13.07.2015 Aufrufe

Der Sommer - Das Carpe Diem Literaturjournal

Der Sommer - Das Carpe Diem Literaturjournal

Der Sommer - Das Carpe Diem Literaturjournal

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Erzählungen<strong>Der</strong> Flug des Adlersvon Gynther RieblIch stütze den Kopf in die Hände und blicke aus demFenster. Wie immer in so einem Augenblick kommenmir Gedanken an die Vergangenheit. Ja, die Vergangenheit!Desiree. <strong>Das</strong> war die Erste. Es war in Marseille.Ich hatte damals zum x-ten male >Die Leidendes jungen Werther< gelesen. Auch über uns habeich einen Roman zu schreiben begonnen. >Clisson etEugenie< habe ich ihn genannt. Soll ich ihn weiterschreiben?Nein, es gibt so viel anderes zu tun, meinLeben, alles aufzeichnen, für die Nachwelt erhalten.Da war Josephine, die ich nicht weniger mochte, damitschien alles gut zu sein, aber sie hat mich späterdoch enttäuscht. Es waren ja genug andere da. Maria,Eleonore, Francoise-Marie, Victoria. Erst Mariekonnte meine Hoffnungen erfüllen, wenn sie michauch nicht mochte. Keiner mochte sie. Immerhin,sie hat mir den kleinen Franz geboren. Aber Desiree- das war der Anfang, das war der Frühling. Obwohlich von ihr ablassen musste, wir hätten doch keineZukunft gehabt. <strong>Das</strong> Leben hätte sie sich fast genommen.Arme Desiree!Victoria. Von ihr stammt Eugen. Und Maria. <strong>Das</strong> warin Warschau. Sieben Jahre waren wir beisammen.Auch sie hat mir einen Sohn geboren, Alexander. Siewar eine besonders treue Seele.Dennoch, das alles war nur Beiwerk, die wahrenWerte des Lebens liegen woanders. Marseille, Berlin,Warschau. Was bin ich herumgereist. Kaum ein Fleckin Europa, den ich nicht kennengelernt hätte. Italien.Die Stadt Toulon. Eigentlich hat es dort angefangen.<strong>Das</strong> Direktorium hat mich hingeschickt. Wie alt warich damals? So um die vierundzwanzig. Dann war ichsogar in Ägypten. Es war zuerst gar nicht einfach, dasDirektorium zu überreden. Aber dann haben sie michdoch nach Ägypten geschickt. <strong>Das</strong> war ein Erlebnis,die Pyramiden zu sehen! Die Wüste, die Hitze! Schade,dass ich dort soviel verloren habe.Aber da war Berlin! Schöne Erinnerung! Ich glaube,das war der Gipfel. Nie nachher habe ich solchen Erfolggehabt. Es war an einem Oktobertag, das weissich noch. Davout hat sich dort besonders ausgezeichnet.<strong>Der</strong> eiserne Davout, der mir so oft erfolgreich zurSeite gestanden ist!Gedanken an meine Mutter tauchen auf. Tauchen aufund ziehen vorbei. Mutter und Ajaccio. Es hat sovielWichtigeres gegeben in meinem Leben. Bei meinemwichtigsten Ereignis war sie nicht anwesend, ich habesie nicht eingeladen, und das hat sie mir übel genommen.Wie oft war ich in Ajaccio, bei meiner Familie?Jedenfalls bin ich nach der Revolution wieder dortgewesen. Wo dann die Sache mit Paoli war. Meinevielen Geschwister, denen ich helfen konnte. Bis aufLucien, der hat es nicht verdient, mit seinen verquerenAnsichten. Aber eine gute Familie ist sehr wichtig.Die hat mir auch gegen Paoli geholfen.Ägypten -. <strong>Der</strong> geheimnisvolle Stein. Abukir. Nachherhat sich das Direktorium aufgelöst. <strong>Der</strong> achtzehnteBrumaire, da habe ich es geschafft. Obwohl, das mitdem Brumaire und das ganze System habe ich ihnenwieder ausgetrieben, sieben Jahre später.Ja, sieben Jahre später. Da war ich in Berlin. <strong>Der</strong> Gipfel.Dann in Warschau, bei Maria. Treue Seele. Wievielewaren es doch? Sehr viele. Georgina, Catherine,Carlotta -Katharina hätte ich heiraten sollen, da wäre mir somanches erspart geblieben. Die Kälte und die Entbehrungenin Russland. Immerhin war da Marie-Louise,die mir den Franz geboren hat, den kleinen Francois.Den Sohn des Adlers habe ich ihn genannt. <strong>Das</strong> warin Paris.Paris, Berlin, Warschau. Wo war ich überall? Ich musses aufschreiben, alles aufzeichnen, für die Nachwelterhalten. Ajaccio, Marseille, Toulon. All die kleinerenStädte, Mondovi, Elchingen, Eylau, Friedland, Grossgörschen,Bautzen. Und die grossen Städte, Wien,Moskau.In Wien war es schön. <strong>Das</strong> verschneite Schönbrunn,das Schloss, in dem es sich gut leben liess. Und derTriumph. In Pressburg konnte ich dann alles zu meinerZufriedenheit regeln. <strong>Das</strong> zweite mal war es schwieriger.Aber ich habe es geschafft. Danach haben dieWiener den Löwen von Aspern aufgestellt. <strong>Der</strong> Adlerhat den Löwen bezwungen.Später kam Holland, da habe ich meinen Bruder hingeschickt.Noch später Russland. Ja, gesiegt, aber zu welchemPreis? Die Kälte und die Entbehrungen. 675.000Mann! Die grösste Armee, die es je in Europa gegebenhat. 18.000 sind zurückgekommen.Dann kamen Leipzig und Paris, und ich wurde aufdie Insel Elba versetzt. Fast ein Jahr auf Elba. Ichhabe dort einiges umgekrempelt, aber was war dasschon im Vergleich zu halb Europa? Darum bin ichzurückgekommen. 1815 war das. <strong>Das</strong> war der Adlerflug.Marschall Ney, der Tapferste der Tapferen, solltemich gefangennehmen, aber er ist stattdessen wiederzu mir übergelaufen. <strong>Das</strong> Volk hat mir zugejubelt, undmein Triumphzug ging von Lyon nach Paris.<strong>Der</strong> Flug des Adlers -Ich stehe auf und schreite ein wenig auf und ab, mirfehlt die zackige Bewegung, an die ich immer gewohntwar. Vom Bücherschrank zum Fenster, vomFenster zum Bücherschrank, vom Bücherschrankzum Fenster... Einmal bleibe ich beim Bücherschrankstehen und sehe die Buchrücken durch. <strong>Das</strong>tehen einige Werke, die über mich verfasst wordensind. Cronin, Kircheisen, Sieburg. Was habeich diese Bücher gelesen und gelesen! Den Sieburgblättere ich ein wenig durch. Jemand hat die letztenSeiten herausgerissen.Grosse Vorbilder habe ich gehabt: Alexander derGrosse, Julius Cäsar. Auch ich stehe jetzt in dieserReihe, habe Geschichte gemacht. Aufschreiben,aufzeichnen, für die Nachwelt erhalten! Ich habedie Daten noch im Kopf: 1769 geboren, 1793 dieEinnahme von Toulon, 1796 Feldzug nach Italien,1798 nach Ägypten. Am achtzehnten Brumairehabe ich das Direktorium aufgelöst und bin ersterKonsul geworden. Ach, Brumaire, Germinal, Thermidor,diese neuen Monatsnamen und die neueZeiteinteilung. Später habe ich den alten Kalenderwieder eingesetzt, 1806. Da war ich schon Kaiserund keiner hat mir Vorschriften gemacht. MeineErzählungenKaiserkrönung! Wenn ich an diese Zeremonie denke!Sogar der Papst Pius hat dabeisein müssen, ha!Manchmal frage ich mich, wie es meinen Kinderngehen mag. Es sind ja nicht Wenige. Meine grosseHoffnung bleibt Francois, der Herzog von Reichstadt.Er wird mein würdiger Nachfolger werden. Ja, hätteich Katharina geheiratet, Katharina Pawlowna, dieSchwester des Zaren. Ich hätte mir Russland erspart.Russland 1812 -Jetzt wandere ich schon wieder ruhelos im Zimmerauf und ab. Vom Bücherschrank zum Fenster, vomFenster zu Bücherschrank... Da fällt mein Blick inden Spiegel, der neben dem Bücherschrank hängt,und ich studiere mein Gesicht.Diese verdammte Niederlage in Russland.Aber nein, jetzt: der Adlerflug! Jetzt werde ich es derWelt noch einmal zeigen, dass ich nicht so einfach28 70. Ausgabe / Juni 2013 70. Ausgabe / Juni 201329

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!