trotz Verbesserungdes Krankheitsverlaufs. SozialpsychiatrischeHilfen zur Kontaktförderung, für Wohnenund Arbeit sind mehr denn je erforderlich,um stärkeres Elend zu verhindern.»QUELLE:Müller P. (1998). Zur sozialen Situation schizophrener Patienten.Nervenarzt 69:204-209.13


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESonderformenImmer wieder trifft man Zustandsbilder, diein manchen Anteilen nicht dem klassischenKonzept entsprechen. Wenn diese als Einheitgefasst werden, so spricht man auch von einemKonstrukt. Folgende Begriffe sind besondershäufig:Spät-SchizophrenieObwohl eine Schizophrenie in der Regel vordem 45. Altersjahr auftritt, lassen sich immerwieder Fälle beobachten, wo die schwere Veränderungim Sinne einer Schizophrenie erst nachdieser Grenze auftritt. Diese muss allerdingsvon wahnhaften Entwicklungen im Alter abgegrenztwerden, wo sich gehäuft organische Ursachenfinden.PfropfschizophrenieEs handelt sich um schizophrene Symptome,die bei einer vorbestehenden psychoorganischenKrankheit bzw. Hirnschädigung auftreten.Die schizophrene Symptomatik pfropftsich gleichsam auf die organische Störung auf.Der Begriff galt lange als veraltet, wurde aberkürzlich wieder aufgegriffen.ZoenästhetischeSchizophrenieIm Vordergrund stehen körperliche Beschwerden,wie etwa seltsame und rasch wechselndeSchmerzen, Taubheitsgefüh-le, Elektrisierungs-und Hitzegefühle. Typische Aussage:«Es ist ein ständiges Reissen in allen Nerven,das brennt und elektrisiert, dabei verliert manden Verstand.»SchizotypePersönlichkeitsstörungDurchgängiges Muster von Eigentümlichkeitenin Vorstellungen, äusserer Erscheinungund Verhalten, sowie Mängel in zwischenmenschlichenBeziehungen. Häufig: Beziehungsideen(aber kein Beziehungswahn); extremesoziale Ängstlichkeit; seltsame magische Vorstellungen;ungewöhnliche Wahrnehmungen;Verhalten und äussere Erscheinung wirken oftseltsam oder exzentrisch; keine engen Freundeoder Vertraute; eigenartige Sprache (z.B. verarmt,weitschweifig, vage oder übermässig abstrakt);inadäquater Affekt, oft spröde und unnahbar;Argwohn oder paranoide Vorstellungen.Schizophrenie und ZwangsstörungIn etwa 5 Prozent der Schizophrenie-Krankenbeobachtet man eindrückliche Zwangssymptome(z.B. Waschzwang). Oft ist es schwierig,zwischen Zwangsgedanken und der Reaktionauf Halluzinationen zu unterscheiden. PsychologischeTests haben deutliche kognitive Defizitegezeigt. Insgesamt ist das Vorhandenseinausgeprägter Zwangssymptome ein Hinweisauf eine schlechtere Prognose, häufig mit einerTherapieresistenz auf Antipsychotika. Immerhinkann die Kombination von Antipsychotika mitAnafranil eindrückliche Besserungen bewirken.Manchmal kann aber das Antidepressivum diePsychoseschwelle erniedrigen.14


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESchizophrenien im KindesalterIn seltenen Fällen können schon Kinder an einerSchizophrenie erkranken (etwa 1 bis 2 Prozentder Erkrankungen). Wie bei Erwachsenen kommtes zu einem deutlichen Einbruch im Vergleichzum vorherigen Wesen und Verhalten.In einer Studie an 44 Patienten (Klapal u.a. 1997)wurden Störungen in folgenden fünf Bereichenherausgearbeitet:1. Kognition - Affekt: stereotypes Denken,leibliche Befindensstörungen, vermindertesabstraktes Denkvermögen, Gespanntheit.2. Sozialer Rückzug: passiv-apathischeIsolation, mangelnde Spontaneität und Gesprächsfähigkeit.3. antisoziales Verhalten: Feindseligkeit,Unkooperativität, Kontaktmangel, Selbstbezogenheit.4. Erregung: mangelnde Impulskontrolle, Erregung,Größenwahn.5. Realitätsbezug: verminderte Urteils- undEinsichtsfähigkeit, Angst, Aufmerksamkeitsschwäche,Halluzinationen.Für die Eltern ist eine solche Erkrankung ausserordentlichbelastend. Nicht selten erlebensie, dass man ihnen die Schuld am Auftretender Störung gibt. Auch hier gilt: Schizophrenieist eine Erkrankung des Gehirns. Sie ist mitMedikamenten bis zu einem gewissen Grad behandelbar,auch wenn die Prognose einer frühauftretenden Schizophrenie ernst ist. Die Elternbrauchen einfühlsame Unterstützung im Umgangmit den betroffenen Kindern.Ein FallbeispielBis zu seinem 10. Lebensjahr war Marcoein ruhiges angenehmes Kind mit gutenSchulleistungen. Allmählich veränderte ersich. Er verlor sich immer mehr im Spiel mitseinen Plastikfiguren. Nachts wollte er nichtins Bett. Er wirkte gehetzt und verängstigt.Er machte seitenweise Notizen, wobei dasSchriftbild auffällig ungeordnet war. Er klagteüber Bauchweh: «Die Monster sitzen inmeinem Darm und kämpfen mit dem Laserschwertgegen mich.»Seine Schulleistungen liessen stark nach undoft rannte er hinaus in die Felder statt zurSchule zu gehen. Ermahnungen gegenüberwar er nicht zugänglich. Unter Medikamentenkam es zu einer gewissen Beruhigung,aber Marco wurde apathisch und entwickelteeine ausgesprochene Negativsymptomatik.15


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEEin Entstehungsmodell der Schizophenie(nach Ciompi)16


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEVulnerabilität und Stressbewältigung(nach Spring & Zubin)Vulnerabilität bedeutet Verletzlichkeit,eine erhöhte Anfälligkeitfür das Auftreten vonKrankheitssymptomen (wie z.B.Stimmenhören, Schlafstörungenetc.). Je höher der Stress, destoeher treten Symptome auf.Linie 1 zeigt eine niedrige Vulnerabilität:Es braucht einige Belastungen,bis es zu Symptomenkommt.Linie 3 zeigt eine hohe Verletzlichkeit:Schon kleine Stressoren(ein leichter Vorwurf, Angst vorÜbeforderung) führen zu vermehrtenSymptomen.Durch Medikamente, Reizabschirmungund Gespräche kann die Vulnerabilitätsgrenzeverschoben werden (Pfeil).Unter diesem Schutz hält eine vulnerable Persondeutlich mehr Stress aus.Linie 2 zeigt aber, dass es (bei einer mittlerenVulnerabilität) unter allzu hohem Stress trotzdemnoch zu einem Rückfall kommen kann.Deshalb müssen Patienten angeleitet werden,wie sie Stress und erste Symptome erkennenkönnen, um einem Rückfall vorzubeugen.Das Vulnerabilitätskonzept ist eine derwichtigsten Grundlagen für die Schulungvon Patienten, wie sie Rückfälle vermeidenkönnen.vgl. S. 29Literatur:Schmidt-Degenhardt M. (1988): Disposition - Vulnerabilität - Verletzlichkeit.Der Nervenarzt 59:573–585.17


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEPositive und negative SymptomeDie Diagnostik der Schizophrenie wird heutegeprägt von der Unterscheidung in PositivundNegativsymptome.Positive SymptomeAls positive Symptome bezeichnet man Erscheinungenvon Erlebens-, Verhaltens- undAusdrucksweisen, die unter normalen Umständenim Leben eines Menschen nicht auftreten(etwa Wahn, Halluzinationen oder psychotischeIch-Erlebnis-Störungen). Die Kranken«produzieren» die Symptome, bringen siein ihren Berichten hervor, deshalb die Bezeichnung«positiv».Positive Symptome erleichtern die Stellungder Diagnose, sprechen in der Regel gut auf einemedikamentöse Therapie an und klingen inder Mehrzahl der Fälle wieder ab. Allerdings habensie auch intensive Auswirkungen auf dasVerhalten der Menschen, machen sie auffälligund führen dazu, dass sie von der Umgebungals störend erlebt und ausgeschlossen werden.NegativsymptomeAls negative Symptome bezeichnet man Erscheinungen,die auf beeinträchtigte, reduzierteoder defizitäre psychische Funktionenzurückzuführen sind.– Aufmerksamkeits- und Konzentrationsmangel– Verlust des klaren, zusammenhängendenDenkens– Verlust des vorausschauenden Handelns– eingeschränkte, unklare Sprache– Verlust von Initiative und Durchhaltevermögen– abgestumpfter Affekt– Verlust der Fähigkeit, Freude zuempfinden (Anhedonie)– Unfähigkeit, tiefe Beziehungenaufzubauen und zu erhalten.Negative Symptpme können auch bei anderenErkrankungen auftreten (Depressionen, Persönlichkeitsstörungen,organische Psychosyndrome,schwere neurotische Erkrankungen, wiez.B. Zwangsstörungen). Ihr alleiniges Auftretenmacht deshalb die Diagnose einer Schizophrenieschwierig (hier wird manchmal der Begriffder Schizophrenia simplex gebraucht).Sie bleiben oft lange bestehen, und sindauch unter Medikamenten nur beschränkt behandel bar. Die Prognose ist daher schlecht. Siekönnen eine lang andauernde Leistungsminderungverursachen mit negativen Folgen fürdie berufliche und soziale Wiedereingliederung.Negative Symptome alsHerausforderungDie herkömmlichen Antipsychotika (z.B. Haldol)lindern in erster Linie die positiven Symptome.Sie sind daher bei Schizophre nieformeneffektiv, wo Wahn und Halluzinationen im Vordergrundstehen. Hingegen brachten diese Mittelbei den negativen Symptomen kaum Verbesserung.Weil negative Symptome eine viel grössereBehinderung bedeuten und sich lange, jalebenslang hinziehen, wurden sie zur besonderenHerausforderung.Dies veränderte sich durch die Einführungvon Leponex, dem ersten Vertreter der atypischenAntipsychotika (zudem: Risperdal, Solian,Seroquel, Zyprexa, Abilify). Durch sie könnenMenschen länger im Arbeitsprozess bleiben,werden beziehungsfähiger und habenmehr Energie.18


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEGestörte NetzwerkeGrundlage dieser Störungen sind Veränderungender Nervenleitungen ins Stirnhirn,wo der Sitz der Persönlichkeit ist. Die nebenstehendeAbbildung zeigt Pyramidenzellen desGrosshirns, die durch eine spezielle Färbungsichtbar gemacht wurden.Über 100 Milliarden Nervenzellen bilden gemeinsamdas komplexeste Gebilde der Schöpfung.Die Zellen sind zu Netzwerken verknüpft,die in ihrem Zusammenspiel die Grundlagemenschlicher Eigenschaften, wie Be wusst sein,Ge dächtnis, Denken, Fühlen, Kreativität und Intelligenzbilden. Bei einer Schizophrenie ist dieInformationsverarbeitung gestört.Primäre und sekundäre NegativsymptomeNicht immer sind Negativsymptome Ausdruckder schizophrenen Störung selbst.Man kann sich leicht vorstellen, dass ständigesVersagen oder das Zerbrechen von Freundschaftenzum sozialen Rückzug führen können. DieTabelle zeigt die vielfältigen Faktoren, die zusekundären Negativsymptomen führen können.Gründe für sekundäreNegativsymptome– Depression– Persönlichkeitsstörungen– organische Gehirnveränderungen– Drogen / Alkohol / Medikamente– Überstimulation– Unterforderung– «neurotische» Konfliktverarbeitung(nach Marneros)Literaturhinweis:Marneros A.: Negative Symptome der Schizophrenie. Thieme19


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEHirnbiologie und SchizophrenieInformationen im Gehirn werden durchNeurotransmitter geregelt. Biochemischgesprochen gibt es keinen Gedanken, dernicht durch Neurotransmitter gesteuertwird. Dabei kommt es auf ein reibungslosesZusammenspielen von Wahrnehmung(Hören, Sehen etc.), Informationsdeutung,Informationsverarbeitung undSpeicherung an.Jede Sachinformation wird zudem mitGefühlen gekoppelt. Denken, Fühlen undHandeln werden in verschiedenen «Kernen»des Gehirns gesteuert, die miteinander durchNervenbahnen in engem Kontakt stehen. ImZentrum der Erlebnisverarbeitung steht daslimbische System (1).Durch eine Überaktivität erhält das Gefühlszentrumfalsche Informationen aus den Wahrnehmungszentren(3). Es hört Stimmen undsieht Dinge, die nicht wirklich sind. Aber dieGefühle sind ganz intensiv. Eigentlich solltedas Stirnhirn (2), der Sitz der Persönlichkeit füreine Wirklichkeitsüberprüfung sorgen. Dochbei schizophrenen Menschen fehlt der «Reality-Check»— es kommt zu desorganisiertemVerhalten (4).Zwei Neurotransmitter sind wesentlichfür eine korrekte Informations-Vernetzung:Dopamin und Serotonin. Sie aktivieren undhemmen andere Zellen mit spezifischen Rezeptoren,die man mit Schaltern vergleichenkönnte.Bei einer Psychose ist das Zusammenspielder Hirnregionen und das Gleichgewicht dereinzelnen Neurotransmitter und der Rezeptorenin komplexer Weise gestört.Für die psychotische Aktivität (positive Sym-ptome) ist nach derzeitigem Wissensstand eineDopamin-Überaktivität der limbischenAreale (1) verantwortlich. Diese müssten alsogehemmt werden. Die Minus-Symptomatikscheint eher durch den Serotonin-Stoffwechselbegründet.Die funktion des StirnhirnsAbstraktes und kreatives DenkenLogisches DenkenAusdruck von Sprache und GefühlenEinordnung von sozialen SituationenAufbau von zwischenmenschlichenBeziehungenKonstruktives und beharrlichesAnstreben von Zielen.Aufgaben angehen und durchhaltenPlanen für die ZukunftAnpassung an neue Situationen20


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEEin Computermodell der SchizophrenieDie obige Darstellung ist ein äußerst vereinfachtesModell der Funktionsweisedes menschlichen Gehirns. Unser Gehirn isttausend fach komplexer als jeder Computer.Unser Gehirn ist auch mehr als nur eine Maschine,die Geistesdimension lässt sich in keinModell einfangen. Dennoch hilft uns das Bild,Störungen der Gehirntätigkeit besser zu verstehen.Bei den Psychosen ist in erster Linie die Informationsverarbeitunggestört. Während etwabei einer Depression das inhaltliche Denken gestörtist («Ich bin nichts wert» oder «Niemandhat mich gern»), steht bei der Schizophreniedas formale Denken im Vordergrund, also dieArt, wie der Denkvorgang abläuft. Eine Psychosekann mit einem Computer-Absturz verglichenwerden. Richtige Wahrnehmungen werdenfalsch gedeutet, mit falschen Speicherinhaltenverglichen und führen daher auch zu falschenReaktionen.Zudem gaukelt das Bewusstsein Inhaltevor, die ungewollt aus dem Speicher abgeru-fen werden und mit aktuellen Wahrnehmungenzu einem Gemisch verarbeitet werden, das wirdann als Wahn bezeichnen.Ein völliges Blockieren der Bildschirmfunktion(«Absturz») kann einer Katatonie verglichenwerden.Bei einer Psychose istdas Zusammenspielder Hirnregionen und dasGleichgewicht der einzelnenNeurotransmitterin komplexer Weisegestört.21


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIERisiko Cannabis«Ich trauere um die Erfahrungen, dieich wegen meiner Motivationslosigkeitnicht gemacht habe. Das Gehirnhabe ich anstatt mit kreativen Impulsenmit Schwachsinn gefüllt.Die wichtigsten Jahre meiner Jugendsind ein grosser, grüner Brei»Lange Zeit hielt man das «Kiffen» für eineharmlose Freizeitdroge. Neuere Studien belegenimmer deutlicher: Bei dauerhaftem Cannabis-Konsumkönnen nachhaltige Schäden im Gehirnentstehen. Besonders gefährdet sind jungeMenschen, die bereits eine gewise Vulnerabilitäthaben. Bei ihnen kommt es gehäuft zumAuftreten von Psychosen.Der Wirkstoff THC ist heute durch neue Anbaumethodenviel stärker konzentriert als nochvor 20 - 30 Jahren, als die Flower-Power-Generationdie Wasserpfeife kreisen liess.Die Suchtgefahr ist nicht zu unterschätzen:Jeder Zehnte der 18- bis 24-Jährigen, die Cannabisprobieren, wird davon abhängig oder betreibtzumindest «schädlichen Gebrauch».Studien zeigen, dass bei regelmässigem Konsumdas Denkvermögen oft schon nach kurzerZeit zu leiden beginnt. Wortfindungsstörungen,Vergesslichkeit und verminderte Fähigkeit,Neues aufzunehmen, führen zu Lernschwierigkeiten,die Weichen fürs Leben stellen:Schulversagen, Lehr- und Studienabbruchführen zu einer verminderten beruflichen Qualifikation.Insbesondere bei jüngeren Konsumentenkommt es zu einer Verzögerung der Hirnreifungmit nachhaltigen Schäden. Heute wird zunehmenddeutlich, dass ein jugendliches Gehirn,das regelmässig mit Rauschmitteln zugedröhntwird, regelrecht auf Sucht programmiert wird.Bei sensiblen jungen Menschen wird Schizophreniedurch Cannabismissbrauch um Jahrefrüher ausgelöst — mit weitreichenden negativenFolgen für Ausbildung, Berufstätigkeitund Rehabilitation.Ein Betroffener, Spiegel 27/2004fOLGEN VON cANNABIS-kONSUM— Psychische Abhängigkeit— Konzentrationsstörungen— Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen,vermindertes Lernvermögen— Störung der neuronalen Reifung— Verzögerung der Persönlichkeitsentwicklung— «Amotivationales Syndrom»— Verstärkung einer Veranlagung zu psychischenLeiden (spez. Psychosen).22


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEBehandlung der SchizophrenieEine schizophrene Erkrankung beginnt oft miteiner schleichenden Persönlich-keitsveränderung.In dieser Phase spüren die Betroffenennur diffus, dass etwas nicht stimmt und suchenHilfe bei verschiedensten Angeboten. Je früherdie Problematik erkannt wird, desto rascherkann geholfen werden.Dies hat offenbar auch Einfluss auf den Verlauf.Nach einer ersten Episode kommt es in 88% zu einer Erholung (recovery).Medikamente und RückfallprophylaxeRückfälle sind ein grosses Problem für schizophrenePatienten. Sie beeinträchtigen dieLebensqualität, behindern Beruf und Privatlebenund führen immer wieder zu stationärenBehandlungen. Viele dieser Rückfälle könnteneigentlich durch eine konsequente neuroleptischeLangzeitbehandlung vermieden werden.Studien haben zudem ergeben, dass einekonsequente medikamentöse Prophylaxe erheblicheEinsparungen mit sich bringt. Ziel derAnstrengungen muss es daher sein, Patientenund Ärzte zu schulen und über die Möglichkeitender Rückfallprophylaxe aufzuklären.23


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEMedikamentöse BehandlungWie lange muss man Medikamenteeinnehmen?Nach einer ersten Episode mindestens einbis zwei Jahre lang. Nach dem zweiten Schubsollte mindestens fünf Jahre lang neuroleptischbehandelt werden, um einem Rückfall vorzubeugen.Medikamente haben das Schicksalvon Schizophreniekrankenentscheidend verbessert. Obwohl Nebenwirkungenstörend sein können,verbessert sich dieLebensqualität dennoch dramatisch.Welches sind die häufigstenNebenwirkungen?Die genauen Nebenwirkungsprofile solltender Packungsbeilage entnommen werden undkönnen hier nicht im Detail erwähnt werden.Zudem werden Nebenwirkungen je nach Personganz unterschiedlich erlebt. Besonders störendbei den klassischen Antipsychotika können EPSsein (vgl. unten). Weitere Nebenwirkungen könnensein: Sedierung, Blutdrucksenkung, Hautausschläge,Gewichtszunahme, Mundtrockenheitoder vermehrter Speichelfluss.kann man sie behandeln?EPS = Extrapyramidalmotorische Symptome,d. h. parkinson-ähnliche Beschwerden: SchlaffeGesichtsmimik, «Robotergang», Muskelverkrampfungen(Augen, Kiefer, Schlund). Auf einentsprechendes Gegenmittel (z.B. Akineton)sprechen die EPS meist gut an.In etwa 5 - 10 Prozent der mit klassischenAntipsychotika behandelten Pat. kommt eszu einer Spätdyskinesie (unwillkürliche Bewegungenim Mundbereich, aber auch in anderenKörperbereichen). Sie bilden sich in der Regelnach Absetzen des Medikaments zurück, könnenaber lange andauern. — Darum ist es das Zielneuer Antipsychotika, dass es bei einer normalenDosierung nicht mehr zu EPS kommt.Wie schnell wirken Antipsychotika?Eine Beruhigung kann innert wenigen Stundenund Tagen einsetzen; für eine psychischeStabilisierung kann es aber Monate dauern. Ausdiesem Grund sollte man a) nicht zu rasch dasPräparat wechseln und b) nicht immer höher dosieren,um eine Wirkung zu erreichen. Geduldist oft wichtiger.Muss man Antipsychotika beiSchwangerschaft absetzen?Bis heute ist keine Schädigung des werdendenKindes durch klassische Antipsychotikabekannt. In jedem Fall ist aber eine engmaschigeärztliche Betreuung angezeigt.Was versteht man unter EPS und wie24


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEEin vereinfachtes SchemaDas obige Schema ist sehr vereinfacht. AusGründen der Didaktik wurden nicht alle Medikamenteund alle Besonderheiten im Detail aufgezeigt.DEPOT-AntipsychotikaLeider sind manche Patienten mit einerSchizophrenie nicht zuverlässig in der Medikamenteneinnahme.Wenn sie die Medikamentewieder weglassen, kommt es oft zumnächsten Rückfall.Aus diesem Grund gibt es Antipsychotika, dieals Spritze verabreicht werden können (z.B.Risperdal-Consta u.a.). Die Wirkung einerSpritze dauert 2 bis 4 Wochen an. Damit wirdeine bessere Compliance (= Therapietreue)erreicht.In der Akutbehandlung gilt es, einerseitsdie psychotischen Positivsymptome zu behandeln.Gleichzeitig kann aber auch starkeAngst und Erregung vorhanden sein, die aufdie Antipsychotika nicht genügend ansprechen.Erste Wahl zur Beruhigung sind nach heutigerAuffassung Tranquilizer (z.B. Lorazepam),ohne dass man Angst vor einer Suchthaben müsste.Schliesslich achtet man bei der Wahl des Medikamentsauf die Nebenwirkungen. Insbesonderedie klassischen Antipsychotika können EPSerzeugen und erfordern oft ein «Gegenmittel»,z.B. Akineton.25


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDie Wirkweise der AntipsychotikaDie typischenAntipsychotika (Prototyp:Haloperidol) entfaltenihre antipsychotischeWirkung durch Hemmungder Dopamin-D2-Rezeptoren.Allerdings hemmensie auch die D2-Rezeptorenin den Basalganglien(bzw. im NigrostriatalenSystem). Dadurchkommt es zu parkinsonähnlichenSymptomen(EPS = ExtrapyramidalmotorischeSymptome).Atypische Antipsychotika (Vertreter:Zyprexa, Seroquel, Risperdal, Solian, Abilify)greifen deutlich weniger in die Bewegungssteuerungein (d.h. viel weniger EPS) und habendurch die Hemmung von Serotonin-Rezeptorenauch eine bessere Wirksamkeit bei Negativ-Symptomen.Atypische AntipsychotikaDurch intensive biochemische Forschungsind heute fünf Dopamin- und etwa 10 Serotonin-Rezeptorenbekannt. Seit ca. zehn Jahrensind neue Antipsychotika auf dem Markt,die folgende Besonderheiten zeigen:wenig EPS (praktisch keine bei Leponex undSeroquel, erst in höherer Dosierung bei Risperdal,Solian und Zyprexa).weniger kognitive Einschränkung:Unter den atypischen Antipsychotika klagen Pa-tienten viel weniger über gedankliche Verlangsamungund Einschränkungen bei alltäglichenVerrichtungen.Problem Gewichtszunahme: einige deratypischen Antipsychotika (insbesondere Leponexund Zyprexa) führen bei ca. 20 % der Patientenzu einer deutlichen Gewichtszunahme.Weniger Gewichtszunahme beobachtet man beiSolian (Amisulpirid), Seroquel (Quetiapin) undAripiprazol (Abilify).26


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIERechtzeitige Behandlung — Warum?Studien haben gezeigt, dass Patienten, die nichtrechtzeitig mit Medikamenten behandelt werdern,folgende Nachteile haben:Psycho-EdukationVerschiedene Kliniken und Beratungsstellenbieten Psychoedukative Gruppen für Schizophreniekrankeund ihre Angehörige an. Dabeilernen sie, die Krankheit besser zu verstehenund Symptome eines Rückfalls rechtzeitig zuerkennen. Die dabei erlernten Strategien derBewältigung können wesentlich für die Verhinderungeines Rückfalls sein.— langsamere und weniger vollständige Erholung— schlechtere Prognose— erhöhtes Risiko von Depression und Suizid— Störung der psychologischen und der sozialenEntwicklung— Beziehungs-Stress: Verlust von Unterstützungin Familie und Umfeld— vermehrte psychologische Probleme in derFamilie des Patienten— Unterbrechung von Studium und Arbeit, Gefahrdes Arbeitsplatz-Verlustes— vermehrter Missbrauch von Alkohol und Drogen(als fehlgeleitete Selbstbehand lung)— Risiko von Gewalt und kriminellen Handlungen— unnötige Hospitalisationen— Verlust von Selbstwert undSelbstvertrauen— langfristig erhöhte Behandlungskosten.Was bringt es, Medikamente zu nehmen? Dielangfristige Prognose ist etwa 10 Prozent besserund die Lebensqualität ist deutlich erhöht.Primäre Ziele derPsychoedukation— Mithilfe der Patienten zur Verhinderungvon Rückfällen und zu frühzeitiger Intervention;Vermeiden von Ohnmachtsgefühlen.— Regelmässige Medi-Einnahme— Begrenzung des Verlustes psychosozialerFunktionen— Milderung der Auswirkungen der negativenSymptome— Vermindern von zwischenmenschlichenKonfliktenSekundäre Ziele:— Verlagerung des Schwerpunkts von «Schizophrenie»auf «Krankheit»— Entmystifizierung der Ursachen und Ausräumenvon Vorurteilen— Erfahrungsaustausch zwischen erfahrenenund neu diagnostizierten Patienten— Trost – «Sie sind nicht allein»— Verbesserung der Lebensqualität.27


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESoziales TrainingIn der Rehabilitation von Menschen mit einerSchizophrenie hat sich ein praxis-orientiertessoziales Training, verbunden mit dem Trainingvon kognitiven Funktionen sehr bewährt. EntsprechendeProgramme wurden insbesonderein Bern entwickelt. Wie die Abbildung zeigt,werden dabei fünf Stufen unterschieden.Hilfreiche SpieleIn einem sozialen Gruppentraining kann diesesTraining auch spielerisch unterstützt werdendurch das Spiel «Competence» oder «Der Weg istdas Ziel».(erhältlich bei der Firma Lundbeck).Abbildung:Schematische Darstellung des fünfstufigenProgramms zur integrierten Therapie kognitiver,kommunikativer und sozialer Fähigkeiten. (nachBrenner et al. 1987)28


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEWie beugt man Rückfällen vor?Medikamente:Da es sich bei der Schizophrenie um eine Erkrankungdes Gehirns handelt, haben Medikamenteeinen wesentlichen Einfluss auf das Zustandsbild.Im Vordergrund stehen die Antipsychotika(vgl. S. 26). Sie führen allgemein zu einer Beruhigungund zu einer Ordnung der Denkvorgänge.Seit der Einführung der Medikamentekonnten in den westlichen Ländern mehr als einDrittel aller Betten in der Psychiatrie abgebautwerden. Eine ärztlich kontrollierte Dauermedikation(z.B. mit Depot-Spritzen) ist die wichtigsteSäule der Rückfallprophylaxe, auch wenn nichtalle Probleme durch die Medi ka men te gelöstwerden können.Abbildung: Faktoren der Rückfall-ProphylaxeGeregelter Tagesablauf:Ziel ist einerseits Schutz vor Stress, an de rerseitsdas Training der noch vorhandenen Fähigkeiten.Ein geregel ter Tagesablauf ist wichtig aus folgendenGründen:1. Klares zeitliches Programm, schafft Anhaltspunktefür den Patienten.2. Vermittelt das Gefühl: man wird gebraucht,kann etwas machen.3. Die Angehörigen werden entlastet, die Betreuungauf mehrere Schultern verteilt.Emotionales Klima:Menschen, die an einer Schizophrenie leiden,sind allgemein weniger belastbar. Die Einstellungihrer Umwelt, insbeson dere die der Angehörigen,kann zur Vorbeugung eines Rückfalls bei tra gen.Es gilt, den Patienten mit seinen Grenzen anzunehmen,ohne sich zu überengagieren.FrühwarnzeichenZur Verhütung eines Rückfalls ist eswichtig, dass ein Patient die Anzeichenkennt, die eine erneute Entgleisung ankündigen.Folgende Symptome sind besondershäufig:— Nervosität, Spannung— Niedergeschlagenheit— Schlafstörungen— Unruhe— Konzentrationsstörungen— Lustlosigkeit— Appetitstörungen— Gedächtnisstörungen— Sozialer Rückzug— «Andere lachen über mich»— «Andere sprechen über mich»— Übererregbarkeit— Stimmenhören— Gefühl der Wertlosigkeit29


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEIst Heilung ohne Medikamente möglich?Immer wieder besteht die Hoffnung, einenMenschen allein durch ein verständnisvollesUmfeld und eine Abschirmung von belastendenReizen (therapeutisches Milieu) von seiner schizophrenenPsychose heilen zu können. In derTat sind diese Elemente wichtig für eine guteBehandlung.1984 wurde in Bern im Rahmen eines sozialpsychiatrischenProjektes die «Soteria», einespezielle therapeutische Wohngemeinschaftgegründet, die das Ziel verfolgte, schizophrenePatienten mit möglichst wenig Medikamentenzu heilen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass einekleine Gruppe von leicht Erkrankten von diesemKonzept profitieren konnte. Der personelle Aufwandwar jedoch hoch; zudem war die Rückfallprophylaxeohne Medikamente nicht gesichert.Viele Patienten konnten gar nicht von dem Projektprofitieren, weil sie die Bedingungen für dieAufnahme nicht erfüllten.Fazit: Eine Behandlung ohne Medikamenteist in leichteren Einzelfällen möglich, in der Regelbringt aber nur eine integrative Therapie von Milieu,Medikamenten und sozialer Reintegrationoptimale Ergebnisse.Selbsthilfe schizophreniekranker MenschenMenschen mit einer Schizophrenie findenoft auch eigene Strategien, mit den störendenSymptomen besser umzugehen. Hiereinige Beispiele:1. Umgang mit der Angst: Selbstzuspruch(z.T. Selbstgespräche), Ablenkung, Kontaktsuche,Rückzug.3. Umgang mit Wahrnehmungs-störungen:Übertönen der Stimmen durch lauteMusik (Radio, MP3-Player), aber auch (obwohlnicht logisch) durch Ohrstöpsel. – Verminderungder Halluzinationen durch Reizabschirmung,Rückzug oder durch bewusstesFokussieren auf die Gegenwart: «Ich bin jetzthier in meinem Zimmer!»2. Umgang mit Inaktivität: Aktivität inForm von Spaziergängen, Laufen, Gymnastik,Arbeit. - Aktivierung durch Kaffee (Cave:Kann Wirkung der Antipsychotika vermindern!).4. Missbrauch von Suchtmitteln(Alkohol, Drogen, Rauchen) zur Beruhigungund zum Angstabbau.30


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEPsychotherapie der SchizophrenieGesprächstherapie ist abhängig von der Gesprächsfähigkeiteines Menschen, von seinerFähigkeit, das Gesagte zu verstehen, richtigeinzuordnen und anzuwenden. Weil bei schizophrenenMenschen — insbesondere im akutenSchub — das Denken schwer gestört ist, sinddem therapeutischen und dem seelsorglichenGe spräch enge Grenzen gesetzt.Die Gesprächsfähigkeit ist bei schizophrenenMenschen je nach Phase unterschiedlich. Amwenigsten ist sie in der akuten Phase vorhanden.Dazwischen ist jedoch häufig ein normalesGespräch möglich. Ähnlich verhält es sichauch mit dem religiösen Leben. Es wird durchdie Denkstörung stark verzerrt, kann nachherjedoch wieder völlig normal werden und einewichtige Stütze für den Patienten sein.Eine gesprächstherapeutische und seelsorglicheBegleitung sollte bei schizophrenenMenschen nur im Rahmen einerpraktischen und stützenden Atmosphäre geschehen.Stark aufdeckende oder gefühls-intensiveTherapien können die Krankheit eherverschlechtern und bis zum Suizid führen.Gruppentherapie ist nur dann sinnvoll,wenn der Schwerpunkt auf mehr oder minderneutralen Themen liegt. Hilfreich kann das gemeinsameBesprechen von sozialen Situationensein, um Sicherheit im Umgang mit andernMenschen und praktischen Alltagsaktivitätenzu trainieren (vgl. S. 28).Supportive Psychotherapie: Am bestengeeignet ist bei einer grossen Teilgruppe schi-zophrer Kranker eine begleitende, führende undstützende Psychotherapie in der Verbindungmit Medikamenten.Eine solche supportive Psychotherapie mitregelmässiger Beratung, die sich auf konkreteLebens- und Krankheitsprobleme einschliesslichder Medikamentenverordnung konzentriert,kann die gesunden Persönlichkeitsanteileund die Entwicklung von BewältigungsundSelbstschutzreaktionen stärken.«Provoziere nicht;sei nicht zu aktiv; suche nichtden Grundkonfliktallzu energisch aufzuklären;bezwinge dein psychoanalytischesInteresse und deine Begierde,ganz zu verstehen.»(Paul Federn, Psychoanalytiker)Weitere Informationen:W. Rössler: Psychiatrische Rehabilitation. Springer 2004.(mit einem sehr lesenswerten Kapitel über «Supportive Therapie»).31


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDer religiöse Wahn und seine Erklärunga) Religiöse Bilder zur Erklärungschizophrenen Erlebens:Die Erlebnisse einer sch izo phrenen Denkstörungsind oft sehr unheimlich, »überirdisch”,fremd und bedrohlich und lassen sich mit derbisherigen Erlebniswelt nicht mehr erklären.Übernatürliche Kräfte und Visionen, verzückendeGlücksgefühle, aber auch zerstörerische,negative Mächte werden spürbar. Irdische Bilderreichen oft nicht mehr aus. Doch aus der Religionsind Engel und Dämonen, prophetische Botschaftenund übernatürliche Wunder bekannt.Und so entwickeln selbst Menschen, die im Alltagnicht vom christlichen Glauben geleitet werden,die phantasiereichsten religiösen Wahngebilde.Klingt der schizophrene Schub wieder ab,so kehrt auch der Glaube wieder auf das vorherigeNiveau zurück.chen. Gerade hier ist viel Verständnis für ungewöhnlicheAusprägungen christlichen Gedankengutsnotwendig, um dem Patienten nicht unrechtzu tun. Oft ist es nicht leicht zwischen Wahn,Aberglaube oder religiöser Sonderlehre zu unterscheiden.Wird eine Überzeugung (Beispiele:Glaube an den Weltuntergang; bei Judenund Moslems: Verunreinigung durch das Essenvon Schweinefleisch) von vielen anderen gesundenMenschen geteilt, so müssen neben demGlaubensinhalt auch noch andere Zeichen füreine psychotische Erkrankung erfüllt sein, bevorvon einem Wahn gesprochen werden darf, selbstwenn die Betreuer diese Überzeugung nicht teilen.b) Wahnhafte Verzerrung echterReligiosität:Hat eine Person vor ihrer Erkrankung einengesunden Glauben, so kann dieser wie andereLebensinhalte durch die Krankheit verzerrtempfunden und geäußert werden. Der Wunsch,andere zu «erretten» kann so stark werden, dasssich beispielsweise eine junge Frau mit einemMesser verletzt, um ihr Blut zu geben. Unterder Behandlung klingen solche Störungen wiederab, das Glaubensleben erleidet in der Regelkeinen bleibenden Schaden. Zu dieser Kategoriegehören auch depressive Wahnideen, wiez.B. Versündigungsideen, die groteske Formenannehmen können.c) Besondere AUSPRÄGUNGEN DES GLAU-BENS werden durch die Betreuer beim schizophrenenPatienten als Ausdruck seiner Krankheitempfunden, obwohl diese dem Glauben seinerKirche oder seiner religiösen Gruppe entspre-Allgemein gilt: Der religiöse Wahn ist nureines der möglichen Themen des Wahns. Niemalsdarf man aus dem Wahninhalt ableiten, daß darindie Ursache für die schizophrene Erkrankung zusuchen sei. Dies wäre genau so absurd, wie wennman die Technik für den Ausbruch einer Schizophrenieverantwortlich machen würde, bei dersich der Patient von Lasern und Computern beeinflußtfühlt.32


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEDas «Israel-Syndrom»Jedes Jahr erkranken 50 bis 200 Touristen in Jerusaleman einer psychotischen Phase, in dersie Wahnideen entwickeln, sie seien biblischeGestalten. »Jeder Dritte hält sich für Jesus Christus,aber auch in ‹Gott› oder einen ‹Teufel›wollen sich manche verwandelt haben. WährendChristen eher die Rolle von Aposteln liegt, bevorzugenJuden König David, Abraham oder einender biblischen Propheten. . . Für den plötzlichenAusbruch der Krankheit macht Dr. Bar-El dieüberwältigenden Eindrücke verantwortlich, diein der Heiligen Stadt auf einen tiefgläubigenNeuankömmling einstürmen. Meist löst sich«Okkulte Belastung» und KausalitätsbedürfnisWenn schwere Ereignisse über sie hereinbrechen,so neigen viele Men schen unwillkürlichdazu, eine Ursache für die Erkrankungzu suchen. «Was ist schuld? Haben Drogen diePsychose ausgelöst? Sind giftige Dämpfe amArbeitsplatz schuld?» etc.Bei religiösen Menschen wird häufig die Fragegestellt, ob möglicherweise dämonische («okkulte»)Einflüsse hinter dem Geschehen stehen.Wenn im Verlauf der Entwicklung einer psychotischenKrise ein Kontakt mit «okkulten Praktiken»(z.B. eine Person hat sich von einer Wahrsagerinaus der Hand lesen lassen) aufgetretenist, so wird darauf geschlossen: Schuld an derPsychose ist eine «okkulte Belastung». Hätte siedas nicht getan, so hätte sich keine Psychoseentwickelt. Oft werden dabei wesentliche Aspektein der Diagnostik und in der umfassendenProblembeschreibung ausser acht gelassen.Grundsätzlich gilt: Eine magische Betätigung(insbesondere in ihren dramatischen und angstauslösendenFormen) kann zwar Auslöser oderfehlgeleiteter Bewältigungsversuch sein, sie istaber nicht Ursache der Erkrankung.In einer eigenen Studie (*) an 60 religiösenSchizophreniepatienten fand sich bei 53 % dieVermutung einer «okkulten Belastung».28 (46 %) suchten eine Heilung durch einBefreiungsgebet oder durch einen Exorzismus(besonders häufig in charismatischen Gemeinschaften).In einzelnen Fällen führten solche Ritualezu einer Verschlechterung der Symptomatik,einerseits wegen der psychischen Belastung,andererseits wegen des Verzichts auf Medikamente.In keinem Fall konnte eine Verbesserungdes langfristigen Verlaufes festgestellt werden.* Pfeifer S. (1994): Belief in demons and exorcism. Brit J MedPsychol 67:247–258.Weitere Artikel zum Thema können heruntergeladen werden vondieser Website: www.seminare-ps.net.der Wahn nach einigen Tagen von alleine wiederauf.» (aus Psychologie Heute, August 1992, S. 14)33


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEHäufige Fragen bei religiösen PatientenMit welchen Fragen wird der Seelsorger konfrontiert?In meinen Gesprächen sind mirdrei Gruppen von Fragen begegnet:1. Sinn‐ und Glaubensfragen2. Fragen zur Krankheit:Ursachen, Verlauf, Medikamente etc.3. Fragen zur Lebensbewältigung:a) Umgang mit mangelnderBelastbarkeitb) praktische Lebensgestaltungc) Beratung und Trost der AngehörigenReligiösen Wahnideen sollte man nicht allzugroße Aufmerksam keit schenken, da sie sichin den meisten Fällen von selbst zurückbilden.Bestenfalls kann man ihnen in einfachen, vonÜberzeugung getragenen Worten die biblischenTatsachen entgegen halten.Bei einem Residual zustand braucht es immerwieder den tröstenden Zuspruch, daß der Werteiner Person vor Gott nicht abhängig ist von ihrerLeistung. ‐ Die Antworten in solchen Situationensind ähnlich wie in der Betreuung vonMenschen, die an schweren körperlichen Behinderungenleiden.Es versteht sich von selbst, daß der seelsorglicheZuspruch nie isoliert von einer praktischenBetreuung und Beratung des Patienten und seinerAngehörigen steht.Das Erlebnis einer Psychose wirft fürden gläubigen Patienten und seine Angehörigengrundlegende Fragen auf, die siemit dem Psychiater zumeist nicht besprechenkönnen. Hier sind einige Beispiele:«Warum läßt Gott das zu?»Fragen im Zusammenhang mit besonderenGlaubensauffassungen:«Wenn Christus doch Heilung verspricht,warum bin ich immer nochso schwach?» — «Woher kommt dieseKrankheit: liegt Sünde oder eine okkulteBelastung vor?»«Wir haben alles versucht, warum nütztdas Gebet nicht?»«Was nützen mir Medikamente, wennmeine Probleme doch von einem unreinenGeist verursacht werden?»«Weshalb ist das geistliche Leben sogestört?»Dora, 23jährig, Verkäuferin: «Ich habekeine Glaubens gewißheit mehr! Es ist,als würde mir die Gewißheit von meinerNachbarin weggenommen. Sie schautimmer so finster drein.»Reinhard, 32, Lehrer: «Ich bin oft somüde und verstehe die Bibel gar nichtmehr. Ich liege einfach herum. KannGott mich überhaupt noch annehmen?»Und schließlich: «Gibt es noch Hoffnung?»34


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEZusammenarbeit von Arzt und SeelsorgerSeelsorge ist abhängig von der Gesprächsfähigkeiteines Menschen, und von seinerFähigkeit, das Gesagte zu verstehen, richtigeinzuordnen und anzuwenden. Weil bei schizophrenenMenschen – insbesondere im akutenSchub – das Denken schwer gestört ist, sind demseelsorglichen Ge spräch enge Grenzen gesetzt.Die Gesprächsfähigkeit ist bei schizophrenenMenschen je nach Phase unterschiedlich.Am wenigsten kann ein Ratsuchender währendeiner akuten psychotischen Phase aufnehmen.Dazwischen ist jedoch häufig ein normalesGespräch möglich. Ähnlich verhält es sichauch mit dem geistlichen Leben. Es wird durchdie Denkstörung verzerrt, kann nachher jedochwieder völlig normal werden und bei der Erholungeine wichtige Stütze für den Patienten sein.Fragen zur Krankheit: Gerade weil dieSchizophrenie so schwer zu verstehen ist, wirdauch der Seelsorger mit Fragen zu dieser Krankheitkonfrontiert und sollte einige Antwortengeben können.Häufig wollen die Kranken auch die Meinungdes Seelsorgers zu den Medikamenten hören:»Muß ich noch Tabletten nehmen?” fragen siedann etwa. »Ich will doch nicht süchtig werden!”In keinem Fall sollte man einem Ratsuchendenvon der Einnahme von Antipsychotika abraten.Verweisen Sie ihn immer an seinen Arzt und erklärenSie ihm, wie hilfreich Medikamente sind,auch wenn er einige Nebenwirkungen verspürt.Es ist besser, mit Hilfe von Mitteln außerhalbder Klinik leben, arbeiten und den Gottesdienstbesuchen zu können, als ohne Tabletten oderSpritzen wieder in eine Psychose zu geraten. Dieregelmäßige Einnahme von neuroleptischen Mittelnist nicht einer Sucht gleichzusetzen.Kontakt aufnimmt!Die medizinische Betreuungschliesst eine behutsame seelsorglicheBegleitung nicht aus. Vielmehrist es gerade für den gläubigen Menschen,der durch das beängstigendeErlebnis einer Psychose gegangenist, ein Bedürfnis, seine Krankheitaus der Perspektive seines Glaubenszu verstehen und zu verarbeiten.Angehörigenbetreuung: Auch die Angehörigenhaben manchmal das Bedürfnis nach einerAussprache. Wie oft stehen sie in dem Dilemma:«Was ist im Verhalten des Patienten krankheitsbedingt,was ist Absicht? Wie sollen wir uns verhalten?Wo sind die Grenzen, die eine erneuteEinweisung in die Klinik nötig machen?» Die Beantwortungdieser Fragen ist nicht immer möglich,selbst nicht für den Erfahrenen. Oft gehtes nicht in erster Linie um Recht oder Unrecht,sondern um die Tragfähigkeit der Angehörigenund Betreuer in einer bestimmten Situation.Rückfallprophylaxe: Falls Sie beobachten,daß ein schizophrener Mensch plötzlichweniger schläft und stärker angetrieben ist, sowirken Sie darauf hin, dass er mit seinem Arzt35


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEWie verhält man sich in der Akutphase?1. Bleiben Sie ruhig und versuchenSie, den Menschen immer wieder auf diereale Ebene zurückzubringen, d.h. sprechenSie ihn auf die wirk liche Situation an, auchwenn diese Kranken für Ihre Argumente nurschwer zugänglich sind. Die Umstände, unterdenen die Einwei sung in eine Klinik erforderlichwird, können dabei sehr dramatisch sein,so daß der Helfer leicht aus dem Konzeptgerät.2. Seien Sie konsequent undtun Sie alles, damit der Kranke zu einerärztlichen Behandlung motiviert wird. DieseKranken müssen grund sätzlich fachärztlichversorgt werden. Ein akuter Schub der Schizophrenie kann nur selten ambulant erfolgreichbehandelt werden. In der Regel habendiese Menschen keine Krankheitseinsicht,darum ist es u.U. erforderlich, daß Sie ihnendiese Entscheidung abnehmen; da bei dürfenSie selbst keine Unsicherheit zeigen. Da dieseKranken ihre Orientierung verloren haben,müssen Sie diese Orientierung geben.raus und reden Sie mit ihm ganz natürlich.4. Besuchen Sie die Person währendihres Aufenthaltes in der Klinik, damitsie die Beziehung zu der normalen Weltnicht verliert. Es ist dabei wichtig, daß derKranke während seines Klinikaufenthaltesauf das vorbereitet wird, was danach auf ihnzukommt.5. Geben Sie praktische Hilfeund vergessen Sie nicht die Not der Angehörigen.Versuchen Sie nach der Klinikbehandlung,den Kranken mit großer Ausdauer undGeduld im Rahmen seiner Möglichkeiten zueiner normalen Lebensgestaltung anzuhalten.6. Verlieren Sie nicht dieHoffnung. Vergessen Sie nicht, daß esin 75 % bei einer fachgerechten Behandlungzur Besserung kommt, auch wenn es viel Zeitbraucht. Überfordern Sie den Kranken nichtdurch zu hohe Erwartungen.3. Verhalten Sie sich natürlichund ungezwungen, gehen Sie nicht ineine Art Schutzstellung, sondern setzen Sieein soziales Verhalten bei dem Kranken vo-36


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEPlädoyer für die SchwachheitIn unserer auf Leistung, Gesundheit und Erfolgausgerichteten Gesell schaft werden dieSchwachen an den Rand gedrängt. Studienhaben gezeigt, daß die Wiedereingliederungund die Annahme schizophrener Menschen inländlichen Gegenden deutlich besser erreichtwird als in städtischen Regionen.Eine verbesserte Akzeptanz beginnt bei unsererWertung schwacher und behinderter Mitmenschen,insbesondere bei psychischen Störungen.Warum nur Krebs oder Diabetes als chronischeorganische Krankheit ansehen, nichtaber Stoffwechsel störungen im Gehirn? LösbareProbleme wollen wir lösen. Doch wir brauchenauch die Bereitschaft, unlösbare Problemezu tragen.Zwischen Förderung und ÜberforderungDie Begleitung von Patienten und Angehörigenbedeutet immer einen «Seiltanz» zwischenFörderung und Überforderung, zwischen zu hohenZielen und Resignation.Eine Psychotherapie, die nur Eigenverantwortungund Einsicht betont, und dadurch Heilungverspricht, ist letztlich kontraproduktiv und unbarmherzig.Familien-perspektiveEinige Merkpunkte:1. Psychiatrisches Handeln bedeutet, dass ichmich nie auf einen Einzelmenschen sondernimmer auf eine ganze Familie einlasse.2. Die Familie ist der Ort der Entstehung psychischerStörungen, nicht aber ihre Ursacheund daher auch nicht der Anlass für Schuldzuschreibung.3. Wir haben uns ein Bild von den Entwicklungsstufenim Erwachsenenalter zu machen.4. Ich habe ständig mein Bild vom Sinn, vonder Funktion, von der Aufgabe der Familieaus der Erfahung anzureichern.(nach K. Dörner)Ähnliches gilt auch für eine Seel Sorge,die immer nur die Verantwortung, die Sündeund das Ziel der Ge sundheit betont. Hoffnungliegt meist nicht in völliger Heilung, sondernin einem Leben, das mit Grenzen sinnvoll gestaltetwird.37


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEMitbetroffen und mitleidend: Die AngehörigenEs wäre völlig falsch, die Angehörigen einesschizophren erkrankten Menschen als Ursachefür seine Erkrankung zu betrachten. DieFamilie leidet oft sehr stark mit dem Patientenund braucht ebenfalls die Unterstützung derBetreuer.Ähnlich wie in einem Trauerprozess lassen sichauch bei Angehörigen fünf Phasen der Reaktionauf schwere psychische Krankheit in der Familiebeobachten:1. Nicht-wahr-haben-wollen und Verbergen: MancheAngehörige können es nicht glauben, dass soetwas bei ihnen vorkommt, oder schämen sichgegenüber der Umwelt.2. Ursachensuche und Schuldzuweisung (auchSelbstvorwürfe)3. Verzweifelte Bemühungen um Hilfe und Heilung(vom Kräuterarzt bis zum Guru, vom Geistheilerbis zum Psychotherapeuten)4. Verunsicherung und Resignation (oft Depression)nach Gesprächen mit Ärzten und Sozialarbeiternin der Klinik noch grösser. «Was kann ichüberhaupt noch für meinen Sohn tun? Wie ich esauch mache, ist es falsch.»5. Annahme und Neugestaltung der Beziehungzum Patienten: Diese Phase braucht viel Zeit.Oft bedeutet sie einen Trauerprozess. So vieleHoffnungen und Wünsche, die man für Sohn oderTochter hatte, haben sich nicht erfüllt.Das EE-KonzeptEE = Expressed Emotions (oder: EmotionalesEngagement) der Angehörigen. Mit dem Begriffwird der Ausdruck von Gefühlen bei denAngehörigen umschrieben. Dabei haben sichfolgende Faktoren herauskristallisiert:Kritische EinstellungFeindseligkeitWärme und VerständnisÜberengagementJe nach dem, wie das emotionale Klima ist,wird auch die Krankheit beeinflusst. Positivist eine verständnisvolle Atmosphäre, in derdarauf verzichtet wird, zuviel für den Patientenzu machen.In einem Umfeld, das von Feindseligkeit oderübermässigem Engagement geprägt wird, beobachtetman vermehrte Rückfälle. Ein wesentlicherFaktor ist auch die Zeit, die Angehörigemit einem Patienten verbringen: Gelingt es, eineTagesstruktur ausserhalb der Familie zu finden,so können die Angehörigen wieder Kraftschöpfen und sind entspannter.Cave: Nicht immer kann man sagen: Weil dieAngehörigen so kritisch sind, darum geht esdem Kranken so schlecht. Oft ist es das vermehrtstörende Verhalten, das dann auch dieFamilie vermehrt belastet und zu vermehrterAnspannung führt.38


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIESelbsthilfegruppenIn manchen Städten gibt es aktive Selbsthilfegruppenfür Patienten (=»Psychiatrie-Erfahrene»)und ihre Angehörigen. Vorbildlich istbeispielsweise der Verein Treffpunkt DemokratischePsychiatrie in Basel, der vielfältige Tagesangeboteund offene Abende für vereinsamteMenschen anbietet. Hier sind einige Aussagenvon Treffpunkt-Besucherinnen und -Besuchern,was ihnen Selbsthilfe bedeutet:«Akzeptiert werden wie man ist, mit allenSchwächen.»«Sich aussprechen und auf Verständnis stossen.»«Wenn ich Lust habe, etwas zu unternehmen,kann ich mir das arrangieren. Gestern habe ichmit meinen Treffpunkt-Kolleginnen einen Ausflugunternommen.»«Handarbeit, Stricken und körperliche Arbeithelfen mir, mit meiner Krankheit zu leben.»Hilfreiche AdressenSchweizVereinigung der Angehörigen vonSchizophreniekranken (VASK)www.vask.chDeutschlandBundesverband der Angehörigenpsychisch Kranker e.V.www.psychiatrie.deÖsterreichHilfen für Angehörige psychischErkrankter (HPE)www.hpe.at«Wir helfen uns gegenseitig. Oft lachen wir zusammenund manchmal können wir auch kräftigschimpfen.»«Am Anfang lebte ich sehr einsam. Nun ist derTreffpunkt meine Familie. Praktisch jeden offenenAbend bin ich da.»Weitere Infos:www.stiftungmelchior.ch39


DR. MED. SAMUEL PFEIFER: SCHIZOPHRENIEWeiterführende LiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitere Informationenzur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersicht ist es jedochnicht möglich, alle Aspekte ausreichend zubeleuchten.Andreasen N. & Black D.: Lehrbuch Psychiatrie.Beltz.Bondy B.: Was ist Schizophrenie? Ursachen, Verlauf,Behandlung. C.H. Beck.Dilling H. & Reimer C.: Psychiatrie. Springer.Finzen A.: Schizophrenie - Die Krankheit verstehen.Psychiatrieverlag.Häfner H.: Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheitwird entschlüsselt. C. H. Beck.Hahlweg K. u.a.: Familienbetreuung schizophrenerPatienten. Beltz.Huber M.: Multiple Persönlichkeitsstörung, Fischer.Marneros A.: Negative Symptome der Schizophrenie:Diagnose -Therapie - Bewältigung.Thieme.Pfeifer S. & Bräumer H.: Die zerrissene Seele.Borderline und Seelsorge. Brockhaus.Pfeifer S.: Die Schwachen tragen. Psychische Erkrankungenund biblische Seelsorge. Brunnen.Pfeifer S.: Wenn der Glaube zum Problem wird.online:www.seminare-ps.net.Romme M. & Escher S.: Stimmen hören akzeptieren.Psychiatrie-Verlag.Scharfetter C.: Schizophrene Menschen. Beltz.Seemann M.V. u.a.: Schizophrenie - wie mandamit leben und arbeiten kann. Gustav FischerVerlag.VASK: Schizophrenie: Diagnose - Bewältigung.Eine Information für Angehörige und Laien.(Bezug: VASK Schweiz, Postfach 6161, 8023Zürich)Voderholzer U. & Hohagen F. (Hrsg): Therapiepsychischer Erkrankungen. Urban & Fischer.Französische Titel:Van Meer F.C.: Vivre avec la schizophrénie: Guidepour familles et les soignants. Editions Frisons-Roche.Hoffer A.: Comment vivre avec la schizophrénie.Editions Flammarion.Internet-Ressourcenwww.medicinenet.com - Breite Informationenzu verschiedensten Gesundheitsfragen,auch zur Schizophrenie.www.nami.org - National Alliance for the MentallyIll: Interessen-Organisation, die sichfür psychisch Kranke einsetzt.www.psychiatrie.de - Deutsche Homepage mitInformationen zur Sozialpsychiatrie. Hinweiseauf Bücher und Unterrichtsmaterial.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de können Siejedes Schlagwort im Netz finden.40


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTINTERNETSUCHTDie dunkle Seitedes NetzesVerstehen - Beraten - BewältigenC


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTInhaltEthik, Wertung und Moral........................................................................... 2Männer surfen anders, Frauen auch .......................................................... 4Test: Sind Sie Internet-süchtig?................................................................... 5Ist mein Kind Internet-süchtig?.................................................................. 6Was Eltern wissen sollten............................................................................ 7Wie gefährlich sind Online-Spiele?............................................................. 8Die Erforschung der Unterwelt................................................................. 10Die dunkle Seite des Internets.................................................................. 11Kinderpornografie – eine Straftat ............................................................ 13Krankheit oder Verhaltensproblem?......................................................... 14Komorbidität – Nebenwirkungen der Internetsucht ............................. 15Muster des Online-Sex-Verhaltens........................................................... 17Risikofaktoren für Internetsucht.............................................................. 18Die Familie leidet mit!................................................................................ 19Opiate, Dopamin und Glücksgefühl......................................................... 21Triebkonflikt und Gewissen....................................................................... 23Gesunde Sexualität.................................................................................... 24Der Suchtkreislauf – Psychodynamik....................................................... 26Therapeutische Ansätze ............................................................................ 28Accountability – Rechenschaft geben...................................................... 31Therapie bei Sexualstraftätern................................................................. 32Gruppentherapie – 12-Schritte................................................................. 33Auswirkungen auf die Ehe – Paartherapie................................................ 34Seelsorge: Vom Durst, der bleibt ............................................................. 36Seelsorge bei Internetsucht...................................................................... 37Der Kampf um den Ausstieg – Hindernisse auf dem Weg...................... 38Internetsucht am Arbeitsplatz – Juristische Aspekte............................. 40Acht Tipps für Internetsüchtige................................................................ 41Literatur und Internet-Links...................................................................... 42D


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTCybersex – nur einen Klick entferntNoch nie war sexuelle Versuchung sonahe – nur einen Klick entfernt. Immerhäufiger treffen wir in der BeratungFamilien an, die durch die Internetsuchtdes Vaters in tiefe Krisen gestürzt werden.Männer erleben die Internetsucht als innerenKrieg, der sie zu überwältigen droht undihr ganzes Leben überschattet.Es vergeht kaum ein Tag, an dem mannicht einen Bericht über neue Fälle von Internet-Pornografieliest: «Porno-Lehrer zuRecht entlassen», «Pornobilder auf Unicomputer– ist der Professor noch tragbar?»Wie ist es möglich, dass anständigeMenschen, Familienväter, äußerlich unauffälligeMitglieder einer Gemeinde derartigeBilder auf ihre Computer laden, Stundenbeim Surfen im Internet verbringen, Unsummenvon Geld ausgeben und oft ihreganze Karriere und ihren guten Ruf riskieren?Die bekannten Fälle sind nur die Spitzeeines Eisbergs. Betroffen sind auch die Familien,die Frauen und Kinder dieser Männer.Wie viel Leid ist durch Internet-Pornografieschon entstanden!Die Unsichtbarkeit gibt Menschen denMut, Orte aufzusuchen und Dinge zu tun,die sie sonst nicht tun würden. Man brauchtsich nicht darum zu kümmern, wie manaussieht oder wirkt. Was in manchen Bereichendes Lebens wünschbar wäre – einUnbeschwertheit ohne Rücksicht auf Konventionenund Erwartungen – wirkt sich imBereich der Internetsucht katastrophal aus,weil alle sozialen Hemmungen wegfallen.Bereits Kinder sind massiv gefährdet.Sie stossen nicht nur auf Pornoseiten, sondernwerden auch im Chat angemacht. Einweiteres Problem ist das exzessive Nutzenvon Onlinespielen. Eltern müssen lernen,sie im Gebrauch des Internets zu begleitenund zu schützen.Dieses Heft soll nicht nur analysieren,Keine menschliche Sehnsucht istmächtiger und schwerer in denGriff zu bekommen.Sex hat eine so starke Brennkraft,dass er das Gewissen, Versprechen,Verpflichtungen gegenüberder Familie, Glaube und alles andere,was ihm im Weg steht,verbrennen kann. Philip Yanceysondern sich auch der Frage der Bewältigungwidmen. Wie kann man Betroffenenhelfen, mit der Versuchung umzugehen?Wie kann man die Scherben wieder kitten,die durch das Auffliegen eines Skandalsentstehen? Wie kann man mit den SchamundSchuldgefühlen der Betroffenen undihrer Familien umgehen? Diese Fragen sindbrennend aktuell.So wünsche ich Ihnen eine interessanteLektüre und natürlich ein Überdenken Ihrereigenen Internetgewohnheiten im Spannungsfeldunserer digital geprägten Epoche.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTEthik, Wertung und MoralWer sich an die Thematik der Internet-Sex-Sucht herantastet, muss sich miteiner Fülle von moralisch belasteten undemotional geladenen Aspekten der Sexualitätund des Suchtverhaltens auseinandersetzen,die nur dann zu bewältigen sind,wenn man etwas Distanz nimmt.Es ist vielleicht hilfreich, nicht gleich zuwerten (auch wenn man zu vielen Netzinhaltenund menschlichen Verhaltensweisenin kritischer Distanz steht), sondern zuversuchen, die Vorgänge rund um Cybersexso sachlich wie möglich zu beschreiben. Indieser Broschüre wird deshalb versucht,nicht ein explizit wertendes Vokabular zuverwenden, sondern die Linie für «problematischesVerhalten» dort zu ziehen, wodas Verhalten Werte verletzt, die die betroffenePerson selbst für sich hatte, wo eszu persönlichen Problemen führt und woes sich negativ auf Partnerschaft, Familie,Arbeit und Umwelt auswirkt.Tatsache ist, dass pathologischer Internet-Gebrauchzu einem rasch wachsendenProblem in unserer Gesellschaft gewordenist, das immer mehr Menschen in seinenBann zieht und zu schwerwiegenden Folgenfür diese selbst, ihre Partner und ihreFamilien führen kann.Leben in einer erotisierten KulturDie Betrachtung von erotischen Bildernund Szenen ist so weit verbreitet, dass sichkaum jemand derartigen Inhalten entziehenkann. Sexualität als Teil des Menschseinsführt bei der grossen Mehrzahl vonMännern und Frauen zu physiologischenReaktionen, die in ihrer sozial angepasstenForm durchaus Sinn machen, Lust erzeugenund Beziehungen festigen können. Dochgerade die Erzeugung von Lust birgt insich auch die Gefahr der Entgleisung undder Suchtentwicklung. Es kommt zu einereinseitigen Sexualisierung intimer Beziehungsformen,unter weitgehendem Verlustvon Würde und Respekt für den Menschenals Ganzes – als Einheit von Körperund Gefühl, von Geist, Seele und Leib inseiner geschöpflichen Intention.Unser eigener «Schatten»Die Sexualisierung unserer Kultur konfrontiertuns aber auch mit unserem eigenenSchatten, unserem eigenen Umgangmit sexuellen Empfindungen, Phantasienund Vorlieben, mit unsern Mustern von Stimulation,Lust und Triebbewältigung. DasSpannungsfeld von stabilen christlichenWerten und Überzeugungen auf der einenSeite und dem Bedürfnis nach Liebe,Sinnlichkeit und innerem Loslassen wirdin den «Knotenpunkten» des Lebens besondersaktuell – in Zeiten von Entwicklungsschritten,Stress, angespannten Beziehungenund beruflicher Überlastung.Neben den eigenen Anstrengungen ummoralische Integrität ist es auch eine Gnade,wenn man nicht in suchtartiger Weisedem Sog von Netzinhalten jeglicher Couleurverfällt.Somit gilt gerade im Anliegen einer moralischeWertung von pathologischer Internetsuchtdas Wort Jesu: «Wer von euch ohneSünde ist, der werfe den ersten Stein.»2


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDrei Beispiele zur EinleitungBeispiel 1Die 13-jährige Tochter möchte schnellmit dem Laptop des Vaters ins Internet.Dabei stößt sie auf ein Verzeichnis mitTausenden von Pornobildern. In ihr brichteine Welt zusammen. Der bewunderte Vater,der gute Lehrer, der aktive Christ – wiepasst das zusammen?! Es kommt zu einemZusammenbruch, sie weint nur noch, isstnicht mehr, geht nicht mehr zur Schule.Den Laptop wirft sie aus dem dritten Stock.Die ganze Familie ist in einer dramatischenVertrauenskrise. In dieser Situation erfolgteine Therapie.Beispiel 2Der Pastor einer grossen Gemeinde setztsich zusammen mit seiner Frau ganz für dieKirche ein. Immer nur geben, leiten, organisieren,andere beraten – für sie selbstbleibt keine Zeit. An einem Abend will PastorD. noch schnell seine E-Mail checken.Ein freundlicher Text, ein Link, und plötzlichbefindet er sich in einer Sex-Website.Er ist angewidert und fasziniert. Bald loggter sich regelmäßig ein, um sich zu entspannen.Zwei Monate später wird er vom Computertechnikerder Gemeinde mit einemAusdruck der Aktivitäten am Computerkonfrontiert. In dieser Situation erfolgteine Therapie.Beispiel 3Eine 32-jährige Frau kommt mit starkenÄngsten in die Therapie. Internet-Chattenhat ihr immer wieder geholfen, mit ihrerEinsamkeit umzugehen. Vor einigen Monatenhat sie im Chatroom einen Mannkennen gelernt – zuerst nur virtuell – manchattet, flirtet, fühlt sich angezogen. Eskommt zu einem Treffen. Die Atmosphäre„knistert“, es kommt zum Sex. Danach istDie eigentliche Schönheit der Liebe,ihre Zartheit, Leidenschaft, Romantik,Erotik, Hingabe und Geborgenheit– sie wird zertreten in der verrohtenWelt der Bilder, der Perversionen,der Reduktion der Sexualitätauf die Darstellung des Geschlechtsaktes.Die eigentliche Bestimmungder Liebe, die Gemeinschaft vonzwei Liebenden, wird in der Fixierungauf Online-Sex zumGefängnis der Einsamkeit, desseneinziges Fenster ein Bildschirm ist.der Mann nicht mehr so interessiert; derKontakt verliert sich. Plötzlich die Frage:Könnte ich HIV-infiziert sein? Was ist mitmir geschehen? Wohin hat mich meine Internetsuchtgebracht?3


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTMänner surfen anders – Frauen auch!Männersind in erster Linie anfällig auf Pornografieim Internet. Sie beginnen meist mit«Erotik», doch die Sucht nach dem Kickführt sie oft immer tiefer in harte Pornografie(vgl. S. 9). Aber auch im Chatroomgibt es jede Menge Angebote.«Kick» durch visuelle Reize.Sexuelle Erregung mit Masturbation.Sammlertrieb.Neigung zu vermehrter Gewalt / Demütigung.Frauensuchen Kontakte, möchten der Einsamkeitentfliehen, in Tagträume der Romantik,die dann auch erotisch gefärbt seinkann.«Kick» durch Kommunikation (Chat).Romantische Geschichten und Bilder.Sexuelle Erregung erst sekundär.Ein Mann berichtet über die enormeKraft der Bilder: «Manchmal erschrakich, wenn etwas ‹Abartiges› erschien.Doch allmählich baute sich meine innereHemmschwelle ab. Die Spirale drehte sichschneller und meine Ideen im Umgangmit dem Bildmaterial wurden raffinierter.Die Sammlerleidenschaft erfasste mich... Die heimliche Lust entwickelt sich zurheimlichen Sucht ... Selbst mit meiner riesigenSammlung war ich nicht gesättigt.Die Bilder verloren für mich ihren Reiz,sobald ich sie besass. Ich wollte ‹Neues›,noch Besseres, täglich frisches Fleisch.Aber satt wurde ich nie.»(Wolf Deling «Der sexte Sinn», Brunnen)Eine Frau berichtet:«Für mich war das Netz zuletzt mein Zuhause.Ich bin kaum noch vor die Türgegangen. Sogar meine Kommunikationspartnerim Internet bemerkten, dass etwasnicht stimmte, weil ich wirklich ständigonline war. Irgendwann fing ich an,mich dafür zu schämen und begann damit,mich beim Chatten zu tarnen.Frage: Wo überschreitet man die Grenzezur Sucht?Antwort: Wenn Sie ihr soziales Umfeldvöllig abbauen und zugleich feststellen,dass Ihnen dies unwichtig wird, dann istes schon zu spät.»(aus einem Interview mit Gabriele Farke)Bild: www.pbase.com4


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTSind Sie Internet-süchtig?1. Unwiderstehlicher Zwang zum Einloggen.2. Verletzung von ethisch-moralischen Werten, denen man sich eigentlich verpflichtetfühlt.3. Kontrollverluste (d.h. längeres Verweilen «online» als beabsichtigt) verbundenmit Schuldgefühlen.4. Sozial störende Auffälligkeiten im engsten Kreis der Bezugspersonen(Freunde, Partner, Familie). Häufige Rügen durch unmittelbare Bezugspersonen.5. PIG-bedingte * nachlassende Arbeitsleistung.6. Mehrmalige vergebliche Versuche von Einschränkungen7. Verheimlichen oder Bagatellisieren der Online-Aktivitäten vor der Umwelt.8. Psychische Irritabilität bei Verhinderung am Internet-Gebrauch (kann sich auswirkenin Form von Nervosität, Reizbarkeit und Depression)9. «Entzugserscheinungen»: Psychische Irritabilität bei Verhinderung am Internet-Gebrauch (kann sich auswirken in Form von Nervosität, Reizbarkeit und Depression).(in Anlehnung an Zimmerl & Panosch 1998)Nicht-stoff-gebundene Sucht / VerhaltenssuchtEin Zitat aus dem Jahr 1561:«Ich glaube, dass das Würfelspiel genaudieselbe Wirkung hat wie der Wein... Diesichtbarsten und schlimmsten Auswirkungensind folgende: ständige geistigeRuhelosigkeit, Pflichtvergessenheit, Armut,Verfluchung, Diebstahl und Verzweiflung.»Der flämische Arzt Pascasius Iustus TurckWährend Missbrauch und Abhängigkeitvon bewusstseins-verändernden Substanzenbzw. Drogen bestens bekannt und erforschtsind, gibt es über Süchte ohne auslösendeSubstanz noch wenig Forschungsliteratur.Zu den Formen der so genanntenVerhaltenssucht gehören: exzessive Computer-/Internetnutzung,(Glücks)Spielsucht,exzessives Sporttreiben und Arbeitssucht.Die weit verbreitete Internetsucht istnoch nicht einmal in den diagnostischenManualen psychischer Störungen (DSM undICD) aufgeführt.Grundsätzlich gilt: «Bei der nichtstoffgebundenenSucht, der Verhaltenssucht,werden keine psychotropen Substanzenvon aussen zugeführt oder eingenommen;der gewünschte, als Belohnung empfundenepsychotrope Effekt (Kick-Erleben, Entspannung,Ablenkung) stellt sich durch körpereigenebiochemische Veränderungenein, die durch bestimmte exzessiv durchgeführteVerhaltensweisen ausgelöst werden.»(Grüsser & Thalemann 2006)Weitere Details zu diesem Konzept findensich auf Seiten 20 – 23 in diesem Heft.* PIG = Pathologischer Internetgebrauch5


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTIst mein Kind Internet-süchtig? (*)* Mit freundlicher Genehmigungder Autorin, Gabriele FarkeWie erkennen Sie, ob Ihr Kind internetsüchtigist? Die meisten Eltern fragenihre Kinder gelegentlich, wieviel Zeit sieim Internet verbringen. Das Problem ist,dass die meisten Kinder dazu tendierenzu schwindeln, besonders wenn sie bereits«internetsüchtig» sind. Wenn der Computerim Zimmer der Kinder steht, haben die1. Wie oft missachtet Ihr Kind von Ihnenvorgegebene Zeitlimits bezüglichOnlinezeit?2. Wie oft vernachlässigt Ihr Kind Arbeitenim Haushalt, um mehr Zeitonline verbringen zu können?3. Wie oft verbringt Ihr Kind die Zeitlieber online als mit dem Rest derFamilie?4. Wie oft knüpft Ihr Kind Freundschaftenüber das Internet mit anderenInternetbenutzern?5. Wie oft beschweren Sie sich darüber,dass Ihr Kind so viel Zeit onlineverbringt?6. Wie oft wirken sich die InternetaktivitätenIhres Kindes auf dieSchulnoten aus?7. Wie oft schaut sich Ihr Kind dieE-Mails an, bevor es etwas anderestut?8. Wie oft kommt Ihnen Ihr Kind zurückgezogenoder verschlossenvor, seit es das Internet entdeckthat?9. Wie oft reagiert Ihr Kind zurückhaltendoder verschlossen, wenn Siees darauf ansprechen, was es imInternet tut?10. Wie oft haben Sie Ihr Kind bereitsunerlaubt beim Benützen des Internetserwischt?Eltern wenig Chancen, das zu überprüfen.Der folgende Test wird Ihnen helfen herauszufinden,ob es bei Ihnen schon Internetsüchtigegibt. Sie sollten nur jeneZeiten berücksichtigen, die Ihr Kind imInternet für außerschulische Aktivitätenaufwendet (*).11. Wie oft verbringt Ihr Kind Zeit alleinein seinem Zimmer, um mitdem Computer zu spielen?12. Wie oft bekommt Ihr Sohn / IhreTochter merkwürdige Telefonanrufevon neuen Internetfreunden?13. Wie oft reagiert Ihr Kind verärgert,wenn es im Internet gestört wird?14. Wie oft ist Ihr Kind, nachdem es imInternet war, müder oder erschöpfterals früher?15. Wie oft bemerken Sie, dass Ihr Kindnoch in Gedanken versunken ist,nachdem es im Internet war?16. Wie oft gibt es mit Ihrem Kind Auseinandersetzungenüber das Ausmaßder Onlinezeit?17. Wie oft verbringt Ihr Kind mehrZeit online als mit Hobbys und/oder anderen Aktivitäten?18. Wie oft reagiert Ihr Kind verärgertdarüber, wenn sie ihm Vorschriftenmachen, wie lange es online seindarf?19. Wie oft ist Ihr Kind lieber online alsmit Freunden zusammen zu sein?Bitte beachten Sie den Hinweis amEnde des Fragebogens!20. Wie oft bessert sich die Stimmungihres Kindes, wenn es wieder onlinegehen kann?* Automatische Auswertung: www.onlinesucht.de6


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTWas Eltern wissen solltenCHAT:«In manchen Foren herrschteine Atmosphäre wie aufeinem Strassenstrich»(Spiegel 21 / 2006)– 97 Prozent aller pädosexuell veranlagtenTäter (Kanada) bedienen sich desInternets, um Kontakt zu Kindern aufzunehmen.– 48 Prozent aller 12- bis 19-jährigensind innert eines Jahres (2005) mindestenseinmal durch einen Chatroomgestreift.– 31 Prozent der Internet-Surfer besuchenChatrooms exzessiv.– 45 Prozent wurden im Cyberspaceschon beschimpft oder sexuell belästigt.– Nur 7 Prozent der Eltern wissen, welchenBelästigungen ihre Kinder ausgesetztsind.Viele Kinder stossen bereits im Alter von10 bis 14 Jahren auf die ersten Pornoseiten.Bei nicht wenigen von ihnen wirdeine erste Bahnung erzeugt, die später zueinem suchtartigen Konsum von Pornografieführt.Aber Pornografie ist nicht die einzigeGefahr. Vier weitere Gefahren gilt es zubeachten:a) Exzessives Chattenb) Belästigung durch Pädophile im Netzc) Exzessive Online-Spieled) Brutalisierung durch Online-Spiele(vgl. S. 8)Eltern sollten wissen, was ihreKinder im Netz machen.– Welches sind die Websites, die ihrKind ansteuert?– Gibt es einen Firewall / Virenschutzauf dem Computer?– Ist es geschützt vor sog. Dialern, diehohe Kosten verursachen?– Wie viel Zeit verbringt Ihr Kind imNetz?– Mit wem chattet das Kind?– Kennt das Kind die Gefahren von Anmacheim Netz? (vgl. Beispiel)– Weiß es, wie es sich schützt?EMPFEHLUNG schutz-softwarewww.kindersicherung.dewww.mobicip.comAnmache im Chat - «Grooming»Immer wieder pirschen sich Männermit falschen Identitäten an Kinderheran. Sie geben sich als Jugendlicheaus, die «nur chatten» wollen. Ihrwahres Ziel aber ist es, Kinder sexuellauszubeuten. Dabei bringen sie imChat das Gespräch subtil auf sexuelleThemen und geben sich dabei vielleichtals Kinder, die selber Problememit ihrer Sexualität haben und Hilfebei Gleichaltrigen suchen. «Hast Duauch Probleme mit SB?», heißt es dannvielleicht, um das Thema Selbstbefriedigunganzuschneiden. Oder «HastDu es schon einmal erlebt? So richtigkuschelig?». Gefährlich wird es, wenndie Handynummer oder die Adresseerfragt wird. Niemals geben!!7


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTWie gefährlich sind Online-Spiele?Jugendliche bei einer sogenannten LAN-PartyMehrfach haben in den letzten Jahrenbrutale Morde an Schulen die Öffentlichkeitaufgeschreckt. Nicht selten wurdendie Taten detailliert in Computersimulationgeplant. Millionen von jungen Menschenverbringen täglich viele Stunden im Cyberspace.Es sind die Extremfälle, die schocken. Dasind junge Menschen jeden Tag währendbis zu 18 Stunden im Netz. Sie vernachlässigenalles andere, verlieren den Job, lassenFreundschaften sausen und ersetzenechte Beziehungen durch die Kontakte inden Weiten des Cyberspace.Aber auch da gibt es beide Welten: Esgibt die Wettkampfspieler, die gerade inAsien wie Helden gefeiert werden. DerSpiegel schreibt: «Während Tausende Fanshochbezahlte Daddler verehren, versinkenMillionen Nachahmer in die Abhängigkeit.»(SPIEGEL 6/2006).KILLERSPIELEBesonders bedenklich sind diejenigenSpiele, in denen es darum geht, andereMenschen zu erschiessen und möglichstrealistische Kampfszenen zu erleben.Blut ist da nur noch ein Haufen roter Pixel,Schmerzensschreie sind ein digitalerSound. Da besteht die Gefahr der VerrohungundIm Netz versumpftEin Gymnasiast schreibt auf einem Forum:«Ich aß unregelmäßiger und vielungesünder, weil es schließlich schnellgehen musste. Ich vernachlässigte Dingewie Hygiene, und auch der Zustandmeines Zimmers war katastrophal. Ichstritt mich immer häufiger mit meiner Familie.Ich versiffte richtig innerlich, weilich immer so gegen fünf Uhr morgens insBett ging und erst nachmittags aufstand.Mit der Zeit ging ich auch immer wenigerraus und verlor dadurch meine Freunde.Auch meine Freundin verlor ich, weil ichimmer neue Ausreden brauchte, um zuHause spielen zu können. Aber es interessiertemich nicht. Ich bemerkte es kaum.»8


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTHinweise auf Internet-Sex-Sucht1. Intensive Beschäftigung mit sexuellen Internetinhalten.2. Häufiges Aufsuchen von Sexseiten im Internet, länger als beabsichtigt.3. Wiederholte erfolglose Versuche, den Sex-Konsum im Internet zu kontrollieren, zuvermindern und damit aufzuhören.4. Ruhelosigkeit und Nervosität beim Versuch, mit Internetsex aufzuhören.5. Verwendung von Internetsex als einen Weg, Problemen zu entfliehen oder negativeGefühle wie Hilflosigkeit, Schuld, Angst oder Depression zu überdecken.6. Tägliches Wiedereinloggen ins Internet auf der Suche nach intensiveren oder riskanterensexuellen Erfahrungen.7. Lügen gegenüber Familienmitgliedern, Therapeuten oder andern Bezugspersonen,um das Ausmaß der Internetaktivitäten zu verheimlichen.8. Begehen von illegalen sexuellen Handlungen im Internet (z.B. das Versenden oderdas Herunterladen von Kinderpornografie oder das Vermitteln von illegalen sexuellenAktivitäten via Internet).9. Gefährdung oder Verlust einer wichtigen Beziehung, einer Arbeitsstelle oder einerberuflichen Aufstiegsmöglichkeit wegen Internet-Sex-Sucht.10. Erleiden von einschneidenden finanziellen Konsequenzen als Folge vonInternet-Sex.(nach P. Carnes)Fortsetzung: Online-Spieleder Abstumpfung. - Und dennochwerden lange nicht alle Spieler süchtig oderasozial. Meist versinken diejenigen in derPhantasiewelt, die im realen Leben unterEinsamkeit, Minderwertigkeitsgefühlenund Depressionen leiden. Vieles deutetdarauf hin, dass die Spielesucht eher eineFolge anderer Probleme als ein eigenständigesPhänomen sind.Therapeutische ZIELE» Mit Jugendlichen Zeiten des Internetkonsumsfestlegen.» Inhalte der Spiele hinterfragen» Ermutigen, reale Kontakte zu pflegen» Bei Vorliegen einer psychischen Störungfachgerechte Therapie suchen.Macht, Geborgenheit und SexProf. Ulrich Hegerl, München: «Das Internetkann viel mehr Bedürfnisse befriedigenals andere Medien.» Macht, Kontrolle,Vertrautheit, Geborgenheit und auch Sex,alles das bietet die virtuelle Welt neben Informationund Unterhaltung. «Das Internetspricht die sozio-kommunikative Seite vielmehr an als etwa das Fernsehen.» Hier liegtdie große Gefahr. Für Menschen, die nachdem Surfen süchtig sind, ersetzt das Internetim Extremfall alle sozialen Kontakte.Die Folge: Einsamkeit und die völlige Entfernungvon der Realität.9


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDie Erforschung der UnterweltMuss ich ein Fassaussaufen, um zu wissen,ob's Wein oder Essig ist?Geflügeltes Wortten ins Postfach «flattert». Wenn man bedenkt,dass rund 40 Prozent aller Inhaltedes World Wide Web pornografischer Artsind, so fragt man sich, wie man als «normalerMensch» überhaupt an diesen Inhaltenvorbeikommt. Aber braucht es wirklicheine vertiefte Reise durch diese Unterwelt,um andere informieren, aufklären und beratenzu können?Von der «Forschungsreise» zureigenen SuchtNicht wenige Lehrer, Pastoren und wohlmeinendeAufklärer haben auf dem Wegder Selbsterfahrung, dem Eintauchen in dieWelt des Cybersex, selbst Schaden an ihrerSeele erlitten. Was als «Forschungsreise»begann, endete in eigener Sucht.Mehr noch: die Darstellungen von Entwürdigungund Gewalt, von krudem SexWie sammelt man Informationen überdie Thematik dieses Heftes, ohneselbst im Sumpf pornografischer Bilderzu versinken?In der heutigen Zeit braucht es nichtviel, um mit der allgegenwärtigen Erotisierungunserer Kultur in Kontakt zu kommen,sei dies im Spätprogramm des Fernsehensoder im versehentlichen Anklicken einesInternetlinks, der einem via SPAM ungebeohneLiebe, von Quälereien und Erniedrigungtut einem normal-sensiblen Betrachterfast körperlich weh. Wenn dann auchnoch Kinder betroffen sind, dann drehtsich einem nicht nur der Magen, man wirdauch erfasst von kalter Wut über die Kartelleder Pornoproduzenten, die derartigeKundenwünsche mit immer neuem Materialbefriedigen.Man mag vielleicht abgestumpft werden,wenn man als verdeckter Fahnder dieQuellen derartiger Darstellungen aufzudeckenversucht. Und doch können einem dieSzenen zutiefst verletzen (im Sinne einerSekundärtraumatisierung).Ein anderer WegIch habe deshalb für dieses Seminarhefteinen anderen Weg beschritten. MeineInformationsquellen waren in erster LinieBücher von erfahrenen Therapeuten,Facharbeiten von Experten in diesem Gebietund Zeitschriftenartikel des investigativenJournalismus, der Detailkenntnis mitder nötigen Distanz verbindet (hauptsächlichim Nachrichtenmagazin «Der Spiegel»).Ganz wesentlich ist aber auch die Begegnungmit meinen Patientinnen und Patienten:mit der jungen Frau, die durch ihrenOnkel für Pornofilme der übelsten Sortemissbraucht worden ist; mit dem jungenMann, der nicht mehr loskommt von derunwiderstehlichen Lust nach immer neuenBildern; mit der verhärmten Frau im mittlerenAlter, die vor kurzem erfahren hat,dass ihr Mann stundenlang vor dem Bildschirmsitzt, um sich in die Ersatzwelt derInternet-Sexualität zu flüchten, während erfür seine Familie kaum mehr erreichbar ist.10


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDie dunkle Seite des InternetsDas Internet ist aus unserer Gesellschaftnicht mehr wegzudenken. Es erleichtertunsere Arbeit, hilft bei der Informationsbeschaffungund bietet eine Fülle vonEinkaufsmöglichkeiten.Doch da ist auch die dunkle Seite des Internets.Von dieser muss zwangsläufig indiesem Seminarheft die Rede sein.Was wird im Schattendes Internets angeboten?Die Antwort lautet: Grundsätzlich alles.Der Gipfel des Grauens war wohl der Falldes «Kannibalen von Rotenburg».Den Ermittlungen zufolge lernte der41-Jährige sein Opfer über eine Kontaktanzeigeim Internet kennen. Der Rotenburgersuchte jemanden, der sich von ihm tötenund anschließend aufessen lassen würde.Daraufhin hat sich ein 42-jährige BerlinerDiplom-Ingenieur gemeldet. Die Tat wurdevor laufender Videokamera ausgeführt.Suizidforen: Hier tauschen lebensmüdeJugendliche Möglichkeiten aus, wie manam besten aus dem Leben scheiden kann.Im Jahr 2000 nahm sich eine österreichischeSchülerin zusammen mit einem Norwegerdas Leben. Sie hatten sich im Internet zumgemeinsamen Tod verabredet.Der Schuldirektor des Mädchens sagtespäter: «Das Missbrauchspotenzial im Internetist erschreckend groß geworden. OhneWorldWideWeb wäre diese Tat in andererForm oder gar nicht passiert.»Die häufigsten Inhalte sind jedoch sexuellerNatur:Soft-Pornobilder / Erotische Bilder:Frauen posieren in mehr oder wenigerFortsetzung auf Seite 12Statistiken zur InternetsuchtDas World Wide Web ist äußerst dynamisch.Seiten kommen und gehen. Täglichentstehen neue Angebote und anderegehen aus dem Netz. Aus diesem Grundhinken Statistiken im Bereich der Internetsuchtimmer hinter der Realität her.Folgende Zahlen wurden in den letztenfünf Jahren veröffentlicht. Sie sind wahrscheinlichnicht exakt, vielleicht eher zukonservativ, geben aber doch einen Eindruckvon der Präsenz suchtfördernderInhalte im Internet.30 Millionen Menschen haben inDeutschland Internetzugang, dieZahl der Süchtigen wird auf 1 Milliongeschätzt.40 Prozent aller Internetangebote enthaltenpornografische Inhalte.74 Prozent aller Einnahmen im Internetwerden mit Sex-Angeboten gemacht.Der Umsatz wird auf über eine MilliardeDollar pro Jahr geschätzt.25 Millionen Menschen surfen pro Wocheauf einer Pornoseite.31 Prozent aller Online-Nutzer habenPornoseiten besucht.60 Prozent aller Webseiten-Besuchesind sexueller Natur.200 sex-bezogene Websites werden jedenTag neu ins Internet gestellt.Hinweis:Aktuelle Zahlen und Daten finden sichauf folgender Homepage: www.onlinesucht.de.11


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDie Schattenwelt des InternetsFortsetzung von Seite 11Chattenbekleidetem Zustand für die Kamera.Die primären Geschlechtsteile sind nichtsichtbar. Paaraufnahmen reflektierendas Ideal von Romantik, Zärtlichkeit undErotik.Harte Pornografie: Unter Hardcore-Pornografiewird eine explizite Darstellung sexuellerAktivitäten verstanden, wobei die Geschlechtsorganewährend des Geschlechtsverkehrsoffen dargestellt werden.Thematisch betonen Hardcore-Produktionenmitunter ausschließlich speziellesexuelle Vorlieben oder Techniken wie z.B.Outdoor-Sex, Oralverkehr, Analverkehr,Gruppensex, Gangbang (Sex mit extremermännlicher Überzahl), Sex ausschließlichmit Farbigen, Übergewichtigen, Schwangerenoder mit älteren Menschen bis hin zuSex mit Urin und Exkrementen. (*)Live-Video-Streaming: aus Striplokalenoder direkt aus entsprechenden Pornostudioswerden via Webcam Live-Szenenübertragen.Live-Voyeurismus: Via Webcam werdenSzenen übertragen, wo sich Frauen scheinbarzufällig entblößen. Oft warten Süchtigeüber lange Zeit (kostenpflichtig), bis wiedereinmal eine kurze Entblößung sichtbarwird.Sadomasochismus: Sadismus beschreibteine lustvolle Erregung durch das Zufügenvon Schmerzen. Masochismus bedeutetlustvolle Erregung durch das Erleiden vonSchmerzen. Der Ausdruck wird auch imübertragenen Sinne für Verhaltensweisengebraucht, die nicht im engeren Sinne sexuellsind.Sadomasochismus ist aber eine Form dergewaltverherrlichenden Pornografie, diein ihrem perversen Ideenreichtum kaumzu überbieten ist (www.datenschlag.org).Spielformen des ChattensViele Jugendliche chatten via das Internet,ohne süchtig zu werden. Stärker istder Sog bei Chatrooms, die gezielt anbieten,Beziehungen zu vermitteln. Unter demMotto: «Flirt, Chat und Community» wirdangeboten: «Hier kannst Du neue Freundefinden, ansprechen und kennenlernen!»In den Chatroom geht man nicht unterder eigenen Identität. Da trifft man etwa«Hoppemaus» oder «Zarathustra_014». Wederdas Alter noch das Geschlecht müssenstimmen. Die Grenzen zwischen Spiel undRealität verschwimmen.Die Gefahr liegt nicht nur in exzessivenOnline-Zeiten, sondern auch darin, dass eszu Realbegegnungen kommt, die rasch inein sexuelles Abenteuer mit ungewissemAusgang münden können (vgl. S. 3).Chatrooms sind heute aber auch ein beliebterTreffpunkt für «Sonderinteressen»geworden, wo die härtesten Pornobilderpraktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeitausgetauscht werden.Weitere Informationen:G. Farke: OnlineSucht. Wenn Mailen und Chatten zumZwang werden. Kreuz.* Quelle: www.net-lexikon.de12


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTKinderpornografie – eine StraftatKinderpornografie ist die Darstellungsexuellen Mißbrauchs von Kindern,oft unter sadistischen Quälereien mit Nadeln,Klemmen oder Elektroschocks. BeiKonsumenten solcher Bilder lösen dieseQuälereien eine rausch-artige sexuelle Erregungaus.Kinderpornografie gibt es nicht erst,seit es das Internet gibt, aber der Zugangist sehr viel leichter geworden. Was die Betrachterin ihrem Rausch nicht bedenken:Hinter jedem Bild steht ein Schicksal, einschwerst gequältes, traumatisiertes Kind!Man unterscheidet drei Gruppen vonTätern:a) Produzenten handeln mit Kinderpornografieund verdienen ihr Geld auf Kostender Kinder.b) Konsumenten kaufen Kinderpornografieund unterstützen so die skrupellosenMachenschaften der Händler bzw.Hersteller solcher Fotos und Filme.c) Pädophile Täter mißbrauchen vielleichtauch IHR Kind, um sich sexuell zuerregen.In den letzten Jahren wurden dank der«Hinter jedem Bildsteht ein Schicksal, ein schwerstgequältes undtraumatisiertes Kind.»Aufklärungsarbeit der Polizei immer mehrMänner überführt, die auf ihren Computernkinderpornografisches Material gespeicherthaben – nicht zufällig, sondernganz systematisch. Darunter waren auchviele äußerlich unbescholtene Menschen,nicht wenige von ihnen in sozialen Berufentätig.Die Ermittler (und die Seelsorger) sindimmer wieder erschüttert, wie der Rauschder Bilder dazu führt, dass diese Männer –oft selbst Familienväter – ihr Tun verniedlichenund damit die Grundlage für Rückfälleund weitere Straftaten legen.GesetzestextOpfer der Kinderpornografie: Diese Kinderwurden von einem asiatischen Pornoringfür Videoaufnahmen benutzt unddurch die Polizei aus ihrem Gefängnisbefreit.«Wer pornografische Schriften, die densexuellen Missbrauch von Kindern zumGegenstand haben, 1. verbreitet, 2. öffentlichausstellt, anschlägt, vorführtoder sonst zugänglich macht oder 3.herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält,anbietet, ankündigt, anpreist, ... wird ...mit Freiheitsstrafe von drei Monaten biszu fünf Jahren, sonst mit Freiheitsstrafebis zu drei Jahren oder mit Geldstrafebestraft.»(Auszug aus dem deutschen Strafrecht)(Ausriss aus einer kambodschanischen Zeitung 2004).13


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTKrankheit oder Verhaltensproblem?Fachbegriffe für INTERNETSUCHTInternet Addiction Disorder – IAD(Ivan Goldberg 1995)Nichtsubstanzgebundene Verhaltenssucht(Grüsser & Thalemann 2006)Pathologischer Internetgebrauch – PIG(Zimmerl & Panosch 1998)Pathological Internet Use − PIU(Kimberly S. Young)Compulsive Sexual Behavior – CSB(Hollander 2004)Internet Sexual Addiction Disorder – ISAD(M. Kafka 1996)Nosologische EinordnungDie Fachleute sind sich in der diagnostischenEinordnung des pathologischenInternetgebrauchs nach ICD-10 / DSM-IVnoch nicht sicher. An einem Symposium inNew York 2004, das ich besucht habe, wurdenfolgende vier Bereiche für eine möglichediagnostische Einordnung genannt:1. Störungen der Sexualpräferenz? (Paraphilie)– Einerseits handelt es sich umein pathologisches Geschehen im sexuellenBereich, doch sind die Inhaltehäufig nicht als «pervers» einzuordnen,sodass der Begriff der Paraphilie nichtzur Anwendung käme.2. Zwangsstörung? Viele User erlebenden Drang zum Einloggen «wie einenZwang». Dagegen spricht die Tatsache,dass das Betrachten und Sammelnvon Bildern oder das erotisch gefärbteChatten Lust erzeugt, was bei den klassischenZwangsstörungen nicht der Fallist (vgl. auch das Seminarheft in dieserReihe: «Zwang und Zweifel»)3. Störung der Impulskontrolle? – Patientenmit diesen Störungen leiden unter impulsivenGefühlen und Handlungen, wiez.B. Wutausbrüchen. Beim PIG bestehtzwar ein «Kontrollverlust» – d.h. manbleibt oft viel länger im Netz als mandas vorhatte – aber das Verhalten wirdsorgfältig geplant, erfordert gezieltesEinloggen und Aufsuchen von Inhalten,was nicht mehr als impulsiv bezeichnetwerden kann.4. Suchtverhalten? Dieser Ansatz erklärtam besten alle Phänomene des pathologischenInternetgebrauchs und wirdals Grundlage für dieses Heft gebraucht.14


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTKomorbidität – zusätzliche ProblemeKrankheiten, die zusammen miteiner Internet-Abhängigkeit auftretenkörperliche SchädenBei chronischem Gebrauch sind oftmalskörperliche Schäden beobachtbar:– Durch falsche Sitzhaltung können Verspannungenbis hin zu WirbelsäulenundGenickschäden auftreten.– Das lange, ununterbrochene Starren aufden Bildschirm kann auf Dauer zu Schädigungendes Sehapparates führen.– Langes Surfen kann zusätzlich Dauerstressverursachen, der sich in Formvon Kopfschmerzen, Schlafstörungenund chronischer Anspannung ausprägenkann.– Kreislauf- und Gewichtsprobleme könnenebenfalls auftreten, sind aber individuellverschieden.PSYCHOSOZIALE KOMPLIKATIONEN– Hohe Telefon- bzw. Online-Kosten– Realitätsverlust– Scheitern menschlicher Beziehungen– Soziale Isolation– Arbeitslosigkeit und VerarmungSMS-TextaholicsAuch SMS kann süchtig machen, sagtder englische Psychologe Roy Bailey: «EinText kann dieselbe Wirkung wie eine Zigarettehaben.» Der Empfang einer SMS löstim Gehirn Genuss und Vergnügen, je nachBotschaft auch Angst und innere Spannungaus und bewirkt im Empfänger dasBestreben, die Nachricht umgehend zubeantworten, um möglichst schnell eineAntwort zu erhalten. Allein in Deutschlandwerden pro Jahr über 25 MilliardenKurznachrichten versendet.Zusätzliche KomplikationenBei vielen Online-süchtigen Menschensind folgende Probleme zu beobachten,z.T. chronisch oder aber in Krisenzeiten:– Alkoholismus: Oft wird die innere Nervositätmit Alkohol gedämpft, aber auchder durch das Betrachten der Bilder erzeugte«Rausch» durch Alkohol unterstützt.Es kommt zu einer gegenseitigenVerstärkung der beiden Süchte.– Gebrauch anderer schädlicher Substanzen(von aufputschenden Drogen, wieetwa Kokain, bis zum übermäßigen Gebrauchvon potenzsteigernden Mittelnwie z.B. Viagra).– Depressive Episoden: ausgelöst durchdie negativen psychosozialen Konsequenzenoder das Zerbrechen einer Beziehung– Suizidalität: In der Verzweiflung überdie Ausweglosigkeit oder bei sozialenKonsequenzen.– Zwanghaftes Kontrollieren: Online-Süchtige entwickeln z.T. komplexe Rituale,um ihre Sucht zu verheimlichenund sicherzustellen, dass ihre Umgebungnicht in ihren «geheimen Bereich»eindringen kann oder diesen per Zufallentdecken kann.– Paranoides Denken: Die Angst vor Entdeckungund Beschämung führt dazu, dasshinter unbedeutenden Vorgängen einepersönliche Bedrohung vermutet wird.(Z.B. wenn ein Polizeiauto vorbeifährt:«Hoffentlich kommen sie nicht zu mir,um meinen Computer zu untersuchen»;z.B. wenn der Arbeitgeber ein Gesprächvereinbart: «Will er mich mit den Spurenmeiner Internet-Aktivitäten in derletzten Woche konfrontieren? Ich habezu wenig aufgepasst!»)15


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTMuster des Online-Sex-VerhaltensDie obige Einteilung der Muster des Internet-Sex-Gebrauchsist nicht wertend,sondern rein beschreibend (vgl. auch S. 2).Gruppe A: Nichtsüchtige Nutzera) Angepasster Freizeitgebrauch: Es gibtnicht wenige Menschen, die erotischesMaterial lesen oder ansehen, ohne dadurchin eine pathologische Abhängigkeitzu verfallen oder eine Verschiebungihrer sexuellen Präferenzen oder derAchtung vor dem anderen Geschlecht zuerleben. Diese werden als «angepassteFreizeitnutzer» beschrieben.b) Unangepasster Freizeitgebrauch: Obwohldiese Gruppe nicht süchtig ist,geht sie mit sexuellen Inhalten des Internetsin anstößiger Weise um: Diessind z.B. die schmierigen Typen, die pornografischeBilder an die Kollegin schicken,um sie in Verlegenheit zu bringen.Im Gegensatz zu Online-Süchtigen versuchensie nicht, ihren Spaß an derartigenBildern zu verstecken.Gruppe B: Problematische Nutzerc) Entdeckergruppe: Diese Menschen hattenvor der Entdeckung im Internet keineProbleme mit süchtiger Sexualität. Siegehen vielleicht zuerst fast mit spielerischerNeugier in einen Chatroom odereine Porno-Adresse. Doch dann werdensie hinein gezogen und verbringen immermehr Zeit im Netz, riskieren immermehr und werden abhängig.d) Prädisponierte Gruppe: Diese Menschenhatten zwar schon früher unangepasstesexuelle Fantasien, etwa zueiner Prostituierten zu gehen, oder einKind unsittlich zu berühren, doch sielebten diese Impulse nie aus, weil siesich schämten. Nun entdecken sie imInternet die Erfüllung ihrer Wünsche,ohne erkannt werden zu können. Zuerstverweilen sie nur einige Stunden pro Wocheim Netz, doch dann wird es immermehr. Dazu kommen auch zunehmendextremere Variationen der Sexualität,um noch einen «Kick» zu bekommen.Sie werden süchtig.e) Lebenslanges sexuelles Suchtverhalten:Schon seit der Jugend problematischessexuelles Verhalten: häufigeMasturbation, Gebrauch von pornografischemMaterial, Voyeurismus, Exhibitionismusoder pädophile Handlungen(«Paraphilien» ). Für sie bietet das Internetdie Möglichkeit, ihre bestehendessexuelles Muster in einer neuen Formauszuleben. Drei Untergruppen:1. Internet als zusätzliche Möglichkeit, umdas gewohnte Verhalten auszuleben.2. Diejenigen, die im Internet einen wenigerriskanten Weg sehen, auch neueFormen der Sexualität auszuprobieren,sich etwa an Minderjährige heranzumachen.3. Diejenigen, deren sexuelles Verhaltenaußer Kontrolle geraten ist und, die imInternet vielfältige Risiken und Angebotewahrnehmen, die eventuell auchzu einer Strafverfolgung führen können.nach P. Carnes mit Schwerpunkt der sexuellen Internetsucht16


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTUnterschiedliche KonfliktbeurteilungIn unserer pluralistischen Gesellschaft wirdSexualität mit ihren Variationen sehr unterschiedlichgewichtet. Manche Autorensprechen auch von einer «pornografischenGesellschaft», in der Initimität in einemMass öffentlich gemacht wird, das früherunvorstellbar erschien.Ein sozialer bzw. juristischer Konsensbesteht nur noch bei eindeutig strafbarenHandlungen, nämlich Sex mit Kindern (Pädophilie),mit Tieren (Sodomie), mithilfevon Exkrementen und unter Anwendungextremer Gewalt.Alle anderen Formen der (internet-basierten)Darstellungen von Sexualität werdennach individuellen Massstäben gemessen– ohne Anspruch auf objektive Wertenormen.Das Kriterium der Häufigkeit isthier nicht wegweisend, weil andere Indikatorenviel früher «Alarm schlagen».Da ist zuerst einmal die einzelne Person:Lässt sie sich von einer christlichenEthik leiten, so erlebt sie schon bei sporadischemKonsum weicher PornografieSchuldgefühle oder zumindest eine Unzufriedenheit,die den Wunsch entstehenlässt, dieses Muster zu stoppen. Weiterenegative Folgen ergeben sich am Arbeitsplatz,wo das Surfen auf Pornoseitengrundsätzlich unerwünscht ist und zumKündigungsgrund werden kann. Ein Warnsignalkönnen auch gesundheitliche Folgensein (S. 15).Die schwerwiegendsten Wertediskussionenentstehen in der Partnerschaft. Oftmuss eine Frau entscheiden, welches Verhaltendes Partners sie zu tolerieren bereitist.In Gesprächen habe ich eine breite Palettevon Grundhaltungen erlebt. Dabei istzu bedenken, dass eine Frau oft vom Einkommendes Mannes abhängig ist, undauch an die Stabilität der Kinder denkt,bevor sie eine Trennung in Betracht zieht.Eine Schmerzgrenze ist spätestens dannerreicht, wenn es neben Pornografie zu einerrealen Aussenbeziehung kommt, oderdie Sucht zu erheblichen Folgen im Privatlebenund bei der Arbeit führt.17


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTRisikofaktoren für InternetsuchtAbbildung: Die hier dargestellten Risikofaktorenzeigen sich je nach Lebenssituationin sehr unterschiedlichem Ausmaß.Die Erfahrung zeigt jedoch, dass meistmehrere Faktoren zusammenkommen,bevor schließlich die Gelegenheit zumInternetzugang die Suchtentwicklung inGang setzt.18


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDie Familie leidet mit!In Therapie und Seelsorge begegnen wirzunehmend Ehepartnern und Kindern vonOnline-Süchtigen, die massiv unter demVerhalten des süchtigen Partners leiden.In der Folge wird vor allem die Situationbeschrieben, wo der Ehepartner und Vaterein Problem mit Onlinesucht hat.Die EntdeckungDer Schock einer Familie beginnt bei derEntdeckung der Sucht. Man findet Bilderauf dem Computer, oft Tausende, die derartabstoßende Szenen zeigen, wie sie einenormale Frau noch nie gesehen hat. Dassdiese dem Partner auch noch Lust bereiten,kann einen schweren psychischen Schockauslösen. Zitat: «Ich erinnere mich nochgut, wie ich heulte und schrie und michfast nicht mehr beruhigen konnte.»Die AusredenDiese wirken oft hohl und unglaubhaft.Der Online-Süchtige sucht einen Vorwandum ungestört surfen zu können: «Ich mussnoch Überstunden machen!» – «Geh mitden Kindern noch etwas spazieren, ich bleibehier, ich brauche Ruhe.» – «Ich hatteSodbrennen in der Nacht, da bin ich haltnoch aufgestanden.»Die Forderungen und VorwürfeNach dem Pornokonsum wird das normaleEheleben schal. «Ich muss ja ins Internet,wenn Du mir so wenig bietest!» Die Fraukann im «Konkurrenzkampf» mit dem Internetnicht mithaltenDas Leiden der KinderFür eine Tochter oder einen Sohn, der dasgeheime Laster des Vaters entdeckt, brichtoft eine Welt zusammen. Der Vater verliertseine Autorität, seine Vorbildfunktion. Eskommt zur Entfremdung. Eine Frau berichtet:«Meine Tochter fand schon seine CDund weinte Herz zerbrechend. Er schrie siean und fand, es sei besser, wenn sie nichtso weltfremd aufwachse wie ihre Mutter.»Das Doppelleben«Ich halte es fast nicht mehr aus: In derGemeinde sind wir eine Vorzeigefamilie.Mein Mann predigt, und niemand weiß,was hinter der Maske steckt.»Die finanzielle SeiteInternet-Sex-Angebote sind nur ganz amAnfang gratis. Oft geben die Süchtigen riesigeGeldbeträge für ihr heimliches Lasteraus. Dieses fehlt dann der Familie, die aufvieles verzichten muss.Der Verlust von Arbeit und EhreLehrer und Sozialarbeiter müssen heute mitihrer Entlassung rechnen, wenn ihre Suchtpublik wird. Die Familie leidet mit.Bitte Glauben Sie Uns!«Bitte glauben sie allen Frauen, die zuihnen kommen und nehmen sie sie ernst.Solche Geschichten kann man nicht erfinden,Sie sind zu absurd. Es ist ein solcherSchock zu merken, dass die Ehe nichtso funktioniert, wie man sich dies vorgestellthat. Es sind so viele Enttäuschungen,Verletzungen und Scham da, so etwas behältjede Frau viele Jahre für sich, weil siees selber nicht glauben will und immerhofft, dass sie sich täuscht und die Ehedoch noch so glücklich wird, wie sie dasals Mädchen geträumt hat.»(Aus dem Brief einer betroffenen Frau)19


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTIst es wirklich eine Sucht?Abbildung aus einer Publikation der Firma Pfizer,mit freundlicher GenehmigungWährend Drogen- oder Alkoholsucht seitlangem als Krankheit anerkannt sind,wurde erst in den letzen Jahren deutlich,dass man auch ohne stoffliche Substanzsüchtig werden kann. Kann man also auchvom Internet süchtig werden? Dies zeigtsich etwa im Begriff «Internet AddictionDisorder» .Noch ist unzureichend geklärt, was genaubeim Internet süchtig macht. BernadBatinic, Wissenschaftler am FachbereichPsychologie der Universität Gießen, hates folgendermaßen ausgedrückt: «Das ProblemInternet-Sucht existiert. Es gibt Menschen,die sich den Konsum des Internetnicht einteilen können beziehungsweisenicht damit aufhören können. Doch dieLinie zwischen noch normal und bereitssüchtig ist sehr schwer zu ziehen.»Allerdings: «Um süchtig zu werden, müs-Vorgänge in der Synapse: Die Botenstoffewerden in den synaptischen Spalt freigesetztund erzeugen an den Rezeptoren einSignal.HINWEISE AUF EINE SUCHTGlücksgefühl, «Kick» beim erstenGebrauch eines Auslösers.Negative Gefühle / Leere / Unlustgefühlbeim Abklingen der Wirkung.Drang (Kompulsion), das positiveGefühl der ersten Erfahrung wiederzu erleben.Suchtverhalten: Drug-seeking anddrug-taking behavior.Dosissteigerung (Häufigkeit oder Intensität).KontrollverlustVerheimlichen und Bagatellisierendes Suchtverhaltens.Negative psychosoziale Folgeerscheinungen.sen bestimmte psychische Vorschäden bereitsvorhanden sein. Schließlich werdenauch nicht alle Menschen, die Alkohol trinken,automatisch zum Alkoholiker.»Hirnbiochemie und SuchtIm Bereich der Suchtforschung wurdenneue Mechanismen des Gehirns gefunden,die Menschen süchtig machen.Für die Internetsucht gelten die gleichenKriterien wie für andere stoff-gebundeneSüchte.Auf der nächsten Seite wird eine Übersichtüber die wichtigsten Befunde derSuchtforschung gegeben.Weitere Informationen:Koob G.F. (2006). The neurobiology of addiction:a neuroadaptational view relevantfor diagnosis. Addiction 101 Suppl 1:23-30.20


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTOpiate, Dopamin und GlücksgefühlAbbildung: Bei lustvollen Reizen (diesereichen von Sexualität über Alkohol undDrogen bis hin zu nicht-stoffgebundenenReizen wie die Internetsucht) kommtes zu komplexen Vorgängen im Gehirn.Je nachdem, wie ein Mensch mit seinerLust umgeht, entsteht verantwortungsbewussterGenuss oder destruktive Sucht.Erläuterungen S. 22.21


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTOpiate, Dopamin und GlücksgefühlGlücksgefühleZwei Regungen sind es, die im MenschenGlücksgefühle auslösen: 1. Wenn eretwas will (WOLLEN) und 2. wenn er etwasbekommen hat, was ihm gefällt (GENIES-SEN). Diese beiden Funktionen werden inunterschiedlichen Hirnregionen gesteuert.Die Kompulsion(übermächtiger Drang) ist dieKernsymptomatikjeglicher Form «süchtigen» Verhaltens.Sie repräsentierteine andere Form des Seins,einen Zustand, in dem das Bewusstseinvon der begehrten Substanzbeherrscht wird.Leshner 1997Genuss und Opiate: Körpereigene opiat-artigeSubstanzen – Endorphine – erzeugenein rauschartiges Wohlgefühl (z.B.beim Sex). Drogen, Alkohol und andereSuchtmittel rufen auf komplexe Weise eineähnliche Wirkung hervor. Wird diesesGlücksgefühl nur ab und zu erzeugt, soentsteht keine Sucht. Bei häufiger Stimulationstumpft das Gehirn ab, und brauchtimmer mehr Reize («Opiatdusche»), um einähnliches Glücksgefühl zu erleben.Dieser Mechanismus allein reicht abernicht. In den letzten Jahren wurde ein zweiterMechanismus entdeckt, das Dopaminund sein Einfluss auf das Wollen.Wollen und Dopamin: Wenn eine Belohnung(ein Lustgefühl) winkt, wird im Gehirnder Botenstoff Dopamin ausgeschüttet.Dieser erzeugt ebenfalls Glücksgefühle,aber er verankert auch das Erlebnis im Gedächtnis– das Gehirn soll sich die Situationeinprägen, die zum Glück geführt hat.Dopamin fördert das Lernen und die Erinnerung.Ist das Gehirn einmal programmiert,steuert es den Körper so, dass er ähnlicheSituationen erkennt und den Körperdorthin dirigiert (ständige Beschäftigungmit dem Suchtmittel, Vorbereitungshandlungen,Ritualisierung etc.).Alle Suchtmittel verschaffen dem Gehirneinen Dopaminkick – der Spiegel steigt aufein Vielfaches! Auf diese Weise werden Anblickder Droge und das Verlangen danachfast untrennbar miteinander verknüpft.Sensibilisierung des GehirnsEs kommt zu einer erhöhten Empfindlichkeitdes Gehirns auf Dopamin. Damitergibt sich die fatale Kombination von abgestumpftemGlücksempfindung bei weitererhaltenem Wollen, Sehnen, ja «Craving»(in der Gassensprache das «Reissen»nach Drogen).«Ratten, denen man durch ins Gehirneingepflanzte Drähte die Möglichkeitgab, sich per Knopfdruck eine ExtradosisDopamin zu verschaffen, tatenbald nichts anderes mehr. Sie vergassenEssen, Trinken, ja sogar Sex, und ranntenstattdessen wieder und wieder zumSchalter. Eine Wahl hatten sie nicht,denn bei jeder Dopaminausschüttungwird das Gehirn immer mehr auf Wiederholungprogrammiert. So starbendie Ratten schließlich für ein bisschenGlück.»(nach einem Bericht von Stefan Klein)22


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTTriebkonflikt und Gewissen1. Erster Impuls: Erste Versuchung, etwasVerbotenes zu tun; zunehmende innereLeere und Sehnsucht nach dem «Kick». DasGewissen oder die Vernunft erwacht undes kommt zu einer langsam ansteigendenSpannung zwischen Trieb und Gewissen.2. Spannungsaufbau: Die Gedankenwerden immer stärker von dem Impuls gefangenund absorbiert. Die inneren Diskussionenund Kämpfe werden immer heftiger.Der Drang, das Verbotene zu tun, wirdimmer intensiver, oft verbunden mit körperlichenSymptomen einer inneren Spannung(Verspannungen, Herzklopfen etc.).Die Gedanken sind so absorbiert, dass dienormalen Tätigkeiten und Aufgaben beeinträchtigtwerden, man wirkt häufigergedankenverloren, angespannt, innerlichweggetreten.3. Nachgeben: Die Spannung wirdderart unerträglich, dass man sich entschließt,den Widerstand aufzugeben. Mannimmt die Niederlage hin und lässt zu, demDrang nachzugeben. Angesichts der innerenKämpfe gleicht dieser Entschluss immernoch einer Erleichterung, einem Dampfablassen, das eine Katastrophe verhindert.Gleichzeitig wird die Stimme des Gewissensunterdrückt bzw. ausgeblendet.4. Entladung: Diese wird oft wie eineBefreiung erlebt, im sexuellen Bereichauch als lustvoll. Sie bedeutet ein Endeder langen Kämpfe. Das Gefühl der Befreiung,Entlastung, Entspannung im Trieb-/Zwangsbereich wird nun abgelöst durcheinen Anstieg der Gewissensspannung.5. Gewissenskonflikt: Rascher Anstiegvon Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen,Schuldgefühlen, Gefühl des Beschmutztseins.Bemühungen um Wiedergutmachung.6. Refraktärphase: Allmähliche Beruhigungder Selbstvorwürfe («Mir ist vergeben»,«Ich habe es abgelegt und hintermir gelassen», «Es plagt mich nicht mehr»),Entschlossenheit, nicht mehr rückfällig zuwerden («Das tue ich mir nicht mehr an!»,„Ich mag gar nicht mehr»). Ruhen von TriebundGewissensspannung bis es zu einererneuten Phase 1 kommt.23


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTGesunde SexualitätBeziehungs-DimensionEmotionaleDimensionSpirituelleDimensionKörperlicheDimensionDiskutieren Sie inGruppen, was diesePunkte im einzelnenbedeuten könnten.Was braucht es füreine gesunde Sexualität,was ist hinderlich?Verhaltens-Dimensionnach M. LaaserDiskussionKörperliche DimensionVerhaltensdimensionGefühlsdimensionBeziehungsdimensionGeistliche / spirituelle Dimension24


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHT12 Phasen der LiebesbeziehungErfolgreiche Ehepaare führenihre Liebesbeziehungbewusst weiter, zeigen sichimmer neue gegenseitigeWertschätzung und erlebenimmer wieder die Phasender Liebe.nach P. CarnesIn seinem sehr lesenswerten Buch «Inthe Shadows of the Net» beschreibt P.Carnes (leider nur auf Englisch) zwölf Phaseneiner intimen Liebesbeziehung.Seine These: Der Reichtum einer persönlichenBegegnung mit einem geliebtenMenschen wird in der süchtigen Internetsexualitätabgestumpft, ausgedörrt, und reduziertauf Worthülsen oder einseitig expliziteBilder.Nur in seinem durch die Sucht verkümmertenDenken meint ein Mensch, dieskomme wirklicher Liebe gleich.Diesen 12 Phasen der Liebe stellt Carnes10 Typen sexuellen Zwangsverhaltens gegenüber:Zehn Typen sexuelleenZwangsverhaltens (nicht nur imInternet)– Phantasie-Sex– Voyeurismus– Exhibitionismus– Die Rolle des Verführens– Sex-Handel– Sich aufdrängender Sex– Zahlen für Sex– Anonymer Sex– Sado-Maso-Sex– Ausbeutender Sex25


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDer Sucht-Kreislaufnach P. Carnes, S. 5026


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTPsychodynamikDie Annahmenwelt des SüchtigenUnsere Annahmenwelt ist der Filter, mitdem wir unser Leben gestalten und Entscheidungentreffen.Die Sucht baut auf einem tiefen Gefühlder Minderwertigkeit auf: «Keiner liebtmich, so wie ich bin.» «Keiner kann mir geben,was ich wirklich brauche». «Sex (oderAlkohol etc.) gibt mir ein gutes Gefühl, hilftmir, das Leben besser zu ertragen.»Eingeschränktes DenkenEs kommt zu einer Verschiebung des Wertesystems.Online-Süchtige merken, dasssie die Werte aufgeben, die ihnen einstwichtig waren:– Respekt vor dem sexuellen Gegenüber.– Verabscheuung von Gewalt und Zwang.– Christliche Werte der Reinheit und derSelbstdisziplin.Es kommt zu einer Umdeutung und Bagatellisierung:– «Es sind nur Bilder!»– «Ich habe so viel Stress, das entspanntmich!»– «Andere tun es auch, wieso ich nicht!»– «Würde meine Frau mir mehr geben,hätte ich das nicht nötig!»Ständige Vereinnahmung undGetriebenheitDie Trance oder Stimmung, in der einePerson nur noch auf die sexuellen Gedankenausgerichtet ist. Dieser mentale Zustandführt zu einer obsessiven / zwanghaftenSuche nach sexueller Stimulation. Esist die ständige Suche nach dem elektrisierendenZustand erster Liebe, nach dem berauschendenGefühl des Ungewöhnlichen,nach der Spannung des Verbotenen. DieseGetriebenheit blendet jeden Schmerz,jedes Mitgefühl und jedes Bedauern aus.RitualisierungDie Person entwickelt spezielle Handlungsroutinen,die zum sexuellen Verhaltenführen. Das Ritual verstärkt die Getriebenheitund erhöht die Erregung. Ritualesind (ähnlich wie das Vorspiel in echten Beziehungen)manchmal gerade so erregendwie der Höhepunkt selbst. Für den Online-Süchtigenist das vielleicht der Lieblingsstuhl,in dem er sitzt, die Beleuchtungdes Raumes, das Bereitstellen alkoholischerGetränke, die Lieblings-Websites,das Heranpirschen an einen neuen Kontaktim Chat.Sexuelle SuchtDer eigentliche sexuelle Akt, der das Zielvon Getriebenheit und Ritualisierung ist.Die Person ist nicht mehr in der Lage, dasVerhalten zu stoppen. Die Betroffenen versuchenimmer wieder aufzuhören. Sie setzensich ein Ziel, sie nehmen sich vor, zweiWochen nicht auf die suchterzeugendenWebsites zu gehen, doch dann ist die Suchtwieder stärker und «es» passiert wieder.Verzweiflung undUnbeherrschbarkeitDas Gefühl äusserster Hoffnungslosigkeitund Machtlosigkeit in Bezug auf dassexuelle Verhalten. Das ständige Versagenführt zu einem tiefen Selbsthass, dem Gefühlder Machtlosigkeit und des Ausgeliefertsein.Sie verurteilen ihre eigene moralischeSchwäche, gerade dann, wenn siewieder ihre eigenen Werte verletzt haben,oder besonders entwürdigende Szenenkonsumiert haben. Die Verzweiflung gehtoft bis zur Suizidalität.Die Tragik: Erneute sexuelle Stimulationlässt die Verzweiflung für kurzeZeit wieder vergessen. Der Kreislauf gehtweiter.27


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTTherapeutische AnsätzeInternetsucht ist eine Sucht! In ihren Auswirkungenist sie ähnlich gefährlich wie eineAbhängigkeit von Kokain. Der Entzug isthart und von Entzugserscheinungen begleitet.Fünf Schwerpunkte:1. Gespräch / Problemanalyse /VerhaltenstherapieHinweise vgl. Seite 27 – 282. Praktische MassnahmenDie Sucht erfordert eine radikale Entgiftung(«Detoxification»): Entfernung sämtlicherInhalte vom Computer, Installieren vonFiltern, «offene Türen», begrenzte Zeiten, weitereKontrollmaßnahmen; evtl. sogar Verzichtauf den Computer während mehrerer Monate,bis die Entzugserscheinungen nachlassen(vgl. S 39).3. AccountabilityRechenschaft ablegen bedeutet: das Geheimnisdurchbrechen (Transparenz) und dasVerhalten einer Vertrauensperson offenlegen(vgl. S. 29).4. PaartherapieWeil die Partnerschaft massiv leidet, istes oft auch nötig, die Ehefrau einzuschliessen,zur Vertrauensbildung, zum Wiederaufbauder Beziehung und zur praktischen Unterstützungdes Entzugs (vgl. S. 32).5. MedikamenteObwohl Botenstoffe im Gehirn eine wichtigeRolle bei der Internetsucht spielen, sosind die Möglichkeiten der medikamentösenBehandlung begrenzt (Details vgl. S. 28).1. Gespräch / Problemanalyse/ Verhaltenstherapie2. Praktische Massnahmen3. Rechenschaft ablegen4. Paartherapie5. Medikamente?28


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTSieben therapeutische ZieleDie folgenden sieben Schritte sind auszugsweiseeinem Therapiebuch von Dr. PatrickCarnes entnommen, das leider bishernicht auf Deutsch erschienen ist.1. Die Verleugnung durchbrechen– Erstellen Sie eine Liste der Probleme.– Erstellen Sie eine Liste der Geheimnisse.– Erstellen Sie eine Liste der Entschuldigungenund Rationalisierungen.– Machen Sie eine Liste der Konsequenzen– Welche Menschen wurden verletzt?– Finden Sie einen Therapeuten.– Finden Sie einen Partner, dem Sie Rechenschaftablegen können.– Seien Sie ganz offen gegenüber Therapeutund Rechenschafts-Partner.2. Verstehen Sie die NaturIhrer Störung– Lesen Sie mindestens ein Buch über sexuelleSucht.– Zeichnen Sie ihren eigenen Suchtkreislaufund Ihr Suchtsystem auf (vgl. S. 24).– Machen Sie eine Liste der Momente, wosie die Kontrolle verlieren.– Lernen Sie über «sexuelle Anorexie» und«Fress-Kotz-Zyklen».– Lernen Sie mehr über zusätzliche Indikatoren.Weitere Informationen:P. Carnes (2001): Facing the Shadow. Starting Sexualand Relationship Recovery. A Gentle Path Workbook forBeginning Recovery from Sex Addiction. Gentle PathPress, Wickenburg AZ. ISBN 1-929866-01-1.– Gehen Sie die Phasen der Liebe durch(S. 23). Was funktioniert noch, was gingdurch die Internetsucht verloren?3. Lassen Sie sich aufeinen Prozess ein– Schreiben Sie die Geschichte Ihrer sexuellenSucht auf!– Beschreiben Sie, wo sie merkten, dassSie die Kontrolle nicht mehr haben.– Berechnen Sie die Kosten Ihrer Sucht.– Welches waren Ihre schlimmsten Momente?– Erzählen Sie Ihren ersten Schritt in einer12-Schritte Gruppe.4. Begrenzen Sie den SchadenIhres Verhaltens– Machen Sie einen Plan zur Schadensbegrenzung.– Machen Sie einen Plan, wie Sie ihre Suchtbekannt machen können.5. Entwickeln Sie Nüchternheit– Welches sind die Herausforderungen?– Welches sind mögliche Rückfallgefahren?– Entwickeln Sie ein Notfallszenario.– Wie können Sie sich Grenzen setzen (innereund äußere)?6. Stellen Sie Ihre körperlicheGesundheit sicher– Lassen Sie einen ärztlichen Check-upmachen.– Erstellen Sie eine Matrix Ihrer sexuellenSucht.– Erstellen Sie eine Matrix Ihrer sexuellenGesundheit.www.gentlepath.com Fortsetzung auf Seite 3029


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTTherapiezieleFortsetzung von Seite 29– Bearbeiten Sie Ihr persönliches Erregungsmuster(Hier wird Bezug genommenauf spezifische Arbeitsblätter vonDr. P. Carnes, die leider auf Deutsch nichterhältlich sind).7. Nehmen Sie aktiv an einer Unterstützungskulturteil.– Finden Sie eine 12-Schritte Gruppeund nehmen Sie regelmäßig teil.– Haben Sie regelmäßigen Kontakt mitihrem Rechenschafts-Partner.– Machen Sie selbst einen Beitrag in derGruppe.– Entwickeln Sie tägliche Gewohnheiten,die ihre Genesung fördern: TäglicheStille Zeit, Lesen eines Wortes für denTag, Tagebuch schreiben.– Wenn nötig, nehmen Sie an Selbsthilfegruppenfür andere Süchte teil.Was bringen Medikamente?Serotonin: wird in komplexerWeise als Nebeneffekt des Suchtgeschehensproduziert. Antidepressivaerhöhen ebenfalls denSerotoninspiegel.Könnte Serotonin das Craving vermindern?Serotonin-Wiederaufnahmehemmer(SSRI) haben möglicheWirkungen bei Menschenmit Depression und Dysthymie.Dopamin: steigert die Appetenzbeim Suchtverhalten. Hier sindkeine medikamentösen Strategienbekannt, die nicht schwere Nebenwirkungenhätten.Opiatantagonisten: blockieren dieWirkung von Opiaten und reduzierendadurch den Lustgewinn.Sie werden deshalb vereinzelt inFällen von Opiatsucht oder zurVerminderung des Cravings beianderen Süchten empfohlen. DieTageskosten sind hoch und die Effizienzist begrenzt.Ritalin: Bei manchen Internetsüchtigenbesteht auch ein ADS. Hierkann Ritalin eine deutliche Beruhigungbringen.Schlussfolgerung:Medikamente sind (leider) keine Lösung,allenfalls als Unterstützung fürVerhaltenstherapie / Seelsorge dort, woeine Person auch unter Depressionenoder ADS leidet.Antiandrogene: Diese Medikamente(z.B. «Androcur») hemmendie Testosteronproduktion undvermindern so die Triebstärke.Einsatz bei Sexualstraftätern inBegleitung mit Gesprächen. DasSuchtmuster (das Triebziel) selbstwird kaum beeinflusst.30


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTAccountability – Rechenschaft gebenWie funktioniert Es?– Das Programm ist nicht nur für Kindergeeignet, sondern auch für Erwachsene,die einem anderen Menschen Rechenschaftablegen wollen. Es erlaubt, Zeitenfestzulegen und Inhalte auszusperren.Letztlich ist es aber auch ein Mittel zurEigenverantwortung.– Das Programm verfolgt jede Website,die Sie anwählen, registriert die Zeit,die Sie im Internet verbringen.– Dann wird wöchentlich ein e-Mail-Berichtan diese gesandt, die alle Ihre Web-Besuche aufzeigt.– Das Programm kann nicht umgangenoder ausgeschaltet werden.– Es vermindert die Internet-Versuchungund die Verheimlichung und verstärktIhre persönliche Verantwortlichkeit.– Im Betrieb hält es die Leute auf ihre Arbeitfokussiert, erhöht die Produktivitätund baut gleichzeitig gegenseitigeKommunikation und Vertrauen auf.– Die Kosten halten sich in Grenzen undsind angesichts der Schäden durch dieSucht vernachlässigbar.Könnten Sie auf einer Pornoseite surfen,während Ihnen Ihre Frau oder Ihr Freundüber die Schulter schaut? Sie würden sichschämen und rasch auf eine unverfänglicheSeite wechseln.Dies ist das Prinzip der «accountability»,des Ablegens von Rechenschaft. Die Suchtbleibt nicht mehr im Dunkeln, sondern sieversprechen 1 oder 2 andern Vertrauenspersonen,sie offen über Ihren Webkonsumund die Zeit im Internet zu informieren.Besonders hilfreich ist das Programmwww.kindersicherung.de.Weitere Adressen:www.covenanteyes.comwww.max.comwww.mobicip.comSelbstkontrolleund Selbstdisziplinwerden durchTransparenz undRechenschaft entwickelt.Was ist einRechenschaftspartner?Dies ist jemand, dem Sie die Erlaubnisgeben, Ihnen dabei zu helfen, stark zu bleiben.Es ist jemand, dem Sie trauen, weildiese Person sich wirklich um Sie sorgt.Weil die Versuchung dann am stärksten ist,wenn niemand hinschaut, schwächt ein Rechenschaftspartnerdie Anziehung, weil daeiner ist, der Ihnen über die Schulter sieht,wenn sie im Internet surfen. Wenn Sie in eineBeziehung der Rechenschaft mit einemvertrauensvollen Freund eintreten, so istdies ein wesentliches Element zur Entwicklungvermehrter Integrität.31


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTTherapie bei SexualstraftäternPädophilie und Kinderpornografie werdenzunehmend konsequenter polizeilichaufgeklärt und gerichtlich verfolgt. Ofthat man es nicht mit hartgesottenen Verbrechernzu tun, sondern mit Männern, dievordergründig ein normales Leben führen,nicht selten sogar selbst eine Familie haben.Der Schock der Entdeckung, verbunden mitden schwerwiegenden sozialen Folgen führtoft dazu, dass sie selbst eine Therapie fürihre destruktive Neigung wünschen. Diesewird dann auch als Therapieauflage in dasUrteil integriert.Annahmen für die Therapievon Sexualstraftätern:– Sexualdelikte sind ein Missbrauch vonMacht.– Sexualstraftäter weigern sich, die volleVerantwortung für ihre Straftat zu übernehmen.– Sexualdelikte werden unter Einsatz derFantasie geplant und ausgeführt.– Das Verhalten von Sexualstraftäternkann nicht geheilt, sondern nur unterKontrolle gehalten werden.Die zentrale Rolle der PhantasieDie Fantasietätigkeit nimmt bei pädophilenStraftaten eine zentrale Rolle ein. Soführt ein sensorischer oder kognitiver Stimuluszu einer Erregung mit Entwicklungeiner Fantasie, die zu einer Steigerung derErregung mit Masturbation und Ejakulationführt. Allgemein lassen sich Fantasien in«geeignete und legale» resp. ungeeigneteund deviante unterteilen. Sie dienen derErhöhung der Erregung, Verstärkung vonkognitiven Verzerrungen, Verstärkung derMotivation zum Delinquieren, Planung undWiedererleben des Deliktes, Wiederherstellenvon positiven Gefühlen nach dem Delikt,Erleichterung von Schuld und Angstnach dem Delikt, sowie Erlaubnis zum erneutenDelinquieren.Schlussfolgerungen– Die Straftaten passieren nicht einfach,sondern werden bewusst angestrebt.– Ein Sexualdelikt zu begehen ist keineGeisteskrankheit, sondern ist insbesonderebei Wiederholungstätern zwanghaftemSuchtverhalten gleichzusetzenund kann ebenso wie die pädosexuellePräferenz nicht geheilt, sondern nur –die Motivation des Straftäters vorausgesetzt– kontrolliert werden.– Wie bei anderen Zwangs- und Suchtverhaltenlässt sich auch in diesen Fällenein Verhaltenszyklus auf der Basis entsprechenderDenkmuster feststellen.– Patient und Therapeutin müssen dieMechanismen kennen lernen, die zumDelikt führten und entsprechend Strategienzur Verhinderung weiterer Straftatenentwickeln.– Nur wenn beim Patienten eine grundlegendeÄnderung der Einstellungen erreichtwerden kann, kann auch langfristigvon einer günstigen Legalprognoseausgegangen werden.– Die Teilnahme an einer Gruppentherapiefür Sexualstraftäter kann sich positivauf die Vermeidung von Rückfällenauswirken.Weitere Informationen:Hoyer J. & Kunst H. (Hrsg.): Psychische Störungen beiSexualdelinquenten. Pabst.Jongsma A.E. & Budrionis R.: The Sexual Abuse Victimand Sexual Offender Treatment Planner. Wiley.32


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTGruppentherapie – 12 SchritteIm Jahre 1935 gründeten ein bekannterChirurg und ein Börsenmakler die Bewegungder Anonymen Alkoholiker (AA).Sie merkten, dass ihr Zwang zum Alkoholschwand, wenn sie offen miteinanderüber ihre Probleme sprachen. Mit denJahren entwickelten sie 12 Grundsätze,die für die Bewältigung der Sucht wegleitendwaren. Die Bewegung der 12 Schritteist heute anerkannt als die effektivsteSelbsthilfegruppe in der Behandlung derAlkoholsucht. Es hat sich gezeigt, dassdie Prinzipien der Suchtbewältigung sichauch auf sexuelle Süchte bzw. Internetsuchtanwenden lassen.Info: www.anonyme-alkoholiker.de1. Wir gaben zu, dass wir unseren Abhängigkeiten und Problemen gegenübermachtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unseregeistige Gesundheit wiedergeben kann.3. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottessoweitwir ihn verstanden – anzuvertrauen.4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhülltunsere Fehler zu.6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.7. Demütig baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, undwurden willig, ihn bei allen wiedergutzumachen.9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut- wo immer es möglich war –es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir unrecht hatten, gaben wires sofort zu.11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – soweitwir ihn verstanden – zu vertiefen. Wir baten ihn nur, uns seinen Willen erkennbarwerden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.12. Nachdem wir durch diese Schritte ein geistliches Erwachen erlebt hatten, versuchtenwir, diese Botschaft anderen weiterzugeben und unser tägliches Lebennach diesen Grundsätzen auszurichten.(in Anlehnung an die Formulierung der Bewegung «Endlich leben» mit freundlicher Genehmigung.)www.endlich-leben.netwww.wuestenstrom.de33


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTAuswirkungen auf die Ehe«Mein Mann zerstört mit seiner Suchtnicht nur unsere Ehe. Er hat sich dramatischverändert.»Internet-Pornografie hat einen dramatischenEinfluss, nicht nur auf die Persönlichkeit,sondern auch auf die Ehe, meistlange bevor die Frau das heimliche Lasterdes Mannes entdeckt.Pornografie ist nicht zuletzt deshalb soverführerisch, weil sie keinen direkten Kontaktmit einem menschlichen Wesen erfordert.Hier hat der «Konsument» volle Kontrolleüber die «Beziehung». Das Fensterkann geöffnet und mit einem Klick geschlossenwerden; der Computer wird angemachtoder ausgeschaltet. Doch dahintersteht oft die Angst vor echter Intimität.Intim sein – mehr als SexEchte Intimität hat viele Facetten: Diefolgende Liste gibt einen Überblick:VertrauenSelbstwertPositive Wertschätzung für den andernGegenseitige AbhängigkeitToleranz für Konflikte, Unklarheitenund Unvollkommenheit.Offenheit, Ehrlichkeit: Mitteilungder eigenen Gefühle und MeinungenMut und InitiativePräsenz, AnteilnahmeVerlässlichkeit: sich festlegenVerletzlichkeitFürsorglichkeitVerspieltheit, gemeinsamer Genuss.Neues VertrauenaufbauenDas Ziel einer Paartherapie ist nicht inerster Linie, eine bessere Sexualität zuentwickeln. Der Sexsüchtige ist so angefülltmit Bildern und Vorstellungen, dass keinereale Frau auch nur annähernd seinen Erwartungenentsprechen könnte.Viel eher geht es darum, Vertrauen wiederherzustellen, Grundlagen für gemeinsamesReden und normale Gemeinschaft.Es geht darum, neu eine ganzheitliche Intimität(S. 32) herzustellen. Das ist harteArbeit.VerbindlichkeitEntschlossenheit, neu anzufangen, derBeziehung wieder eine Chance zu geben.Dies darf nicht auf Gefühlen beruhen, sondernist eine Entscheidung, die Schritt umSchritt in die Tat umgesetzt wird.WachstumVertrauen muss wachsen. Haben Sie Verständnis,dass verletzte Gefühle Zeit zumHeilen brauchen. Fordern Sie von Ihrer Fraunicht sofortige Vergebung. Sie erhalten mitzunehmender Verlässlichkeit auch mehrVertrauen.34


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTPaartherapie bei InternetsuchtFortsetzung von Seite 34Miteinander redenNehmen Sie sich Zeit zum Reden. TeilenSie sich mit, auch in ihren Schwächen oderin den Bereichen ihres Lebens, derer Sie sichschämen. Kommunikation muss nicht immerin die Tiefe gehen: Erzählen Sie auchkleinere Details aus Ihrem Alltag, machenSie Ihr Leben und Erleben transparent.VerlässlichkeitVertrauen wächst, wenn Verhalten auchüber längere Zeit verlässlich ist. In derSuchtsprache heißt dies: «Trocken bleiben».Halten Sie Versprechungen, auch ganz gewöhnlicheTermine, etwa wann Sie nachHause kommen, oder wann Sie ihrem Sohnbeim Fussballspiel zuschauen werden.MitgefühlWenn Sie Ihre Beziehung durch IhreSucht geschädigt haben, so hat dies IhrerFrau tiefe Verletzungen zugefügt. Dasbedeutet:1. Erwarten Sie nicht, dass Heilung überNacht geschieht.2. Seien Sie darauf gefasst, dass mancheDinge plötzlich eine schmerzliche Erinnerungauslösen.3. Seien Sie willig, den Schmerz IhrerFrau anzuhören, auch wenn er für Sie bereits«Schnee von gestern» ist.Die Kontrolle aufgebenEine Frau kann Ihren Mann nicht durchständige Kontrolle bei sich behalten. Letztlichist der Partner für seine Treue selbstverantwortlich. Marc Laaser schreibt: «Wirmüssen willig sein, unsere Beziehung zu verlieren,um sie zurück zu erhalten. Wir müssendie Sorge um unseren Partner Gott überlassenlernen.» (S. 121)Wieviel Verantwortungübernimmt die Ehefrau?Dies wird unterschiedlich beantwortet.In einem Interview sagt der BernerArzt und Pastor, Dr. Wilfried Gasser:«Die Frau sollte in jedem Fall wissen,wenn ihr Mann mit Pornografie zu kämpfenhat. Aber Rechenschaft gegenüberoder Kontrolle durch die Ehefrau ist nichtunbedingt ratsam. Unsere Frauen erlebenSexualität ganz anders und könnenmanches am Wesen männlicher Sexualitätnicht nachvollziehen. Der Pornografiekonsumdes Mannes kann für sie sehrdramatisch sein. Das hilft aber nicht, weilsich ein Mann dann noch mehr schämtund stärker in die Heimlichkeit gedrängtwird.»Ein Ehepaar hat die Problematik wiefolgt gelöst:«... ich brauche eine Frau, die Bescheidweiß, womit ich kämpfe und mit der ichklare Absprachen treffen kann. Konkretheißt das:− Meine Zeit im Internet ist beschränktauf die Zeit vor 22 Uhr, wenn meineFrau noch wach ist.− Wenn ich im Internet surfe oder e-mails abrufe, bin ich nicht allein imstillen Kämmerlein.− Unser Fernseher wurde mit dem Einverständnismeiner Frau verbannt.− Meine Frau bekommt die Oberhoheitüber alle Kataloge, die für mich schonimmer eine Art Einstiegsdroge waren.(aus Salzkorn 2/2004, www.ojc.de)35


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTSeelsorge: Vom Durst, der bleibt«WAuszüge aus einem Interview mit Rudi Böhm, Familienberaterund Seelsorger bei der OJC in Reichelsheim:ir alle kommen auf die Welt miteinem unbändigen Durst nach völligemEinssein. ‹Unruhig ist unser Herz, bises Ruhe findet in Gott›, sagt Augustinus.Doch diese Unruhe ist die ‹Wurzel allerPilgerschaft›, eine Sehnsucht, die über unsselbst hinausweist. Wir sind geschaffenaus Liebe, um zu lieben. Und wir werdennicht eher zur Ruhe kommen, bis wir sie alsGegenüber finden und das Empfangene anandere weitergeben. Diesem Geheimnis giltes auf die Spur zu kommen. Es wird uns mitdem persönlich erlittenen Mangel immermehr aussöhnen.Was treibt einen Menschen dazu, sichpornografische Bilder anzuschauen?Es ist dieses noch innere Ungesättigtsein,das ihn zum Suchen und irgendwannin die Sucht treibt. Die Bildersuchthat nichts mit seiner realen Partnerbeziehungzu tun. Selbst die in seiner Vorstellungtollste Partnerin würde ihn letztlichnicht zufriedenstellen können. Die Gründeliegen tiefer.Welche Fragen helfen, die Gründe zu finden?Erst einmal frage ich: Was schaust duan? Welche Bedeutung hat das, was du diranschaust? Wie fühlst du dich, während dudas tust? Wie fühlst du dich danach? Istdas, was du angeschaut hast, das, was dudir erhofft hattest? Alles Fragen, die helfen,genau hinzuschauen. Er selbst mussdie Antwort finden: Ich bediene mich irgendwelcherMittel, um etwas zu bekommen,was letzten Endes meinen Durst nichtMit freundlicher Genehmigung.Ganzes Interview: www.ojc.destillt. Das führt dann zur Frage: Wo findeich innerlich Ruhe und wie?Was rätst Du einem Betroffenen, der ausdiesem Teufelskreis aussteigen will?Vor allem Nüchternheit! Das heißt, dieWirklichkeit sehen, wie sie ist, und alle Verharmlosungen,Ausreden und Rechtfertigungenhinter sich lassen. Das ist der ersteSchritt zur Heilung. Das konfrontiert michmit Scham, ich erlebe mich an dieser Stelleschmutzig, unwert, versagend. Darumist der Zuspruch wichtig, dass alles, wasich getan habe, meinen Wert nicht in Fragegestellt. Ich bin für Gott dadurch keinbißchen weniger liebenswert.Die Unterscheidung zwischen Sündeund Sünder ist hier ganz wichtig. Gott hasstdie Sünde, weil sie uns zerstört; aber er liebtden Sünder, der auf seine rettende Liebe angewiesenist, und er wird seinem Geschöpfseine Liebe – durch alle Verstrickung hindurch– zukommen lassen. Im nächstenHeilungsschritt muss der Mensch die Sündevor sich selber wahr sein lassen und erkennen,wohin er geraten ist. Dabei ist es sehrwichtig, in den Abgrund der eigenen Seelezu blicken, genau hinzuschauen. Nicht davorzurückzuschrecken oder sich dafür zuverurteilen, sondern den Schmerz im LichteGottes zu spüren.36


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTSeelsorge bei InternetsuchtSexualität wird in der Bibel nicht losgelöstvon der Beziehung gesehen, ja sie wirdsogar als Ebenbild der Beziehung Gotteszum Menschen beschrieben.Die rauschähnlichen Phänomene des Orgasmushaben selbst für nicht-religiöseMenschen eine «spirituelle Dimension».In der christlichen Seelsorge werden folgendeAnnahmen gemacht:1. Sexualität ist Teil einer festen Paarbeziehung.2. Sexualität ist eingebettet in eine Grundhaltungdes Respektes, der Gegenseitigkeitund der Liebe.3. Perversionen der Sexualität werden geradeim Alten Testament ausführlich beschriebenund deutlich abgelehnt.4. Masturbation als Akt per se wird an keinerStelle ausdrücklich verurteilt.5. Außereheliche Sexualität («Hurerei»),die Betonung der visuellen Reize («Augenlust»),das Begehren einer anderenFrau – also all diejenigen Aktivitäten,die bei der Internet-Sex-Sucht eine Rollespielen – werden deutlich als «Sünde»,also als Abweichung vom guten und geradenWeg bezeichnet. Mehr noch: Siehemmen das geistliche Leben und dieBeziehung zu Gott.6. Seelsorge begegnet dem Betroffenen inder Liebe Gottes: Sie verurteilt nicht diePerson, aber sie konfrontiert das falscheVerhalten und Denken.7. Ziel der Seelsorge ist es, dem Betroffenenzu helfen, sein Fehlverhalten offenzu legen, Vergebung zu erhalten undein neues Verhalten einzuüben. Hier verbindetsich das Anliegen von Psychotherapieund christlicher Lebensberatung.«Und führe unsnicht in Versuchung,sondern erlöse unsvom Bösen.»aus dem Vater UnserDämonische kräfte?Der sexuelle Trieb wird manchmal sointensiv, destruktiv und von aussen aufgedrängterlebt, dass der Trieb als «dämonischeMacht» erlebt wird. Viele pornografischeDarstellungen im Internetsind derart menschenverachtend und entwürdigend,dass sie selbst im übertragenenSinne als «diabolisch» betrachtetwerden können.Doch was bedeutet dies für die Seelsorgemit Betroffenen? In manchen Seelsorgemodellenwird dieses Erleben konkretin Zusammenhang mit einer «dämonischenBelastung» gebracht. So nenntein Autor, Charles H. Kraft neben ca. 100anderen Dämonen (darunter auch «Nervosität»oder «Bulimie») folgende: «Wollust,Pornografie, Homosexualität, Masturbation.»Die Lösung sei ein «Befreiungsdienst»,also ein mehr oder weniger umfangreichesGebet um Befreiung von dämonischenKräften, das bis hin zum Exorzismus gehenkann.Auch wenn ein solches Ritual als hilfreicherlebt werden kann, so wird dieDämonisierung der Sexualität häufigals geistliche Bagatellisierung der eigenenVerantwortung missbraucht. GeistlicheHilfe ohne umfassende Veränderungwird keine Lösung für eine Online-Sex-Sucht sein.37


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTDer Kampf um den AusstiegErmüdender KampfDie Betroffenen erleben den Kampf mitder Sucht in ihrem Auf und Ab oft als sehrermüdend. Der entscheidende Punkt imKampf um Befreiung, so ein Betroffener,«ist die Ehrlichkeit vor mir selbst, vor meinenVerbündeten und vor Gott. Sobald meineAufmerksamkeit im Kampf nachließ,wurde ich anfällig.Kommt her zu mir, alle, die ihrmühselig und beladen seid,ich will euch Frieden schenken.Nehmt auf euch mein Joch undlernt von mir... so werdet ihr Ruhefinden für Eure Seelen.Matthäus 11,28–30Wenn ich ‹angefallen wurde›, gab es Situationen,in denen ich Kompromisse schloss– sofort nahm die Ehrlichkeit ab. Ich musstelernen, mir einzugestehen, dass es Dingegibt, die ich attraktiv und stimulierendfand, die aber doch nicht gut für mich sind.»Heilung ist WachstumBefreiung von einer Sucht geschiehtmeistens nicht auf einen Schlag. Es musssich viel mehr verändern als nur das Suchtverhalten.Im Kampf mit der Sucht verändertsich der Mensch als Ganzes.Heilung durch ZerbrochenheitMark Laaser schreibt: «Heilung (Recovery)von Pornografie und anderen sexuellenSünden ist für diejenigen, die geistlichund emotional gebrochen sind. Sie istfür die Müden, für die Beladenen, für dieAngstvollen, für die Einsamen. Sie ist nichtda für die, die meinen, sie könnten es allein.Wir alle brauchen Gott und einander.»«Aus diesem Grund glauben wir, dassPastoren, die eine geistliche Erneuerungund Heilung von sexueller Sucht erlebt haben,wirksamere Pastoren werden können.Sie werden fähig sein, andere zu tröstenund ihnen in ihrem Wachstum zu helfen,weil sie selbst erlebt haben, was Trost undWachstum ist.»Vom Umgang mit Rückfall«Neben allen Schritten, die ich vorangehe,gibt es auch das Fallen. Oder meinebewusste Abkehr; dann kümmert michGottes Verheißung nicht, ich schaue bewusstweg und treffe die Entscheidung,dass er mir jetzt egal ist, dass ich jetzt die‹Erfüllung› will und zwar sofort. Die vermeintliche‹Erfüllung› ist jedoch schnellverflogen, und ich muss dann diese Entscheidungmühsam wieder zurücknehmen,das heißt ans Licht bringen, voreinem Freund als Sünde bekennen. Solangeich das nicht tue, geht die durchVerharmlosung vernebelte Spirale weiterabwärts.»38


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTHindernisse auf dem WegDie Bewältigung der Internet-Sex-Suchtist auch mit Hilfe des Glaubens kein einfacherWeg.Psychologisch spielen sich beim Rückfalldie gleichen Phänomene ab wie beinicht-religiösen Menschen: Scham – Verzweiflung– Aufgeben des Kampfes – Lebenmit dem «inneren Schweinehund».ODER ABER: erneuter Anlauf – verbesserteRechenschaft / Aussenkontrolle – zunehmendlängere Phasen ohne Rückfall.Der Glaube kann komplizierend wirken,aber auch helfend und unterstützend.«Ein Gerechter fälltsieben Mal und stehtwieder auf» Sprüche 24,16Glaubenskonflikte bei RückfallFür den gläubigen Menschen ist einRückfall nicht nur ein «Ausrutscher». Nebendem allgemeinen Schamgefühl ist auch dieBeziehung zu Gott gestört. Das Gefühl derinneren Beschmutzung kann sich steigernbis zur Überzeugung, Gott könne einemmit diesem Laster nicht mehr annehmenund nicht mehr vergeben, ja zur Angst vorder «ewigen Verdammnis».Der Glaube als HilfeBiblische Texte enthalten viele ermutigendeWorte der Vergebung und der Hoffnung.,ja auch Geschichten von Menschen,die trotz ihres Versagens neu angefangenhaben und gerade deshalb von Gott gebrauchtwerden konnten. Hilfreich kannauch die Unterstützung von Mitchristensein, um im positiven Sinne eine Kulturder Rechenschaft zu pflegen.Ein ermüdender Prozess«Ich kann keine triumphale Geschichteerzählen, die von kontinuierlichenSchritten des Loskommens berichtet,sondern eher von einem langwierigenund ermüdenden Prozess. Auf der geistlichenEbene geht es mir vor allem darum,mein Vertrauen darauf zu setzen,dass tatsächlich Gott allein meine Sehnsuchtstillt. Ganz real. Noch nicht vollkommenund nicht immer so, wie ich esmir vorstelle, aber doch ganz real.Die Voraussetzung ist, dass ich michnicht selbst dafür verantwortlich mache,dass meine Sehnsucht gestillt wird, sondernvon Gott erwarte, dass er auf meinVertrauen antworten wird. Das kann heißen,warten zu müssen, die Spannung tatsächlichauszuhalten. Mit der Zeit habeich erlebt, – nicht immer, nicht automatisch–, dass der Drang, mich mit Stimulierendemselbst zu ‹versorgen›, nachlässt.Ich erlebe andere Arten von Entspannung,entdecke Schönes, für das ich bishernoch gar keinen Blick hatte. Mir gehtes darum, mein Vertrauen auf Jesus alleinzu setzen und eben nicht auf ihn UNDmeine Weise, mich zu versorgen.Doch obwohl ich regelmäßig die Stillesuche, mein Herz und mein Schicksalihm anvertraue und auch wirklich Trost,Zuspruch und Bestätigung erlebe, bin ichnicht auf der sicheren Seite. Eigentlich imGegenteil, die Unsicherheit verstärkt sich,da ich viel stärker die Kräfte zu spürenbekomme, die mich in eine andere Richtungzerren möchten.»Die Zitate stammen aus einem Lebensbericht in derZeitschrift «Salzkorn» der OJC 2004) – www.ojc.de39


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTInternetsucht am ArbeitsplatzFormulierung in einem Firmenhandbuch(Auszug)Private Nutzung des InternetsDie private Nutzung des Internets, E-Mail und der Telefonie ist erlaubt, soferndie dafür eingesetzte Arbeitszeit und Serverkapazitätvernachlässigbar sind. Dieprivate Nutzung darf die Erfüllung derzugewiesenen Aufgaben nicht beeinträchtigenund ist daher auf das absolut Notwendigezu beschränken.Regeln zum Gebrauch von E-Mail / Internet/ TelefonieDer Zugang zum Internet ist keinRechtsanspruch und kann jederzeit entzogenwerden. ....Herunterladen von Informationen(Downloading)Den Benutzern ist es grundsätzlich erlaubtDokumente aus dem Internet herunterzuladen.Nicht erlaubt ist der Downloadoder die Installation folgender Applikationen:– Pornografisches Material (auch nichtfür private Zwecke!)– Internet-Radio/Internet-TV (und andereStreamingapplikationen)– Chaträume .... (weitere im Originaltext)Kontrollen und ProtokollierungUm die notwendigen Sicherheitsanforderungenzu gewährleisten, prüft die Unternehmensleitungoder eine von ihr bezeichneteStelle periodisch die zeitlicheBenutzung des Internets. Bei Verdachtauf Verstoß gegen diese Weisung bleibenweitere Prüfungen unter entsprechenderVorankündigung vorbehalten.Juristische AspekteGrundsätzlich gilt, dass der Arbeitgeberweder Mails noch Internet-Nutzung umfassendüberwachen darf. Eine totale (geheime)Überwachung der Beschäftigten istunverhältnismäßig und entspricht nichtden Vorgaben des Datenschutzes.Der Arbeitgeber hat aber das Recht, zubestimmen, welche Inhalte Arbeitnehmerauf ihrem Computer einsehen dürfen. Erdarf auch entsprechende Filtersoftwarezum Einsatz bringen.Der Arbeitgeber hat das Recht, Einsichtin betriebliche e-Mails zu nehmen. Privatee-Mails sind aber wie die Privatpost zu behandeln.Vor der Einrichtung eines umfassenderenKontrollsystems ist (in größeren Betrieben)der Betriebsrat zu informieren.Eine weitere Möglichkeit ist der Abschlusseiner Betriebsvereinbarung, diedie private und dienstliche Nutzung desInternets regelt. Diese muss vom Arbeitnehmerunterschrieben werden und dientals Grundlage für weiter gehende Kontrollenund allfällige Sanktionen (vgl. Kasten).Auszüge aus Leitlinien der Firma EKU AG,mit freundlicher Genehmigng.40


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTAcht Tipps für Internetsüchtige1. Gestehen Sie sich ein, dass Ihre«Gewohnheit» eine SUCHT ist,die entschlossenes Handeln erfordert.2. Denken Sie an die Schicksale derFrauen und Kinder, die auf denBildern zu sehen sind. Konsumentenmachen sich mitschuldigam modernen Sklavenhandel undlebenslanger Traumatisierung.3. Verhindern Sie, dass Sie sich indie Websites einloggen können,die ihre Sucht unterstützen. InstallierenSie eine Filtersoftwareund blockieren Sie kostenpflichtigeTelefonnummern.4. Werden Sie transparent: Teilen Sieihre Sucht Ihrem Ehepartner odereinem Seelsorger mit.5. Verpflichten Sie sich zur Rechenschaftund unterstützen Sie diesedurch entsprechende Software.6. Stellen Sie Ihren Computer in einenoffen zugänglichen Raum undverzichten Sie bewusst darauf, dieTür zu schließen.7. Wenn es Ihnen nicht gelingt, mitdiesen Massnahmen den pathologischenInternetkonsum zu unterbrechen,so verzichten Sie füreinige Monate bewusst auf denComputer («Reiss Dein Augeaus...»). Sperren Sie Ihre Kreditkarte(oder lassen Sie die Abrechnungvon Ihrem Rechenschaftspartnerregelmäßig einsehen).Ein Rabbinisches Gebet«Möge es Dein Wille sein, dass wir unsin Frieden ins Internet hineinklicken, inFrieden surfen und die gesuchte Websitein Frieden erreichen.Verabschiede uns in Frieden aus demInternet mit möglichst geringen Kostenund bewahre uns vor Viren und vor allerleiMüllwebseiten, Unzüchtigkeit undGötzendienst, die in der virtuellen Weltexistieren.Segne jeden Mausklick und lasse unsGnade finden vor dem Bildschirm. Höredie Stimme unseres Geldbeutels, denn Duerhörst Gebet und Bitten, und schütze unsvor Zeitverschwendung.»Verfasser unbekannt. Dieses Gebet sollte laut Rabbinernvor jedem Eintritt ins Internet gebetet werden.8 Besuchen Sie eine Selbsthilfegruppe,um zusammen mit anderenSüchtigen zu lernen, wie Sie IhrLeben neu gestalten können.41


DR. SAMUEL PFEIFER: INTERNET-SUCHTLiteraturDie folgenden Bücher enthalten weitere Informationenzur Thematik dieses Arbeitsheftes.Im Rahmen der knappen Übersicht ist es jedochnicht möglich, alle Aspekte ausreichendzu beleuchten.Arterburn S. u.a.: Jeder Mann und dieVersuchungen. SCM Hänssler.Batthyány D. & Pritz A: Rausch ohne Drogen:Substanzungebundene Süchte.Springer.Bergmann W. & Hüther G.: Computersüchtig.Kinder im Sog der modernenMedien. Walter.Carnes P.: In the Shadow of the Net. BreakingFree of Compulsive Online SexualBehavior. Hazelden.Deling W.: Der sexte Sinn – Ein Lebensbericht.Brunnen.Earle R.H. & Laaser M.: Wenn Bilder süchtigmachen. Brunnen.Farke G.: OnlineSucht – Wenn Mailen undChatten zum Zwang werden. Kreuz.Grüsser S. & Thalemann C.N.: Verhal-Internet-Ressourcenwww.onlinesucht.de: Eine Fülle von sachlichenInformationen und Hilfestellungenfür Menschen mit Onlinesucht.www.porno-frei.ch: Informationen undLinks zum Thema.www.kindersicherung.de: Kontrolle fürden Internetkonsum von Kindern undErwachsenen.www.ncsac.org: National Council on Se-tenssucht. Diagnostik, Therapie, Forschung.Huber.Hoyer J. & Kunst H. (Hrsg.): PsychischeStörungen bei Sexualdelinquenten.Pabst.Jongsma A.E. & Budrionis R.: The SexualAbuse Victim and Sexual OffenderTreatment Planner. Wiley.Pahl C.: «Voll Porno!»: Warum echte Kerle«Nein» sagen. francke.Petry J.: Dysfunktionaler und pathologischerPC- und Internet-Gebrauch.Hogrefe.Pfeifer S.: Der sensible Mensch. Lebenzwischen Begabung und Verletzlichkeit.SCM Hänssler.Roth K.: Sexsucht. Krankheit und Traumaim Verborgenen. Ch. Links Verlag.Schirrmacher T.: Internetpornografie: ...und was jeder darüber wissen sollte.Hänssler.Seekamp H.: Endlich leben. Brunnen.Stoller R.J.: Perversion – Die erotischeForm von Hass. Psychosozial.Willi J.: Psychologie der Liebe. Klett-Cotta.xual Addiction.www.kindersindtabu.de: Sachliche Informationenüber Kinderpornografie.www.sexhelp.com: Informationen überSeminare mit Dr. P. Carnes.www.endlich-leben.net: Hinweise aufSelbsthilfegruppen der 12-Schritte-Bewegung.www.offenetuer-zh.ch: Hinweise aufSelbsthilfegruppen in der Schweiz.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.42


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINALTERNATIVEMEDIZINSpannungsfeld Alternativmedizin,Psyche und GlaubeV


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINInhaltZwischen Hausmittel und Esoterik.............................................................. 1Methoden der alternativen Medizin ...........................................................3Die Herausforderung der alternativen Medizin ........................................ 4Was macht Alternativmedizin attraktiv? .................................................. 5Vier Grundannahmen .................................................................................. 6Spannungsfeld Alternativmedizin, Psyche und Glaube ............................7Was ist Esoterik? .......................................................................................... 8Gesundheit und Krankheit .........................................................................11Akupunktur - Mit Nadeln zum inneren Gleichgewicht?.......................... 12Reiki, Aromatherapie, Polarity ..................................................................14Bioresonanz ................................................................................................ 15Kinesiologie................................................................................................. 16Feldenkrais Methode und Alexandertechnik ........................................... 17Edelsteine und Amulette............................................................................ 18Geistheilung................................................................................................. 21Bachblüten - Heilung für die Seele?.......................................................... 22Phytotherapie oder Homöopathie ............................................................25Erklärungsmöglichkeiten............................................................................27Der Placebo-Effekt..................................................................................... 28Anwendung bei psychischen Störungen ................................................. 30Spezifisch wirkende Pflanzen ....................................................................32Konflikte zwischen Alternativmedizin und Glaube................................ 34Die Frage der «dämonischen Belastung» ..................................................35Was können wir von der Alternativmedizin lernen? ................................37Vom Umgang mit Schwachheit und Krankheit ...................................... 39VI


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINZwischen Hausmittel und Esoterik«Hoch ist da Frau Böck zu preisen!Denn ein heisses Bügeleisen,Auf den kalten Leib gebracht,Hat es wieder gut gemacht! »Die Zahl der Menschen, die sich mit Methodender alternativen Medizin behandelnlassen, steigt ständig. Neben Heilpraktikernwenden auch immer mehr Ärztealternative Heilmethoden an, vom Kräuterheilmittelbis zur Laser-Akupunktur. Dabeiwerden nicht nur körperliche Krankheitenwie Rheuma oder Krebs behandelt. Immerhäufiger nehmen verschiedene Methodenfür sich in Anspruch, bei psychischen Leidenhelfen zu können.Mit dem Schwerpunkt psychischer Störungenund dem Spannungsfeld von Alternativmedizin,Psyche und Glaube soll sichdieses Seminarheft beschäftigen. Es sollInformationen vermitteln und anregen zureigenen Auseinandersetzung mit den Ansprüchenund (Heils-)Botschaften der Alternativmedizin.Dabei handelt es sich längst nicht mehrum die Sammlung bewährter Hausmittelaus Großmutters Zeiten. Häufig sind dieMethoden durchdrungen von östlich-mystischemGedankengut. Es geht nicht mehrnur um natürliche Heilung, sondern umdie Vermittlung alter Mysterien im neu-Alternative Medizin istwirksam und hilfreich,wenn sie in derrichtigen Weise angewendetwird.Wo aber sind die Grenzen?en Gewand esoterischer Spiritualität. Dadurchentstehen gerade für Menschen, diesich dem christlichen Glauben verpflichtetfühlen, große Spannungsfelder.Wie kann man die verschiedenen Methodenunterscheiden? Welche Alternativengibt es? Mehr denn je braucht es Weisheit,diejenigen Methoden und Mittel anzuwenden,die eine natürliche Basis haben, ohneaus esoterischen Quellen zu schöpfen.In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eineanregende Lektüre.Dr. med. Samuel Pfeifer1


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINZum NachdenkenDiskutieren Sie miteinander inGruppen:1. Was erwarten Sie von einer christlichenGanzheitsmedizin?2. Welche Unterschiede ergäben sich zurheute praktizierten Medizin?3. Welche biblische Grundlagen würdenSie heranziehen?..................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Alternative Diagnostik: Durch das Pendelsoll das richtige Medikament für einenPatienten ausgesucht werden. In der Mittedes Kreises befindet sich ein Löschblattmit einer Speichelprobe des Patienten.Das Pendel soll angeblich eine Entsprechungder «Schwingungen» des Speichelsund des richtigen Medikamentes finden.Phytotherapie: Arnika (unten) soll beiInfektionen eine heilende Wirkung entfalten...................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................2


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINMethoden der alternativen Medizin1. Diagnostische Methoden– Radiästhesie – Pendeln– Irisdiagnose– Biorhythmen– Aura (Kirlian’sche Photographie)– Bio‐Indikatoren– «homöopathisches Arzneimittelbild»– Muskeltest der Kinesiologie2. Physikalisch‐energetischeTherapiemethoden– Akupunktur und ihre Varianten– Edelsteine– Kupfer-Ringe, Abschirmgeräte, «Bio-Magnetwellen»– Mind-Machines– Bioresonanz-Modulatoren– Fuss-Reflexzonen-Massage– Kinesiologie und «Touch for Health»3. (Pseudo)biologische Therapiemethoden– Homöopathie– Bach-Blüten– Anthroposophische Medizin– Frischzellen‐Therapie– Neuraltherapie– Spurenelemente und Mega-Vitamine– Phytotherapie (Pflanzliche Heilmittel)– Diäten, Saftkuren4. Psychotechnische undmeditative Verfahren– Yoga und Meditation (TM, Zen, Reikietc.)– Bio‐Energetik und Primärtherapie– Rebirthing– Reinkarnationstherapie– Körperzentrierte Psychotherapie– Sophrologie– Alexandertechnik, Rolfing, Feldenkrais– Visualisierung (Simonton)– Silva-Mind-Methode5. Geistheilung im engeren Sinne– Fernbehandlung– Besprechen, Magnetisieren– «Spirituelle Beratung» durch ein Medium– Geistoperationen (Philippinen, S-Amerika)– ChannelingOft kann eine Methode nicht nur untereine Rubrik gefasst werden. So enthält dieAnthroposophie sowohl Pflanzenmittel, diagnostischeMethoden, körperbezogeneTechniken und Meditationen.Im Rahmen dieses sehr begrenzten Seminarleitfadensist es nicht möglich, alleHeilmethoden, ihre Philosophie, ihre Anwendungund ihre kritische Gewichtungdetailliert darzustellen. Für eine Übersichtsei auf die einschlägigen Bücher verwiesen.Sehr viel Sachinformation enthält dasNachschlagewerk der Stiftung Warentest,«Die andere Medizin».3


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINDie Herausforderung der alternativen MedizinDie Herausforderung der alternativenMedizinDie Bewegung der alternativen Medizinist ein wichtiges Gegengewicht gegeneine unkritische Übernahme unsererwestlichen technisierten Medizin. EinigeStichworte:– Vermehrte Eigenverantwortung– Mißtrauen gegenüber Überbetonungvon Chemie und Technik– Sinnvoller Einsatz natürlicher Produkte– Ausgewogene Ernährung– Streßärmere LebensführungKritische Frage:Lassen sich diese Werte auchim Rahmen eines christlichenWeltbildes verwirklichen?Oder müssen wir uns kosmischenEnergien und esoterischenGeheimlehren öffnen,um im Rahmen des Möglichengesund zu leben?DiskussionWarum wenden Patienten alternativeHeilmethoden an?Befragung von 83 Krebspatienten amKantonsspital St. Gallen (Morant et al.1991):1. Der Wunsch, alles Menschenmöglichezu tun, um wieder ge sund zuwerden (59 Prozent).2. Der Wunsch, auch die psychischenKräfte zu mobilisieren (42 Prozent).3. Berichte von erfolgreichen Alternativbehandlungenbei anderen Patienten(34 Prozent).4. Der Wunsch nach einer «ganzheitliche»Behandlung (28 Prozent).5. Hoffnung auf eine «sanftere» Medizinmit weniger Neben wirkungen(22 Prozent).6. Enttäuschung durch die konventionelleKrankenhausmedi zin (8 Prozent).Diskutieren Sie in Gruppen:1. Wo sind Sie kritisch gegenüber der modernenMedizin?2. Welche Werte der alternativen Medizinfinden Sie positiv?3. Welche Mittel, Diäten, Entspannungsmittelfinden Sie hilfreich?4


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINWas macht Alternativmedizin attraktiv?1. Für unsere Gesellschaft:– Medizinkritik und Kostenexplosion imGesundheitswesen– Bio-Boom: «Zurück zur Natur!»– Renaissance der Esoterik2. Für die Patienten(besonders Chronischkranke)– Alternative Medizin gibt Hoffnung– Sie betont den eigenen Beitrag zurHeilung– Sie verspricht Wunder3. Für Christen:– Betonung der Ganzheit von Geist, Seeleund Leib– Religiöse Wortwahl4. Allgemein:Alternative Medizin spricht grundlegendeBedürfnisse und Wünsche des Menschenan:– Gesundheit und Wohlbefinden– Gesunde Nahrung– Sicherheit– Zuwendung– Seelenfriede– LebenssinnIn einer Zeit der Verunsicherung, der allgegenwärtigenInformation über Krankheitenund der explodierenden Gesundheitskostensehnen sich viele Menschen nach demBild einer guten alten Zeit, in der der Hausarztsich des Einzelnen annimmt und ihnganzheitlich betreut.Sehnsucht nach der guten alten Zeit: Albert Anker (1831 - 1910): Der Quacksalber (1879).5


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINVier Grundannahmen der alternativen MedizinDer Mensch und das Universumwerden von kosmischerEnergie durchflossen (Lebenskraft,Bioenergie, Chi,Prana, Gott)Krankheit entsteht durchein Energie-Ungleichgewichtbzw. durch störende Schwingungen,Zonen oder Stoffe,die den Fluss der Lebensenergiebehindern.Der Makrokosmos findet seineEntsprechung im Mikrokosmos.Beispiele:– Sterne – Schicksal (Astrologie)– Körper – Augen (Irisdiagnose)– Körper/Schicksal – Handfläche– Körper – Ohr / Fuß (Ohr-Akupunktur, Fuß-Reflexzonenmassage)Heilung ist die Wiederherstellungder Harmonie mitder kosmischen Energie, «Erlösung».Viele «ganzheitliche»Therapien versuchen dem Patientenfehlende kosmischeEnergie zu vermitteln oderdas Gleichgewicht der Energieströmewiederherzustellen.6


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINSpannungsfeld Alternativmedizin, Psyche und GlaubeEsoterischeErklärungHeilmittelSomaPsycheGlaubeObwohl viele Therapeuten der Alternativ-Szenein erster Linie organische Stoffe(wie z.B. Pflanzenextrakte) oder apparativeVerfahren (wie z.B. Akupunktur) verwenden,steht hinter ihrer Behandlung oftmalsauch eine esoterische Erklärung.Obwohl gesagt wird, es handle sich inerster Linie um eine neutrale Behandlungdes Körpers oder der Psyche, so verbindenviele Patienten letztlich die esoterischeWeltanschauung mit der Tatsache, dass ihnengeholfen wurde.Esoterisch orientierte Medizin ist deshalbzu einem wesentlichen Wegbereiterder neuen Religiosität in unserer Kulturgeworden.es hilft...weil...7


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINWas ist Esoterik?Esoterik bedeutet eigentlich eine Geheimlehrefür «Eingeweihte» mit demZiel Gesundheit, Wohlbefinden, Selbsterkenntnisund Sinnfindung. In der heutigenZeit überschwemmt allerdings eine schierunübersehbare Flut von Büchern, Kursenund Heilangeboten den Markt, um einstverborgene Vorstellungen und Riten freizugänglich zu machen.«Die esoterischen Heilsversprechenin säkularisierten Gesellschaftenweisen nicht nurWege zur Vergeistigung,sie sind vor allem ein Geschäft.Gebrauchsesoterikrichtet sich an das Ego,nicht an eine Gemeinschaft.»NZZ, 18./19. August 2001, S. 87In einer Übersicht über die aktueller Themenbereicheder Esoterik finden sich folgendeStichworte:– Astralkörper– Die Kraft des Atems– Chakra– Channeling– Erdstrahlen– feinstoffliche Energie– Fernheilung– Geistwesen– Karma– Kinesiologie– Kirlian-Fotografie– Lichtnahrung– Reiki– Reinkarnation– Spirituelle Körpererfahrung– Trance– Yin-Yang-Massage– Ein geheimes Tantra-Sex-Ritual– Ganzheitliches Heilen– Taoistische Übungen für das Herz– Energiearbeit mit Aura und Chakras– Energiearbeit mit Kristallen– Meditation– Spirituelle Hilfsmittel (Tarot, Pendel,Edelsteine usw.)– Magisches Hexenwissen– Mondmeditationen und -rituale– Wie Sie unendlichen Reichtum erlangen– Techniken des Positiven DenkensChakrasDie sieben Energiezentren des Körpers(vgl. S. 9).Zusammenfassend kann man sagen, dasses keinen Bereich der Magie, des Okkultenund des östlichen Mystizismus gibt,der nicht unter dem Stichwort der Esoterikvereinnahmt würde.8


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINEsoterik und neue ReligiositätAlternativmedizin prägtden GlaubenDie religiöse Landschaft in Mitteleuropaist in den letzten 30 Jahren durcheine neue Bewegung geprägt worden:die sogenannten «Neureligiösen». Siemachen etwa 12 Prozent der Bevölkerungin der Schweiz aus (ca. 30 Prozentin Deutschland), lehnen den christlichenGlauben bewusst ab und stellendie schnellstwachsende Gruppe unterden Religionen dar.Ihre Religiosität ist nach einer Studiedes Pastoralsoziologischen InstitutesSt. Gallen geprägt von «neureligiösenPraktiken» wie «Horoskope und Astrologie,Wahrsagen und Hellsehen,Körper– und Atemtherapie, Yoga, Pendelnsowie heilenden Einflüssen durchSteine oder durch Personen mit besonderengeistigen Kräften.»Quelle: Dubach & Campiche: Jeder ein Sonderfall?Religion in der Schweiz. Zürich; Der Spiegel Nr.25/1992.ChakrasDer Begriff der Chakras kommt aus demHinduismus und bezeichnet sieben Energiezentrenim Körper, durch die die Lebensenergie«Ch‘i» strömen soll. So symbolisiertdas Scheitel-Chakra die göttliche Energie-Ebene, das Stirn-Chakra die Psikräfte, dasHerz-Chakra die Liebe mit astralen Energien,das Nabel-Chakra die Gefühle oderdas Unbewusste und das Wurzel-Chakradie Sexualität.Psychische und körperliche Störungensollen zu Energieverschiebungen in diesenEnergiezentren führen. Um sie zu heilen,wird die Energie neu harmonisiert (z.B.durch «Meditation, geführte Traumreisen,Polarity, Pendelarbeit» – Zitat aus einemKursangebot).Esoterik macht Schlagzeilen: Die Untertitelsind kennzeichnend für die Esoterikszene:«Milliarden-Markt Glück & Gesundheit.Humbug oder Heilung?»Die Auraspielt eine zentrale Rolle in der Esoterik.Aura-Deuter behaupten, verschiedene Farbenzu sehen, die sie als bestimmte charakterlicheEigenschaften und Temperamenteinterpretieren. Viele Therapeutenverwenden den Begriff der «Aura», wenn sieden körperlichen und seelischen Zustandder erkrankten Person beschreiben. Hierbei«sehen» sie die farbige «Hülle», die angeblichunseren Körper umgibt. Die Farbe sollHinweise auf Art, Schwere und Lokalisationder Störung im Körper geben.«Eine wissenschaftliche Erklärung der Autraund ein Beleg ihrer Interpretation existierenjedoch nicht.»9


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINEsoterik: «Wer krank ist, hat selber schuld»Gesundheit, Glück und Wohlbefinden –dies ist oft das Credo der alternativenMedizin. Wer nur richtig denkt und lebt,wer sich richtig ernährt und richtig bewegt,der erlebt ganz natürlich die wohltuendeHarmonie mit dem Universum.Wer krank ist, so die verborgene Botschaft,«hat selber schuld, hat wahrscheinlichfalsch gelebt, falsch gedacht und nichtauf die Bedürfnisse des Körpers, der Seeleund des Geistes gehört. Er hat versäumt,die Harmonie herzustellen, die die Naturangeblich vorgesehen hatte.»«Wecke deine Fähigkeit,zum Heilungsprozess selbstbeizutragen und aktivieredeinen inneren Arzt.Dein Körperweist dir den Weg.»www.sicht-weisen.de/krankheit.htm«Jede Form von Schmerzen undLeiden vollkommen überflüssig»«Schmerzen und Leiden sind nur dasResultat von spiritueller Sturheit undspiritueller Faulheit spirituell zu lernenund vor allem lieben zu lernen.Schmerzen und Leiden jeglicher Artsind Beweis von Fehlern die du gemachthast.Fehler sind das Resultat von mangelnderFortbildung - auch und vorallem spirituelle Weiterbildung bringtFrieden, Liebe und Harmonie in deinLeben und führen zu Schätzen die ewiglichdauern und in alle Ewigkeit erhaltenbleiben. Nimm dir Zeit für das wirklichWichtige im Leben und du wirstwissen was du wie machen sollst, umkünftige Fehler zu vermeiden und somitkünftige Krankheiten, Schmerzenund Leiden zu verhindern und vorhandeneLeiden und Krankheiten in GottesLiebe aufzulösen.»Quelle: http://www.kriyayoga.comVerantwortlich für Krebs?In einer falsch verstandenen «Psychosomatik»wird selbst eine schwere körperlicheKrankheit, wie z.B. Krebs durch eine fehlgeleiteteseelische Energie erklärt. Die häufigstenUrsachen von Krankheiten seien Ärger,Groll und Schuldgefühle.Diesen müsse man mit positivem Denkenentgegen wirken, dann könne man sogarden Krebs besiegen. So behauptet deramerikanische Esoteriker Simonton: «DieKrebserkrankung ist ein Mittel, das derKörper anwendet, um den Menschen dermaßenzu schockieren, dass er die notwendigenUmstellungen vornimmt, diesen Gedankenzu akzeptieren.» Seine Strategie:Wenn ein Patient seine negativen Gefühledurch «friedvolle» ersetzt und sich ganzintensiv vorstellt, wie sein Tumor kleinerwird, dann wird er Besserung, ja sogar Heilungerfahren.Diskutieren Sie: Was ist diebiblische Sicht von Krankheitund Gesundheit?Weitere Informationen:Rosalind Coward: Nur Natur? Die Mythen der Alternativmedizin.Eine Streitschrift. Verlag Antje Kunstmann1995.10


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINGesundheit und KrankheitDefinition der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO):«Gesundheit ist ein Zustandvollständigen körperlichen,psychischen und sozialenWohlbefindens.»Trotz ihrer guten Absicht ist diese Definitionelitär und utopisch, da jeder Mensch inden genannten drei Bereichen immer wiedereinmal mit Schwierigkeiten zu kämpfenhaben wird. Aus diesem Grunde ist eineandere Definition der Gesundheit anzustreben,nämlich:Bedingtes Gesund-Sein:Gesund ist ein Mensch, der– mit oder ohne nachweisbareoder für ihn wahrnehmbareMängel seiner Leiblichkeit– allein oder mit Hilfe anderer– Gleichgewichte findet, entwickeltund aufrechterhält,– die ihm ein sinnvolles,– auf die Entfaltung seiner persönlichenAnlagen und LebensentwürfeeingerichtetesDasein– und die Erreichung von Lebenszielen– in Grenzen ermöglicht, sodass er sagen kann: mein Leben,meine Krankheit, meinSterben (nach Fritz Hartmann)Vier Aspekte des Krankheitserlebens:Was geschieht beim Menschen, der vonernsthafter Krankheit befallen wird?1. Das Erleben eigener Schwachheit, vonAusgeliefertsein, Hilflo sig keit, Ausgesetztseinim gnadenlosen Kampf mit Krankheit,Schmerz und Erschöpfung.2. Das Bedürfnis nach Zuwendung undHilfe, woher sie auch kommen mag.3. Der verzweifelte Wunsch, zu lebenund zu überleben, koste es, was es wolle.4. Die Frage nach dem Sinn seines persönlichenLebens, nach Ge rechtigkeit,Schuld und Zufall, nach den letzten Wahrheitendes Daseins, oft auch die Fra ge nachGott und seinem Wirken in dieser Welt.Eine einseitig technisierte Schulmedizin,aber auch eine rein somatischausgerichtete Alternativ‐Medizin kanndiesen Bedürfnis sen nicht gerecht werden.Auf der einen Seite fordern vielePati enten von der etablierten Medizinden Einsatz aller Mittel zur Wiedererlangungihrer Gesundheit. Wenndie Schulmedizin dann aber ihre Grenzeneingesteht, so wird dies oft alsAusdruck von Hilfs‐und Hoffnungslosigkeitge deutet, in deren Schattensich Patienten und ihre Angehörigennun auf den langen Weg nach der Suchevon Ge sundheit durch alternativeHeilmethoden aufmachen. In ihrer Notkann sie die Logik nicht trösten. DasVer sprechen von Hilfe und Heilungin der Alternativmedizin gibt ihnen– zu mindest vorder gründig – neu esVertrauen, das Kräfte mobilisiert undHoffnung weckt.11


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINAkupunktur - mit Nadeln zum inneren Gleichgewicht?Die Akupunktur ist ein gutes Beispielfür die Vielschichtigkeit alternativerHeilmethoden zwischen östlicher Grundphilosophieund therapeutischem Pragmatismus.Kaum eine andere Methode hatneben den pflanzlichen Heilmitteln sobreiten Eingang in die ärztliche Praxis gefundenwie die Akupunktur.Ausführliche Informationen über dieAkupunktur finden sich in vielen Büchern.So sollen hier nur die wesentlichen Fragenzur Unterscheidung (vgl. S. 37) gestelltwerden.herrscht auch unter den AkupunkteurenStreit über die richtige Anwendung.3. Ist die Wirksamkeit medizinischnachweisbar?In begrenztem Maße ja, bei klar umschriebenenSchmerzzuständen (vgl.oben). Bei psychischen Problemen und beifunktionellen körperlichen Beschwerdenist hingegen ein Wirksamkeitsnachweisnicht gelungen. Hier muss von einer Placebowirkungausgegangen werden. Die breite1. Geht die Methode geschichtlich aufesoterische Vorstellungen zurück?Ja. Sie gründet in den taoistischen Vorstellungenkosmischer Energie, die durchangebliche Meridiane in unserem Körperfließen soll. Das Einstechen der Nadeln solldas Gleichgewicht von Yin und Yang wiederherstellen.2. Lässt sich die Methode auch ohne okkultebzw. esoterische Modelle erklären?Ja. Forschungen haben gezeigt, dassbeim Einstechen der Nadeln zwei Mechanismenwirksam werden können:a) durch das Einstechen der Nadeln inHaut und Muskeln werden Schmerzreizeim Gehirn blockiert (Gate Control Theorie).b) es werden Stoffe (Endorphine) in derHaut, im Gehirn und im Rückenmark freigesetzt,die zu einer gewissen Schmerzlinderungund Beruhigung führen können.Diese Erklärung ist vor allem bei der Behandlungvon Kopfschmerzen und rheumatischenBeschwerden sinnvoll.Hingegen taugt sie nichts für die Behauptungder Meridiane, der Energiepunkteund vieler anderer Behauptungen. HierAnwendung der Akupunktur hat auch ihreGrenzen deutlicher als früher aufgezeigt.4. Erfolgt die Anwendung ohne die Vermischungmit okkulten bzw. esoterischenPraktiken?Das kommt sehr auf den Arzt oder Heilpraktikeran. Immerhin wenden heute vieleÄrzte die Therapie an, ohne sich große Hintergedankenüber die Philosophie zu ma-12


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINAkupunkturFortsetzung von Seite 12chen, die der Methode zugrunde liegt. Siesehen darin einfach eine Methode, die beica. einem Drittel der Patienten die Schmerzenohne den Einsatz von Medikamentenlindert. Weitere Anwendungsgebiete sinddie Raucherentwöhnung oder der Abbauvon Beruhigungsmitteln (mit wechselhaftemErfolg).Es darf aber nicht verschwiegen werden,dass es auch viele Ärzte und Heiler gibt, diedie Akupunktur ganz offen mit anderenesoterischen Praktiken vermischen.Akupunktur bei DepressionEine Forschergruppe der PsychiatrischenKlinik der Universität Mainzhat 70 Patienten mit Depression in dreiGruppen aufgeteilt. Alle erhielten dasAntidepressivum Mianserin (Tolvon),sowie die übliche Betereuung auf einerStation. Die Gruppen unterschiedensich wie folgt:Gruppe1: Mianserin plus «Ganzkörper-Akupunktur»,Gruppe 2: Mianserinplus «Plazebo-Akupunktur», Gruppe3: Medikament allein.Resultate: Patienten mit zusätzlicherAkupnktur besserten sich signifikantbesser als Gruppe 3. Es bestand allerdingskein Unterschied zwischen echterund Placebo-Akupunktur.Schlussfolgerung: «Die Ergebnisseder Studie deuten darauf hin, dass derEffekt der Akupunktur unspezifisch istund letztlich auf die Zuwendung, zweimalwöchentlich für eine halbe Stundezurückzuführen sein könnte.»Nervenarzt 69:961-967 (1998).Akupunktur bei SchmerzenEine Forschergruppe der UniversitätsklinikGöttingen hat 131 Patientenmit chronischen Schmerzen der Lendenwirbelsäuleuntersucht. 20 Akupunktursitzungenüber einen Zeitraumvon 3 Monaten in Kombination mitKrankengymnastik führten zubesserenBehandlungsergebnissen als einealleinige Krankengymnastik.Der Effekt ließ allerdings bald nach.Zudem erwies sich eine so genannteSchein-akupunktur, bei der die Nadelnweniger tief und neben die klassischenchinesischen Akupunkturpunkte gesetztwurden, als nahezu gleich wirksamwie reguläre Akupunktur.Schlussfolgerung: Akupunktur bewirktbei der Behandlung chronischerSchmerzen zwar kurzzeitige Besserungen,die jedoch bei längerer Beobachtungnicht stabil bleiben. Weiterhinscheint der Plazebo-Effekt bei derWirksamkeit der Akupunktur eine bedeutsamereRolle als spezifische Heilwirkungenzu spielen. cochrane.de 200113


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINReiki, Aromatherapie, PolarityIn der alternativen Szene werden vielfältigeFormen von Massage und Körpertherapieangeboten. Nicht alle sind im gleichenMaße esoterisch begründet. Manche(wie z.B. die Feldenkrais-Methode) glauben,dass durch die richtige Körperhaltung aucheine gesunde psychische Verfassung entstehe(ohne energetische Konzepte).Andere bauen einfache Suggestionen ein(ähnlich dem Autogenen Training), die meistenaber schöpfen ganz klar aus östlichenQuellen. Die folgenden Methoden sollenBeispiele für diese Vielfalt sein:ReikiIn einem Kursprospekt ist Folgendes zulesen; «Reiki ist ein japanischer Begriff undsteht für universelle Lebensenergie, göttlicheWeisheit, allumfassende Liebe usw.Besser formuliert, ist Reiki ein System,das diese allbelebende Energie verstärktströmen lässt. In der einfachsten Form geschiehtdies durch Handauflegen in bestimmtenReihen– und Positionenfolgen.Sowohl für den Kanalisierenden als auchfür die Empfangenden ist das eine ziemlichangenehme Erfahrung: meist sehr entspannendund lösend.»Reiki kann nur von einem Meister aneinen Schüler weitergegeben werden. Ineinem Ritual wird der Körper des Schülersfür die Aufnahme «kosmischer Energie» geöffnetund anschließend wieder versiegelt,so dass die aufgenommene Energie ständigverfügbar bleibt. In Kursen erfolgt einesogenannte «Einweihung» in mehrerenGraden, während derer man lernt, die unsumgebende «göttliche» Energie zu bündelnund in den eigenen Körper strömen zu lassenoder beim Hinausströmen auf andereKörper zu übertragen.AromatherapieGerüche sind wohltuend. Diese Erfahrungwird seit der Antike genutzt. In derAromatherapie werden aber ganz spezifischeZusammenhänge zwischen Gerüchen,heilenden Wirkungen und spirituellenEinflüssen hergestellt.Den hier verwendeten ätherischenPflanzenölen werden zahllose medizinischeund besonders auch psychotherapeutischeHeileffekte zugeschrieben. Entsprechenddem «höheren Wesen» der Pflanze,aus der sie hergestellt werden, kommtden Ölen angeblich eine ganz spezifischeHeilwirkung zu:Kamillenöl soll helfen beim «Annehmendes eigenen Schicksals», Rosen- und Geranienöldabei, «seelischen Schmerz loszulassen».Zur Behandlung wird der Klientmit verschiedenen Pflanzenölen massiert,wobei meist die Verlaufslinien bestimmter«Energie-Meridiane», wie sie aus der Akupunkturoder aus dem Shiatsu bekanntsind, beachtet werden.Die in Duftlampen verströmten Öle sollenzudem auf der «feinstofflichen» Ebenebei Ängsten, Spannungen und Depressionenhilfreich sein.14


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINBioresonanzDie Bioresonanz basiert auf die Theorie,dass jede Substanz neben ihrer stofflich-chemischen auch eine nicht-materielle«ultrafeine Schwingung» besitzen soll. Diechemischen Vorgänge im Körper würdendurch diese Schwingungen gesteuert. DieTheorie wird mit komplizierten wissenschaftlichtönenden Begriffen erklärt.Durch verschiedene Belastungen könneder Körper aus dem Gleichgewicht geraten,was sich in negativen Schwingungenniederschlage, die dann Krankheiten auslösten.Oft wird die Auslösung als «Allergie»beschrieben, obwohl die Symptomeeiner medizinischen Allergie nicht erfülltsind. Mehr Information: www.martinpletscher.ch.Schwingungen «löschen»??Solche elektromagnetischen Wellenseien mit konventionellen Methoden nichtmehr nachweisbar. Das BICOM Gerät könnejedoch diese Schwingungen des Patientenüber zwei Elektroden in der Hand und einKabel aufnehmen. Das Gerät erkenne diekrankhaften Frequenzen und könne diesemit Hilfe von Metallen Edelsteinen und vonFarben in positive Schwingungen «invertieren»(ins exakte Spiegelbild verwandeln)Polaritätstherapie (Polarity)Polarity geht davon aus, dass der Körperdes Menschen in verschiedenen Schaltkreisenvon kosmischer Energie durchzogenwird, die wie elektromagnetische Wellenzwischen jeweils zwei Polen fließen. Anhandeiner «Magnetfeldkarte» können positiveund negative Felder abgelesen werden.Aufgabe des Therapeuten ist es, durchHandauflegen die Energieströme zu harmonisieren.und sie in den Körper als sogenannte Therapieschwingungenzurücksenden. Daraufhinwürde die für die pathologische Wellenverantwortliche Krankheit «gelöscht» ...So könnten angeblich fast alle Krankheitengeheilt werden. Erwähnt werden Infekt-anfälligkeitund akute Infektionen,Gastritis, Allergien und Asthma, Arteriosklerose,Vergiftungen, Bandscheibenabnutzung,Sterilität, Schnupfen, Nieren-,Blasen- und Gallenerkrankungen, ja selbstKrebs und Diabetes.Die «Stiftung Warentest» kommt zumSchluss, Bioresonanztherapie könne «nichtempfohlen werden». Sie müsse als «Spekulationund Irreführung des Kunden» gelten.Die Bioresonanz geht von «Schwingungen»aus, die wissenschaftlich nichtnachvollziehbar ist und einen beträchtlichenGlauben erfordern.Allergie ist ein Modebegriff, auf denviele Beschwerden zurückgeführt werden,die sich auch ohne Behandlungwieder zurückbilden.Klinische Studien ergaben, dass Bioresonanzweder für die Diagnostiknoch für die Therapie allergischer Erkrankungengeeignet ist. Das Versprechender Bioresonanz, «Allergien zulöschen», kann gefährlich sein, wennPatienten meinen, auf Notfallmedikamenteverzichten zu können.Weitere Informationen sind erhältlich durch dieSchweizerische Gesellschaft für Allergologie,www.sgai-ssai.ch.15


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINKinesiologieEdu-KinesiologieBesonders häufig werden Elterndurch Lehrer, Heilpädagogen und Logopädenmit der «Edu-Kinesthetik» konfrontiert.Sie soll dazu dienen, Lernfähigkeitenwie Lesen, Schreiben, Rechnen,Konzentration und Gedächtnis zufördern.Probleme entstünden durch Energieblockierungenzwischen Körper undGehirn, insbesondere aber durch einegestörte Harmonie zwischen den beidenHirnhälften. So populär solcheIdeen sind, wissenschaftlich konntensie in dieser simplen Form nicht belegtwerden, denn das Gehirn wäre ohneein ständiges intensives Zusammenspielbeider Hirnhälften gar nicht funktionsfähig.Dennoch werden vielfältige Therapievorschlägegemacht, von Akupressur,über Ernährungsumstellung, demTragen von Edelsteinen bis zur Einnahmevon homöopathischen Mitteln. Kindernmit Lernstörungen werden komplizierteÜbungen angeraten, um ihreHirnhälften zu harmonisieren.Der deutsche Experte H. J. Hemmingernimmt wie folgt Stellung:«Individuelle Leistungsstörungenund Beziehungsprobleme sind meistintensiv miteinander verbunden, undohne den Aspekt sozialer Beziehungenlässt sich häufig weder verstehen, wasvor sich geht, noch etwas dagegen tun.Diesen Bereich auszublenden, kann inder Pädagogik nicht gut gehen. Die Frageliegt nahe, ob manche Lehrer nichtauch dem schwierigen und aufreibendenUmgang mit Beziehungsfragen durchden Schritt in die Edu-Kinesthetik zuentfliehen suchen.»ie Kinesiologie ist eine Verbindung«Dwestlicher und östlicher Heilmethoden...Sie arbeitet mit dem Muskeltest, umden Körper direkt zu fragen, wo Blockierungenvorliegen und wie sie gelöst werdenkönnen. Länger andauernde Energieblockadenwirken sich negativ auf unser Wohlbefindenund unsere Gesundheit aus. Durchdie Aktivierung der Selbstheilungskräfteüber das Meridiansystem (Energiesystem)wird körperliche, seelische und geistige Harmoniegefördert und wieder hergestellt.»(aus einem Kursprospekt).Die Angewandte Kinesiologie nimmtein System von Körpermeridianen an, dieals Leitungsbahnen für die «Lebensenergie»dienten. Den energetischen Zustandeines Menschen könne man aus der Spannungseiner Muskeln ableiten. Dabei handeltes sich aber nicht um deren physikalischeKraft, sondern sozusagen um eineenergetische Antwort auf Fragen, die derUntersucher stellt.Neben dem esoterischen Gehalt der Kinesiologieist diese Art der Diagnostik fragwürdig.Die Gesundheit eines Organs lässtsich nicht einfach aus der Muskelkraft desArms ableiten! Hier sind viele Quellen fürdie Selbsttäuschung des Therapeuten unddie Täuschung des Klienten.Die Therapie erfolgt durch eine breitePalette von Massagen an Punkten der Akupressuroder entlang der Meridiane. Stresslasse sich durch das sogenannte «Polaritäts-Switching»bewältigen.Eine «Gehirnintegration» soll sich mitfolgender Anweisung erreichen lassen:«Breiten Sie Ihre Arme zur Seite aus, horizontal,Handflächen nach vorne. Stellen Siesich die linke Hirnhälfte in der linken Handund die rechte in der rechten vor. DenkenSie an ihr Ziel, während Sie die Hände langsamzusammenführen und ineinanderfalten».— Der Glaube des Patienten ist herausgefordert.16


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINFeldenkrais Methode und Alexander-TechnikSelbstbild und Eigenwahrnehmung drückensich in den Bewegungen des Körpersaus — auf dieser Basis beruhen diebeiden Techniken, die von Moshe Feldenkrais(1904 - 1984) und F. M. Alexander(1869-1955) entwickelt wurden.Durch bewusste Haltungsänderungund geführte Bewegungsveränderungkönne auch eine Veränderung der Psycheerreicht werden. Zitat aus einer Beschreibungder Feldenkrais-Methode: «Haltungs-und Bewegungsmuster können reorganisiertwerden, d.h., dass die im Gehirngespeicherten Entwürfe für Bewegungenumgelernt oder erweitert werdenkönnen.Das Mittel für diese Lernerfahrung istdie Bewegung. Sie muss jedoch so gestaltetsein, dass sie unsere Muster unterläuftund eine bewusste Wahrnehmung dessenermöglicht, was wir tatsächlich tun (undwas oft genug von unserer eigentlichenAbsicht abweicht).Bewusste Bewegung verbessert dieWahrnehmung unseres Selbst und gibtuns eine klare Einschätzung davon, obes für uns «richtig» ist, wie wir uns indiesem Augenblick verhalten. Das Ergebniseines ausgeprägten Körperbildes istnicht nur eine individuell bessere Körperhaltung,sondern damit verbunden aucheine Veränderung der «inneren Haltung»und des Selbstwertgefühls.»Ähnlich sind auch die Grundannahmender Alexander-Technik: «SubtileBerührungsimpulse, die den bewegungsempfindendenSinn ansprechen,Anleitung zur Körperwahrnehmung,Bewegungsexperimente, Bewegungsvorstellung,gezieltes Nachdenkenund bewußte Entscheidung sind die Mitteldurch die im Alexander-Unterricht gelerntwird.»Weitere Informationen:www.alexander-technik.dewww.feldenkrais.dewww.redirectionsomatics.comBeliebt bei Schauspielernund MusikernGerade Menschen inkreativen Berufen sindoft hoch-sensibel undempfindlich. Sie verspürenoft sehr intensiv dieBeziehung zwischen Gefühlenund der Verspannungdes Körpers. DieÜbungen von Feldenkraisund die Alexander-Technik werden als hilfreicherlebt.17


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINEdelsteine – Kristallpforte zur Seele?Edelsteine werden seit Jahrtausenden alsVermittler von Heilwirkungen beschrieben.Als Symbol, Amulett und Talisman botensie — laut Aussagen von «Edelstein-Therapeuten»— schon immer Schutz, wehrtenBöses ab und erhielten die Gesundheit.Dabei wird auch Bezug auf die Bibel genommen(Brustschild des Hohepriesters,Kristalle an der Mauer des Neuen Jerusalem).Generell sind Edelsteine Teil vonGottes Schöpfung, ohne dass sich darauseinerseits eine «göttliche Heilwirkung»oder andererseits eine «okkulte Belastung»ableiten ließe. Zitate aus Büchern von Edelstein-Therapeutenmachen aber deutlich,mit welchen Vorstellungen die Edelsteinein Verbindung gebracht werden:«Edelsteine stellen kleine, hochwirksameEnergiegeneratoren mit definiertemDie verschiedenen Edelsteintherapeutenwidersprechensich sehr stark, so dass letztlichnur der Glaube die Brücke zu einerWirkung schlagen kann.Frequenzspektrum dar, bedingt durch dieKristallstruktur.» Sie «ergänzen im Schwingungssystemunseres Körpers, was ihmfehlt, um in Harmonie zu kommen.»«Die Steine heilen nicht direkt, sie ladenaber durch ihre positiven Schwingungenunser Energiefeld auf... Durch ihre Ausstrahlungund ihre Schwingungen helfenuns die Edelsteine, uns selbst zu heilen. Wiegeht nun eine Therapie vor sich? Wir brauchendazu je nach Therapieart Steine zumTragen, zum Aufstellen und zum Auflegen,Massageöl, in dem ein Stein lag..., gewissehomöopathische Medikamente aus Steinpulver,eine Talismankette oder Anhänger.Zuerst wirken die Steine auf uns durch ihrepositiven Schwingungen, die wir aufnehmen.Durch Auflegen der Steine auf gesundeoder kranke Organe kann gezieltergeholfen werden. Wenn wir die Steine regelmäßigauf die Chakras (Energiezentren)legen, stärken und harmonisieren wir denFluss der Energie in uns... » (nach Eliettevon Siebenthal).Die verschiedenen Edelsteintherapeutenwidersprechen sich sehr stark, sodass letztlich nur der Glaube die Brücke zueiner Wirkung schlagen kann.18


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINKraftspender und AmuletteAngebliche WirkungenAchat: «beschützt neues Leben undschenkt Geborgenheit; stimuliert dieFortpflanzungsorgane. Mehr noch:„Er schenkt Mut, stärkt das Herz,erleuchtet den Geist, kann mancheFormen des Wahnsinns heilen.»Lapislazuli: «gibt Selbstvertrauenund gesunden Schlaf, stillt Schmerzen.Gut gegen Schlaganfälle undWassersucht, Depressionen, Epilepsie;gut für Herz, Milz, Blut, Hautund verstärkt die Willensenergie,Liebe, Güte und Hilfsbereitschaft.»Diamant: «ist ein wahrer Meisterheiler,er hat auf den Körper einestarke, reinigende und klärendeWirkung... Auch zur Stärkung desGehirns, der Hirnhälften, des gesamtenMuskelsystem, der Nervenund der Nervenverbindungen.Malachit: «Stein der Nächstenliebe;fördert die Nachsicht und das Verständnisgegenüber Schwächen.»Bernstein: «ist ein Glücksbringer aufder materiellen Ebene. Er reinigtden Organismus und absorbiert negativeEnergie. Er wird deshalb auchbei Kleinkindern mit Zahnschmerzenempfohlen.»Fluorit: «unterstützt den geistigenWachstumsprozess und hilft uns,die Verantwortung für unser Tunund Fühlen zu übernehmen.»Turmalin: «besitzt eine starkeSchutz-wirkung. Mit seiner Hilfestärken wir Disziplin und Durchhaltevermögen.»Rosenquarz: «hilft uns Gefühle besserauszudrücken, fördert die Nächstenliebeund heilt seelische Wunden.»(nach verschiedenen Quellen)Amulette aus Edelsteinen(Werbetexte)«Ein Amulett wird getragen, um sich vorunerwünschten Einflüssen zu schützenund um Glück anzuziehen. Unsere Amulettewerden von einem indianischenSchamanen aus Silber, ausgewähltenSteinen und Bambus angefertigt undmit magischen Symbolen versehen.Mond-Amulett zur Verstärkung derweiblichen Energie.– mit Bergkristallen: Zur Konzentrationund zur Energieaufladung, strömt Harmonieund Kraft der Liebe aus, reinigtund erhellt die Aura und die Energiezentren.Lichtbringer.– mit Onyx: Quelle der Zufriedenheitunter Freunden, schützt gegen unerwünschteEinflüsse. Träume, Verborgenes,Unbewusstes.Amulett «Female Warrior» (weißerOpal): stärkt das Selbstvertrauen unddie Intuition, reinigt, regt die Kräfte an,die uns unserer Seele... näher bringen.Erfüllung, Sexualität und Liebe.»19


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINPsychotherapie und EsoterikImmer häufiger werden Psychotherapieund Esoterik verbunden. Wo sich diePhantasien von Gesundheit, Wohlbefinden,Macht und Glück nicht auf herkömmlichemWege erreichen lassen, wird versucht, dieseauf übersinnliche Weise zu erreichen.RebirthingAngeblich sei es nötig, die Erfahrungder Geburt noch einmal durchzumachen,um zu sich selbst zu finden. Beim Klientenwird ein veränderter Bewusstseinszustanddurch rasche Hyperventilationhervorgerufen. Die Gefühle und Phantasienin dieser Phase werden dann als Erlebnisder Geburt gedeutet. — Die Methodeist gerade für sensible und instabileMenschen als gefährlich einzustufen undkann zu Nervenzusammenbrüchen führen.Bio‐Energetik undPrimärtherapieDie Bio-Energetik ist zu einer schillerndenBewegung geworden, die davonausgeht, dass der Mensch die in ihm gestaute(«blockierte») Energie verflüssigenmüsse, um zum inneren Gleichgewicht zufinden. Dies wird durch verschiedene Körperübungenerreicht. In der Primärtherapie(nach Janov) wird dazu angehalten, innerenSchmerz herauszuschreien («Urschrei»)und so Befreiung zu erleben.— Die Methodeist gerade für sensible und instabileMenschen als gefährlich einzustufen undkann zu Nervenzusammenbrüchen führen.ReinkarnationstherapieDie Reinkarnationstherapie geht vomGlauben an die Seelenwanderung aus. DieBeschwerden der Ratsuchenden würdendurch das Weiterwirken früherer Lebensformenim Unbewussten verursacht. Diesemüssten durch eine Rückführung in frühereLeben bewusst gemacht werden. Bei dengeschilderten Erfahrungen spielen Hypnoseund Phantasie eine wesentliche Rolle.FarbtherapieAngeblich hat jede Farbe eine spezifischeWirk– und Heilkraft. Rot soll gut bei Blutkrankheitensein, Blau lindert Schmerzen,und «mit Grün lässt sich AIDS heilen» (!)Farbtherapeuten arbeiten in der Regel mitLichtduschen, ähnlich einer Taschenlampe,auf die man Farbgläser aufsetzen kann.Welche Farbe der Klient braucht, wird mitdem Pendel ermittelt. Andere versuchendie Aura zu erfassen, um die «Mangelfarbe»festzustellen. Die Lampen werden dannauf die Energiepunkte entlang der Meridianegerichtet, um die kosmische Energiezu regulieren.SophrologieDie Methode ist eine Form der Selbsthypnose.Durch gezielte Übungen versuchtman jenen Zustand zwischen Wachen undSchlafen zu erreichen, bei dem sich dieSchwelle zwischen Bewusst und Unbewusstlockert. Die Methode versteht sichals Mischung von westlicher Autosuggestionund östlichen Lehren wie Yoga, Meditationund Trance-Zuständen animistischerKulte. Die Methode hat sich vor allem inder Westschweiz etabliert.Weitere Informationen:Eine besonders informative Serieüber diese Heilmethoden erschien inPsychologie Heute, Juli bis Oktober1994.20


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINGeistheilungIn Deutschland soll es etwa 10.000 Geistheilergeben. Ihr Angebot enthält eineAuswahl gängiger esoterisch-spirituellerDiagnose– und Therapieverfahren. So verbindenGeistheiler beispielsweise Auradiagnostik,Pendeln, Bach-Blüten, Farb-, Aroma-und Kristalltherapie. Daneben stellensie auch angeblich wundertätige Amuletteund Glücksbringer aus Halbedelsteinen her(vgl. S. 19).Definition: Geistiges Heilen ist einOberbegriff für eine Vielzahl von Verfahren,die durch blosse geistige KonzentrationKrankheiten lindern oder gar beseitigensollen, ohne medizinische Mittel. «Geheiltwird mit Hilfe einer kosmischen Energie,die jederzeit und überall in unbeschränkterMenge vorhanden ist», erklärtein Geistheiler. «Um sich auf diese Energieeinstimmen und sie auf den Patientenübertragen zu können, muss ein geistigerHeiler über Ausbildung und Erfahrung verfügen.Er heilt nicht selber, sondern stelltsich als eine Art Kanal zur Verfügung, durchden die Energie fließt.»Die geistigen Wurzeln liegen in Europain der Parapsychologie und einer oberflächlichangepassten Religiosität. Dabeiwird problemlos ein Bogen von ägyptischenPriestern über griechische Tempel zu denHeilungen von Jesus geschlagen. So sagtein Heiler: «Angesicht der Heilungen, die Jesusbewirkt hat, war er nichts anderes alsein Geistheiler – das Medium aller Zeiten.»Missbrauch der Geistheilung:«Die Problematik zeigt sich in häufigen Anfragenund Klagen..., dass sich viele Geistheilermasslos überschätzen und in der Folgeihr Können und ihre Leistung überbewerten,was sich beispielsweise in zu grossenVersprechungen und zu hohen Honorarenniederschlägt.» (der Präsident der SchweizerischenParapsychologischen Gesellschaft).Aus einem Inserat:«Biete sensitiv-mediale Sitzungen/Geistheilen an für Menschen und Tiere.sowie Raumbelebung mit Entfernen vonElektrosmog auf der energetischen EbeneHilfsmittel: Chakraphon Musikinstrumente,Elominsteine und kosmische Symbolevon Ingmar, Larimar und Antares, sowieKordulah Mandalas.»Der Trend zur Geistheilung gründet nebender esoterischen Welle auch in demtiefen Wunsch, «dem leidenden Menscheneine echte Hilfe und Unterstützungzu werden.»Kritikpunkte:Umdeutung des Wirkens Jesu: «Erwar das grösste Medium aller Zeiten.»Vermischung mit Parapsychologieund okkulten Ritualen ohne kritischeAbgrenzung unter theologischen Gesichtspunkten.Eingeschränkte Beweisführung: Weiles nützt, ist es richtig. «Wer heilt hatrecht!» Die Bedeutung der Selbstheilung(Placebo-Effekt) wird nicht berücksichtigt.Selbstüberschätzung und Missbrauchgutgläubiger Menschen. In der Heiler-Szeneherrscht ein schwer kontrollierbarerWildwuchs.Studien zum Thema sind methodischfragwürdig und werden oft nur alsBeleg für die Wirksamkeit interpretiert.21


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINBachblüten – Heilung für die Seele?Herstellung:Ähnlich wie in der Homöopathie arbeitetBach mit einem «Potenzierungsverfahren»:Die Essenzen werden aus frischgepflücktenBlüten gewonnen, die am Standort inSchalen mit frischem Quellwasser mehrereStunden an der Sonne stehen. Die Sonnesoll die Energie liefern, um die in denBlüten verschlüsselten «vibrationell» oder«feinstofflich» genannten Informationenauf das Wasser zu übertragen.Danach werden die Blüten abgeschöpftund das Wasser (!) als energetisch geladenes«Blütenkonzentrat» in Flaschen («Essenzflaschen»)abgefüllt und mit etwas Alkoholversetzt. Diese Mischung wird wiederumzur «Stock Bottles» weiterverarbeitet.Die Tropfen Nr. 27 enthalten reinesQuellwasser (Rock Water), die Notfalltropfen(Nr. 39) sind eine Mischung aus verschiedenenBlüten.Esoterische Konzepte der Bach-BlütenGesundheit:«Könnte und würde die Persönlichkeitvollkommen im Einklang mit ihrer Seelehandeln, die ja wiederum Teil der größerenEinheit ist, würde der Mensch in vollständigerHarmonie leben. Die universelle göttlicheSchöpfungsenergie könnte sich durchdie Seele und das Höhere Selbst in der Persönlichkeitausdrücken, und wir Menschenwären stark, gesund und glücklich als harmonischschwingende Teile des größerenkosmischen Energiefeldes.»Krankheit:«Überall dort, wo die Persönlichkeitnicht durch ihre Seele mit dem großenkosmischen Energiefeld verbunden ist, wosie nicht mit ihm im Einklang schwingt,herrscht Störung, Stauung, Reibung, Verzerrung,Disharmonie, Energieverlust...»Heilung:«... In der menschlichen Seele sind alle38 Seelenkonzepte der Bach-Blüten als Seelenkonzepte,Energiepotentiale, Tugendenoder göttliche Funken enthalten. Bestehtnun in einem bestimmten menschlichenSeelenkonzept oder Energiepotential einKonflikt zwischen den Absichten der Seeleund der Persönlichkeit, so ist dort dieSchwingungsfrequenz im energetischenFeld disharmonisch verzerrt und verlangsamt.Diese Verzerrung beeinflusst das gesamtemenschliche Energiefeld bzw. beeinträchtigtden gesamten seelischen Zustanddes Menschen. Es kommt in den Worten vonBach, zu einem negativen Seelen– oder Gemütszustand.Was bewirkt nach dieser Vorstellungeine Bach-Blüten-Essenz?Da sie in der gleichen harmonischen Energiefrequenzschwingt, die das betreffendemenschliche Seelenkonzept ... hätte,kann die Blüten-Essenz zu diesem menschlichenSeelenkonzept Kontakt aufnehmenund es mit ihrer eigenen harmonischenSchwingungsfrequenz durch Schwingungsresonanzwieder harmonisieren.»Zitate:Die Zitate stammen aus folgendem Buch:Mechthild Scheffer, Selbsthilfe durchBach-Blüten. Heyne.22


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINPersönlichkeitstypologieBeispiele der Blüten-Typologie:01 Agrimony: Man versucht, quälendeGedanken und innere Unruhehinter einer Fassade von Fröhlichkeitund Sorglosigkeit zu verbergen.02 Aspen: Man hat unerklärliche vageÄngstlichkeiten, Vorahnungen,geheime Furcht vor einem drohendenUnheil.04 Centaury: Man kann nicht ‘nein’sagen. Schwäche des eigenen Willens;Überreaktion auf die Wünscheanderer.10 Crab Apple: Man fühlt sich innerlichoder äußerlich beschmutzt,unrein oder infiziert. Detailkrämer.15 Holly: Man ist gefühlsmäßig irritiert.Eifersucht, Mißtrauen, Hass–und Neidgefühle.21 Mustard: Perioden tiefer Traurigkeitkommen und gehen plötzlichohne erkennbare Ursache.24 Pine: Man macht sich Vorwürfe,hat Schuldgefühle28 Scleranthus: Man ist unschlüssig,sprunghaft, innerlich unausgeglichen,Meinung und Stimmungwechseln von einem Moment zumanderen.29 Star of Bethlehem: Man hat eineseelische oder körperliche Erschütterungnoch nicht verkraftet. «DerSeelentröster»37 Wild Rose: Man fühlt sich apathisch,teilnahmslos.FAZIT:Die Persönlichkeitstypologie der Bach-Blüten zeigt die subtile Vielfalt von negativenGefühlen, Gedanken und Charaktereigenschaften,die einen Menschen befallenkönnen, ohne dass man davon aus medizinischerSicht schon eine Krankheit ableitendürfte. Es erscheint aber doch problematischzu meinen, diese ließen sich lediglichdurch das Einnehmen von ein paar TropfenWasser (vermischt mit etwas Alkohol) behandeln.Somit ist die Beschäftigung mitBach-Blüten oft motiviert durch die Suchenach Lebenshilfe. Durch die Einnahmeder Blüten-Essenzen sollen sich Möglichkeiteneröffnen, sich nicht nur wohlerzu fühlen, sondern auch fehlende Charaktereigenschaftenzu entwickeln. Weltanschaulichbasieren die Bach-Blüten eindeutigauf esoterischen Konzepten. Gefahr bestehtdann, wenn man sich in einer Selbstbehandlungnur auf die Essenzen verlässt,wenn eigentlich ärztliche Hilfe nötig wäre(insbesondere schwere Schlafstörungen,Depressionen und Suizidalität).23


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINDer Unterschied zwischenPflanzenheilmitteln und homöopathischen MittelnNoch immer werden die beiden Begriffe — erstaunlicherweise auch in Fachkreisen —als ein und dasselbe verstanden. Die folgende Gegenüberstellung soll helfen, die beidenHeilverfahren besser gegeneinander abzugrenzen. Eine weitergehende Kritik derHomöopathie ist in Büchern zu finden, die im Literaturverzeichnis empfohlen werden.Pflanzliche ArzneimittelPflanzliche Heilmittel werden nach den Erkenntnissender (Schul)Medizin angewendet.Sie haben Indikationen, Nebenwirkungen,Warnhinweise und Qualitätsanforderungenwie andere Arzneimittel.Pflanzliche Arzneimittel enthalten alsWirkstoffe ausschließlich Pflanzen, Pflanzenteileoder deren Zubereitungen. Chemischrein isolierte Inhaltsstoffe oder z.T.synthetisch veränderte Stoffe oder Stoffgemischesind von dieser Definition ausgeschlossen.Pflanzliche Arzneimittel werden nur soweit verdünnt, dass sie ihre Wirksamkeitentfalten, jedoch möglichst wenigschädliche (giftige) Wirkungen haben.Bei pflanzlichen Arzneimitteln gibt es eineDosis-Wirkungsbeziehung, d.h. man kannauch unter– oder überdosieren. Modernepflanzliche Arzneimittel (wie z.B. Valverde)enthalten standardisierte Extrakte, ihrWirkstoffgehalt ist optimiert.Homöopathische MittelDie Homöopathie betrachtet Krankheitssymptomeals Abwehrbemühungen des Organismus.– Homöopathische Mittel beanspruchenkeine nachweisbare spezifischeWirkung auf ein Krankheitsbild.Homöopathische Heilmittel werden auspflanzlichen, körpereigenen (Tier/Mensch),mineralischen und synthetischen Stoffenhergestellt. Die daraus entstehende «Urtinktur»gilt noch nicht unbedingt als Heilmittel,erst die «potenzierte» oder «dynamisierte»Verdünnung. Besteht die Urtinkturaus einem Pflanzenextrakt, so ist siein niedrigen Verdünnungen ähnlich einempflanzlichen Arzneimittel, auch wenn dasMittel als homöopathisch bezeichnet wird.Homöopathische Heilmittel werden auseinem ganz anderen Prinzip verdünnt. VielfachesVerschütteln soll «Vitalkraft» oder«heilende Energie» in die Mittel einbringen.Je stärker ein homöopathisches Mittel verdünntoder «potenziert» ist (oft millionenfach!),desto stärker sei es angeblich wirksam,weil es eben mehr «Potenz» enthalte.Homöopathische Dosierungen gehorcheneinem «Minimalismus». Nicht seltenfindet man Mittel, die gar keinen Wirkstoffmehr enthalten, sondern nur nochüber viele Stufen «dynamisiert» wurden.24


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINPhytotherapie oder Homöopathie?Pflanzliche ArzneimittelEs gibt schwach wirksame pflanzliche Arzneimittel(z.B. Tees aus Lindenblüten oderKamillenblüten) und auch stark wirksame(z.B. Belladonna, Digitalis, Rauwolfia).Bei pflanzlichen Arzneimitteln könnenDoppelblindversuche zur objektiven Überprüfungder Wirksamkeit herangezogenwerden.Für viele pflanzliche Arzneimittel gibt es einenErfahrungsschatz, der oft weit zurückreicht.Es gibt aber auch Entwicklungen aufgrundmoderner pharmakologischer Forschung(z.B. Ginkgo). Die Indikation für dieAnwendung eines pflanzlichen Mittels wirddurch normale ärztliche Diagnostik gestellt.FAZIT:Phytotherapeutische Arzneimittel beruhenauf natürlichen Pflanzen ohneesoterische Erklärungsbedürftigkeit.In der Produktion unterstehen sie klarenQualitätskontrollen und werdenvon seriösen Firmen (z.B. Valverde) inbewährter Dosierung ohne magischeRituale hergestellt. Pflanzliche Heilmittellassen sich im Rahmen einer bewährtenmedizinischen Diagnostik undTherapie anwenden und sind bei leichterenpsychovegetativen Störungen zuempfehlen. Als traditionelle Hausmittelkönnen sie auch ohne große Problemezur Selbsthilfe verwendet werden.Homöopathische MittelDie Homöopathie folgt der Ähnlichkeitsregel.Sie verwendet in minimalen DosenStoffe, die bei hoher Dosierung Erscheinungenhervorrufen würde, die ähnlichwie bei der zu behandelnden Krankheitaussehen.Doppelblindversuche werden bei homöopathischenHeilmitteln nur in Ausnahmefällendurchgeführt, die Ergebnisse lassenZweifel zu.Homöopathische Heilmittel beruhen aufdem «Arzneimittelbild», welches sich ausder Verabreichung hoher Dosierungen angesunde Freiwillige ergibt. Häufig wird dasrichtige Mittel für einen Patienten mit Hilfevon «Messungen der Lebensenergie», z.B.mit dem Pendel ermittelt. Die Zuverlässigkeitsolcher Diagnostik ist fragwürdig.FAZIT:Homöopathische Mittel bauen nicht inerster Linie auf pflanzliche oder mineralischeWirkungen, sondern auf die esoterischeVorstellung, dass die Mittel erstdurch die «Potenzierung» voll zur Entfaltungkämen. Sie sind verbunden miteinem unzuverlässigen diagnostischenVorgehen und werden in den meisten Fällendeutlich unterdosiert. Aus ärztlicherSicht kann auf homöopathische Mittelverzichtet werden, zumal pflanzlicheMittel dem Anliegen einer sanften undnebenwirkungsarmen Behandlung genügendentgegenkommen.25


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINWas bringt Ernährung bei psychischen Leiden?Verschiedentlich werden Vorschlägezu einer Ernährung gemacht, die sichnicht nur positiv auf das Allgemeinbefindenauswirken, sondern besonders auf diePsyche. Als Beispiele seien genannt: dieHay‘sche Trennkost, die Makrobiotik oderdie Schrothkur.Besonders «wissenschaftlich» gibt sichdie Orthomolekulare Psychiatrie: Diese Alternativmethodegeht davon aus, dass psychische(und andere) Krankheiten durchdas Fehlen der richtigen («ortho») Spurenelemente(Moleküle) verursacht würden.Die fehlenden Stoffe liessen sich durch dieAnalyse der Mineral– und Spurenelementein den Haaren feststellen. Deshalb werdendie Patienten gebeten, ein Büschel Haarezur Analyse einzusenden, wo beispielsweiseder Gehalt an Magnesium, Phosphor,Zink, Vanadium oder Molybdän gemessenwird. Dem Patienten wird empfohlen, angeblichfehlende Stoffe einzunehmen, z.B.bei Depressionen:«Vitamin B 6 bis zur Erinnerung an denTraum; Ziman Fortified morgens; Zink 30mg abends; Deanol 100 mg morgens; VitaminC und Dolomit.» (nach C. Pfeiffer)Kommentar:Obwohl auch in der OrthomolekularenPsychiatrie von biochemischen Stoffen gesprochenwird, so sind diese nicht zu verwechselnmit den hochkomplexen biochemischenNeurotransmittern, von denen wirin der Psychiatrie und in der Hirnforschungsprechen. Während die Neurotransmitterder Reizübertragung zwischen den Nervenzellendienen, so handelt es sich beider «Biochemie» alternativer Ernährungslehrenum relativ einfache «Baustoffe» desKörpers. Obwohl diese Ernährungsumstellungenvielleicht bei leichteren, vorwiegendfunktionellen Leiden eine gewisseHauptanforderungen an einegesunde Ernährung (SchweizerischeGesellschaft für Ernährung):— Weniger Fett— Würzig, aber nicht salzig— Weniger süss, mehr Vollkorn— Reichlich Gemüse und Früchte— Weniger tierisches EiweissDies führt dazu, dass der Kohlenhydratanteil(vor allem komplexe Kohlenhydrate)der Nahrung steigt, der Fettanteilsinkt, und dass mehr Vitamine und Faserstoffeaufgenommen werden.Hilfe bringen können, ist bei schweren psychischenStörungen (speziell Schizophrenie)keine nachweisbare Wirkung bekannt.Aus diesem Grunde ist von einer Behandlungdurch zusätzliche Nährstoffe bei psychischenLeiden abzuraten.Allgemeine Empfehlung zurErnährung:— Ausgewogenheit— Freude am EssenAusgewogene, vollwertige, naturnaheNahrung enthält alle notwendigenStoffe und kann sicher auch bei psychischenStörungen hilfreich sein. Wesentlichwichtiger als eine spezielle Diät istaber die Freude am Essen. Jede Diät, diediesen Grundprinzipien «Ausgewogenheit»und «Freude am Essen» zuwiderläuft,ist abzulehnen.26


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINWie lassen sich Heilerfolge erklären?1. Selbstheilung des KörpersViele leichtere Störungen, gerade im Bereichpsychosomatischer Beschwerden, klingenvon alleine ab, ganz egal, ob eine Therapiedurchgeführt wird oder nicht. Ähnlich wieeine Wunde von selbst zuheilt, gibt es auchVorgänge in der Psyche, die allmählich zu einerBeruhigung führen.2. Gleichzeitige medizinische BehandlungOft wird neben einer alternativen Behandlungdie medikamentöse Therapie beim Arztweitergeführt (sogenannte «komplementäre»Behandlung). Bei einer Besserung wird dannaber der Erfolg nur auf die alternative Heilmethodezurückgeführt.3. Placebo-Effektvgl. S. 294. Suggestion und HypnoseViele Heiler verwenden bewusst suggestiveMittel in der Behandlung. Ein Beispiel:Ein Magnetopath legt einer Patientin die Handauf den Bauch, drückt ihr einen Bergkristallin die Hand und fragt: «Spüren Sie die Wärmedurch das Sonnengeflecht fließen? AtmenSie tief durch, lassen Sie alles los, wasSie beschwert und spüren Sie die Energie ausmeinen Händen. Merken Sie, wie die krankmachendeEnergie durch die Fingerspitzen inden Kristall abgeleitet wird? Sie werden freiund leicht...»Suggestionen dieser Art können bei verspanntenPatienten ein gutes Gefühl auslösenund vermitteln ihnen wenigstens für einigeZeit deutliche Entspannung. — Im übrigenergeben sich in allen guten therapeutischenBeziehungen suggestive Elemente. Auch dieüberzeugte Verschreibung eines Medikamentesdurch den Arzt oder die begeisterteEmpfehlung eines Buches durch einen Seelsorgerkann suggestiven Charakter haben.5. Unbekannte Mechanismen?Nach jedem Versagen wissenschaftlicherÜberprüfungen einer alternativen Heilmethodewird ins Feld geführt, es handle sichmöglicherweise um Wirkmechanismen, diemit den heutigen Mitteln noch nicht zu erfassenseien. Obwohl dies nie ganz auszuschließenist, gibt es doch nur wenige Grundlagenfür diese Behauptungen. Details überdie wissenschaftliche Untersuchung von alternativenHeilungsansprüchen finden sichin manchen Büchern, die am Ende dieses Seminarheftesempfohlen werden.6. Spirituelle KräfteVerschiedene esoterische Heiler rechnenbewusst mit der Einwirkung von spirituellenKräften. Viele Geistheiler geben offenzu, dass sie Kraft aus dem Jenseits beziehen(«Geisthelfer», «Lichtgestalten» etc.).Bei manchen Methoden (z.B. «Channeling»)wird angestrebt, den Patienten in Kontaktmit jenseitigen Kräften zu bringen, die ihmKraft und Glück vermitteln sollen. Die «Reinkarnationstherapie»führt Ratsuchende inangebliche frühere Leben zurück, um ihnendadurch das Verständnis für die Gegenwartzu geben.27


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINDer Placebo-EffektPlacebo bedeutet übersetzt: «Ich will dirden Gefallen tun». Heute umschreibtman mit dem Wort die Beobachtung, dassein Medikament nicht nur durch seine chemischenStoffe wirkt, sondern auch entsprechendden Erwartungen der Patienten.So kann es sein, dass auch ein Mittel ohnejeden Wirkstoffgehalt bei einem Patientenje nach Erwartung Schmerzen lindertoder aber auch unangenehme «Nebenwirkungen»entfaltet.Arzt und Patient stehen immer in einerkomplexen Wechselbeziehung, die vonbeiden Persönlichkeiten geprägt wird. Diefür die Placebowirkung nötige Vertrauensbildungwird durch die genaue Befragung,die körperliche Untersuchung sowiedas Besprechen der notwendigen diagnostischenund therapeutischen Maßnahmenerzielt. Wissenschaftlich wurde die Wirkungvon Placebo vor allem bei Schmerzzuständenim Doppelblindversuch untersucht.Zwischen 30 und 50 Prozent der Patientensprachen auf Placebo genauso gutan wie auf ein echtes Mittel (vgl. nebenstehendenKasten).Biologische Erklärungender Placebowirkung:Jede zwischenmenschliche Kommunikationlöst auch im Gehirn eine biochemischeReaktionskette aus. Die Überträgerstoffelenken das Denken, Empfindenund auch die körperliche Reaktion in einebestimmte Richtung. Forschungen habengezeigt, dass auch bei Gabe von Placebo imGehirn schmerzstillende Substanzen («Endorphine»)ausgeschüttet werden.Unter Behandlung mit Placeboskommt es zur Besserung beiSchmerzen verschiedener Art..........in 28 %Kopfschmerzen................................in 62 %Migräne............................................in 32 %Erkältungen.....................................in 45 %psychovegetativen Störungen.........in 34 %Angina pectoris................................ in 18 %Magen-Darm-Beschwerden.............in 58 %Rheuma-Schmerzen........................ in 49 %Regelbeschwerden.......................... in 24 %Was förderT die Placebo-Wirkung?Je eindrucksvoller und liebenswerter diePersönlichkeit eines Arztes ist, je überzeugterund ermutigender er auftritt, destoeher hat er einen Einfluß auf den Zustanddes Hilfesuchenden. Ist auch der Patient ineiner Not und erwartet Hilfe, so ist er zusätzlichoffen für die beruhigende und ermutigendeBegegnung mit dem Arzt oderHeiler. Erfolge treten häufig ein, wenn derArzt auf den Patienten eingeht und ihm seinenHelferwillen mit Sympathie und Anteilnahmebewusst macht. Dies hat sich auchin der Psychotherapieforschung bestätigt:Oft ist es nicht die Methode, sondern dieoben beschriebene Begegnung, die letztlicheinen heilenden Effekt hat.FazitIm Durchschnitt sprechen etwa 30 bis40 Prozent aller Patienten sehr gut auf dieBehandlung mit Placebos an, etwa ein Drittelreagieren überhaupt nicht darauf. Dieoben genannten Störungen entsprechengenau denjenigen, die auch gut auf Alternativmedizinansprechen. Es ist wohl mehrals Zufall, dass etwa ein Drittel aller Patientenbei der Anwendung von alternativenHeilmethoden wie Akupunktur, Homöopathieoder Bach-Blüten sehr gut ansprechen.28


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINKritische Überprüfung einer Methode1. Philosophischer Hintergrund— Auf welcher Philosophie baut sie auf?— Ist sie biblisch begründbar?— Wie werden Begriffe definiert? («Gott»,«heilende Kraft»)— Wird sie vermischt mit anderen Lehren?(Astrologie, Chakren, Yoga, etc.)2. Wissenschaftliche Beweise— Erklärungsmodell:Homöopathie: wie können kleinsteMengen eines Mineralsalzes überhauptwirken? — Fußreflexzonenmassage: Gibtes die behaupteten Zonen überhaupt? —Erdstrahlen: Wie werden sie nachgewiesen?— Kontrollierte Studien!Nicht nur Einzelfall-Geschichten, Wiederholbarkeitder Versuche!— Vorsicht mit der Interpretation vonTeilbeweisen!Achten auf Sätze mit Weil-Darum-Erklärungen.Andere Erklärung möglich! Beispiel:«Es gibt weniger Geburten, weil esweniger Störche gibt»: Beide Aussagenstimmen zwar für sich allein genommen;die Verknüpfung durch das Wörtlein«Weil» ist jedoch unzulässig.3. Anwendung heuteWie verwendet der einzelne Heilprakti-ker / Arzt eine Methode / einMittel?z.B. Kräuter sind an sich neutral, aber werdensie bependelt?z.B. Homöopathie baut auf mystische «Lebenskraft»,wird aber vom Arzt nur alsorganisches, pflanzliches Mittel abgegeben.z.B. Akupunktur: östlicher Hintergrund,mangelhafte Beweise, aber von einemArzt nach sauberer diagnostischer Abklärungpraktiziert als Reiztherapie(«dry needling») ohne große weltanschaulicheHintergedanken.29


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINVerantwortungsbewusste AnwendungFolgende Vorgehensweisen haben sichbei psychischen Störungen bewährt:1. Bei leichten Störungen können Hausmittelin Selbstmedikation genommen werden.Beispiele:— Leichte, vorübergehende depressiveVerstimmungen und Reizzustände.— Allgemeine Müdigkeit und Erschöpfung.— Leichtere, vorübergehende Schlafstörungen.— Konzentrations– und Gedächtnisstörungenleichteren Ausmaßes.2. Bei längerer Dauer einer psychischenStörung sollte unbedingt eine ärztlicheAbklärung erfolgen3. Bei schweren Erkrankungen kann einedifferentielle Vorgehensweise empfohlenwerden:— Die Basisbehandlung einer schweren psychischenErkrankung (z.B. einer Schizophrenieoder einer schweren depressivenStörung) sollte mit bewährtenMedikamenten erfolgen. Die Erfahrungzeigt, dass ohne eine solche Basisbehandlungein Rückfall eintreten kann,der einen Patienten schwer belastenwürde.— Oft leiden die Patienten trotz der psychischenStabilisierung weiterhin unterallgemeiner Müdigkeit und Erschöpfbarkeit(sogenannte Residual– oder Negativsymptomatik).Nicht immer ist eineBehandlung dieser Restsymptomatikmit Antidepressiva oder Neuroleptikaerfolgreich. Gerade wenn die Patientensich nicht mit diesem Zustand abfindenkönnen und auf einem Mittel beharren,können als Ergänzung Vitamine,eine gesunde, ausgewogene Ernährungoder pflanzliche Aufbaumittel empfohlenwerden. Dabei sollte aber möglichstauf Eigenverantwortung der Patientengeachtet werden.— Ein weiteres Problem, das auch bei schwerenpsychischen Störungen als Begleitsymptomauftreten kann, sind psychosomatischüberlagerte Befindensstörungenwie z.B. schwere Beine, einLeeregefühl im Kopf, diffuse Schmerzenoder Verdauungsschwierigkeiten. Diesekönnen sehr belastend sein. Wenn eineärztliche Abklärung keine behandlungsbedürftigeStörung ergibt, so handelt essich um sog. funktionelle Beschwerden.Hier können wiederum pflanzliche Mitteleingesetzt werden.Welche Mittel und Methodensind bei psychischen Störungengeeignet?1. Pflanzliche Mittel (vgl. folgendeSeiten)2. Physiotherapeutische Anwendungen,wie z.B. Massagen, Fangopackungenoder Bäder.3. Bewegungs– und Entspannungstherapieohne ideologischen Überbau(z.B. Progressive Relaxationnach Jacobson), aber auch so einfacheMaßnahmen wie Spaziergänge,Schwimmen oder Musikhören.(vgl. Dieterich: Wir brauchen Entspannung,Brunnen Verlag)30


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINPflanzen für die PsycheKein Mittel in der Medizin ist so alt wiedie pflanzlichen Heilmittel. In allenKulturen, seien sie hochentwickelt oderprimitiv, finden sich Heilkräuter in der Behandlungvon Krankheiten. Besonders detaillierteBeschreibungen von Heilpflanzensind aus China und Mexiko überliefert.Während des Mittelalters waren es dieMönche in den Klöstern Europas, die dasWissen über Heilkräuter weiterpflegten.Viele der alten Kräuter haben eine nachweislicheWirkung entfaltet, die sich auch«Gott hat den KräuternMacht und Kraft gegeben,den Menschen von seinerKrankheit zu befreien, aufdass er nicht allzu bald vomTode überwunden werde.»Paracelsuswissenschaftlich mit modernen Methodennachweisen liessen. Andererseits wurde ihreAnwendung oft mit magischen Ritualenverbunden. So sprach der bekannte ArztParacelsus einerseits von Gott, der «denKräutern Macht und Kraft gegeben hat, denMenschen von seiner Krankheit zu befreien,auf dass er nicht allzu bald vom Todeüberwunden werde.» Auf der anderen Seitegab es «sozusagen keine Form der Mantikund Magie, die er nicht entweder betreibtoder empfiehlt.»Dieses Spannungsfeld zwischen nachweisbarer,von Gott gegebener Wirkungund der Vermischung mit magischen, esoterischenPraktiken bereitet vielen ChristenProbleme. Hier gilt in besonderem Maßedas Wort: «Prüfet alles, aber das Gute behaltet!»(1. Thessalonicher 5,21). Das Zielsollte sein, die nachweislichen Wirkungenvon pflanzlichen Mitteln zu nutzen undsich gleichzeitig von esoterischen Vorstellungenabzugrenzen.Wie die folgenden Tabellen zeigen, gibtes seriöse Anwendungsbereiche für pflanzlicheHeilmittel bei leichteren psychischenund psychosomatischen Beschwerden.31


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINSpezifisch wirkende Pflanzen und ihre IndikationenWie teilt man die wichtigstenpsychotropen Pflanzenmittel ein?Johanniskraut: Pflanzen mit milder stimmungsstabilisierender bzw. stimmungsauf hellender Wirkung.Hopfenzapfen: Pflanzenmittel mit beruhigenderund schlaffördernder Wirkung.Melissenblätter: Pflanzenmittel mit leichtdämpfender und damit beruhigender Wir kung.Passionsblumenkraut: Pflanzenmittel mitbisher offen bar nicht ausreichend gesi cherter psychotroperWir kung, am ehesten dämpfend undschlaffördernd.Offizinelle Baldrianwurzel: Pflanzenmittelmit beruhi gender, schlaffördernder und wohl auchstimmungs stabilisierender Wirkung.Kava-Kava-Wurzelstock: Pflanzenmittel mitvor allem angstlösender Wirkung.Bei welchen psychischen Schwierigkeitenlassen sich Pflanzenmittel einsetzen?Johanniskraut: psychovegetative Störungen,leichtere depressive Verstimmungs zustände (nichtbei schwereren Depressionszuständen, spez. mitSuizidgefahr!), ferner Angst und/oder nervöse Unruhe.Hopfenzapfen: Befindensstörungen wie Unruhe–und Angstzustände, Schlafstörun gen.Melissenblätter: nervös bedingte Einschlafstörungen.Passionsblumenkraut: nervöse Unruhezustände.Offizinelle Baldrianwurzel: Unruhezustände,nervös bedingte Einschlafstörungen.Kava-Kava-Wurzelstock: nervöse Angst-,Spannungs– und Unruhezustände.nach Faust & Baumhauer, Krankenhauspsychiatrie 4:34-39 (1993)Gingko-Blätter-Extrakt: Pflanzenmittel zurFörderung der Durchblutung im Gehirn und in denperipheren Gefäßen.Gingko-Blätter: Leistungsverbesserung in derzweiten Lebenshälfte mit verbesserter Konzentrationsfähigkeitund Gedächtnisleistung.Dazu kommen vielfältige pflanzlicheHeilmittel für psychosomatische Beschwerdenvom Nierentee bis zum pflanzlichenVerdauungsregulans. Ihr Drogistberät Sie gerne.Eine breite Palette von seriösen pflanzlichenArzneimitteln ist in Apotheken unterdem Markennamen «VALVERDE» erhältlich.Besserung von psychisch überlagertenBeschwerden unter Therapie mit Baldrian:Einschlafstörungen.............................. 86 %Durchschlafstörungen.......................... 88 %Tagesmüdigkeit.................................... 68 %Geistige Erschöpfungszustände............ 71 %Körperliche Erschöpfungszustände.... 34 %Nervosität..............................................87 %Reizbarkeit.............................................83 %Konzentrationsmangel......................... 68 %Kopfschmerz..........................................75 %Schwindel...............................................75 %Herzbeschwerden.................................. 70 %Magen-Darm-Beschwerden...................83 %* aus TW Neurologie/Psychiatrie 3:224-226 (1989)32


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINNaturmedizin wissenschaftlich erforschtIn den Pflanzen dieser Welt schlummernnoch viele unentdeckte Wirkstoffe,die nachweisliche Wirkungen entfaltenund oft weniger Nebenwirkungen habenals künstlich hergestellte Mittel.Das nebenstehende Bild zeigt eine Frauin Papua-Neuguinea, die eine Garbe vonChinesischem Beifuss in der Hand hält. DiesePflanze enthält den Wirkstoff «Artemisiaannua», der hervorragend gegen Malariawirkt. Mittlerweile wurde diese Wirkung(nach langem Zögern) auch wissenschaftlicherforscht und bestätigt.Weitere Informationenhttp://www.keniamed.de/malaria.htmlAntidepressive HeilpflanzenDer Extrakt von Johanniskraut (Hypericumperforatum) hat in den letzten Jahrengrosse Bedeutung gewonnen. Die Pflanzehat offenbar eine Wirkung bei leichterenDepressionen und Verstimmungen.Allerdings haben auch pflanzliche Heilmittelihre eigenen Nebenwirkungen, indiesem Fall Wechselwirkungen mit anderenMedikamenten und Photosensibilisierung.Bei schwereren Störungen reicht die Wirkungvon Johanniskraut nicht aus, und essollten unbedingt stärkere Mittel eingesetztwerden.Weitere InformationenWerneke U. et al. (2004): How effective isSt. John's Wort? The evidence revisited.Journal of Clinical Psychiatry 65:611-617.33


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINKonflikte zwischen Alternativmedizin und GlaubeVerschieden empfindlicheGewissenUnter Christen gibt es unterschiedlicheBeurteilungen von alternativen Heilmethoden.Dies wird schon im Neuen Testamentbeschrieben. Einige Bibelstellen:— Römer 14 : 1 – 9— 1. Korinther 8 : 1 – 9— 1. Korinther 10 : 23 – 31Während sich die einen schon ein Gewissenmachen, wenn der Hintergrund einerMethode im Esoterischen wurzelt, machensich andere erst Gedanken, wenn eineMethode offensichtlich mit okkulten Praktikenund Lehren verbunden wird. Geradein Bezug auf Speisen und pflanzliche Heilmittelsoll deshalb gelten:«Wer isst, der verachte den nicht, dernicht isst; und wer nicht isst, der richteden nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen...Ein jeder sei in seiner Meinunggewiss.» (Römer 14:3,5)Wie wirken sich Glaubenskonflikteauf die Psyche aus?Die Angst vor schwerer Krankheit führtoft zu einer Suche nach «Gesundheit um jedenPreis». Auch Christen gelingt es nichtimmer, bei einer schweren Krankheit gleichzur Annahme des Leidens und zum Vertrauenauf Gottes Führung zu finden.Die Versprechungen esoterischer Heilungsangebote,die Empfehlungen von Bekanntenund der Wunsch alles Menschenmöglichezu tun, führen oft dazu, dassauch überzeugte Christen sich in zweifelhaftealternative Heilmethoden einlassen.Dies kann große innere Spannungenauslösen, aber auch Konflikte mit der Umwelt(Familie, Freunde, Gemeinde). DieseSpannungen können sich dann auch in psychosomatischenStreß-Symptomen äußern.Manchmal werden sie als Hinweisauf eine okkulte Belastung gedeutet. Dabeiwird außer acht gelassen, dass auch andereSpannungen ähnliche Symptome hervorrufenkönnen.34


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINDie Frage der «dämonischen Belastung»In der kritischen Betrachtung der esoterischenHintergründe vieler alternativerHeilmethoden liegt auch eine Gefahr fürdie Seelsorge.Zu oft wurden die hier beschriebenenPraktiken als Checkliste für die Feststellungeiner «okkulten Belastung» genommen.Davon leitete man dann alle Probleme ab,die fortan im Leben eines Menschen auftraten.Damit wird man aber der Not der Ratsuchendennicht gerecht. Prof. Rohrbachhat einmal geschrieben: «Der Seelsorgermuß sehr darauf achten, dass er den Mächtender Fin-sternis nicht Ehre gibt, indemer Schwierigkeiten und Belastungen vorschnelldämonisiert und verteufelt.»In der Tat muß der Begriff der «okkultenBelastung» sorgfältig hinterfragt werden,ehe man ihn kritiklos zur Begründung fürdie Schwierigkeiten eines Menschen heranzieht.Da ist zuerst einmal festzuhalten,daß der Begriff in der Bibel nicht vorkommt.In den neutestamentlichen Briefenwird an keiner Stelle von einer «okkultenBelastung» durch die Berührung mit denheidnischen Praktiken gesprochen.Vielmehr waren okkulte Praktiken einTeil des heidnischen Lebensstils der damaligenGeneration, der sogenannten «Werkedes Fleisches».Wegweisend für die Haltung des ApostelPaulus ist seine Aussage in Kolosser2,7-9. Paulus baut auf eine zuversichtlicheVerwurzelung im Glauben an Jesus Chri-Weitere Informationen:Zur Diskussion um die «okkulte Belastung» vgl. auch:S. Pfeifer: Okkulte Belastung im Spannungsfeld vonPsychiatrie und Seelsorge.Download als PDF von www.seminare-ps.net.«Sehet zu, dass Euch niemandeinfange durch Philosophieund leeren Trug,gegründet auf die Lehrevon Menschen und auf dieMächte der Welt und nichtauf Christus. Denn in ihmwohnt die ganze Fülle derGottheit leibhaftig, und andieser Fülle habt ihr teilin ihm, der das Hauptaller Mächte und Gewaltenist. »Kolosser 2, 8-10stus. Sie soll unser Denken und Handelnleiten. Wenn er nun auf die esoterisch inspiriertenPraktiken zu sprechen kommt(V.8), so spricht er nicht von einem «dämonischenEinfluss» auf den einzelnen.Vielmehr bezeichnet er sie als «Philosophie»,als Weltanschauungen, die im Grundenichts anderes als «Lehren von Menschen»sind.Wohl gründen sie sich auf die Vorstellungvon kosmischen Einflüssen, doch darfaus dem Begriff «Mächte der Welt» nichtvorschnell abgeleitet werden, daß es beijeder Berührung mit solchen Philosophienzu einer direkten dämonischen Beeinflussungkommt. Ja, Paulus geht noch einenSchritt weiter: er bezeichnet diese Lehrenund Praktiken schlicht und einfach als«leeren Trug».35


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINHilfen zur UnterscheidungDie nachfolgenden Fragen werden vonvon verschiedenen Personen unterschiedlichbeantwortet, je nach dem, wieund bei welchem Problem sie eine Methodeanwenden.Philosophischer Hintergrund:Geht die Methode geschichtlich auf esoterische,okkulte oder spiritistische Vorstellungenzurück?Erklärungsmodell:Lässt sich die Methode auch ohne okkultebzw. esoterische Modelle erklären?Wissenschaftlicher Nachweis:Ist die Wirksamkeit medizinisch nachweisbar?(z.B. Pflanzen ja, Abschirmgerätenein).Anwendungsweise heute:Erfolgt die Anwendung ohne die Vermischungmit okkulten bzw. esoterischenPraktiken? (Es empfiehlt sich, in diesemZusammenhang die Literatur zu einer Methodedurchzusehen und den Arzt oderHeilpraktiker nach seinen Auffassungenzu fragen).Beispiele für unterschiedlicheBeurteilungenHomöopathie: Das Erklärungsmodellkommt ohne die esoterisch begründete«Potenzierung» nicht aus. Der wissenschaftlicheNachweis ist trotz vieler Versuchenicht gelungen. — Aber: einzelneMenschen haben gute Erfahrungen gemacht(Placeboeffekt?). Die Mittel sindrein biochemisch gesehen nicht schädlich.Besonders in Deutschland und England arbeitenauch viele christliche HeilpraktikerAllgemeine Frage:Kann ich Methoden oder Mittelanwenden, die heuteüberwiegendin einem esoterischen Kontextangewendet undpropagiert werden?und Ärzte mit Homöopathie, ohne sich Gedankenüber die Hintergründe zu machen.Akupunktur: Die Methode baut auf esoterischeVorstellungen aus den orientalischenReligionen. Der wissenschaftlicheNachweis ist dürftig. — Aber: einzelne Menschenhaben wohltuende Erfahrungen mitder Akupunktur gemacht (Placeboeffekt?Kurzdauernde Stimulation schmerzlindernderSubstanzen?). Viele Ärzte und Heilpraktikerwenden heute die Akupunktur an,ohne sich Gedanken über die weltanschaulichenHintergründe zu machen.Entspannungstechniken: Hier gilt es zuunterscheiden zwischen bewährten Formender Entspannung (vgl. Buch von M.Dieterich), die auch mit dem christlichenGlauben vereinbar sind, neuen Theorienmit mäßigem weltanschaulichem Überbau(z.B. Alexander– oder Feldenkrais-Methode)und östlich inspirierten Techniken (Yoga,TM, Reiki etc.)36


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINWas können wir von der Alternativmedizin lernen?Es wäre verfehlt, alternative medizinischeHeilverfahren von vorneherein als «okkult»und von New Age-Philosophie durchdrungenabzutun. Vielmehr ist die Bewegungder alternativen Medizin als ein Aufrufan die Gesellschaft und im besonderen andie Kirche zu verstehen, ihre Einstellungzu Krankheit und Heilung kritisch zu überdenken.«Worum es geht,ist nicht die Etablierungeiner alternativen Medizin,sondern ein alternativerGebrauch der Medizin.»Thure von UexküllEine biblisch fundierte Ganzheitsmedizinzielt darauf ab, den Menschen in derGesamtheit seiner Lebensbezüge, von Leib,Seele und Geist zu sehen und zu behandeln.Neben der Anwendung anerkannterund wirksamer Heilweisen und menschlicherZuwendung soll insbesondere dieBeziehung des Patienten zu Gott gefördertwerden.Der bekannte Psychosomatiker Thurevon Uexküll hat einmal geschrieben: «Worumes geht, ist nicht die Etablierung eineralternativen Medizin, sondern ein alternativerGebrauch der Medizin». Dies erfordertein Umdenken beim Arzt, beim Patientenund bei der christlichen Gemeinde:— Der Arzt ist aufgerufen, seine Begrenzungzu erkennen und den Patientenin seinen gesamten Lebensbezügen zuerfassen: in seinen körperlichen, psychischen,sozialen und geistlichen Bedürfnissen.— Der Patient sollte lernen, nicht Gesundheitum jeden Preis zu verlangen, sondernvielmehr eine neue Sicht des Lebens,sowie von Krankheit und Heilungaus der Sicht der Bibel zu entwickeln.— Die Kirche schließlich bedarf einer vermehrtenWahrnehmung der Möglichkeitenzur Integration seelsorglicherAnliegen im Rahmen der bestehendenmedizinischen Strukturen.Hinweise zum beratenden Gesprächin Arztpraxis und Krankenpflege1. So wenig wie möglich, so viel wie nötig:Das Anliegen, möglichst wenige Mitteleinzusetzen und möglichst effektiv zubehandeln, ist der Hauptgrund für einekritische wissen schaftliche Überprüfungaller Heilmethoden.2. Weltanschauung: Das Sich‐Einlassen inmagische Rituale kann gerade bei sensiblenMen schen zu erheblichen Ängstenund Spannungen füh ren und siein Gewissenskonflikte mit ihrem Glaubens-Hintergrundbringen.3. Somatische Heilungserwartungen: WelcheErwartungen hat der Patient an dieHeilmethode? Wird diese als Ergänzungzu medizinisch notwendigen Maßnahmenangewendet oder verhindert sieeine erfolgversprechende Be handlung?4. Die emotionale Ebene: Alternativmedizinerfüllt oft das Bedürfnis nach Zuwendung,Aussprache und Hoffnung. Jenach Persönlichkeitsreife des Patientenkann das Abraten von einer alternativenBehandlung ohne entspre chendeemotionale Auffangmöglichkeiten zuernsthaften emotionalen Krisen führen,selbst wenn die Kritik objektiv durchausberechtigt ist.37


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINZehn Thesen zu einer ganzheitlichen Medizin auschristlicher Sicht1. JA zu einer ganzheitlichen Betrachtungdes Menschen in allen seinen Lebensbezügen– jedoch auf der Grundlage desWortes Gottes und des darin entwickeltenBildes vom Menschen. NEIN zueiner synkretistischen, pantheistischenSystemschau des Lebens, die aus demOkkulten schöpft.2. JA zu einem verantwortungsbewusstenund zurückhaltenden Umgang mit dentherapeutischen Möglichkeiten der modernenMedizin. NEIN zu einem Ersatzbewährter medizinischer Anwendungendurch eine naturheilkundliche und esoterischeTherapienflut ohne wissenschaftlicheGrundlage.3. JA zu einer Betrachtung und Behandlungvon Krankheiten unter Berücksichtigunggeistlicher Einflüsse auf dasmenschliche Befinden. NEIN zu einerkosmischen Sicht des Krankheitsgeschehensauf dem Hintergrund östlicherSpiritualität.4. JA zur Förderung der Eigenverantwortungund zur Unterstützung gottgegebenerSelbstheilungskräfte. NEIN zu einer psychologischenSelbstverwirklichungs–Ideologie und zu Techniken, die Selbstheilungskräfteauf magischem und östlich‐meditativemWege fördern sollen.5. JA zu einer Besinnung über dem WortGottes durch Bibellese und Gebet. NEINzu meditativen und autosuggestivenVerfahren, die den Menschen nur aufsich selbst oder auf «geistige Kräfte»hinführen.6. JA zum segnenden Gebet über Krankenim Rahmen der von Jakobus 5 gegebenenAnweisungen. NEIN zu Handauflegungund Massage, die «heilende Energie» aufden Patienten übertragen soll.7. JA zur Offenheit für übernatürliche Heilungund Wunder durch das Wirken desHeiligen Geistes, im Rahmen der christlichenGemeinde und im Kontext desEvangeliums. NEIN zur Geistheilung unterZuhilfenahme von jenseitigen Kräftenund Geistern.8. JA zum Bekennen und zur Abkehr von okkultenPraktiken. Bei Unsicherheiten inder Beurteilung einer Heilmethode eherzum Verzicht raten. NEIN zur vorschnellenund einseitigen Erklärung psychischerund somatischer Beschwerdendurch eine «okkulte Belastung» wegeneiner Behandlung mit alternativen Heilmethoden.9. JA zur Realität der Vergänglichkeit, Anfechtbarkeitund Schwachheit des Menschenin dieser Welt. NEIN zu einer Betonungder Gesundheit als Ausdruck derHarmonie mit Gott.10. JA zur Betonung von Gottes Wirkenauch im Leiden, sei es zur inneren Reifungeines Menschen oder aber auch zurErzeigung seiner Kraft in der Schwachheit.Die christliche Gemeinde hat einenwesentlichen Auftrag zu einer ganzheitlichenBetreuung kranker Menschen, dienicht nur Heilung, sondern auch dasTragen der Schwachen miteinschließt.38


DR. SAMUEL PFEIFER: SPANNUNGSFELD ALTERNATIVMEDIZINVom Umgang mit Schwachheit und KrankheitWir haben gesehen: Nicht nur die Medizin muß sich ändern. Auch die Patienten müssenumdenken und ihr Streben nach «Gesund heit um jeden Preis» relativieren in derschmerzlichen Wirklich keit unserer Grenzen und unserer Schwachheit.Wir alle müssen lernen, mit unserer Unvollkommenheit und Vergänglichkeit zu leben.Besser als jede Abhandlung wird dies ausgedrückt in dem bekannten Gebet von BlaisePascal:«Herr, ich bitte Dich nicht um Gesundheit,auch nicht um Krankheit,nicht um Leben und nicht um Tod.Aber darum bitte ich Dich,dass Du verfügen mögestüber meine Gesundheit und über meine Krankheit,über mein Leben und über meinen Todzu deinem Ruhm, zu meiner Errettungund zum Nutzen der Gemeinde und Deiner Heiligen,deren einer ich durch Deine Gnade sein möchte.Du allein weißt, was mir dienlich ist,Du bist der unumschränkte Herr;tue mit mir nach Deinem Willen.Gib mir oder nimm von mir,nur mache meinen Willen übereinstimmendmit dem Deinen!»Internet-Ressourcenwww.gesund.ch: Eine Fülle von esoterischgeprägten Informationen zu über 50alternativen Heilmethoden.www.quackwatch.com: kritische Informationenüber alternative Heilweisen.Allgemeiner Hinweis:Unter der Adresse www.google.de könnenSie jedes Schlagwort im Netz finden.39


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGEANHANGFolgende Bücher von Dr. Samuel Pfeifer zur Thematik sindin gedruckter Form erhältlich:Samuel PfeiferDie Schwachen tragen. Psychische Erkrankungenund biblische Seelsorge.Brunnen Verlag Basel.ISBN 978-3-7655-1266-7Samuel PfeiferWenn der Glaube zum Konflikt wird. Wege zurinneren Heilung.Brunnen Verlag Basel.ISBN 978-3-7655-1437-1Samuel PfeiferDer sensible Mensch. Leben zwischen Begabungund Verletzlichkeit.SCM Hänssler Verlag, Holzgerlingen.ISBN 978-3-7751-5400-0Samuel Pfeifer und Hansjörg BräumerDie zerrissene Seele. Borderline und Seelsorge.SCM Hänssler Verlag, Holzgerlingen.ISBN 978-3-417-20644-9ANHANGI


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGESamuel PfeiferDepression – Krankheit der Moderne.SCM Hänssler Verlag, Holzgerlingen.ISBN 978-3-7751-5179-5Wolfgang J. Bittner und Samuel PfeiferAuf der Suche nach Gesundheit – Chancen undGrenzen der Alternativmedizin.SCM R. Brockhaus VerlagISBN 978-3-417-26239-1ANHANGII


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGEGedruckte HefteAlle Seminarhefte in diesem PDF-Handbuch sind auch ingedruckter Form im Verlag der Klinik Sonnenhalde (Riehenbei Basel) erhältlich - Bestelladressen finden Sie amSchluss:Depression verstehen und bewältigen.ISBN 978-3-905709-16-2Borderline – emotional instabile Persönlichkeitsstörung.Diagnose, Therapie, Seelsorge.ISBN 978-3-905709-19-3Psychosomatik – Wie können wir die Sprache des Körpersverstehen?ISBN 978-3-905709-20-9Schlafen und Träumen. Schlafstörungen – Diagnose undTherapie.ISBN 978-3-905709-21-6Zwang und Zweifel. Therapie und Seelsorge beiZwangsstörungen (OCD).ISBN 978-3-905709-26-1Internetsucht: Die dunkle Seite des Netzes.ISBN 978-3-905709-27-8Angst verstehen und bewältigen.ISBN 978-3-905709-23-0ANHANGIII


<strong>BASISWISSEN</strong> <strong>SEELISCHE</strong> <strong>ERKRANKUNGEN</strong>,PSYCHIATRIE & PSYCHOTHERAPIE FÜR DIE SEELSORGESchizophrenie – Diagnose, Therapie, Seelsorge.ISBN 978-3-905709-18-6Stress und Burnout verstehen und bewältigen.ISBN 978-3-905709-25-4Wenn Sensibilität zur Krankheit wird.ISBN 978-3-905709-24-7Spannungsfeld Alternativmedizin, Psyche und Glaube.ISBN 978-3-905709-14-8Bezugsquelle für gedruckte hefte:Schweiz:Psychiatrische Klinik SonnenhaldeGänshaldenweg 28CH-4125 Riehen - SchweizTel. (+41) 061 645 46 46Fax (+41) 061 645 46 00ONLINE-Bestellung: www.seminare-ps.netE-Mail: seminare@sonnenhalde.chDeutschland / EU:Alpha BuchhandlungMarktplatz 9D-79539 LörrachTel. +49 (0) 7621 10303Fax +49 (0) 7821 82150ANHANGIV

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