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"Tatort Ohr": Die Erzählung

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Ohr<strong>Tatort</strong>Eine Kriminalgeschichtevon Susanne Neyen


Der Auftrag


Als ich das etwas düstere, immerleicht von Tabakrauch durchzogeneZimmer im ersten Stockdes Hauses Bornholmer Straße221b betrat, saß SherlockHolmes in seiner gewöhnlichen,leicht vorgebeugten Haltungam Schreibtisch, den rechtenEllenbogen aufgestützt, das Kinn aufdie Handfläche gedrückt. Wie so ofterweckte er mit seinen halb geschlossenenAugen beinahe den Eindruck zu schlafen,und nur wer das nicht immer ungetrübteVergnügen hatte, ihn schon so lange undgut zu kennen wie ich, konnte an der heftigenBewegung, mit der der Zeigefingerseiner linken Hand auf die schwarzeMahagoniplatte des Tisches trommelte,und den ungewöhnlichen Figuren, die dervon seiner Pfeife aufsteigende Qualm indie Luft zeichnete, erkennen, dass er aufdas Höchste erregt und bewegt war. Ohneauch nur mit dem Zucken eines Lideserkennen zu geben, dass er meine Anwesenheitbemerkt hatte, sagte er unvermittelt:„Mein lieber Watson, wir werdenArbeit bekommen. Ich denke sogar, dasswir hier einen Fall vor uns haben, der unsin dieser Art selbst in der langen Zeit unseresgemeinsamen Kampfes gegen das Verbrechennoch niemals untergekommenist.”Erst jetzt fielen mir zwei kleine Glasampullenmit einer bläulichen, gefährlichschimmernden Flüssigkeit auf, die vorihm lagen und offenbar seine ganze Aufmerksamkeitin Anspruch nahmen. Niehatte ich Ähnliches gesehen. War nichtauch Mrs. Hudsons Gesichtsausdrucknoch mehr als sonst von Bedenklichkeit, jaSorge geprägt gewesen, als sie mich imHausflur begrüßte?„Ich rechne auf Ihre Hilfe. Lassen Sieuns sofort aufbrechen!“. Mit diesen Wortenergriff er die beiden geheimnisvollenAmpullen und verließ schneller als sonstsein Büro, um auf die Straße zu eilen, sodass mir kaum Zeit blieb, Hut und Mantelvon Mrs. Hudson entgegen zu nehmen.Dann erst machte er mich mit den wenigenErkenntnissen vertraut, die ihm selbstbisher zur Verfügung standen.Es ging um eine Vermisstenanzeige.Mehr als 1.000 Zilien sollten spurlos verschwundensein. Lebten sie noch? Gab eseinen Unfall, waren sie gekidnappt wordenoder war es gar ein Mord? Ein kalterSchauer lief mir bei dem Wort Mord denRücken hinunter. Holmes schlug seinenMantelkragen höher und beschleunigteseine Schritte durch die nebelfeuchtenStraßen Berlins.Auf dem Weg zu seinem mir nochunbekannten Ziel gingen wir den Falldurch. Sein Auftraggeber – nennen wir ihnMister X, hatte die Zilien am Montag Morgengleich nach dem Aufstehen vermisst,d.h. er vermisste sie nicht persönlich –aber ihre Tätigkeit, die Arbeit, die sie tagtäglichfür ihn verrichteten – das Hören.Laut seiner Beschreibung war sein Gehörschlechter als zuvor, auch seltsam verändert- alle Töne und Geräusche hätteneinen dumpfen Klang, und gerade dann,wenn viele Geräusche auf einmal wahrzunehmenseien, wie z.B. bei einem Knei-3


penbesuch, dann könne er die Worte seinesGesprächspartners so gut wie gar nichtmehr verstehen.Das waren erste Anhaltspunkte. Natürlichbrauchten wir mehr Informationen.Immerhin war seither fast eine Woche vergangenund es gab noch keine einzigeSpur der Vermissten. Auch die eingehendeBefragung von Mister X hatte sich alswenig ergiebig erwiesen. Mister X, ein jungerMann der Großstadt, schien sich vonanderen Männern seines Alters nicht zuunterscheiden. Er arbeitete als Schlosserund verbrachte den Feierabend mit seinenFreunden im Kino, in der Kneipe, beimFuß- oder Basketball und manchmal aucheinfach nur faul im Fernsehsessel. Seit 65Tagen war er in ein Mädchen mit demNamen Laura verliebt und verbrachte seitdemjedes Wochenende mit ihr. Meistensgingen sie in irgendeinen Club tanzen.Holmes und auch ich konnten an dieserBeschreibung nichts Außergewöhnlichesausmachen. Hatte Mister X auch wirklichkein Detail vergessen? Erzählte er überhauptdie ganze Wahrheit, steckte er vielleichtselbst hinter dem Verbrechen?Anscheinend gehörte Mister X zu denMenschen, denen das Wohlergehen ihrerArbeiter ziemlich gleichgültig war. Wederkannte er die Namen der Vermissten, nochkonnte er sich an ihr Aussehen erinnern,ja, er wusste noch nicht einmal, wie vieleZilien bei ihm überhaupt beschäftigtwaren. Nun jedoch, da mehr als Tausendvon ihnen fehlten, gab er den Auftrag, siezu suchen. Holmes gestand, dass ihnirgendetwas an der Geschichte störte. Warer etwa einem Betrüger auf den Leimgegangen? Er versuchte dieses Gefühl zuunterdrücken; vage Gefühle würden ihnnicht weiterbringen, er brauchte Fakten,nichts als Fakten.Hier unterbrach ich seine Überlegungenmit den Worten: „Alles schön und gut,Holmes, aber könnten Sie mir nun auchmitteilen, wohin wir eigentlich wollen?Was haben wir vor?“ Holmes zeigte aufein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.„Gleimstraße 23 – dort ist es. Wirsehen uns den <strong>Tatort</strong> an. Sie wissen, lieberWatson, die <strong>Tatort</strong>besichtigung ist das Aund O unserer Arbeit. Wir werden Spurensuchen, mögliche Zeugen befragen undvielleicht, ja warum nicht, vielleicht treffenwir sogar den Täter!” „<strong>Tatort</strong>besichtigung?”,wiederholte ich, wobei mirHolmes’ etwas mitleidiger Blick verriet,dass mein Gesichtsausdruck nicht geradeden Ausdruck überwältigender Intelligenzangenommen hatte. Mit den Worten „FolgenSie mir, Watson”, ging er die Treppendes Wohnblocks 23 hoch bis zur zweitenEtage. Vor der Wohnungstür mit Mister X’Namensschild blieb er stehen und wandtesich zu mir. „Heute ist Samstag, der 23.9. – lassen Sie uns einen Uhrenvergleichmachen – meine Uhr zeigt 17.30 Uhr“.„Meine auch!“ murmelte ich, immer nochim Unklaren darüber, was auf michzukommen sollte.


Uhrenvergleich„Fangen wir also an. Wir haben genau7 Stunden Zeit, das sollte reichen.“ Er gabmir eines der Fläschchen mit der bläulichschimmernden Flüssigkeit und befahl:„Trinken sie dies möglichst restlos aus!Schmeckt nicht übel.“ Er selbst nahm daszweite Fläschchen und leerte es in einemZuge. Ich tat es ihm nach und spürtesogleich ein leichtes Kribbeln, erst in denArmen und Beinen, dann im ganzen Körper.Als ich mich umsah, bemerkte ich zumeinem grenzenlosen Schrecken, dass dieWelt um mich herum plötzlich zu wachsenschien und immer größer und größerwurde. Oder wurde etwa ich immer kleiner?Auf meine Frage antwortete Holmesnur lakonisch: „Machen Sie sich keineunnützen Gedanken, Watson. Alles istrelativ. Nun aber vorwärts! Wie Sie wissen,ist unsere Zeit begrenzt. Das Mittel,das wir eingenommen haben, erhielt ichvor vielen Jahren von einem Voodoo-Heileraus Nigeria, dem ich aus einer schierausweglosen Situation helfen konnte. Esverkleinert ihren Körper unfehlbar um dasfünftausendfache, die Wirkung hältjedoch, wie ich bereits erwähnt habe, nursieben Stunden an. Wir müssen also unsereAufgabe erfüllt haben, bevor wir wiederunsere ursprüngliche Größe annehmen.“Tatsächlich schrumpften wir in kürzesterZeit auf die Größe eines Flohs undauf diese Weise konnten wir ohne weiteresden Türspalt passieren und liefen unbemerktüber einen nur mäßig sauberenTeppichboden genau auf Mister X zu, deram Schreibtisch saß und aus gerötetenAugen seinen PC anstarrte. An seiner Jeanshoch und weiter über das T-Shirt zu laufenwar kein Problem. Dann aber kam dasschwierigste Stück. Der Weg über den Halsdirekt ins Ohr. Offenbar verspürte MisterX in diesem Moment ein lästiges Krabbeln,das er mit einer Handbewegung wegzuwischenversuchte. Eine haarige, rauhe Handverfehlte mich, der ich unmittelbar hinterHolmes her rannte, nur um Haaresbreite!Noch schockiert von diesem knappenEntrinnen aus tödlicher Gefahr und völligaußer Atem machte ich endlich meinemÄrger Luft. „Darf ich jetzt erfahren, worumes hier eigentlich geht? Wer sind diese tausendZilien? Was haben sie mit Mister X zutun, und wer könnte ein Interesse daranhaben, sie verschwinden zu lassen?“„Ruhig”, befahl Holmes mit einem unwilligenWinken seiner rechten Hand. „Siewerden alles erfahren.“ Er sah sich vorsichtigum. Allem Anschein nach befandenwir uns in einer matt beleuchtetenHöhle mit unregelmäßigen, schwach glänzendenWänden. Ein Tunnel führte weiterin uns unbekannte Tiefen.5


müssen, um in das Mittelohr zu gelangen.Das letzte Hindernis ist das ovale Fenster,erst dann werden wir am Ziel sein, imInnenohr. Dort gehen die Zilien ihrersegensreichen Beschäftigung als Antennender Hörsinneszellen nach.” Ich bemühtemich, gleichzeitig seinen Ausführungenund der markierten Linie auf dem Plan zufolgen, als er fortsetzte: „Aber, wie einemeiner Tanten mütterlicherseits gerneanmerkte: Eile mit Weile und alles derReihe nach. Beginnen wir also mit derOhrmuschel. Ich habe bereits herausgefunden,dass sie der Schallaufnahme undder Ortung dient. Hören wir doch einfacheinmal, was sie uns selbst noch zu sagenhat.” Höflich zogen wir unsere Hüte, undHolmes begann mit der Befragung, währendich mein Notizbuch ergriff, um alleneuen Erkenntnisse zu notieren.<strong>Die</strong> Ohrmuschel stellte sich als äußerstempfindsam, überaus neugierig und vielbeschäftigt heraus. Sie beklagte ein wenig,dass sie praktisch zu allen Tages- undNachtzeiten von allen Seiten Nachrichtenempfangen muss. Sie wusste, dass ihreSchwester auf der anderen Kopfseite dasselbetat, der von ihr aufgenommeneSchall weiter zum Gehörgang geleitet wirdund sogar, dass in bestimmten Zentren desGehirns, die über die beiden Ohrmuschelnempfangenen Nachrichten verglichenund ausgewertet werden: „Kommtder Schall nur wenige Bruchteile am linkenOhr früher als am rechten Ohr an, istes klar, dass die Schallquelle links zusuchen ist. Klangunterschiede dagegen,hervorgerufen durch Beugung der Schallwellenan mir und meiner Schwester,ermöglichen die Unterscheidung zwischenoben und unten bzw. vorne undhinten.” Mit hörbarem Stolz betonte dieOhrmuschel, dass erst ihre muschelartigeGestalt und die Rillen in ihr dem Gehirnermöglichen, diese Unterscheidungsarbeitzu leisten.„Wie praktisch und wohlgeplant vonder Natur, die Unterscheidung auf dieseWeise zu lösen“, rief ich aus. „Wir würdenja ansonsten noch je ein Ohr für obenund unten, vorne und hinten benötigen!”„Ganz richtig, Watson, dennoch aber sindunsere Hörleistungen im Vergleich mitdenen vieler Tiere ziemlich bescheiden.Denken Sie nur an die Hasen auf den Felderndraußen, die ihre Ohren auch nochbewegen und dadurch Geräusche viel feineranpeilen können! Natürlich sind sieschon durch die Größe ihrer Ohren bevorzugt– je größer die Ohren, desto mehrGeräusche können eingefangen werden.”„Wie mit einem Trichter“, schlussfolgerteich, und Holmes nickte. Auch die Ohrmuschelmachte eine anscheinend zustimmendeBewegung.Zwar waren wir mit diesem Interviewsehr zufrieden, denn die Ohrmuschel warsehr bereitwillig auf alle Fragen eingegangen.Allerdings hatte sie nichts Außergewöhnlichesin den letzten Tagen beobachtetund konnte uns keinerlei Anhaltspunktefür einen möglichen Tathergang liefern.Ich beeilte mich, diese ersten Ergebnisseunserer Untersuchung in mein Notizbucheinzutragen. Weiter notierte ich: „Allesohne Befund. Alle Vorsichtsmaßnahmeneingehalten, keine besonderen Vorkomm-7


1. Station: <strong>Die</strong> Ohrmuschel- sammelt Schall aus der Umweltund leitet ihn weiter zumKollegen Gehörgang- arbeitet nach dem Trichterprinzip- Richtungshören durch 2 Ohrenmöglich. Laufzeitdifferenzen beinicht paralleler Stellung der Ohren- Klangunterschiede ermöglichenOrtungnisse bemerkt.“ Als ich wieder aufblickte,sah ich Holmes bereits im Dunkel desGehörgangs verschwinden und folgte ihmhastig. „Ab hier können die ersten Gefahrenauf uns lauern. Schalten Sie bitteschon ihre Taschenlampe an, Watson! Eswird gleich finster werden.“ Mit einemkurzen Blick auf mein Schuhwerk brummteHolmes zufrieden: „Fest und solide, dasmüsste gehen“. Je weiter wir gingen, destoschwieriger wurde unser Weg. Fast schienes, als wollte unsere Umgebung uns gezieltam weiteren Vordringen hindern. Von derDecke und den Seiten des Ganges starrtenspitze Haarlanzen herab, und der Bodenwar mit einem sirupdicken, honiggelbenSchlamm bestrichen, der das Fortschreitenzunehmend beschwerlich machte.„Hätte hier nicht mal jemand saubermachen können? Was ist das eigentlichfür ein klebriges Zeug? Man kommt jakaum vorwärts!“ Angewidert blieb ich stehen„Sehr gut beobachtet”, bestätigteHolmes, „genau das ist der Grund, dassdiese zähe Masse hier liegt, sonst könnte jajeder hereinspazieren: Ohrenschmalz oderauch Cerumen wird sie genannt. <strong>Die</strong> spitzenHaare halten auch jegliches Ungezieferzurück, und sollte sich doch einmal soein Tierchen hereinwagen, so bleibt es spätestenshier stecken.”Bei diesen Erläuterungen bemerkteich, dass Holmes’ Stimme an den Wändenhin und her reflektiert und dadurchimmer lauter wurde. Aber noch eher icheingehender darüber nachdenken konnte,ging ein gewaltiges Schaukeln undSchieben durch unsere wenig anheimelndeUmgebung, so dass ich nur mit Mühemein Gleichgewicht wahren konnte. Nachca. 5 Minuten war es vorbei, und wir atmetenerleichtert auf. „Mister X hat gekaut!”stellte Holmes fest. Zu unserer Verärgerungmussten wir feststellen, dass während diesesVorgangs das gesamte Ohrenschmalzmit uns zurück in Richtung Ohrmuschelgewandert war und wir etwa 1 mm, unterdiesen Umständen eine erhebliche Strekke,nochmals gehen mussten. Trotzdem,es war eine wichtige Entdeckung. DasOhrenschmalz fegte übrigens mit seinerBewegung Richtung Ohrmuschel gleichnoch allen möglichen, in der letzten Zeitvon ihm eingesammelten Schmutzhinaus.Gewissenhaft notierte ich meine neugewonnenen Erkenntnisse und war imGeheimen froh, dass Mister X sich offenbarwenigstens keinen Kaugummi genommenhatte. Schließlich maß ich mit meinemZollstock den gesamten Gehörgangaus und schrieb auch diese Zahlen in meinNotizbuch. Holmes sah sich meine Auf-


zeichnungen sorgfältig an. Er nickte zufrieden.Das anschließende Interview mitdem Gehörgang erwies sich übrigens alsgenauso mühsam und zäh wie das Durchschreitendesselben. Auf alle Fragen antworteteer widerwillig und mürrisch undgab deutlich zu erkennen, dass er Eindringlingengrundsätzlich ablehnendgegenüber stehe: schließlich sei es seineHauptaufgabe, sie abzuwehren. Wir beeiltenuns daher zu versichern, dass unsereMission dem von ihm geschützten Bereichkeinesfalls schädlich, sondern eher nützlichsein könne. <strong>Die</strong>s schien ihn zu besänftigen.Holmes war sich sicher, dass es derWahrheit entsprach, als der Gehörgangmit „Nein“ auf seine Frage antwortete,ob er irgendetwas Außergewöhnlichesbemerkt hätte. Auch stellten wir fest, dasswir neben unseren eigenen keine weiterenSpuren entdecken konnten.Wir stapften also weiter und gelangtenschließlich schwer atmend underschöpft vor eine perlmuttgraue Wand,die in ständiger, in ihrer Art kaum zubeschreibender Bewegung war. ÄußersteVorsicht war geboten. Wenn Holmes Lageplandie Verhältnisse richtig wiedergab,wovon ich überzeugt war, musste dies nundas Trommelfell sein. Selbst während derBefragung durch Holmes hielt das Trommelfellkeine Sekunde mit seinen Schwingungeninne, so dass mir schon das ZusehenSchwindelgefühle verursachte unddas Mitschreiben fast unmöglich wurde.Auf meine etwas gereizte Frage, ob es nichtwenigstens für einige Sekunden still haltenkönne, antwortete es sehr bestimmt:„Nein, niemals. Nur wenn in meiner2. Station: Der Gehörgang- Länge: 3,5 cm- Knick ungefähr auf halber Höhe,vermute zum Schutz des Ohrs vorVerletzungen durch starre Fremdkörpervon außen- Goldgelber Belag - Ohrenschmalz oderauch Cerumen genannt - soll dasEindringen von Fremdkörpern oder kleinenTieren und das Festsetzen von Schmutzverhindern, hat außerdem antibakterielleWirkung (tötet Krankheitskeime)Umgebung wirklich vollständige Stilleherrschen würde, dann könnte auch ichruhig sein. Aber in meinem ganzen Lebenwar dies noch nie der Fall.” „Um GottesWillen!” entfuhr es mir, „Da sind Sie nichtzu beneiden! Aber was ist, wenn Mister Xin seinem ruhigen Schlafzimmer schläft?”„Nun ja, dann schwinge ich nur ganz sachte,manchmal nicht weiter als der Durchmessereines Wasserstoffatoms – also nurein Hundertmillionstel eines Millimeters.Denn auch wenn Mister X schläft, so kommendoch trotzdem Töne zu mir, die michin Bewegung halten – denken Sie an dasAtmen, die Geräusche von der Straße, dasVogelgezwitscher früh am Morgen, denWind oder den Regen oder auch dieGeräusche aus der Nachbarwohnung.“ ImStillen empfand ich Bedauern für unserenruhelosen Gesprächspartner, beschränktemich aber darauf, ihm zu versichern, wietreffend doch sein Name war, da er tatsächlichwie die Membran einer Trommelaussah und auch so ähnlich funktionierte.Ein Unterschied lag natürlich darin, dasseine echte Trommel schwingt und Töne9


selbst erzeugt, sobald sie geschlagen wird,während die Bewegung des Trommelfellserst dann entsteht, wenn ein schon existierenderTon eintrifft und auf es einwirkt.Übrigens schwang es umso stärker,je lauter die eintreffenden Töne waren.„Stimmt genau” freute sich das Trommelfellals ich diese Beobachtung kundtat„und im Grunde liegt mir diese elegante,rhythmische Tätigkeit sehr. Heute allerdingsfühle ich mich etwas erschlafft,denn ich hatte gestern fast zu viel zu tunund zwar stundenlang.”ErsteSpurenHolmes und ich sahen uns bedeutungsvollan. Hatten wir hier eine ersteSpur ungewöhnlicher Vorgänge vor uns?Leider konnte uns das Trommelfell keineweiteren Hinweise geben, irgendwelcheEindringlinge oder die vermissten Zilienhatte es nicht bemerkt. Allerdings, somerkte es an, käme dieses verstärkteSchwingen in letzter Zeit immer häufigervor und, wenn es sich nicht irre, immeram Wochenende. Ein weiterer Anhaltspunkt.Holmes nickte bedächtig mit demKopf und fragte: „Was befindet sich eigentlichauf Ihrer anderen Seite?” Bei diesenWorten leuchtete er das Trommelfell mitseiner Taschenlampe an und konnte einendunklen Schatten hinter ihm ausmachen.Das Trommelfell selbst schien in einensanften Schimmer getaucht. „Auf meineranderen Seite ist der Hammer, und ichgebe alle meine Schwingungen an ihn weiter”,gab das Trommelfell bereitwillig Auskunft.“„Aha! Dann wollen wir uns denjetzt einmal ansehen”, meinte Holmeszielstrebig. <strong>Die</strong>s jedoch rief den heftigstenWiderspruch des Trommelfells hervor,und auf unsere Nachfrage erklärte es, dasses von Natur aus undurchlässig sei; wederWasser noch Luft könnten durch es hindurchtreten,und schon gar nicht kleineMenschen wie wir. „Sie müssten mich zerstören,um in das Mittelohr zu kommen,so heißt nämlich der Raum, in dem derHammer und seine Freunde wohnen, undwenn ich zerstört bin, dann kann Mister Xnicht mehr richtig hören, und außerdemkönnen Wasser und Krankheitskeime indas empfindliche Mittelohr eindringen.Es würde Wochen dauern, bis ich wiederzusammengewachsen bin. Das können Siemir doch nicht antun!”„Aber nein, selbstverständlich nicht,”tröstete Holmes das aufgeregte Trommelfell.„Seien Sie unbesorgt, wir werden ganzanders vorgehen. Wir machen uns die Tatsachezunutze, dass Sie zwar weder Luftnoch Wasser hindurch lassen, aber sehrwohl das Licht, wie wir mit unsererTaschenlampe bereits bewiesen haben.Dementsprechend werden wir gemäß derbekannten Einstein´schen Gleichungunsere Masse in Energie umwandeln, undzwar in elektromagnetische, und kommendann zwar masse- und somit körperlos,


aber eben mit Lichtgeschwindigkeit aufIhre andere Seite.” Während das Trommelfellnoch diese Auskünfte hin und hererwog, ging ich noch einmal meine Aufzeichnungendurch, um sicher zu sein,nichts vergessen zu haben:3. Station: Das Trommelfell- elastisches, weiß- bis perlmuttgrauglänzendes Häutchen, nicht glatt - ehergewölbt- seine Fläche beträgt etwa 55 mm 2- schwingt schon bei den leisesten Tönen- trennt den Gehörgang vom Mittelohrluft- und wasserundurchlässig ab„Gut, das haben wir“ murmelte ichund nickte Holmes zufrieden zu. Es wurdeZeit, sich von dem freundlichen Trommelfellzu verabschieden, das uns noch vieleGrüße an alle auftrug, die wir auf unseremweiteren Weg noch treffen würden.11


DasMittelohrAuf der anderen Seite des Trommelfellsfanden wir uns ineinem kleinen Raum mit unregelmäßiggewölbten Wändenwieder. Seltsame, leise klickendeGeräusche erklangen umuns herum. „Das kann ja nurdie Paukenhöhle sein,“ stellte ich miteinem Blick auf meinen Plan fest. Undweil es in der Mitte ist, wird es auch alsMittelohr bezeichnet. „Vorsicht, der Hammer!”schrie Holmes plötzlich, bevor ichjedoch den Sinn dieser Warnung erfassenkonnte, traf mich ein harter Schlag vonder Seite, und ich taumelte zu Boden.„Kräftiger Hieb,” murmelte ich, eineschmerzhafte Beule auf der Stirn betastend.Noch sitzend blickte ich mich nachdem Übeltäter um und sah, dass es sichbei dem „Hammer” um einen Knochenhandelte, der mit dem Trommelfell festverbunden und daher ebenso wie diesesin ständiger Bewegung war. Sein anderesEnde war mit einem etwas kleineren Knochenverbunden, der wie ein Amboss aussahund dieser wiederum hing mit einemdritten Knochen zusammen, der einemSteigbügel ähnelte. Damit war klar, dassalle drei Knochen ihre ungewöhnlichenNamen, die ich auf meinem Plan bereitsmit Verwunderung bemerkt hatte, ihremAussehen verdankten. Mir fiel jetzt auf,dass dasselbe auch für andere Teile desOhrs galt, die wir bereits kennengelernthatten, nämlich die Ohrmuschel, denGehörgang, das Trommelfell und natürlichauch die Paukenhöhle. <strong>Die</strong> drei Knochen,deren Zusammenspiel auch für dieGeräuschkulisse um uns herum verantwortlichwar, überspannten diese Höhle


in ihrer Gesamtheit und wirkten dahersehr eindrucksvoll; bedachte ich jedochunsere eigene, gegenwärtig sehr geringeGröße, so konnten Hammer, Amboss undSteigbügel in Wirklichkeit kaum größerals Reiskörner sein.Während ich – noch immer dieschmerzhafte Beule betastend – versuchte,wieder auf die Beine zu gelangen, untersuchteHolmes die Paukenhöhle nach Spuren.Mit seiner Taschenlampe leuchtete erdie dunklen Randbereiche der Höhlegründlich aus. Ganz in diese Arbeit vertieftsah er die tiefe Grube direkt hinterihm nicht. „Halt!” schrie ich schreckensbleich,und dieser Schrei rettete Holmeswomöglich das Leben. Gerade noch rechtzeitigsprang er zurück und blickte entsetztin den abgrundtiefen Schlund, dersich vor ihm auftat. Schnell verwandeltesich sein Schrecken in Ärger, wie ichseinen wohl zu sich selbst gesprochenenWorten entnahm: „Natürlich, die EustachischeRöhre oder auch Ohrtrompete,wie konnte ich das nur vergessen, das hättemir nicht passieren dürfen.” Zu mirgewandt, bemerkte er dann: „Sehen Sie,lieber Watson, oft sind es die kleinenDinge, die große Unternehmungen zumErfolg oder zum Scheitern bringen. Wirwollen uns bemühen, diese Erkenntnis inZukunft nicht wieder zu vernachlässigen!”Inzwischen hatte sich die gefährliche Fallebereits wieder geschlossen, noch bevorHolmes’ Lampe irgendwelche Einzelheitensichtbar machen konnte. „Was zumTeufel war das eigentlich?” fragte ich, mitnoch etwas unsicherer Stimme. „Oh,eigentlich nichts weiter,” meinte Holmes,der seine Fassung offenbar schon wiedergefunden hatte. „Immer beim Gähnenoder beim Schlucken öffnet sich die Klappein der Röhre und der Luftdruck hierdrinnen kann sich dem äußeren anpassen.Das ist nötig, damit das Trommelfell freischwingen kann, denn Sie wissen ja, esselbst lässt niemanden durch, noch nichteinmal Luft.” „<strong>Die</strong>ser schrecklicheAbgrund führt also in den Nasen- undRachenraum?” fragte ich erstaunt. „Gutkombiniert, alter Freund und Weggefährte”lobte Holme, „Sie machen wahrhaftFortschritte! Aber nun nehmen Sie wiederStift und Buch zur Hand und schreibenmit, denn wir wollen diese drei Knocheneinmal befragen, ob ihnen in den letztenTagen etwas Besonderes aufgefallen ist.Zuvor schauen Sie sich aber einmal inRuhe an, wie sich die großen Schwingungendes Hammers in kleine Schwingungendes Steigbügels verwandeln. Ja, lieberWatson, was Sie hier aus nächster Näheund in höchster Vollendung in Augenscheinnehmen können, ist eine wirkliche,lebendige Demonstration des Hebelgesetzes.Ist das nicht faszinierend?”„Doch, doch, Holmes, aber ehrlichgesagt erlebe ich das Hebelgesetz lieberbeim gemütlichen Öffnen meiner Bierflasche,”entgegnete ich und erlebte die selteneFreude, meinen alten Freund ob meinerSchlagfertigkeit verblüfft zu sehen.Doch im nächsten Moment wandte er sichschon wieder den Knöchelchen zu, um sienach etwaigen ungewöhnlichen Vorkommnissenzu befragen. „Oh ja, wirmussten gestern Sonderschicht machen,wieder einmal, so wie fast jedes Wochen-13


ende, und das, ohne die Überstundenirgendwann mal abbummeln zu dürfen!”Mit einem zornigen Ausdruck schwangder Hammer und der Amboss fiel sogleichein: „Das stimmt genau, wenn wenigstensmal zwischendurch eine etwas geruhsamerePhase käme, könnte man es ja ertragen.”„Stellen Sie sich vor,” fuhr der kleinstevon ihnen, der Steigbügel, fort. „Wirarbeiten Tag und Nacht. Immer sind wiraktiv. Was läuft denn ohne uns? Kein Tonkäme durch, und außerdem verstärken wirden schwachen Schalldruck, den uns dasTrommelfell weitergibt, noch um 30 Prozent- also das 1,3 fache! In der Nacht läuftes ja normalerweise etwas ruhiger. Es istdann eigentlich eher ein geruhsamesSchaukeln hier. Aber neuerdings ist es so,als ob Presslufthämmer auf das Trommelfellund damit auch auf uns einschlagen.Gut, dass die Gewerkschaft nun endlichmal was unternimmt. Sie sind doch vonder Gewerkschaft, oder nicht?” Hoffnungsvollsah er Holmes und mich an.Mit Bedauern in der Stimme antworteteHolmes: „Nein, von der Gewerkschaft sindwir nicht. Aber wir untersuchen diese seltsameEntwicklung, und ich glaube, dassunsere Ergebnisse auch Ihnen helfen werden.Zunächst würde uns besonders interessieren,ob Sie vielleicht irgendjemandengesehen haben? Sind vielleicht bei Ihneneinige Hundert Zilien vorbeigekommen?”„Nein, nein, hier kam niemand entlang“,meinte der Steigbügel. „<strong>Die</strong> Zilienwohnen hinter dem ovalen Fenster. Ichbin ja direkt mit diesem verbunden, pocheständig dagegen und würde zu gerne maldurchschauen, bloß um zu sehen, was dalos ist. Umgekehrt ist es übrigens genauso.Auch die Zilien können da nicht durch.Das Fenster ist ständig geschlossen, es istgenauso dicht wie das Trommelfell. Abergestern war dort wieder ziemlich was los.Ich sage Ihnen, irgendetwas stimmt danicht. Selbst als es bei uns schon langewieder ruhiger war, haben wir es nochgehört.” „Gehört? Was denn genau?“ fragtenwir beide gleichzeitig und sichtlichgespannt. „Na, so ein eigenartiges Pfeifenund Wimmern. Hören Sie es? Selbst jetztpfeift es noch.”PfeifenundWimmernTatsächlich, jetzt als er es sagte, hörtenwir es auch. War es ein Wimmern, einHeulen oder ein Pfeifen? Es ähnelte jedenfallsdem Geräusch, das wir zu Beginnunserer Reise gehört hatten, nur war esjetzt noch viel eindringlicher. Wir bestätigtenuns gegenseitig unseren Eindruck,noch niemals Ähnliches gehört zu haben.Wir mussten unbedingt weiter – zumersten Male hatten wir das deutlicheGefühl, der Lösung dieses ungewöhnli-


chen Falles auf der Spur zu sein. Lebtendie Zilien vielleicht noch? Wurden siegefangen gehalten, vielleicht gar gefoltert?Holmes ermahnte mich jetzt, meineAufzeichnungen möglichst schnell zubeenden. Laut sprach ich beim Schreibenmit: „<strong>Die</strong> Schallschwingungen der Luftwerden also über das Trommelfell inmechanische Schwingungen der Gehörknöchelchenketteumgewandelt, verstärktund auf das ovale Fenster, dem Eingangzum Innenohr, geleitet.”4. Station: Das Mittelohr, auchPaukenhöhle genannt- über Eustachische Röhre (Ohrtrompete)mit Nasen-Rachenraum verbunden zwecksDruckausgleich- 3 Gehörknöchelchen(kaum größer als ein Reiskorn):Hammer (mit seinem Stiel mit demTrommelfell verwachsen), Amboss, Steigbügel(verwachsen mit dem ovalen Fenster)- Verstärkung des Schalldrucks um das1,3- fache (= 30% mehr)„Stimmt genau, Watson!” Holmesnickte mir anerkennend zu. Als ich meineAufzeichnungen beendet hatte, sah ichihn schon die Maße des ovalen Fenstersund der daran hängenden Platte des Steigbügelsnehmen. Also behielt ich Stift undBuch in der Hand und eilte zu ihm hin,um weiter zu notieren. Zunächst aberüberraschte mich Holmes mit der Frage:„Wissen Sie eigentlich, Watson, warumdas ovale Fenster etwa um das 17 fachekleiner ist als das Trommelfell?” „Hm,nein – vielleicht ein Zufall?” sagte ichunbedacht. Holmes hob die linke Braue,sichtlich unzufrieden mit meiner Antwort.„Sie enttäuschen mich, lieber Watson.Ihnen als Mediziner müsste wohl bekanntsein, dass die menschliche Anatomie nichtauf zufällige Entwicklungen beruht! Dahat alles seinen Sinn. Im Übrigen, habenSie im Rahmen Ihrer doch sonst einigermaßenerfolgreichen Ausbildung nichtauch drei Semester Physik studiert?” <strong>Die</strong>senkleinen Wink nahm ich dankbar auf.<strong>Die</strong> Größenverhältnisse der beiden Fensterhatten also einen physikalischen Hintergrund.Vielleicht bedurfte es nur eineskleinen Fensters, weil auch der Raumdahinter klein war? Nein, das wäre wohlzu simpel gedacht.Als Holmes bemerkte, dass mein angestrengtesNachdenken fruchtlos blieb, entschlosser sich, mir einen weiteren Winkzu geben. „Nun, Watson, stellen Sie sichdoch einmal vor, Sie gehen mit Ms. Blacktanzen….” „Sie meinen, hm, Ms. White,”verbesserte ich ihn, wobei ich ein leichtesErröten nicht verhindern konnte. „Na gut,also Ms. White, und auf einmal tritt Ihnenein Herr mit breiten Absätzen auf denSchuh.” „ Ja, das passiert schon mal,”bestätigte ich. „Gut, aber dann tritt IhnenMs. White mit ihren spitzen Schuhen mitPfennigabsätzen auf den Fuß. Und nunfrage ich Sie, Watson, spüren Sie einenUnterschied?” beendete Holmes seine Ausführungen.In Erinnerung an Vorfälle dieserArt zog ich ein schmerzliches Gesicht.15


So sehr ich die vielen hervorragendenEigenschaften von Ms. White zu schätzenwusste, spürte ich geradezu, wie sich derkleine spitze Absatz in meinen Fuß bohrteund das gesamte Gewicht von Ms.White darauf von oben nachdrückte. „Na,haben Sie es heraus?” unterbrach Holmesmeine Gedanken und blickte mich erwartungsvollan. Schon wollte ich abwinken,als mir die rettende Formel wieder einfiel.„Der Druck ist gleich dem Quotienten ausKraft und Fläche! Das heißt, bei gleichbleibenderKraft ist der auf eine Fläche ausgeübteDruck umso größer, je kleiner dieseFläche ist – z.B. der Pfennigabsatz im Vergleichmit dem breiten Absatz. – So musses sein. Das gleiche Phänomen kenne ichvom Gießen mit dem Wasserschlauch:Wenn ich den Querschnitt der Öffnungverkleinere, schießt das Wasser mit größeremDruck heraus.”„Gut” meinte Holmes, „sehr gut! Wirhaben es hier, wie Sie richtig erkannthaben, mit einer Druckerhöhung zu tun.Lassen Sie uns berechnen, wie viel siebeträgt! Wenn wir die ausgemessene Flächedes Trommelfells von 55 mm2 mit derder Steigbügelplatte von 3,2 mm2 vergleichen,kommen wir auf einen 17-fachenGrößenunterschied, also auch zu einerVerstärkung um das ca. 17-fache. Multipliziertmit der 1,3 fachen Verstärkungdurch die Hebelwirkung ergibt sich eineGesamtverstärkung des Schalldrucks umdas etwa 22-fache.” „Gewaltig!” staunteich. „Ein geniales Prinzip!” ergänzteHolmes. Wenn Sie nun noch mit IhrenNotizen endlich fertig werden, folgen Siemir bitte weiter.” Rasch fasste ich zusammen:5. Station: Das Ovale Fenster;der Eingang zum Innenohr- leitet Schwingungen vom letzten Knöchelchen,dem Steigbügel weiter- verstärkt den Druck durch die geringereGröße- über Hebelgesetz und FlächendifferenzVerstärkung des ursprünglichen Schalldrucks um das 22-facheWas würde wohl als Nächstes kommen?Erwartungsvoll transformierten wirwieder unsere Masse gemäß derEinstein´schen Formel kurzzeitig in Lichtenergieund gelangten so auf schonbewährte Weise durch das ovale Fensterin das Innenohr. Sofort nahmen zweimerkwürdige Gebilde unsere gesamte Aufmerksamkeitin Anspruch.


Das sieht ja hier aus wie aufeiner Kunstausstellung!” riefich Holmes staunend zu. <strong>Die</strong>serlegte den Finger auf denMund, energisch Ruhe mahnend.„Leise, Watson! Wir sindam Ziel. Wir sind im Innenohr.”Er verglich die Landschaft mit demPlan. „Dort drüben, sehen Sie diese dreiBögen? Das ist das Gleichgewichtszentrum,und wir sind genau hier.” Er wiesmit seinem langen, schmalen Zeigefingerauf ein Kreuz innerhalb des Planes, unterdem die Worte TATORT standen. Auf dieseMitteilung spürte ich ein leichtes Zitternin meinen Beinen, und abwechselndheiße und kalte Schauer durchfuhrenmich. Gerne hätte ich mich gesetzt, aberdazu war keine Gelegenheit. Wie vonFerne hörte ich Holmes’ Stimme: „Hier istdie Schnecke – auch Cochlea genannt.“„Tatsächlich, Holmes, das sieht aus wieeine Schnecke, im Prinzip ein Schlauch,der zweieinhalb mal zusammengerolltist.“ Allmählich gewann ich meine Fassungzurück und war wieder in der Lage,Holmes’ Anweisungen hinsichtlich weitererBefunde zu folgen und machte folgendeNotizen:ImInnenohr6. Station:Das Innenohr mit der Schnecke- Spiralig gewundener Gangmit 2,5 Windungen- Gesamtlänge 35 mm mit zweiSchneckenfenstern- vordere Öffnung: ovales Fenster,hintere Öffnung: rundes Fenster17


„So, das reicht erst einmal. Wir werdenuns hier jetzt genauer umsehen. Wir müssenjede Auffälligkeit aufspüren, jede nochso kleine Spur untersuchen. Und denkenSie daran, Watson: Vielleicht lauert derTäter immer noch hier, also äußerste Vorsicht!Von nun an bleiben wir zusammen,”mahnte Holmes nochmals eindringlich.Wir schlichen jetzt mit größter Vorsichtweiter und kamen zu einer Stelle, wosich die Schnecke in drei einzelne Gängeunterteilte. Unschlüssig, welchen davonwir betreten sollten, schaute Holmes aufseinen Plan und murmelte: „Hm, Paukengang,Schneckengang und Vorhofgang.Ich glaube, wir müssen hier entlang, hier,in den mittleren Gang. Zögernd betratenwir den Schneckengang und bliebenunvermittelt vor einem Feld stehen, dasetwa knöcheltief unter Wasser stand. „Wieein Reisfeld,” überlegte ich laut, denngenau so sah es jedenfalls auf den erstenBlick aus. Allerdings wirkte das Feld ziemlichkunstvoll und einer bestimmtem Ordnungunterworfen, als ob der Erbauernach einem bestimmten System gearbeitethätte, und dies peinlichst genau. Unzähligviele Halme standen musterhaft geordnetin vier Reihen, wobei die drei äußeren Reihenin Form von Zacken verliefen, dieinnere dagegen als ziemlich gerade Linie.<strong>Die</strong>ses harmonische Bild wurde jedochdadurch beeinträchtigt, dass an verschiedenenStellen unübersehbar deutlicheLücken klafften. Holmes rief triumphierend:„Da sind sie also, die Zilien, die feinenHärchen auf den Sinneszellen für dasHören. Stellen Sie sich vor, ca. 20.000davon hat der Mensch in jedem Ohr!”Sehr eingehend betrachtete er nun dieLücken in der sonst so eleganten Konstruktion.„Tatsächlich, es stimmt. Falls michder optische Eindruck nicht trügt – was,äußerst selten vorkommt , dann fehlenhier an die 1.000 Zilien. Sieht aus, als obein Orkan über das Feld gefegt wäre,”seufzte Holmes schließlich. „Oder eineWildschweinherde gewütet hätte,” fügteich hinzu.Orkan imZilienfeldHolmes betrachtete mich grübelnd,strich sich dann mit einer raschen Bewegungdie Haare aus der Stirn und meinteschließlich: „Lassen Sie uns alles noch einmalrekapitulieren, bevor wir dieses Zilienfeldnäher in Augenschein nehmen. Watson,gehen wir den Fall noch einmalgründlich durch. Ich habe die düstereAhnung, dass wir einem wichtigenAnhaltspunkt noch nicht die gebührendeAufmerksamkeit geschenkt haben unddeshalb immer noch im Dunklen tappen.“Damit hatte er auch im Wortsinne Recht,denn bis hierhin in die Schnecke verirrtesich kein Lichtstrahl mehr von außen, unddie Taschenlampe war unsere einzigeLichtquelle.


Holmes wandte sich fragend an mich:„Haben Sie eine Vermutung, Watson?” Ichnahm mein Notizbuch und trug vor:„Also, Fakt ist, dass Mister X nicht mehrrichtig hört. Das Hören funktioniert folgendermaßen:<strong>Die</strong> Ohrmuschel nimmtwie ein Trichter alle Töne auf und leitetsie über den Gehörgang auf das Trommelfell.<strong>Die</strong>ses wird durch die Bewegung derLuftmoleküle im Gehörgang zum Schwingenangeregt und leitet seine Schwingungenauf den Hammer weiter. Dann geht esweiter über den Amboss und den Steigbügelbis zum ovalen Fenster, dem Eingangzum Innenohr, wo die Zilien die Impulseübernehmen und die Hörsinneszellen denRest der Hörarbeit erledigen. Mein Verdachtist, dass der Täter unter den Virenoder Bakterien zu suchen ist. Was mirjedoch unklar ist: Der einzige Weg, in dasOhr zu gelangen, geht über das äußereOhr. Dort im Gehörgang waren jedochtrotz des Ohrenschmalzbelags keine Spurenzu entdecken – das verwirrt mich einwenig. Sollten die Verursacher über einraffiniertes System der Spurenverwischungverfügen? Vielleicht wurden dieSpuren auch durch die Kaubewegungenund die darauf folgende Fortbewegung desOhrenschmalzes ausgelöscht? Allerdingshat auch das Trommelfell niemandengesehen, obwohl es Tag und Nacht wachist. Außerdem ist es luft- und wasserundurchlässig.Andererseits, vielleicht verfügtder Täter über eine ähnliche Technikwie wir? Schließlich haben auch wir es bishierher geschafft; man sollte ihn nichtunterschätzen.” Holmes Miene blieb beimeinen Darlegungen völlig unbeweglich,so dass ich nicht einschätzen konnte, wieweit er meine Gedanken teilte. Ich fuhralso fort: „Bisher haben wir keine Auffälligkeitenbemerkt, alles funktioniert reibungslos.Das Trommelfell schwingt beijedem Geräusch. Auch Hammer, Ambossund Steigbügel verrichten anstandslos ihreArbeit. Sie verstärken die mechanischenSchwingungen und übertragen sie auf dasovale Fenster, eine ähnliche Membran wiedas Trommelfell, nur um das Siebzehnfachekleiner. Das bringt nochmals eine Verstärkung,und so kommt die notwendigeInformation vollständig hierher in dasInnenohr. Alles ist in Ordnung und funktionierttadellos.” Mit einem Seufzer beendeteich meine Ausführungen: „Ich fürchte,alle Untersuchungen und Interviewswaren umsonst. Wir haben weder einenAnhaltspunkt noch einen Verdächtigenausmachen können!”Holmes betrachtete mich intensiv, alswäre ich ein seltenes Insekt und runzeltedie Stirn. „Watson, zeigen Sie doch einmalIhre Aufzeichnungen her. Sie enttäuschenmich, denn Sie haben ein paarbedeutungsvolle Details vergessen. StörtSie etwa das Pfeifen derart, dass Sie keinenklaren Gedanken mehr fassen können?Erstens: Es stimmt nicht, dass das Außenohrder einzige Weg hierher ist. DenkenSie an meinen Sturz, den Sie freundlicherweiseverhindert haben! Nicht nur überunseren Weg, sondern auch über denNasen-Rachenraum und die EustachischeRöhre, wie ich bei meinem Sturz erkundenkonnte, gelangt man hinein. Und inder Tat, wie bekannte Wissenschaftler undÄrzte bereits nachgewiesen haben, ist diesereben von mir beschriebene Weg zum19


Mittelohr hin derjenige, den Viren undBakterien am häufigsten nehmen. Dasweitere Wirken dieser Eindringlinge kanndort zu einer äußerst schmerzvollen Entzündungführen, der Mittelohrentzündung.Aber durch unsere gründlichenUntersuchungen konnten wir bereits feststellen,dass es keinerlei Entzündung imMittelohr gab. Alles war in Ordnung. Undzweitens, Watson: Sie haben den Umstandvergessen, dass Trommelfell und Knöchelchenüber zunehmende Arbeit und wenigerRuhestunden klagten. Es kann gutmöglich sein, dass dies mit unserem Fall inVerbindung steht. Ein äußerst ernst zunehmender Anhaltspunkt sozusagen.Bitte ergänzen Sie schleunigst Ihre Notizen.Und noch eins: Was mich am meistenwundert ist, dass Mister X sich sosicher war, dass Zilien fehlen. Wir zweiwissen nun, dass sie tatsächlich fehlen,aber wir sind ja auch hier und haben allesgründlich untersucht und mit unsereneigenen Augen gesehen. Ich frage mich,und das sollten Sie, geehrter Watson, auchtun: Woher wusste er das eigentlich sogenau?”Natürlich sah ich bei diesen Wortensofort ein, dass seine Kritik durchausberechtigt war – wie hatte ich dieseErkenntnisse nur übersehen können? Vonmeinem wohl etwas verlegenen Gesichtsausdruckunbeeindruckt, fuhr Holmes miterhobenen Zeigefinger fort: „Tatsache ist,dass Mister X nicht mehr gut hört – aberwoher weiß er, dass fehlende Zilien daranSchuld sind? Genauso gut hätte doch dasTrommelfell beschädigt sein können oderein mit Ohrenschmalz verstopftes Ohr,oder auch ein defektes Gehörknöchelchen.”Wieder sah er mich eindringlichan. Als er jedoch bemerkte, dass ich nochnicht ganz verstand, worauf er hinauswollte, fuhr er in seinen Überlegungenfort: „Also, Watson: Stellen Sie sich dasOhr wie eine Weihnachtsbaumlichterkettevor. Nur wenn alle kleinen Lämpchen,alle Kontakte und Leitungen in Ordnungsind, dann erfüllt dieses Ding seinenZweck: die Kette leuchtet. Ist jedoch anirgendeiner Stelle ein Lämpchen kaputtoder ein Kontakt lose, beispielsweise durchdas Herausschrauben einer Lampe, dannleuchtet die gesamte Kette nicht. Ähnlichist es auch mit dem Ohr. Wenn irgendwoauf der Hörstrecke eine defekte Stelle ist,dann funktioniert das Hören nicht. Eshätte genauso gut eines der Gehörknöchelchenkaputt sein können, wie es beiBeethoven der Fall war, falls Ihnen derName dieses vorzüglichen Komponistengeläufig ist.” Bevor ich wegen dieser Unterstellungvon Unkenntnis protestierenkonnte, fuhr er bereits fort: „Sehen Sie,unsere Untersuchungen waren bis jetztkeineswegs umsonst. Wir haben feststellenkönnen, dass das Außenohr und dasMittelohr reibungslos funktionieren unddass der Hördefekt wirklich allein imInnenohr bei den Zilien zu suchen ist. Verdächtigist jetzt vor allem, dass dies MisterX bereits bekannt war. Wir sollten diesenPunkt im Auge behalten. Aber nehmen wirvorerst die anwesenden Zilien etwas näherin Augenschein. Watson, bleiben Sie bittedicht bei mir und machen Sie sich auf dasÄußerste gefasst.” Fest entschlossen, jedwedemÜbel zu trotzen, näherten wir unsdem Zilienfeld.


<strong>Die</strong> Zilien waren sehr filigrane Gebildeund sahen wunderschön, jedoch auchäußerst empfindlich aus. Hauchzart undgeschmeidig waren sie in ständiger Bewegung.Manche schwangen zusammen,andere langsamer oder schneller, und wiederandere bewegten sich so sacht, dassman es kaum wahrnehmen konnte. Einständiges Murmeln und Brummen erfülltedie Luft, allerdings war immer noch dasunangenehme Pfeifen zu hören underschien hier sogar noch eindringlicherzu sein. Holmes sprach die Vermutungaus, dass die Bewegung der Zilien offenbaraus dem Untergrund der Zellen, mit denensie verwurzelt waren, resultiere. <strong>Die</strong>ser saheinem Teppich ähnlich und befand sichin stetiger Wellenbewegung. Je nachdemwo eine Bodenwelle aus ihm hervortrat,da schwangen die Zilien mit und je größerdiese Welle war, umso stärker waren dieSchwingungen der Zilien.„<strong>Die</strong>ser Teppich heißt in Wirklichkeitübrigens Basilarmembran,” klärte Holmesmich auf und fuhr alsdann fort: „Sie müssenwissen, Watson, das ovale Fenster übtmit seinen Schwingungen Druck auf dieFlüssigkeit im Innenohr aus. Wie alle Flüssigkeitenkann auch diese nicht zusammengedrückt,sondern nur verschobenwerden. Genau das geschieht hier auch,und dadurch fängt schließlich auch dieBasilarmembran an zu schwingen.” Ichsah hinunter zu meinen Füßen, und tatsächlichschwappte das Wasser ständigüber meine Schuhe. „Wie am Meeresstrand!”„Genau so,” gab mir Holmesrecht und fuhr in seinen Ausführungentrotz der immer feuchter werdenden Füßeunbeirrt fort. „<strong>Die</strong> Zilien schwingen indem Wasser mit und diese Schwingbewegungender Zilien werden letztendlich inelektro-chemische Signale umgewandeltund dem Hörnerv gesendet, der dann dieNachricht an das Gehirn weiterleitet. DasGehirn interpretiert die Signale und filtertunwichtige Informationen heraus. Dasist dann schließlich das, was wir unterHören verstehen.” Hastig schrieb ich dieseErläuterungen auf, in der Annahme, dassHolmes mit der Befragung der Zilienbeginnen wollte.Immer noch 6. Station:<strong>Die</strong> Schnecke- Enthält ca. 15.000 äußere und3.500 innere Haarzellen, auch Zilienbenannt- Aufgabe: Umwandlung der Schallschwingungenin NervensignaleZielstrebig gingen wir auf eine einzelneZilie in der äußeren Reihe zu. Rings umsie herum verrieten feine Abdrücke, woeinst ihre Verwandten und Freundegestanden hatten. Holmes Stimme klangleicht belegt, als er mir zuflüsterte: „Hiermuss ein gewaltiger Kampf getobt habenund, wie ich befürchte, ein ziemlichungleicher.“ Auf unsere freundliche Begrüßungerhielten wir keinerlei Antwort,nicht einmal zu einem Kopfnicken schiendie kleine Zilie im Stande zu sein. Sie wirkteziemlich mitgenommen, ja regelrechtausgehungert, wie wir beim genaueren21


Hinsehen feststellten. Blass und an verschiedenenStellen bandagiert, konnte siesich nur mit Mühe aufrecht halten. IhrGesichtsausdruck wirkte ängstlich, verschüchtertund äußerst nervös. Auch aufunsere weiteren behutsamen Versuche,Antwort von ihr zu bekommen, reagiertesie nicht. Als ich Holmes schließlich zuflüsterte,dass sie wahrscheinlich unterSchock stünde, weil ihre Freunde und Verwandtenalle verschwunden und, wie esaussah, wahrscheinlich tot waren, fing dieZilie in den schrillsten Tönen zu pfeifenan. „Das ist wahrscheinlich ihre Art zutrauern,” meinte Holmes mit leiser Stimme.Es war ihm anzusehen, wie ihm dasLeid der kleinen Zilie zu Herzen ging.Wir sahen uns um und fanden etwasweiter entfernt vier weitere Zilien, die sichim letzten Todeskrampf quälten, anderehatten schon den letzten Atemzug getan,die Gesichter zu einer Maske des Schrekkensverzerrt. „Bedauerlicherweise könnenwir nichts mehr für sie tun. Wederkönnen wir ihre Freunde zurückbringen,noch etwas an ihrem bedauernswertenUmstand ändern,” seufzte Holmes. „Wenndie Zilien einmal von ihrem Platz gerissenwerden, ist es vorbei – für immer. Leiderkönnen sie sich nicht vermehren.” „Unddie Ärzte?” versuchte ich noch mal. „Solltees nicht Spezialisten geben, die hierdoch noch helfen können?” „Nein, lieberWatson, glauben Sie einem nicht ganzunerfahrenen Freund – hier kommt jedeHilfe zu spät!” Holmes hieß mich dieKamera nehmen und Beweisphotos aufzunehmen.Alsdann gingen wir betrübtweiter in der Hoffnung, wenigstens eineZilie zu finden, die uns Näheres berichtenkonnte. Je weiter wir liefen, desto engerwurde der Gang, und es schien mir, alswären die Zilien hier in einem etwas besserenZustand. Doch noch etwas Bedeutendesfiel mir auf, und nach längeremÜberlegen erkundigte ich mich beiHolmes, ob auch er bemerkte, dass die inunserer Umgebung hörbaren Töne immertiefer wurden, je weiter wir vordrangen.„Gut aufgepasst,” entgegnete Holmes aufmeine entsprechende Frage, „dies ist dassogenannte Schallwellenklavier!” „Daswas, bitte?” Ich meinte mich verhört zuhaben. „Nun, das Schallwellenklavier,”wiederholte Holmes. „Vorne am ovalenFenster sind diejenigen Zilien angesiedelt,die die hohen Töne verarbeiten, und jeweiter man kommt, desto tiefere Tönewerden empfangen. Jeder Punkt desSchneckenganges steht für eine bestimmteFrequenz, das heißt Tonhöhe. Ähnlichwie jede Taste beim Klavier einen bestimmtenTon erzeugt.”DemTäter aufder Spur


Holmes entschloss sich, noch einenweiteren Versuch der Befragung zu unternehmenund strebte einer Gruppe vonZilien entgegen, in deren Umgebung nochkeine Lücken zu bemerken waren. Dochauch hier hatte er kein Glück. <strong>Die</strong> zartenGeschöpfe sahen ihn nur verschüchtertan und wiegten sich um ihre Achse, demPendeln einer Uhr ähnlich. „Also ich vermute,sie haben hier alle den Verstand verloren,und wenn sie nicht bald mit diesemewigen Rumgeschaukel aufhören,befürchte ich, dass ich das gleiche Schicksalerleide. Können die nicht mal einenMoment still halten?” brummte ich unwilligvor mich hin. Während dieser Schimpfattackebreitete sich plötzlich eine freudigeErregung auf Holmes’ Gesicht aus.Um seinen Mund spielte das siegessichereLächeln, das immer dann auftrat, wenn ersich seiner Sache sicher war. Aber geradeals ich ihn fragen wollte, ob er diese Wakkeleivielleicht lustig fände, begann einimposantes, bewegendes Schauspiel, vondem ich später behauptete, nie im Lebenje etwas Schöneres gesehen zu haben. AlleZilien fassten sich bei den Händen undbewegten sich voller Eleganz und Entzükkenim gleichen Takt. Bald durchströmteauch uns eine Harmonie und ein Wohlgefühl,wie wir es beide zuvor niemals erlebthatten. <strong>Die</strong> Zeit schien stehen zu bleiben.Ohne ein Wort zu sprechen, sahen wir zu.Allerdings war Holmes professionellgenug, auf seine Uhr zu schauen. Offenbartraf er Schlussfolgerungen, die alle seinebisherigen Vermutungen bestätigten,denn er lächelte weiter sein Siegerlächeln,während er das großartige Schauspielgenoss. Nach etwa einer Stunde war es vorüberund der Alltag trat wieder mit seinemGebrumme und Getuschel im Zilienfeldein. „Was war das?” fragte ich Holmes,noch immer ganz benommen. „Ich glaube,ich habe jetzt die Spur, wie auch denTäter,” antwortete mein Freund und fuhrnach einem erneuten, kurzen Blick aufseine Uhr fort: „Jetzt ist es 22:00 Uhr, ummeine Vermutung völlig abzusichern,müssen wir noch eine Stunde warten.Trotzdem empfiehlt es sich, schon einmalden Rückweg anzutreten. Ich warne Sie,Watson, der Täter hat die Schlagkraft einesOrkans. Er ist erbarmungslos und machtkeinerlei Unterschiede. Wer sich ihm inden Weg stellt, steht nicht mehr auf.Machen wir uns also auf einiges gefasstund, vor allem, besprechen wir auf demWeg zum ovalen Fenster unsere Taktik.Dort werden wir ihn dann erwarten.Obwohl mir diese Worte nicht ganzverständlich waren, folgte ich ihm sofort,wobei ich insgeheim darüber Freude empfand,dass diese Mission sich ihrem Endenäherte. Noch während ich über HolmesWorte grübelte, fuhr dieser fort: „Wir werdenuns in der Nähe des ovalen Fenstersaufhalten. Wenn der Täter kommt, so werdenwir ihn auf frischer Tat beobachtenund dann sofort durch das ovale Fensterüber das Mittelohr, vorbei an Steigbügel,Amboss und Hammer durch das Trommelfellfliehen. Geben Sie dabei Acht, lieberWatson, insbesondere auf die Schlagkraftdes Hammers, der Rückweg wirdgefährlicher als der Hinweg sein.” <strong>Die</strong>sschien mir allerdings ein wenig befriedigendesVorhaben zu sein, so dass ich mirnach einigen Sekunden des Nachdenkens23


erlaubte einzuwenden: „Werden wir dennnicht versuchen, den Täter zu stellen, zuüberwältigen und festzunehmen?” AberHolmes schüttelte nur den Kopf. SeinGesicht wirkte angespannt, ja sogar beunruhigt,als er feststellte: „Unmöglich, dassteht nicht in unserer Macht – alleinMister X kann ihn ausschalten. Wir beidewerden in unserem jetzigen Zustand daraufachten müssen, dass wir nicht selbst zuOpfern werden! Darum ist es unbedingtnötig, uns unverzüglich so gut es ebengeht zu schützen.”Auf derFlucht„Ah, die kugelsicheren Westen, wiegut, dass wir sie angelegt haben,” überlegteich laut. Holmes jedoch teilte meineZuversicht offenbar nicht, denn er entgegnetesorgenvoll: „Oh nein, lieber Watson,auch diese sonst so nützlichen Bekleidungsstückewerden uns in diesem Fallewenig nützen.” Nach einem Griff in seineHosentaschen reichte er mir zwei kleineelastisch wirkende Bolzen und fuhr fort:„Auch diese Schaumstoffstöpsel hier könnenunsere Sicherheit nicht garantieren,dennoch benötigen wir sie dringend! NehmenSie diese, stecken sie sie sich fest indie Ohren und nehmen Sie sie auf keinenFall heraus, was auch immer passiert. Es istinzwischen fünf Minuten vor 23.00 Uhr,wir haben das ovale Fenster erreicht.Wenn meine Überlegungen korrekt sind,wird es gleich losgehen.”Mit diesen Worten nahm er selbstauch zwei dieser Stöpsel und steckte siesich, indem er sie leicht zusammendrückte,in die Ohren. Ich tat es ihm sogleichnach, wobei ich einen kurzen Momentüberlegte, woran mich diese Stöpsel erinnerten.Dann fiel es mir ein, und ichfürchte, mein Gesicht wurde bleich: <strong>Die</strong>Sirenen bei der Odyssee! Einen kurzenMoment lang hatte ich noch Zeit zu bereuen,mich mit Holmes auf diese wahnwitzigeReise begeben zu haben, als ich auchschon heftige Schläge gegen meinen Brustkorbund die Magengrube gleichzeitig verspürte.<strong>Die</strong>se waren von einer derartigenWucht, dass sie mich in die Knie zwangen.Als ich zu den Zilien blickte, sah ich,dass diese wie bei einem starken Orkanhin und her gepeitscht wurden. Reihenweiseknickten sie zu Boden. Manche, dieschon angeschlagen waren, wie die kleineeinsame Zilie, die wir soeben versuchthatten zu befragen, brachen ab und wurdenweggespült. Nur mit höchster Anstrengungkonnten wir selbst ein ähnlichesSchicksal vermeiden. Ich riß die Augenauf, so weit ich konnte. Wo war der Täter?Sehen konnte ich ihn nicht, dafür aberumso deutlicher die Verheerungen, die eranrichtete. Ein Geist, ein unsichtbarerGeist tobte hier! Kaltes Grausen durchfuhrmich, und als Holmes mir mit einemWink zu verstehen gab, dass wir lieber vondiesem Ort verschwinden sollten, krochich ihm rasch nach, zurück durch das


ovale Fenster. Nur fort von diesem Ort desGrauens! Auch im Mittelohr erwartete unsein völlig anderes Bild als auf dem Hinweg.Alle drei Gehörknöchelchen schufteten,was das Zeug hielt. Der Schweißrann nur so an ihnen herab und der Hammerbeanspruchte eine Schwingungsweite,die es uns kaum ermöglichte, sich anihm vorbei zum Trommelfell zu begeben.Auch dieses wummerte mit einer Kraft, diewir vorher nicht für möglich gehalten hätten.Statt eines leichten Zitterns teilte esnun regelrechte Schläge aus.Wir nahmen all unsere Energie zusammenund landeten schließlich völligerschöpft im Gehörgang. Hier waren wirerst einmal in Sicherheit – zumindest warkeiner hier, der uns erschlagen wollte.Allerdings sahen wir nun in Richtung Ohrmuschelständig Lichtblitze aufflackern,begleitet von permanenten Getöse undGewummer und nicht enden wollendenDruckwellen, die uns daran hinderten,auch nur einen Schritt weiter zu kommen.Was war da draußen los? Ein Unwetter?Ein Hurrikan mitten in Deutschland?oder nie!” bedeutete und rannte so schnellwie möglich in Richtung Ohrmuschel. Ichfolgte ihm auf dem Fuße. Wieder war derWeg durch den Gehörgang beschwerlich,und wir mussten die letzten Kräfte zusammennehmen, um voran zu kommen.Immer wieder blickte Holmes nervös aufdie Uhr und gab mir zu verstehen, dasswir schneller laufen mussten. Siedendheiß fiel mir ein, dass die Zeit jetzt gegenuns arbeitete. In wenigen Minuten würdenwir wieder unsere ursprünglicheGröße annehmen! Bis dahin mussten wirunbemerkt und möglichst schnell ausdem Ohr heraus gelangen, ohne sofortniedergetrampelt zu werden. Ziemlichgefährlich, wenn man auf dieser Weltklein wie ein Floh ist und keine Ahnunghat, wo man sich überhaupt befindet! Wohielt sich Mister X im Moment gerade auf?<strong>Die</strong>s waren meine letzten Gedanken, alsich schließlich den Rand der Ohrmuschelerreichte, das Gleichgewicht verlor und indie Tiefe stürzte.Holmes bedeutete mir durch Handzeichen,dass ich auf keinen Fall meineOhrenstöpsel herausnehmen sollte. Soverharrten wir eine Ewigkeit auf der Stelle,schwer atmend und in Erwartung dessen,was weiter geschehen würde. Irgendwannschließlich, Holmes meinte später,es sei eine Zeit von 43 Minuten vergangen,die mir allerdings mindestens dreimal so lang vorkam, spürten wir abruptein Abnehmen der Druckwellen. Holmesgab mir ein Zeichen, das soviel wie „Jetzt25


Was weitergeschah


Als ich wieder zu mir kam, fandich mich neben einer dieserToiletten wieder, wo die Sauberkeitnicht das oberste Gebotist. Mein Kopf dröhnte undmeine Kleidung sah nicht vielbesser aus als die Toiletten.Viel Zeit zur Orientierung blieb mir abernicht, denn es packte mich ein kräftigerArm, der zu einem bulldoggenähnlicheMann gehörte, dessen zweiter Arm bereitsHolmes in der Mangel hatte. <strong>Die</strong>ser nicktemir höflich zu und zwei Momente späterfanden wir uns auf der Straße wieder.Der Bulldoggenmann rief uns noch einigeSchimpfwörter hinterher, die es nicht wertsind, wiederholt zu werden, gefolgt vondem Hinweis, es gäbe hier nichts zuschnüffeln, überhaupt wären sie ein seriösesEtablissement und hätten nichts zuverbergen. Nach einem kurzen Blick aufmein wenig gesellschaftsfähiges Äußeresbemerkte Holmes: „Nun gut. Ich schlagevor, wir gehen jetzt nach Hause, nehmenein Bad und”, wobei er ein weiteres Malseine Uhr zu Rate zog, „treffen wir unsPunkt 9:00 Uhr in meinem Büro. Jetzt istes 0:45 Uhr. Bringen Sie frische Brötchenmit, aber bitte von dem Bäcker an derEcke, die sind am besten. Noch Fragen,Watson?”Was für eine Frage! Ich hätte wohlnoch tausend Fragen gehabt, war aber imMoment einfach zu müde, sie zu stellenund vermutete, dass er mir die Antwortenohnehin Punkt 9:00 Uhr in seinem Büroliefern würde. Darum beschränkte ichmich auf ein Kopfschütteln, vergaß auchnicht, Holmes für den unterhaltsamenAbend zu danken, und hob die Hand, umein vorbeifahrendes Taxi anzuhalten.Holmes nickte mir freundlich zu und gingin Richtung Straßenbahn.<strong>Die</strong>ÜberführungAls ich am Morgen exakt 9:00 Uhr beiHolmes anklopfte, strömte mir frischerKaffeegeruch in die Nase, der alsbald dieletzten Müdigkeitserscheinungen verscheuchte.„Setzen Sie sich doch,” forderteHolmes mich auf. Ich ließ mich nichtlange bitten, die Erschöpfung der letztenStunden steckte mir schließlich immernoch in den Beinen. Ich ließ mir Kaffeeeinschenken und sah meinen Freundgespannt an. „Nun, mein lieber Watson,”meinte dieser gut gelaunt, „wollen Sieauch ein Glas Sekt zum Kaffee, auf dasswir auf unsere gelungene Mission anstoßenkönnen?” „Gelungene Mission?” fragteich ihn ungläubig. „Ja wissen Sie etwa,wer der Täter ist? Haben Sie ihn gesehen?”Zu meiner Enttäuschung antwortete eretwas ausweichend: „Ja und nein. Aber27


gehen wir doch den Fall noch einmalgemeinsam durch. Vielleicht kommen Sieselbst auf die Lösung, Sie haben mirschließlich auch den entscheidenden Tippgeliefert.” „Ich? Ja aber - wann denn, undwelchen?” fragte ich ungläubig. „Also gut,der Reihe nach.” Mit diesen Wortennahm Holmes einen Stift zur Hand undbreitete den mir nur zu gut bekanntenPlan aus. „Nach der eingehenden Begutachtungund Befragung der Ohrmuschelund des Gehörgangs, des Trommelfellsund der drei Gehörknöchelchen im Mittelohrwar mir klar, dass es kein Täter imherkömmlichen Sinne sein konnte.Irgendein Getier, ja selbst die kleinen Bakterien,sie alle wären nicht unbemerkt vonGehörgang und Trommelfell und schließlichHammer, Amboss und Steigbügel vorbeigekommen.Selbst jemand mit Masse-Lichtenergiewandeltechnik wäre bemerktworden. In der Schnecke jedoch, als ichdas Ausmaß der Verwüstung sah, wurdeich ein wenig unsicher. Der Täter schienmit System vorgegangen sein. Am Eingangder Schnecke fehlten mehr Zilien als amEnde. Doch welches Motiv sollte es füreine derartige Untat geben?Wie um mich, in meiner dem Leserwohl verständlichen Wißbegierde weiterauf die Folter zu spannen, hielt er an dieserStelle inne und begann in aller Ruhe,seine Lieblingspfeife, ein scheußlichesaltes Ding mit langem Stiel und schonreichlich zerbissenem Mundstück, mitdem von ihm so geschätzten ägyptischenKraut zu stopfen, das mir gelegentlich mittelschwereHustenanfälle zu verursachenpflegt. Endlich fuhr er fort: „Ja, die Fragenach dem Motiv ging mir nicht aus demSinn, und als Sie, lieber Watson, übrigensäußerst genial – ich weiß nicht, ob ichirgendwann selbst darauf gekommenwäre; also als Sie bemerkten, dass dieZilien ständig, tatsächlich pausenlos zappelten,ging mir schließlich ein Licht auf.Ich hatte den Täter – das Zappeln derZilien war sozusagen ein Abbild von ihm,verstehen Sie, Watson?” Doch ich sah ihnnur irritiert an und fragte: „Selbstmord,denken Sie, es war Selbstmord?” „Nein,nein, das konnte nicht sein, das hatte ichvorher schon ausgeschlossen. <strong>Die</strong> Bemerkungender Gehörknöchelchen und desTrommelfells über die zunehmendeArbeit, insbesondere am Wochenende,wiesen auf einen ganz anderen Umstandhin.” Nun allmählich doch etwas ungeduldiggeworden, forderte ich ihn unumwundenauf: „Nun sagen Sie schon! Wasgab es für ein Motiv?”DasTatmotivHolmes sah mir fest in die Augen,soweit dies die dichten Rauchschwadenerlaubten, die sich in seiner Umgebunginzwischen gebildet hatten. „Ich fürchte,wir müssen zur Kenntnis nehmen: Es gibtund es gab kein Motiv!” Ungläubig starr-


te ich ihn an und begann zu fürchten, dassdas gerade erst überstandene Abenteuerseinen Verstand vorübergehend beeinträchtigthatte. Laut sagte ich: „Und einenTäter? Gibt es etwa auch keinen Täter.”Doch Holmes blieb vollständig gelassen.„Oh doch, einen Täter gibt es oder bessergesagt, eine Täterin.“ „Aber wer war esdenn nun? Haben Sie sie verhaftet oderwenigstens die Polizei benachrichtigt?”„Oh nein, lieber Watson, das liegt gänzlichaußerhalb unserer Kompetenzen. <strong>Die</strong> Täterinist – die PHYSIK!”Ich traute meinen Ohren nicht undließ mich heftig in meinen Sessel zurückfallen. Tadelnd sah Holmes mich an:“Bewahren Sie Haltung, lieber Watson.<strong>Die</strong>s antike Möbelstück hat mich seinerzeit1.800 Deutsche Mark gekostet und istmir lieb und wert.“Nach diesem kleinen Tadel fuhr er mitseinen Erläuterungen fort: „Mein lieberWatson, bedenken Sie: das Hören wirdeinerseits nur durch physikalische Phänomenemöglich, aber auf der anderen Seitekönnen diese unser Gehör auch zerstören,wenn man unvorsichtig bzw. leichtsinnigdamit umgeht.” Aufmerksam folgte ichseinen weiteren Worten: „Wir haben imOhr viel gelernt. <strong>Die</strong>ses Wissen hilft unsnun, den Fall zu rekapitulieren. <strong>Die</strong> Schallwellenwerden durch unsere Ohrmuschelaufgefangen …” „wie von einem Trichter,”ergänzte ich. Holmes nickte zustimmendund fuhr fort. „Nun, der Gehörgang leitetdie Schallwellen weiter, genau auf dasTrommelfell zu und dieses schwingt. Da inunserer Welt fortwährend Geräusche sind,befindet sich das Trommelfell sozusagenin einem ständigen Schwingungszustand.Durch seine Aussage, dass es in letzter Zeitspeziell am Wochenende immer viel mehrzu tun hatte als sonst, schlussfolgerte ich,dass dies mit Mister X’ Freundin zu tunhaben müsste. Seitdem er mit ihr zusammenist, geht er am Wochenende in Clubszum Tanzen. Hier nun liegt der Schlüsselzu allem Weiteren. Je größer die Lautstärkeder Umgebung ist, desto stärkerschwingt das Trommelfell, und dieses stärkereSchwingen des Trommelfells erklärtauch die Mehrarbeit der Gehörknöchelchen.Es ist wie eine Kette – ein Glied folgtauf das andere. Letztendlich, und daraufbrachten Sie mich mit ihrer Bemerkung,dass die Zilien genauso zappelten wie dasTrommelfell, letztendlich also schwingenauch die Zilien umso stärker, je lauter esist, d.h. umso größere Schallpegel auf dasOhr einwirken. <strong>Die</strong>ser Zusammenhangzwischen Geräusch und Schwingen derZilien bestätigte sich kurz nach ihrerBemerkung in diesem phänomenalenSchauspiel, das wir miterleben durften. Zudieser Zeit war Mister X in einem Konzert.Seine Mutter hatte ihn gebeten, sie zubegleiten. Harmonische Klänge, ich glaube,sie hörten Vivaldis vier Jahreszeiten.Das Konzert dauerte etwa eine Stunde undwir konnten diese phantastische Musik imInnenohr umgesetzt als harmonischeSchwingungen der Zilien genießen. Da ichwusste, dass Mister X sich nach dem Konzertbesuchmit seiner Mutter gegen 23.00Uhr mit Laura in einem der Clubs treffenwollte, ahnte ich Schreckliches voraus. Wirmussten uns in Sicherheit bringen. Wärenwir zu der Zeit noch inmitten des Zilienfel-29


des gewesen, so könnten wir jetzt nichtgemütlich Kaffee trinken. Darum mahnteich zur Eile. Ich konnte es mir jedoch nichtverkneifen, das Wirken des Schallorkanseiner Discothek im Innenohr einmal ausnächster Nähe zu betrachten. Wann hatman schon die Gelegenheit dazu? Darumpostierten wir uns vor dem ovalen Fenster,um schnellstmöglichst bei Bedarf zu flüchten.Was wir dann ja auch getan haben,wie sie selbst wissen.”Musikfür dieOhren„<strong>Die</strong>ser unsichtbare Orkan, der imZilienfeld wütete, war also nichts anderesals Musik?” warf ich ungläubig ein. „Siesagen es, Watson,“ fuhr Holmes fort, entfesselteMusik sozusagen. Vergleichen wirMusik mit einem Bächlein oder auchFluss: Beide bringen den Menschen Segenund Freude. Ohne Wasser kann derMensch nicht leben. Auch ohne Töne oderMusik ist ein Leben nur schwer vorstellbar,aber wenn es zur Sturmflut kommt,dann wird der vorherige Segen zum Tod –beim Wasser wie bei der Musik. Sie hat indieser ohrenbetäubenden Lautstärke vielenZilien Leid und Tod gebracht. Jetzt fragenSie sich vielleicht, Watson, warumnun gerade die Zilien getroffen wurden.Aber die Frage können Sie natürlich selbstbeantworten, wenn Sie sich erinnern, wiezart und sensibel diese sind. Tausend maldünner als ein Haar, sie hatten keineChance und diejenigen, die vorne standen,noch weniger als die am Ende derSchnecke.”Wieder unterbrach er seine Erläuterungen,um den Tabak in seiner Pfeife nachzustopfen,und ließ mir so einige Augenblicke,seine Mitteilungen zu verarbeiten,bevor er fortfuhr: „Wir haben es beidegesehen – all dies geschah ohne wenn undaber – die reine Physik. Wenn einebestimmte Lautstärke erreicht ist, knickedie Zilien ab, genauso wie auch Bäume beieiner bestimmten Windstärke entwurzeltwerden. Da ist es übrigens auch egal, welcheArt von Musik gespielt wird. AuchMaschinenlärm oder Silvesterknallerei, jaselbst Vivaldis Vierjahreszeitenkonzert,wenn es in nicht angemessener Lautstärkegespielt wird, kann die Ursache sein. MerkenSie sich das, Watson, und schützen Sieihre Ohren beim nächsten Schützenkönigwettbewerb!Der Rest ist schnellerzählt. Im Gehörgang angekommen,machten mir die Blitze, das waren dieLichteffekte der Diskothek, und dasGewummere deutlich, dass wir uns nochinmitten der Tanzfläche befinden mussten.Ein Ausstieg wäre zu diesem Zeitpunktviel zu gefährlich für uns gewesen. Bei derFülle von Menschen auf der Tanzfläche


wären wir mit Sicherheit niedergetrampeltworden. Also wartete ich ab, bis es leiserwurde. Der Grund dafür war, dass Mister Xden wenig einladenden Toilettenbereichaufsuchte, mit dem wir dann unliebsameBekanntschaft schlossen. Ich merkte dasdaran, dass es mit einem mal ruhigerwurde, die Druckwellen abflachten. ZumGlück geschah dies gerade noch rechtzeitig,denn, wie Sie wissen, waren die unszur Verfügung stehenden sieben Stundenschon beinahe verstrichen. Also hastetenwir hinaus und purzelten auch schon aufden Boden. Dabei haben Sie sich wohlwehgetan und schrien laut auf. <strong>Die</strong>s wiederumerregte die Aufmerksamkeit einesTürstehers, der zutreffend erkannte, dasswir nicht dem ihm gewohnten Publikumangehörten, und uns hinaus beförderte.Was uns das Suchen nach dem Ausgangersparte, denn ich hatte sowieso nicht vor,an diesem Ort länger zu verbleiben.”Vor Erregung über das Gehörte immernoch tief atmend, nickte ich zustimmend.Soweit war mir alles klar, aber eine Fragewar noch offen geblieben, und zwar dieFrage, die wir uns schon die ganze Zeitgestellt hatten. Ich sprach sie nochmalsaus: „Aber woher wusste Mister X überhaupt,dass Zilien fehlen?” „Auch das habeich inzwischen geklärt, antworteteHolmes. Er war beim Ohrenarzt und derhat verschiedene Tests durchgeführt.Anhand dieser Tests kann man feststellen,wo ein Schaden im Ohr zu suchen ist.Allerdings kann der Arzt nicht bis zu denZilien schauen, so wie es uns möglich war.Er konnte nicht so wie wir, das Ausmaßerkennen. Aufgrund seiner Erfahrungkonnte er Mister X aber mitteilen, dass ereine Schädigung im Innenohr erlitten hatund diese auf den Verlust von Zilienschließen lässt.” „<strong>Die</strong> wir dann suchensollten“, rief ich aus. Holmes nicktezustimmend.„So war Mister X also unschuldig”,warf ich ein. „Ja und nein, denke ich,” entgegneteHolmes. „Er selbst hat sein Ohrin diese Lage gebracht, allerdings ohne zuwissen, was er ihm antut. Jetzt allerdingsweiß er Bescheid. Ich habe ihm einengenauen Bericht zukommen lassen. Auchhoffe ich, dass Ihre Fotos von den abgeknicktenZilien, unsere Beweisphotossozusagen, ein Umdenken bei ihm auslösenwerden. Von nun an liegt es allein anihm, wie es seinen verbliebenen Zilienergehen wird. Wie auch immer, damitwäre der Fall gelöst! Lassen Sie uns anstoßen,Dr. Watson! Sie waren mir, wieimmer, eine große Hilfe.” „Es war mirauch diesmal ein großes Vergnügen,” entgegneteich mit einer leichten Verbeugungund wir ließen die Gläser klingen.Ende31

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