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Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen - VSA Verlag

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Klaus DörreAnja HappIngo Matuschek (Hrsg.)<strong>Das</strong> <strong>Gesellschaftsbild</strong><strong>der</strong> <strong>LohnarbeiterInnen</strong>Soziologische Untersuchungenin ost- und westdeutschenIndustriebetriebenVVS


Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschek (Hrsg.)<strong>Das</strong> <strong>Gesellschaftsbild</strong> <strong>der</strong> <strong>LohnarbeiterInnen</strong>


Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschek (Hrsg.)<strong>Das</strong> <strong>Gesellschaftsbild</strong> <strong>der</strong> <strong>LohnarbeiterInnen</strong>Soziologische Untersuchungenin ost- und westdeutschen Industriebetrieben<strong>VSA</strong>: <strong>Verlag</strong> Hamburg


Dieses Buch beruht auf Ergebnissen des vom Bundesministerium für Bildungund Forschung und vom Europäischen Sozialfonds geför<strong>der</strong>ten ProjektesEFIS (»Externe Flexibilität – Interne Stabilität – im Wertschöpfungssystem›Automobil‹«), För<strong>der</strong>kennzeichen 01FH09060, Projektträger DLR.www.vsa-verlag.de© <strong>VSA</strong>: <strong>Verlag</strong> 2013, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 HamburgAlle Rechte vorbehaltenDruck und Buchbindearbeiten: Beltz Bad Langensalza GmbHISBN 978-3-89965-540-7


InhaltVorwort ...................................................................................................... 7EinleitungKlaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschek<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong> ................... 9Kapitel 1Klaus Dörre/Ingo MatuschekKapitalistische Landnahmen, ihre Subjekteund das <strong>Gesellschaftsbild</strong> <strong>der</strong> <strong>LohnarbeiterInnen</strong> ................................... 29Kapitel 2Michael Behr/Anja Happ/Klaus Dörre/Margrit ElsnerArbeitsbewusstsein und Interessenorientierungin einem ostdeutschen Unternehmen <strong>der</strong> optischen Industrie ................ 54Eine BelegschaftsbefragungKapitel 3Hajo Holst/Ingo MatuschekSicheres Geleit in Krisenzeiten? ............................................................. 85Leiharbeit, Krise und Interessenvertretungim Industriebetrieb WestKapitel 4Anja Happ/Bernd Martens/Ingo MatuschekKontraste in <strong>der</strong> Gemeinsamkeit:Krisenerfahrungen und Bewusstsein .................................................... 109


Kapitel 5Klaus DörreÜbriggebliebene und Verwundbare ...................................................... 132<strong>Das</strong> <strong>Gesellschaftsbild</strong> des Prekariatsin Fremdzuschreibungen und SelbstzeugnissenKapitel 6Christoph Thieme»Ja-aber-Kapitalismus«? ....................................................................... 181Zum <strong>Gesellschaftsbild</strong> ostdeutscher FührungskräfteKapitel 7Klaus Dörre/Hajo Holst/Ingo MatuschekZwischen Firmenbewusstsein und Wachstumskritik ........................... 198Subjektive Grenzen kapitalistischer LandnahmenLiteratur ................................................................................................. 262AnhangÜberblick über Datensätze und Erhebungsmethoden ........................... 277Die Autorinnen und Autoren .................................................................. 285


VorwortDer vorliegende Band beinhaltet Beiträge zum Arbeits- und Gesellschaftsbewusstseinvon Lohnabhängigen, die von <strong>der</strong> ForscherInnengruppe am Bereich»Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie« <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-UniversitätJena in verschiedenen Kontexten erarbeitet wurden. EinenTeil <strong>der</strong> Beiträge haben die AutorInnen bereits unter an<strong>der</strong>en Titeln und inan<strong>der</strong>en Formaten publiziert. Überwiegend handelt es sich aber um neue,bislang unveröffentlichte Texte und Daten. Unser Hauptanliegen ist es, diebislang verstreuten Veröffentlichungen <strong>der</strong> ForscherInnengruppe zum Arbeitsbewusstseinzu bündeln und den roten Faden <strong>der</strong> Forschungen sichtbarwerden zu lassen, um die wichtigsten Ergebnisse so einem interessiertenPublikum zugänglich zu machen. Soweit nicht neu geschrieben, wurdendie Texte für die vorliegende Veröffentlichung komplett überarbeitet, vonRedundanzen befreit und in eine – hoffentlich nachvollziehbare – Strukturgebracht. Die einzelnen Beiträge bauen aufeinan<strong>der</strong> auf und beleuchten jeweilsunterschiedliche Forschungsfel<strong>der</strong>. Um die Anteile an den jeweiligenBeiträgen und Forschungen deutlich zu machen, werden zu Beginn einesjeden Kapitels die HauptautorInnen genannt.Den inhaltlichen Ausführungen sei eine wichtige Klarstellung vorangestellt.<strong>Das</strong> große »I« im Titel dieses Buchs verspricht in weiten Passagenmehr, als wir analytisch einzulösen in <strong>der</strong> Lage sind. Die Welt <strong>der</strong> Industriearbeitist, an<strong>der</strong>s als die Welt <strong>der</strong> Erwerbslosigkeit und <strong>der</strong> prekärenBeschäftigung, noch immer männerdominiert. Dies bedingt, dass eine geschlechterspezifischeAuswertung unseres Materials nicht o<strong>der</strong> nur mit sehrgroßen Einschränkungen möglich ist. Zum Teil ist <strong>der</strong> Frauenanteil in denBelegschaftsbefragungen so gering, dass signifikante Aussagen nicht möglichsind. Hinzu kommt, dass viele Befragte in einigen von uns untersuchtenOst-Unternehmen offenbar bewusst darauf verzichtet haben, im Fragebogenihr Geschlecht anzugeben. Dieser Umstand erschwert eine geschlechterspezifischeInterpretation zusätzlich.<strong>Das</strong> vorliegende Buch versteht sich als Beitrag zu einer – wie wir findenlängst überfälligen – Debatte um die subjektiven Legitimationsressourcenkapitalistischer Gesellschaften. Daran, dass dieser Band zustande kommenkonnte, haben Richard Detje als Lektor des <strong>VSA</strong>-<strong>Verlag</strong>s sowie MadeleineHolzschuh als Koordinatorin des BMBF-Forschungsverbundes EFIS einengroßen Anteil. Richard Detje hat die Texte durchgesehen, von Redundanzenbefreit und anschließend in eine sinnvolle Komposition gebracht. Von MadeleineHolzschuh wurden Manuskript und Literaturliste bearbeitet. Steffen


8Niehoff war als studentischer Mitarbeiter an einigen quantitativen Analysenbeteiligt. Ihnen gilt unser beson<strong>der</strong>er Dank. Die im Buch vertretenen Mitglie<strong>der</strong><strong>der</strong> Jenaer ForscherInnengruppe haben ihre Beiträge teils erheblichüberarbeitet, teils neu verfasst. Wir wissen die mühevolle Arbeit zu schätzenund bedanken uns dafür, dass sie zusätzlich zum Projektalltag geleistet wurde.Wenn dieser Band dazu beitragen kann, dass die sozialwissenschaftlicheDebatte um das Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein von Lohnabhängigenneuen Schwung erhält, so hat er sein wichtigstes Ziel erfüllt.Klaus Dörre, Anja Happ und Ingo Matuschek im August 2013


EinleitungKlaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschek<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismusund die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>Im Nachklang <strong>der</strong> globalen Krise von 2008-2009 hat das Unbehagen am Kapitalismusselbst die Wirtschaftseliten erreicht. Klaus Schwab, Begrün<strong>der</strong>des Weltwirtschaftsforums, sprach anlässlich des Eliten-Events in Davos voneinem Planeten mit »Burnout-Syndrom«, um sodann nüchtern festzustellen:»Der Kapitalismus in seiner bisherigen Form passt nicht zu unserer Welt.«(ntv, 24.1.2012) <strong>Das</strong> Institut für Demoskopie Allensbach hat diese Aussageaufgegriffen und einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt gefragt:»Neulich sagte jemand: ›In seiner bisherigen Form passt <strong>der</strong> Kapitalismusnicht mehr zu <strong>der</strong> Welt, die uns umgibt‹. Sehen Sie das auch so, o<strong>der</strong> sehensie das nicht so?« 48% <strong>der</strong> Befragten sahen das »auch so«, nur 18% warengegenteiliger Ansicht, 34% äußerten sich unentschieden (Institut für Demoskopie2012: 1).<strong>Das</strong> verbreitete Unbehagen am Kapitalismus bezieht sich auf eine zeitgenössischeAusprägung dieser Gesellschaftsformation, für die sich in <strong>der</strong>einschlägigen Literatur die Bezeichnung Finanzmarkt-, o<strong>der</strong> kürzer: Finanzkapitalismusdurchgesetzt hat (Krippner 2011: 27f.). Dieser Finanzmarktkapitalismus,<strong>der</strong> seit den 1970er Jahren entstanden ist, zeichnet sich gegenüberseinem historischen Vorläufer, auf den sich die Analysen eines RudolfHilferding o<strong>der</strong> einer Rosa Luxemburg bezogen, vor allem durch die Intensivierungund die Ausweitung des Konkurrenz-, o<strong>der</strong> soziologisch präziser:eines Wettkampfprinzips auf mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> alle gesellschaftlichen Sphärenaus (Dörre/Haubner 2012: 63-108). Was seine Krisenanfälligkeit angeht,so steht <strong>der</strong> zeitgenössische Finanzmarktkapitalismus (Windolf 2005: 20-57)seinem Vorläufer aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts in nichtsnach. Seit den 1970er Jahren sind weltweit mehr als hun<strong>der</strong>t kleinere undgrößere Wirtschaftskrisen registriert worden.An <strong>der</strong> globalen Krise von 2008-2009 ist neu, dass sie nicht mehr aus denwestlichen Industriestaaten herausgehalten werden konnte. Seither erzeugtjede Anti-Krisen-Intervention offenbar neue Friktionen, die in ihren komplexenWechselbeziehungen dazu führen, dass <strong>der</strong> Wachstumsmotor nach2009 nur in wenigen Ökonomien des globalen Nordens sowie in den aufstre-


10Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekbenden BRIC-Staaten 1 wie<strong>der</strong> angesprungen ist. Den zeitweiligen Gewinnern,die, wie die deutsche Wirtschaft, vor allem vom stürmischen WachstumChinas profitieren, 2 stehen innerhalb <strong>der</strong> Europäischen Union (EU) jedochVerlierer-Staaten wie Irland, Griechenland, Portugal, Zypern, Spanien undItalien sowie Tschechien und Slowenien gegenüber. Unter dem Diktat <strong>der</strong>Sparauflagen ist die Wirtschaftsleistung <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> an <strong>der</strong> EU-Peripheriedeutlich unter das Niveau von 2008 gefallen. Allein das griechische Bruttoinlandsprodukt(BIP) ist um rund ein Viertel geschrumpft. Alarmierend ist<strong>der</strong> Einbruch bei den Investitionen – in Griechenland liegen sie rund 40%unter dem Niveau von 2007, in Irland, dem vielgerühmten Musterknabeneuropäischer Austeritätspolitik, gar um 55%. In diesen Län<strong>der</strong>n kann nichtmehr von Rezession gesprochen werden, denn es handelt sich um einen längerwährenden Schrumpfungsprozess ganzer Volkswirtschaften.Wie immer, wenn die Wirtschaftsleistung stagniert o<strong>der</strong> rückläufig ist,nehmen Arbeitslosigkeit und Prekarität zu. In <strong>der</strong> EU waren Ende 2012 nahezu19 Millionen Menschen ohne Erwerbsarbeit, zwei Millionen mehr alsim Vorjahr; 2013 könnte die Zwanzig-Millionen-Grenze überschritten werden.In Spanien nähert sich die registrierte Jugendarbeitslosigkeit den 60%,in Griechenland liegt sie bereits deutlich darüber. 3 <strong>Das</strong> strukturelle Krisenpotenzialdieser »Verlierer-Staaten«, zu denen auch einige osteuropäischeLän<strong>der</strong> gehören, verstärkt seit langem bestehende strukturelle Ungleichzeitigkeitenund löst zentrifugale Tendenzen aus, die eine Interessenhomogenisierunginnerhalb des Wirtschaftsblocks erschweren. Die Europäische Unionbietet denn auch ein trauriges Bild, und es ist fraglich, ob allen bisherigenEuro-Staaten eine einheitliche Leitwährung erhalten bleibt, ja, ob <strong>der</strong> Euroals europäische Leitwährung und die EU als Staatenbund in <strong>der</strong> gegenwärtigenForm überhaupt überleben werden.Die überstaatlich koordinierten nationalen Austeritätspolitiken provozierenimmer neue Protestwellen. In Län<strong>der</strong>n wie Frankreich, Griechenlando<strong>der</strong> Spanien haben sich Hun<strong>der</strong>ttausende an Generalstreiks beteiligt,1BRIC ist die Bezeichnung für die aufstrebenden Ökonomien Brasilien, Russland,Indien und China, die vor allem gemeinsam haben, dass sie allein aufgrundihrer zahlenmäßig großen Bevölkerungen einen gewichtigen Faktor in <strong>der</strong> Weltwirtschaftdarstellen, wobei <strong>der</strong> Staat eine zentrale Rolle bei <strong>der</strong> Wirtschaftsentwicklungspielt.2In dem Jahrzehnt seit 2000 ist die chinesische Wirtschaft um 390% gewachsen,die deutsche Wirtschaft hingegen nur um 74% und die US-Ökonomie um 47%(vgl. IWF 2011).3Weniger Jobs = mehr Instabilität. Die Wut über die Sparpolitik schwillt an. VonStephan Kaufmann. In: Frankfurter Rundschau vom 4.3.2013: 2-3.


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>11gegen Sparmaßnahmen demonstriert und ihren Protest gegen Sozialabbauo<strong>der</strong> schwindende Zukunftschancen auf dem Arbeitsmarkt zum Ausdruckgebracht. Doch diese Proteste erscheinen in gewisser Weise wirkungslos.Den Bürgerinnen und Bürgern bleibt, wie das Beispiel Griechenland signalisiert,keine wirkliche Wahl. Entwe<strong>der</strong> fügt sich das Wahlvolk und votiertfür Parteien, die bereit sind, sich den Spardiktaten zu beugen, o<strong>der</strong> es drohenSanktionen seitens <strong>der</strong> EU. Schon die Ankündigung des damaligen MinisterpräsidentenPapandreou, das Volk über Sparauflagen <strong>der</strong> Troika abstimmenzu lassen, löste eine GREECXIT-Drohung, den Ruf nach AusschlussGriechenlands aus <strong>der</strong> Euro-Zone, aus.Diese Entwicklung vor Augen, hat Wolfgang Streeck (2011: 14) daraufhingewiesen, dass das lange still gestellte Spannungsverhältnis von Kapitalismusund Demokratie wie<strong>der</strong> offen zutage tritt: »Die Demokratie ist in<strong>der</strong> gegenwärtigen Krise ebenso gefährdet wie die Wirtschaft, wenn nichtmehr. Nicht nur die ›Systemintegration‹ heutiger Gesellschaften – also daseffiziente Funktionieren ihrer kapitalistischen Volkswirtschaften – ist prekärgeworden, son<strong>der</strong>n auch ihre ›soziale Integration‹.«In dieser Zustandsbeschreibung klingt bereits die Frage an, wie es umdie Rechtfertigung von Kapitalismus und Demokratie bei jenen bestellt ist,die in <strong>der</strong> Regel die Zeche für aufwendige Krisenbewältigungen zu zahlenhaben. Sucht man mit Blick auf die Bundesrepublik nach einer Antwort, sowirken Analysen à la Streeck auf den ersten Blick überzogen, ja geradezualarmistisch. Zwar sind laut Allensbach 71% <strong>der</strong> Bundesbürger <strong>der</strong> Ansicht,dass die Macht <strong>der</strong> Banken und das soziale Ungleichgewicht Demonstrationenzwangsläufig herausfor<strong>der</strong>ten (IfD 2012: 1), doch die große Masse belässtes bei einer Beobachterposition. Während Institutionen wie die UNOund die ILO wegen zunehmen<strong>der</strong> Arbeitslosigkeit und Ungleichheit vor sozialenUnruhen warnen, 4 bleibt im Beschäftigungswun<strong>der</strong> Deutschland –scheinbar – alles ruhig. Nirgendwo, so wirkt es jedenfalls, liegt <strong>der</strong> Geruch<strong>der</strong> Revolte in <strong>der</strong> Luft. Wo französische Arbeiter gelegentlich Bossnapping 54Laut ILO-Weltarbeitsbericht 2013 ist das Risiko von Aufständen in 17 von 24EU-Staaten gestiegen, für die Daten aus dem Jahr 2012 verfügbar waren. Die größteZunahme gab es in Zypern, Tschechien, Griechenland, Italien, Portugal, Slowenienund Spanien. Dagegen nahm das Risiko in Belgien, Deutschland, Finnland, Schwedenund <strong>der</strong> Slowakei ab. <strong>Das</strong>s Prognose und Risiko nicht übereinstimmen müssen,zeigen die Ereignisse in Schweden, wo es trotz positiver Prognose noch währenddes Erscheinens des Berichts zu teilweise gewaltsamen Revolten von Jugendlichengekommen ist (ILO 2013).5Damit sind zeitweilige »Festsetzungen« von Managern gemeint, mit <strong>der</strong>en HilfeUnternehmen zu Verhandlungen bewegt werden sollen.


12Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekbetreiben o<strong>der</strong> argentinische Beschäftigte getreu ihres Slogans »Feuert denBoss!« Unternehmen in Eigenregie weiterführen, üben sich in Deutschlandgewerkschaftlich organisierte Gruppen in Selbstdisziplin. Aktive Beteiligungan Protesten gilt einer Majorität <strong>der</strong> Deutschen offenbar nicht als geeignetesMittel, um auf die Krise und die Krisenfolgen zu antworten. Unterstütztwird diese zurückhaltende Reaktion von sinken<strong>der</strong> Arbeitslosigkeitund einer nach 2009 zunächst boomenden Wirtschaft (DIW 2013: 23). Zwarhaben sich die konjunkturellen Aussichten zwischenzeitlich wie<strong>der</strong> eingetrübt,doch das Gros <strong>der</strong> Deutschen zeigt sich davon unberührt. Es wird weiterkonsumiert, in Urlaub gefahren, gearbeitet, als ginge alles seinen normalenGang. Sind die Lohnabhängigen hierzulande also zufrieden mit ihrerGesellschaft? Geht die Krise tatsächlich an ihnen vorbei?Was sich auf den ersten Blick als eine »Befriedung« <strong>der</strong> ökonomischenKrise und ihrer sozialen Folgen in den Köpfen darstellt, verlangt nach sozialwissenschaftlichenErklärungen. Neben <strong>der</strong> Tatsache, dass die Krise inDeutschland den Arbeitsmarkt sozial »abgefe<strong>der</strong>t« erreicht hat, könnte eineAntwort in <strong>der</strong> Gültigkeit eines Foucaultschen Szenarios vermutet werden.<strong>Das</strong> »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007) samt dazugehörigem Freiheitsversprechenwäre demnach soweit internalisiert, dass die Individuen einaffirmatives Verhalten praktizieren. Der Subjektivierung von Arbeit und Kapitalismusfolgt nun die Subjektivierung <strong>der</strong> Krise. Dem »Wir sitzen alle ineinem Boot« eines Joseph Ackermann (2009) antwortet ein »Wir alle sind<strong>der</strong> Finanzmarktkapitalismus.« 6 Die Krise, so wäre dementsprechend zumutmaßen, wirkt je nach sozialer Position als persönliches Schicksal, als Indizselbst verantworteten Scheiterns, als individuelle Herausfor<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong>auch als Chance zur Selbstkorrektur. In ihrer gesellschaftlichen Dimensionbleibt sie aber unbegriffen, weshalb Selbstzuschreibungen wahrscheinlichersind als die kollektive Aktion.Ohne die Relevanz diverser Subjektivierungsdiagnosen (Bröckling/Krasmann/Lemke2000; Voß/Pongratz 1998; Moldaschl/Voß 2002) generell zubestreiten, soll nachfolgend eine an<strong>der</strong>s akzentuierte These entwickelt undbegründet werden. Die vermeintliche Krisenresistenz von Subjektivitätenerklärt sich nach unserer Auffassung aus <strong>der</strong> Mobilisierung von eigensin-6Tatsächlich sind solche Selbstzuschreibungen weitverbreitet: Der persönlicheKonsum, die Suche nach dem Schnäppchen (»Geiz ist geil«), die Erwartungen aneine günstige Dienstleistung (aktuell: Amazon) werden schnell zum Motor individuellen,vorgeblich unternehmerischen Handelns erklärt, die Unternehmen in ihrergesellschaftlichen Verantwortung dadurch letztlich entlastet und die Frage nach denzugrunde liegenden Strukturen ausgeklammert.


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>13nigen Praktiken und abgelagerten, habitualisierten Handlungsschemata,die eine selbsttätige Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Konkurrenzmechanismen undMarktvergesellschaftung steuern. In unseren empirischen Studien zeigt sichdie Grundstruktur eines Arbeitsbewusstseins, das wir, auch um zu Diskussionenanzuregen, mit <strong>der</strong> Formel »guter Betrieb, schlechte Gesellschaft«beschreiben. Ungerechtigkeits- und Missachtungserfahrungen sind unterden von uns befragten Lohnabhängigen weitverbreitet; sie lösen mituntersogar Gewaltfantasien aus. Es mangelt aber an einem mit Handlungsperspektivenverknüpften intellektuellen Bezugssystem (Beaud/Pialoux 2004:276), das solche Stimmungen politisch bündeln könnte. Daher bleiben radikaleProteste aus und die Arbeitenden beziehen sich trotz krisenbedingterZumutungen (Kurzarbeit, Lohn- und Gehaltseinbußen, Leistungsdruck etc.)positiv auf »ihren« Betrieb, »ihr« Werk o<strong>der</strong> »ihr« Unternehmen. Zwischenidentitätsstiftendem Betriebs- und kritischem Gesellschaftsbewusstsein bestehtsubjektiv kaum ein Zusammenhang. Die finanzkapitalistische Landnahmeverfügt daher trotz Krise über eine stabile Basis in den Subjekten –das aber nicht, weil das Freiheitsversprechen <strong>der</strong> Marktvergesellschaftung,die Leitbil<strong>der</strong> von »Arbeitskraftunternehmer« o<strong>der</strong> »unternehmerischemSelbst« tief in den Subjektivitäten verankert wären, son<strong>der</strong>n vor allem, weilnoch immer auf Erfahrungen, Verhaltensdispositionen, auf individuelle undsubjektive Ressourcen zugegriffen werden kann, die nicht marktförmig zugerichtetsind.Arbeitsbewusstseinsforschung im RückblickAllerdings, das sei hinzugefügt, sind die subjektiven Legitimationsressourcendes Finanzkapitalismus mit großer Wahrscheinlichkeit endlich. Landnahmen,die auf das Innerste <strong>der</strong> Persönlichkeit zugreifen, können nichtpermanent weitergetrieben werden. Die Verallgemeinerung des Wettkampfprinzipsauf alle Lebensbereiche stößt an soziale Grenzen. Schon deshalb istdie Frage nach <strong>der</strong> Stabilität von subjektiven Legitimationsgrundlagen kapitalistischerVergesellschaftung brisant. Wie denken Lohnabhängige überden Kapitalismus und seine Zukunft? Welche <strong>Gesellschaftsbild</strong>er lassen sichidentifizieren? Woraus speist sich alltägliche Kritik? Und was bindet ArbeiterInnenund Angestellte dennoch an den Status quo?Um solche Fragen beantworten zu können, ist es hohe Zeit, den Faden<strong>der</strong> Arbeitsbewusstseinsforschung, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Bundesrepublik in den 1980erJahren gerissen ist, wie<strong>der</strong> aufzunehmen. In diesem Kontext sei uns eineknappe Bemerkung zum Forschungsstand erlaubt, den wir in diesem Buch


14Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuscheknicht annähernd aufarbeiten können. Studien zum ArbeiterInnen- und Arbeitsbewusstseinschließen an eine lange Tradition an, die bis zu den KlassikernMarx und Weber zurückreicht (vgl. u.a. Kleemann/Voß 2010). Geradefür Deutschland liegt eine große Zahl 7 empirisch gehaltvoller Studienzum Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein unterschiedlicher Beschäftigtengruppenvor. In <strong>der</strong> Summe handelt es sich dabei um soziologische Blickesowohl auf die Wahrnehmungen von sozialen Lagen und Arbeitssituationenals auch um Rekonstruktionen subjektiver politisch-sozialer Positionierungenin Arbeitswelt und Gesellschaft.In <strong>der</strong> Spannbreite von emotiven und kognitiven Dimensionen (vgl. Reinhold1991) stellt das Bewusstsein eine unscharfe Gemengelage von intrawieintersubjektiven Prozessen dar, die zu dechiffrieren lange Zeit einemeindeutig identifizierbaren Erkenntnisinteresse entsprach. Im Zentrum <strong>der</strong>empirischen Arbeitsbewusstseinsforschung stand, jedenfalls soweit siesich im Kontext <strong>der</strong> Marxschen Theorie bewegte, stets die Frage nach Anhaltspunktenfür die Entstehung von Klassenbewusstsein o<strong>der</strong> nach Gründenfür dessen Ausbleiben. Teilweise schon ad acta gelegt, erlebte dieseForschung mit <strong>der</strong> überraschenden Wie<strong>der</strong>kehr <strong>der</strong> Arbeitsmilitanz Ende<strong>der</strong> 1960er Jahre eine kurzzeitige, aber sehr intensive Renaissance. Bei genaueremHinsehen wird man allerdings feststellen, dass diese Renaissancedurchaus vorbereitet war.Während <strong>der</strong> 1950er und 1960er Jahre waren in <strong>der</strong> westdeutschen soziologischenDiskussion Thesen wie die einer »Nivellierung« sozialer Unterschiedeo<strong>der</strong> einer Verbürgerlichung <strong>der</strong> Arbeiter (Schelsky 1965; kritisch:Mooser 1984; Tenfelde 1991) dominant. Die Inkorporation von Gewerkschaftenin den Wohlfahrtsstaat wurde als Institutionalisierung des Klassenkonfliktsinterpretiert und sowohl in staatsrechtlichen (Forsthoff 1971) alsauch in liberal-pluralistischen Ansätzen (Dahrendorf 1967) reflektiert. Eine<strong>der</strong> wenigen empirischen Untersuchungen, die gängigen Nivellierungs- o<strong>der</strong>Verbürgerlichungsthesen wi<strong>der</strong>sprach, stellte die von einem Team um HeinrichPopitz und Hans Paul Bahrdt vorgelegte Studie zum »<strong>Gesellschaftsbild</strong>des Arbeiters« dar. Die Forschergruppe hatte auf <strong>der</strong> Basis von 600Interviews im Hüttenwerk Rheinhausen eine Typologie des Gesellschaftsbewusstseinsvon Arbeitern konstruiert, <strong>der</strong>en Aussagekraft so gar nicht zuVerbürgerlichungsthesen passen wollte. Im Resümee <strong>der</strong> Studie heißt es:7Aus <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Studien seien exemplarisch herausgegriffen: Geiger 1932;Popitz et al. 1957; Kern/Schumann 1970; Deppe 1971; Hack et al. 1972; Beckenbachet al. 1973; Eckart et al. 1974; Ku<strong>der</strong>a 1979; Herkommer et al. 1979; Herding/Kirchlechner 1980.


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>15»Trotz <strong>der</strong> erheblichen Differenzen zwischen den einzelnen <strong>Gesellschaftsbild</strong>ern… lassen sich durchgehend zwei gemeinsame Grundzüge feststellen:Alle Arbeiter, mit denen wir gesprochen haben und die überhaupt ein<strong>Gesellschaftsbild</strong> in dem von uns definierten Sinne entwickeln, sehen dieGesellschaft als – unabwendbare o<strong>der</strong> abwendbare, unüberbrückbare o<strong>der</strong>›partnerschaftlich‹ zu vermittelnde – Dichotomie, und sie beantworten dieFrage nach ihrem gesellschaftlichen Ort durch ein Arbeiterbewusstsein, dases ihnen ermöglicht, sich innerhalb <strong>der</strong> Gesamtgesellschaft als Teil <strong>der</strong> Arbeiterschaftzu verstehen.« (Popitz et al. 1957: 237)An diesen Befund eines, wenngleich rudimentären Kollektivbewusstseinskonnte eine ihrem Selbstverständnis nach kritische Arbeitsbewusstseinsforschunganschließen, als sich viele Regierungen westeuropäischer Staatenin den späten 1960er Jahren mit oppositionellen Arbeiterbewegungen konfrontiertsahen (Crouch/Pizzorno 1978). Selbst in Westdeutschland schienendie Gewerkschaftsführungen während <strong>der</strong> spontanen Septemberstreikskurzzeitig die Kontrolle über ihre Mitglie<strong>der</strong>basis zu verlieren. Anstelle vonVerbürgerlichungsthesen stand nun die Frage nach einer möglichen Rekonstruktionvon Klassenbewusstsein auf <strong>der</strong> industriesoziologischen Forschungsagenda(Schumann et al. 1971). In dieser diskursiven Gemengelagestellte die von Horst Kern und Michael Schumann vorgelegte Studie zu »Industriearbeitund Arbeiterbewusstsein« einen Meilenstein dar. Die Studie,nachfolgend als Kern/Schumann I bezeichnet, basierte auf 981 Arbeiterinterviewsin zehn Betrieben aus neun Industriezweigen (hinzu kamen eineFülle von Arbeitsplatz-, Funktions-, Organisations- und Anlagebeschreibungen;Kern/Schuman 1973: 51f.). Kern/Schumann I formulierte eine wi<strong>der</strong>sprüchlicheBotschaft. Einerseits knüpfte die Untersuchung durchausan die Methodik und die Befunde <strong>der</strong> Popitz/Bahrdt-Gruppe an. Wie dortwurden technologische Verän<strong>der</strong>ungen, etwa die Teil automatisierung industriellerProduktion, hoch gewichtet. Die Ergebnisse zum Gesellschaftsbewusstsein<strong>der</strong> Arbeiter fielen jedoch, am Maßstab einer potenziellen Rekonstruktionvon Klassenbewusstsein gemessen, relativ ernüchternd aus.Zwar stellten die Göttinger Autoren fest, dass die Arbeitssituation und dieArbeitserfahrungen noch immer das Bewusstsein <strong>der</strong> Arbeiter strukturierten.Doch Mechanisierung und Teilautomatisierung hatten ein weitesSpektrum an industriellen Arbeitstätigkeiten entstehen lassen, <strong>der</strong>en differenzierteAnfor<strong>der</strong>ungen eher auf eine Polarisierung innerhalb <strong>der</strong> Industriearbeiterschafthindeuteten.<strong>Das</strong> kollektive Bewusstsein, das sich nach Popitz/Bahrdt auf eine Zugehörigkeitzur Arbeiterschaft gründete, war zerfallen; die abstrakte Gemeinsamkeit<strong>der</strong> Lohnarbeit genügte nicht (mehr), um Differenzierungen aus-


16Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekzugleichen. Im Unterschied zur Popitz/Bahrdt-Studie machten Kern undSchumann die Arbeitserfahrungen »als wichtigste Einflussgröße für dasUrteil <strong>der</strong> Arbeiter über die technische Entwicklung« aus (Kern/Schumann1973: 270). Die unterschiedlichen Arbeitserfahrungen bedingten offenbardie Differenzen in <strong>der</strong> gesellschaftlichen Perspektive. Lediglich für einen,allerdings zentralen Punkt sollte <strong>der</strong> Zerfall des Kollektivbewusstseins nichtgelten – für die »Realisation <strong>der</strong> kollektiven Unsicherheit« (ebd.: 276). Nuraus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> eigenen Ersetzbarkeit und <strong>der</strong> Furcht vor dem Verlustdes Arbeitsplatzes speisten sich noch immer Reste eines dichotomischen Bewusstseins,die jedoch nicht ausreichten, um die Zerfaserung homogenisieren<strong>der</strong>Erfahrungen zu kompensieren.Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Befunden Kerns und Schumanns hat,das wäre zu überprüfen, für die deutsche Industriesoziologie wie auch fürdie Arbeitsbewusstseinsforschung möglicherweise schulbildend gewirkt.Die in Kern/Schumann I enthaltene Polarisierungsthese sah sich auch internationalmit konkurrierenden Deutungsangeboten konfrontiert, die wahlweiseeine De- o<strong>der</strong> Höherqualifizierung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiterso<strong>der</strong> gar die Entstehung neuer Arbeiterklassen behaupteten (Mallet1965; Hörning 1971; Goldthorpe u.a. 1971; Deppe 1971; Benz-Overhage etal. 1982; PAQ 1987). Wichtig war, dass die Studie auch ein Deutungsangebotfür eine gesellschaftliche Umbruchphase enthielt. Als die Untersuchungerschien, war <strong>der</strong> Höhepunkt <strong>der</strong> 1968er-Bewegungen bereits überschritten.Die Arbeitermilitanz hatte gerade in Deutschland, wo sie ohnehin nie son<strong>der</strong>lichentwickelt war, nach den spontanen Septemberstreiks keine Fortsetzungerfahren. Kern/Schumann I lieferte eine Erklärung. Die Spuren einessozialistischen Arbeiterbewusstseins, die das Popitz/Bahrdt-Team noch entdeckenkonnte, hatten im Generationswandel weiter an Relevanz eingebüßt.Die Arbeiterschaft war fragmentiert und das erklärte, weshalb die oppositionellenBewegungen <strong>der</strong> späten 1960er Jahre diese soziale Großgruppe inDeutschland zunächst kaum erreichten.Die Fragmentierung <strong>der</strong> Arbeiterschaft wurde von Kern und Schumannjedoch keineswegs als völlige Auflösung des Potenzials für kollektives Klassenhandelngedeutet. »Nicht die Tatsache <strong>der</strong> Streiks selbst, … als vielmehrdas Potential, welches durch diese Arbeitskämpfe geschaffen wurde, lässt dieFrage nach <strong>der</strong> Rekonstruktion <strong>der</strong> Arbeiterklasse berechtigt erscheinen«,resümierte Michael Schumann (1971: 267) eine Kurzfassung <strong>der</strong> Untersuchungzu den Septemberstreiks. Die Fragmentierung <strong>der</strong> Arbeiterschaft erschwerteeine solche Rekonstruktion. Nicht min<strong>der</strong> gravierend war jedochdas Fehlen entsprechen<strong>der</strong> Orientierungen aufseiten <strong>der</strong> Gewerkschaftenund politischen Organisationen. »Es ist bekannt«, so Kern und Schumann


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>17(1973: 274), dass »gerade die Arbeiterschaft … beim Ausbilden ihres gesellschaftlichenSelbst- und Wirklichkeitsverständnisses auf vorgegebeneOrientierungshilfen verwiesen ist. Ihr Fehlen muss deshalb für die Arbeiterbeson<strong>der</strong>s schwer wiegen.«Der Befund, wonach lediglich die »kollektive Unsicherheit« als Grun<strong>der</strong>fahrungnoch einem gemeinsamen Arbeiterbewusstsein zugrunde lag, enthielteine implizite Frage. Was würde geschehen, wenn die relativ gut verdienendenArbeiter <strong>der</strong> Exportindustrien sich mit Wirtschaftskrisen undArbeitslosigkeit konfrontiert sähen? Und wie wäre es um die Stabilität spätkapitalistischerGesellschaften bestellt, sofern <strong>der</strong> »goldene Schleier« <strong>der</strong>Nachkriegsprosperität zerreißen würde? Studien, die Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahreerschienen, konnten diese Fragen bereits beantworten. Nach <strong>der</strong> so genannten»Ölpreiskrise« Mitte <strong>der</strong> 1970er Jahre hatten die fortgeschrittenenKapitalismen des globalen Nordens 1980-1982 bereits die zweite Weltwirtschaftskrisedurchlaufen. Die Arbeitslosigkeit hatte in <strong>der</strong> Bundesrepubliklängst die Millionengrenze überschritten und mit jedem Krisenzyklus verdoppeltesich die Zahl <strong>der</strong> Langzeitarbeitslosen. Offenbar, das wurde inzahlreichen sozialwissenschaftlichen Analysen des gesellschaftlichen Umbruchsdiagnostiziert, war ein spezifisches »fordistisches« Entwicklungsmodelldes Kapitalismus an seine Grenzen gestoßen (exemplarisch: Lutz1984; Aglietta 1979). Eine wesentliche Ursache bildete die offenkundigeErschöpfung <strong>der</strong> Produktivitätsreserven des so genannten tayloristisch-fordistischenRationalisierungsparadigmas. Die immer weitergetriebene Zerlegungvon Produktionsarbeit in sich mehr und mehr ausdifferenzierenden,gleichwohl strikt hierarchischen Unternehmensbürokratien erwies sichselbst aus einer Verwertungsperspektive als kontraproduktiv; gleiches galtfür die fortschreitende Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinenund Automaten.Die Tatsache, dass die Gewissheit »immerwähren<strong>der</strong> Prosperität« (Lutz1984) geschwunden war, wirkte bei den betroffenen Lohnabhängigen jedochkeineswegs als Katalysator für politisches Klassenbewusstsein. Untersuchungenwie die so genannte Werftstudie, die eine Forschergruppe umMichael Schumann Anfang <strong>der</strong> 1980er Jahre vorgelegte hatte, kamen hinsichtlich<strong>der</strong> Frage nach dem Zusammenhang von Krisen- und Klassenbewusstsein<strong>der</strong> Arbeiter wie<strong>der</strong>um zu einem ernüchternden Befund: »DieGrenzen einer ›Klassen‹-Politik zur Behebung <strong>der</strong> Werftkrise werden im Zusammenhangmit den betriebsbezogenen Überlegungen <strong>der</strong> Arbeiter beson<strong>der</strong>sdeutlich: Die Befragten bekunden sogar Verständnis für Entlassungeninfolge betrieblicher Schwierigkeiten. Da die Überwindung dieser Schwierigkeitenausschließlich von <strong>der</strong> Auftragsseite her erwartet wird, erschienen


18Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo MatuschekAktivitäten von Belegschaft und Betriebsrat (außer eigenständiger o<strong>der</strong> unterstützen<strong>der</strong>Auftragsakquisition) kaum zur Krisenlösung geeignet. Man argumentiertgrundsätzlich nicht gegen einen ›Klassengegner‹ Betrieb, son<strong>der</strong>nfür dessen ökonomische Stärkung. Selbst Demonstrationen und Streiksdeutet man als Ausdruck <strong>der</strong> Interessenidentität mit dem Unternehmen. …Man sieht keine Chance für eine gegen das Werftkapital zielende Krisenstrategie,son<strong>der</strong>n setzt auf eine kooperative Interessenvertretung ›des Betriebs‹o<strong>der</strong> ›<strong>der</strong> Branche‹ beim Staat, wozu Betriebsräte und Gewerkschaften beitragenkönnen.« (Schumann et al. 1982: 531)Angesichts solch ernüchtern<strong>der</strong> Befunde verlagerte sich das Erkenntnisinteresseauch <strong>der</strong> empirischen Arbeitsbewusstseinsforschung. Die Entdeckung»neuer Produktionskonzepte«, wie sie Horst Kern und Michael Schumann inihrer Follow-up-Studie »<strong>Das</strong> Ende <strong>der</strong> Arbeitsteilung?« präsentierten, dokumentiertbereits das wachsende Interesse an <strong>der</strong> Gestaltbarkeit industriellerArbeit, das den Fokus »Klassenbewusstsein« ablöste. Die neuen Produktionskonzepteeröffneten einen – gleichwohl noch im Larvenstadium befindlichen– Rationalisierungspfad, <strong>der</strong> die Produktionsintelligenz <strong>der</strong> Arbeiterrehabilitierte (Kern/Schumann 1984: 322-325, nachfolgend als Kern/SchumannII bezeichnet). Die neuen Produktionskonzepte verkörperten we<strong>der</strong>Notlösungen noch entstanden sie als Resultat gewerkschaftlicher Humanisierungsbestrebungen;es waren reflektierte Managementfraktionen, die diesenRationalisierungspfad aus eigenem Antrieb anvisierten. Damit reagiertendiese Angehörigen <strong>der</strong> ökonomischen Eliten nicht nur auf die offenkundigeKrise des tayloristisch-fordistischen Rationalisierungsparadigmas, sie stelltenstrukturelle Verän<strong>der</strong>ungen wie die mikroelektronische Durchdringungdes Produktionsapparates, die durchschnittliche Höherqualifizierung desgesellschaftlichen Gesamtarbeiters, Individualisierung und Wertewandel inRechnung. Offenbar galt es, industrielle Arbeit und die Reproduktionsbedingungenvon Arbeitskraft in neuer Weise zu reflektieren. Eben dies schlugsich in Produktionskonzepten nie<strong>der</strong>, mit denen sich die Perspektive einerRequalifizierung von industrieller Produktionsarbeit eröffnete.Bei <strong>der</strong> Rezeption <strong>der</strong> Studie dominierte die Entdeckung <strong>der</strong> neuenProduktionskonzepte. Dabei wurde jedoch häufig das Fragezeichen übersehen,mit welchem »<strong>Das</strong> Ende <strong>der</strong> Arbeitsteilung?« seitens <strong>der</strong> Autorenversehen worden war. <strong>Das</strong>s sich die neuen Produktionskonzepte als hegemonialedurchsetzen würden, war für Kern und Schumann keineswegsausgemacht. <strong>Das</strong> Überleben eines modifizierten Taylorismus schien ihnendurchaus möglich. Vor allem jedoch enthielt Kern/Schumann II in gewisserWeise eine Radikalisierung <strong>der</strong> Polarisierungsthese aus <strong>der</strong> ersten Untersuchung(ebd.: 319). In ihrer »privatistischen Verengung« (ebd.: 320) wirkten


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>19auch die neuen Produktionskonzepte hochgradig selektiv. Ihre breite Anwendungwürde nur einen Teil <strong>der</strong> qualifizierten Produktionsarbeiter zuGewinnern machen; ein an<strong>der</strong>er Teil hätte den neuen Rationalisierungspfadallenfalls zu dulden, sofern sich so Arbeitsplätze sichern ließen. Dieeigentlichen Rationalisierungsverlierer hingegen wären nicht nur benachteiligt,sie hätten mit harter Ausgrenzung, mit »sozialer Exklusion« (Kronauer2002) zu rechnen. 8In ihrem Hauptargumentationsgang lieferte Kern/Schumann II wie<strong>der</strong>umdie Deutung eines gravierenden gesellschaftlichen Umbruchs, <strong>der</strong> nunallerdings mit dem Paradigma des industriellen Spätkapitalismus zugleichden gesellschaftlichen Stellenwert von Erwerbs- und Produktionsarbeit betraf.Mittlerweile war offensichtlich, dass die krisenhafte Metamorphose<strong>der</strong> fortgeschrittenen Kapitalismen nicht zur Rekonstruktion einer klassenbewusstenArbeiterschaft führen würde. Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungengerieten ausgerechnet in jenen Staaten in die Defensive, in denendie wie<strong>der</strong> erwachte Arbeitermilitanz die sozialen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<strong>der</strong> 1970er Jahre geprägt hatte. Im Zuge des industriellen Strukturwandelsgewannen Dienstleistungsbranchen mit heterogenen Arbeitsverhältnissen8Es kann nicht den Autoren angelastet werden, dass in <strong>der</strong> – kritischen wie affinen– Rezeption ihrer Studie die Requalifizierungsthese alles an<strong>der</strong>e überstrahlte.Diese These wurde ihrerseits sowohl durch institutsinterne als auch durch externeKritik aus dem Fach beträchtlich relativiert. So ging das Münchner ISF ebenfalls von<strong>der</strong> Erschöpfung des so genannten tayloristisch-fordistischen Rationalisierungsparadigmasaus; die Anwendung <strong>der</strong> Mikroelektronik ermöglichte jedoch, so die MünchnerThese, einen neuen Typus »systemischer Rationalisierung«, <strong>der</strong> die Spielräumefür eine Rehabilitierung von Produktionsintelligenz eng begrenzte (Altmann et al.1986). Arbeitspolitisch ließen sich neue Kontrollkonzepte identifizieren, die <strong>der</strong> Identifikationvon neuen Produktionskonzepten zwar nicht generell wi<strong>der</strong>sprachen, aberdoch <strong>der</strong>en Reichweite beträchtlich relativierten (Jürgens 2007); dementsprechendsahen sich die Göttinger mit Voluntarismus-Vorwürfen konfrontiert (Schmidt 1985:146-150). Auch innerhalb des SOFI blieb die Requalifizierungsthese umstritten. DieGruppe um Martin Baethge und Herbert Oberbeck ebenso wie <strong>der</strong> Arbeitszusammenhangum Volker Wittke favorisierten ein gegenüber dem Münchner Institut freilicherheblich modifiziertes Konzept systemischer Rationalisierung (Wittke 1990: 23-41).Bei <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Angestelltenarbeit im Dienstleistungssektor ließen sich den»neuen Produktionskonzepten« vergleichbare Rationalisierungsleitbil<strong>der</strong> nicht entdecken.Einmal davon abgesehen, dass Rationalisierung im Dienstleistungsgewerbe,sofern solche Strategien auf die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft hinausliefen,häufig mit einer Verschlechterung <strong>der</strong> Dienstleistungsqualität verbunden war, sprachendie empirischen Befunde eher für eine »Refeudalisierung« <strong>der</strong> Arbeitsverhältnisseals für ein Requalifizierungsszenario (Baethge/Oberbeck 1986).


20Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekquantitativ wie qualitativ an Bedeutung. Während sich im Arbeiterbereichein eher defensives Arbeitnehmerbewusstsein artikulierte, das auch für nationalistisch-autoritäreAnrufungen offen war (Schumann et al. 1982: 531),konnten sich neue oppositionelle Bewegungen, die sich primär an Reproduktionskonfliktenentzündeten, auf gewerkschaftlich allenfalls schwachrepräsentierte Jugendliche, Frauen und Angehörige sozialberuflicher Mittelschichtenstützen.Dies vor Augen, hatte sich in wichtigen Strömungen <strong>der</strong> zeitgenössischenSoziologie eine Abkehr vom Arbeitsparadigma vollzogen. Gerade weil diefortgeschrittenen Kapitalismen ihre Regulierungskapazität erfolgreich aufdie Einhegung des Kapital-Arbeit-Gegensatzes konzentrierten, seien mit <strong>der</strong>»Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelt« (Habermas 1987: 489-547) Konfliktlinienjenseits <strong>der</strong> industriellen Klassenspaltung entstanden. Die »förmlicheErwerbsarbeit« habe »die subjektive Qualität« verloren, »organisierendesZentrum <strong>der</strong> Lebenstätigkeit, <strong>der</strong> sozialen Fremd- und Selbsteinschätzungund <strong>der</strong> moralischen Orientierungen zu sein«, diagnostizierte etwa ClausOffe. Und weil die strukturierende Kraft <strong>der</strong> Erwerbsarbeit abnehme, könne<strong>der</strong> Kapital-Arbeit-Konflikt nicht länger das Zentrum <strong>der</strong> Herrschaftsbeziehungenentwickelter Gesellschaften bilden (Offe 1984: 7, 37).Die antiproduktivistisch-kulturalistische Wende vor allem <strong>der</strong> westdeutschenSoziologie berührte den Kernbestand industriesoziologischen Wissens.Die – auch politischen – Implikationen dieser Wende hatte André Gorz mitbeson<strong>der</strong>er Klarheit und Schärfe formuliert. Nach seiner Auffassung musstedas Projekt einer Befreiung in <strong>der</strong> Arbeit endgültig ad acta gelegt und zugunsteneines Projekts <strong>der</strong> Befreiung von Erwerbsarbeit aufgegeben werden.Gorz, <strong>der</strong> in den späten 1960er Jahren noch die wissenschaftlich-programmatischeGrundlage für antikapitalistische Gewerkschaftspolitiken gelieferthatte, begründete diese Sichtweise mit dem durch Spezialisierung undorganisatorische Restrukturierung verursachten Auseinan<strong>der</strong>fallen von Arbeits-und Produktionsprozessen. An<strong>der</strong>s als die Arbeitsprozesse würden dieProduktionsprozesse immer undurchschaubarer; dadurch büßten die Arbeitendenihre Primärmacht weitgehend ein. Die Fabrik sei »keine ökonomischeEinheit mehr«: »Mit an<strong>der</strong>en, zumeist einige hun<strong>der</strong>t Kilometer entferntenProduktionsstätten integriert, hängt sie in bezug auf Versorgung, Absatz,Fertigungsprogramm usw. von einer Zentraldirektion ab, die dutzende Produktionseinheitenverschiedener Wirtschaftszweige koordiniert und leitet.Mit an<strong>der</strong>en Worten: Die Produktionsstätten sind nicht länger Entscheidungszentrenund Grundlagen ökonomischer Macht. Der gesellschaftlicheProduktionsprozess ist opak geworden, und das prägt den Arbeitsprozess je<strong>der</strong>Werkstatt, da die endgültige Bestimmung <strong>der</strong> Produkte, bisweilen sogar


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>21ihre Versionen dort unbekannt sind. Mit Ausnahme des leitenden Personalsweiß niemand tatsächlich, welchen Zweck die hergestellten Dinge erfüllen.Übrigens lässt das auch völlig gleichgültig.« (Gorz 1980: 39)Für Gorz bedeutet das Auseinan<strong>der</strong>fallen von Produktions- und Arbeitsprozessendas Ende von Arbeiterautonomie und Arbeitermacht. Arbeitermachtist nach diesem Verständnis vor allem Primärmacht, die auf spezifischenQualifikationen und Wissensbeständen beruht; es ist die Macht vonFacharbeitern und Fachleuten. Doch in den neuen Produktionsstrukturen besitze,so Gorz, die Macht kein Subjekt; sie gehöre »nicht souveränen Individuen,die frei Regeln und Ziele <strong>der</strong> kollektiven Aktion definierten« (ebd.:42). Stattdessen gebe es in <strong>der</strong> industriellen und administrativen Hierarchievon unten nach oben »einzig Ausführende, die sich den kategorischen undimmanenten Geboten des materiellen Systems« beugten (ebd.). Dieser Theseeines generellen Machtverlusts von Arbeitern wi<strong>der</strong>sprechen die zentralenBefunde aus Kern/Schumann II mit großer Klarheit und Präzision, ohneindessen André Gorz’ Diagnose in Gänze zu verwerfen (Kern/Schumann1964/1990: 329-330). Die Potenzialität neuer Produktionskonzepte liegtquer zu <strong>der</strong> von Gorz behaupteten »Banalisierung« industrieller Arbeit, und<strong>der</strong> »doppelte Bezug« auf Erwerbsarbeit (Tauschwert- und Gebrauchswertperspektive;vgl. auch Ku<strong>der</strong>a et al. 1979: 26ff.) erklärt, weshalb Produktionsarbeitselbst in ihrer verstümmeltsten Form ihre identitätsbildende Kraftnicht vollständig einbüßt (Schumann et al. 1982: 399-426).Diese Art <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem antiproduktivistischen Paradigma,wie sie in Kern/Schumann II geführt wird, bestimmte während <strong>der</strong>Folgejahre die Argumentationslinie zahlreicher arbeitssoziologischer Untersuchungen.Strukturelle Verän<strong>der</strong>ungen, Wertewandel und Individualisierungwurden nicht bestritten, aber analytisch in die Welt <strong>der</strong> Erwerbsarbeithineinverlagert. Die Untersuchung »Jugend und Krise« (Baethge et al.1987) ging in den 1980er Jahren sogar so weit, eine Dominanz <strong>der</strong> Subjektüberdie Arbeitskraftperspektive zu behaupten. Die Absicherung reproduktiverGrundbedürfnisse auf dem historisch gegebenen Niveau vorausgesetzt,zeichneten sich die Arbeitsorientierungen junger Facharbeiter dadurch aus,dass arbeitsinhaltliche und sozialkommunikative gegenüber den materiellreproduktivenArbeitsansprüchen subjektiv einen Bedeutungszuwachs erfuhren.Dieser Wandel von Arbeitsorientierungen war jedoch keineswegsmit steigen<strong>der</strong> Bereitschaft zu kollektivem Engagement verbunden; eherför<strong>der</strong>te er individualistische Interessenkalküle, die sich gewerkschaftlichnur schwer politisieren ließen.Überblickt man den gesamten Zeitraum seit den späten 1960er Jahren,so zeichnet sich eine weitreichende Verschiebung des Themenspektrums ei-


22Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekner empirischen Arbeitsbewusstseinsforschung ab. Was zunächst als Untersuchungeines – ausbleibenden – Klassenbewusstseins begann, verwandeltesich sukzessive in eine Forschung, <strong>der</strong> es darum ging, den Stellenwert vonErwerbsarbeit für soziale Identitätsbildungen überhaupt zu erklären. Die aufstrebendefeministische Forschung verstärkte diesen Trend und lenkte dieAufmerksamkeit zudem auf für das gesellschaftliche Bewusstsein konstitutiveTätigkeiten jenseits <strong>der</strong> Erwerbsarbeit (Aulenbacher 2009). Der Blickauf die Doppelung von Arbeit in Öffentlichkeit und Privatsphäre machtedie wechselseitige Abhängigkeit von Erwerbsarbeit, Haus-, Subsistenz- undEigenarbeit sowie autonomen Tätigkeiten deutlich, denn »ohne Haushaltungkeine Privatsphäre, ohne Privatsphäre kein lebendiges Arbeitsvermögen,ohne den Verkauf lebendiger Arbeit kein Lohn, ohne die Verwertungvon Lohnarbeit keine Chance für das Erwerbssystem, Waren zu produzierenund Dienstleistungen zu erbringen« (Becker-Schmidt 2007: 260). Diesoziale Rangordnung, in die diese Tätigkeiten gebracht werden, beinhaltetzugleich eine Verschränkung unterschiedlicher Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse:»Wir können zwei soziale Gruppen ausmachen, dievon dieser Rangordnung profitieren: die Unternehmer und die männlichenBeschäftigten. Die Repräsentanten des Kapitals sparen Kosten durch niedrigeLohnzahlungen an Frauen und bedienen sich <strong>der</strong> unbezahlten Hausarbeit.Die Regeneration von Arbeitskraft muss von ihnen nicht mehr entgoltenwerden. Die männlichen Beschäftigten bekommen die höheren Löhneund sind aufgrund ihres traditionellen Status als bread-winner weitgehendvon Hausarbeit entlastet.« (ebd.)Die Anerkennung einer begrenzten Pluralität an für <strong>Gesellschaftsbild</strong>erkonstitutiven Tätigkeiten und Herrschaftsbeziehungen beinhaltete eine Relativierung<strong>der</strong> Zentralität von Erwerbsarbeit und Produktionssphäre fürsoziale Identitätsbildung. Mit dem zentralen Gegenstand <strong>der</strong> Forschungenverän<strong>der</strong>ten sich zugleich die Theoretisierungen und Operationalisierungenvon »Bewusstsein«. <strong>Das</strong> Überblickswerk von Voß (1984) markiert hier ingewisser Weise eine Neuausrichtung. In <strong>der</strong> Kritik an einem strukturalistischenÜberhang <strong>der</strong> Bewusstseinsforschung betonte es »Interessen undEigensinn« <strong>der</strong> scheinbaren »Exekuteure« so genannter »historischer Gesetzmäßigkeiten«(Voß 1984: 485). Auch Autoren wie Braczyk (1982) o<strong>der</strong>Brandt (1984) äußerten Kritik an einer objektivistischen Verkürzung desBewusstseinsbegriffs. Kleemann/Voß (2010) benennen in ihrem Resümeerückblickend drei arbeits- und industriesoziologische Forschungsstränge: a)Arbeiterbewusstsein als Wahrnehmung von Arbeit und Gesellschaft, in diearbeitsexterne Orientierungen einfließen; b) Arbeiterbewusstsein als Reflexobjektiver Arbeits- o<strong>der</strong> Klassenerfahrungen sowie c) Arbeiterbewusstsein


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>23als relativ autonome subjektive Aneignung objektiver Erfahrungen. DieseStränge kontrastieren sie mit Ansätzen, die das »Subjekt <strong>der</strong> Arbeit« zumzentralen Forschungsgegenstand machen (vgl. Voß 1984). Folgt man dieserLesart, so hat die – im Unterschied zu den Gouvernementalitätsstudien– empirische arbeitssoziologische Subjektivierungsforschung das Erbe <strong>der</strong>alten Arbeiter- und Arbeitsbewusstseinsforschung angetreten. Bei allem,was daran innovativ sein mag, hat diese Entwicklung aber auch dazu geführt,dass wichtige und einstmals klassische Fel<strong>der</strong> <strong>der</strong> arbeits- und industriesoziologischenBewusstseinsforschung heute gar nicht mehr beackertwerden. Wie Arbeiter – auch formal noch immerhin ca. 28% <strong>der</strong> Erwerbstätigen– heute über ihre KollegInnen, ihren Betrieb, ihr Leben jenseits <strong>der</strong>Erwerbsarbeit denken, ist – trotz <strong>der</strong> Fülle an demoskopischen Untersuchungen– weitestgehend unbekannt. Für die Lohnabhängigen im weiterenSinne gilt Ähnliches.Arbeitsbewusstsein – am Beginn einer neuen Diskussion?Wer nach Alternativen sucht, wird eher außerhalb des deutschen Sprachraumsfündig. So haben in Frankreich Forschergruppen im Umfeld Pierre Bourdieusdie Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen beleuchtet(Bourdieu et al. 1998; daran anschließend für den deutschen Sprachraum:Schultheis/Schulz 2005). In einer großartigen Studie, die für eine reaktualisierteArbeitsbewusstseinsforschung stilbildend sein könnte, haben StéphaneBeaud und Michel Pialoux (2004) den Zerfall einer militanten Arbeiterkulturin einem französischen Automobilwerk beschrieben. Dort treffenjunge Prekarier auf eine demoralisierte Generation von angelernten undpolitisch ehemals radikal-linken Bandarbeitern. Diese Konstellation lässtdie tradierte Oppositionskultur jedoch »blutleer« erscheinen. So könnendie etablierten Stammbeschäftigten die Fabrik mangels besserer Alternativenicht mehr verlassen, zugleich erodieren die soziokulturellen und politischenReproduktionsbedingungen ihrer einstmals militanten Arbeiterkultur:»Im Vergleich zu den jungen Prekären von heute wird deutlich, dassdie kämpferische Haltung <strong>der</strong> Angelernten nicht nur auf <strong>der</strong> Vollbeschäftigungberuhte, son<strong>der</strong>n auch auf den oppositionellen Dispositionen, die sichzuerst in <strong>der</strong> Schule, im CET o<strong>der</strong> in den beruflichen Schulen entwickelten.«(Beaud/Pialoux 2004: 281) Die schulische Gegenkultur, aus <strong>der</strong> sichdie konfliktorientierte Grundhaltung speiste, ist ebenso verschwunden wie<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsgeist und die Lust an <strong>der</strong> Provokation. <strong>Das</strong> hängt auch damitzusammen, dass die nachwachsende Generation junger Leiharbeiter die


24Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo MatuschekArbeitsbedingungen <strong>der</strong> Stammbeschäftigten als »privilegierte Situation«erlebt und die soziale Ordnung im Werk und in <strong>der</strong> Gesellschaft als natürlichgegebene hinnimmt: »Die prekär Beschäftigten verfügen über wenigeTrümpfe, um sich ein warmes Plätzchen zu sichern. Einer davon ist ihrefügsame Bereitschaft, sich auf die Mo<strong>der</strong>nität einzulassen, indem sie allesdaran setzen, um effiziente, verfügbare, verlässliche und kooperative Werkerzu werden. So hoffen sie, mit ihrer Arbeit leben zu können. Kurzum:Sie wollen auf eine an<strong>der</strong>e Art Arbeiter sein, ohne diese mürrische und anallem herummotzende Geisteshaltung ihrer Vorgänger. Die Aktivisten sagenvon den wenigen jungen Zeitarbeitern, die fest angestellt werden, siehätten die Logik des Unternehmens verinnerlicht. Man könnte sich jedochauch die Frage stellen, ob nicht viele von ihnen einfach nur auf <strong>der</strong> Suchenach Gruppenzugehörigkeit sind.« (ebd.: 283)Neben dieser Studie gehören die »Ungerechtigkeiten« von François Dubet(2008) zu den viel diskutierten neueren Untersuchungen. Auf <strong>der</strong> Basisreichhaltigen empirischen Materials analysiert Dubet die Alltagskritiken vonArbeitenden an ihrer Arbeit und ihrem Betrieb, an den Vorgesetzten bzw. denKollegen, legt die ihnen zugrunde liegenden normativen Werturteile offenund stellt so die praktischen Urteile und situativen Bewertungen <strong>der</strong> beobachtetenSubjekte ins Zentrum <strong>der</strong> Analyse. Impulse beziehen solche Arbeitenauch aus <strong>der</strong> pragmatischen »Soziologie <strong>der</strong> Kritik« eines Luc Boltanski(2010). Die Soziologie <strong>der</strong> Kritik sucht u.a. die seitens des Mainstreams <strong>der</strong>Wirtschaftswissenschaften ignorierte Frage nach den Maßstäben normativerBewertung ökonomischer Güter zu beantworten und identifiziert in diesemZusammenhang eine Pluralität konkurrieren<strong>der</strong> Rechtfertigungsordnungen(Boltanski/Thévenot 2007; Boltanski/Chiapello 2003; Diaz-Bone 2011). Dabeigeht es immer auch um die Maßstäbe für eine wissenschaftlich fundierteGesellschaftskritik (Boltanski 2011; Bogusz 2010). Zentrales Anliegen <strong>der</strong>pragmatischen Soziologie ist es, eigensinnige Akteure als Subjekt <strong>der</strong> Kritikernst zu nehmen. Die von den Subjekten alltäglich formulierte Kritik anihrer Arbeitssituation, am politischen System o<strong>der</strong> auch an <strong>der</strong> Gesellschaftwird aufgenommen, um sie sodann – theoretisch verdichtet und geordnet –wie<strong>der</strong> an die Subjekte zurückzuspielen (Pongratz 2011: 29).Eine theoretisch wie empirisch gleichermaßen elaborierte Forschung zumLohnabhängigen- und Arbeitsbewusstsein gibt es im deutschen Sprachraumgegenwärtig nicht. Immerhin hat die Zäsur von 2008-2009 auch in den SozialwissenschaftenFragen nach <strong>der</strong> Stabilität von subjektiven Legitimationsressourcendes kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschafts systemsaufgeworfen. Als Beitrag zu einer im Entstehen begriffenen Debatte (Detjeet al. 2011; Detje et al. 2013: 8-13; Menz 2012: 446-461; Schumann 2013)


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>25präsentieren wir nachfolgend Ergebnisse aus quantitativen und qualitativenempirischen Erhebungen, die wir seit 2008 in unterschiedlichen Forschungskontextenrealisieren konnten. Die Frage nach den <strong>Gesellschaftsbild</strong>ern vonLohnabhängigen, prekär Beschäftigten und Erwerbslosen stand dabei zumeistnicht explizit im Zentrum <strong>der</strong> Untersuchungen. Dennoch verfügen wirüber reichhaltiges empirisches Material zum Thema, das wir in diesem Ban<strong>der</strong>stmals gebündelt und im Zusammenhang präsentieren.<strong>Das</strong> inhaltliche Zentrum <strong>der</strong> Analysen bilden Untersuchungen aus klassischenKernbereichen <strong>der</strong> Industrie. Es handelt sich um Belegschaftsbefragungenaus Betrieben <strong>der</strong> Metall- und Elektroindustrie Ost- und Westdeutschlands.Da diese Erhebungen für die nachfolgend präsentierten Befunde undInterpretationen von zentraler Bedeutung sind, seien einige Anmerkungenzum betrieblichen Kontext vorangestellt. Untersucht wird die nach wie vorhochgradig männerdominierte Welt <strong>der</strong> Industriearbeit. In dieser Welt sindAngestellte und ArbeiterInnen in einem sozial geschützten Beschäftigungsverhältnisin <strong>der</strong> Mehrheit. <strong>Das</strong> Unternehmen West (Fahrzeugbau) und dasUnternehmen Ost (optische Industrie) zeichnen sich zudem durch einigeBeson<strong>der</strong>heiten aus. Zusammensetzung und Qualifikationsstruktur <strong>der</strong> Belegschaftendifferieren erheblich. Während im Ostunternehmen 35% <strong>der</strong>Beschäftigten Ingenieure, Techniker und Meister sind, ist <strong>der</strong> Anteil an Akademikernund Technikern im westdeutschen Fertigungs- und Montagestandortdeutlich kleiner; fast 80% <strong>der</strong> Beschäftigten zählen dort zu den Facharbeitern.Allerdings gibt es eine fallübergreifende Gemeinsamkeit. BeideUnternehmen haben in ihrer Region einen Son<strong>der</strong>status inne, <strong>der</strong> sich auchaus <strong>der</strong> Tatsache erklärt, dass die jeweiligen Belegschaften jeweils aus demnahen regionalen Umfeld stammen.Im Westunternehmen (mit zwei lokalen Betriebsstätten) wie im Ostennach <strong>der</strong> Wende ganz allgemein hat eine Kultur verantwortlicher Zusammenarbeitdie Politik <strong>der</strong> Werksleitung über Jahrzehnte nachhaltig beeinflusst.Ein weitreichen<strong>der</strong> Umstrukturierungsprozess mit einem Übergangzu neuen Produkten und einer verän<strong>der</strong>ten Positionierung in <strong>der</strong> Wertschöpfungsketteerfolgte im Westunternehmen kooperativ und unter maßgeblicherBeteiligung des Betriebsrats. Die Restrukturierung konnte nicht zuletzt aufgrund<strong>der</strong> Flexibilitätsbereitschaft <strong>der</strong> Belegschaft und ihrer Interessenvertreterohne betriebsbedingte Kündigungen realisiert werden. Mit dem dramatischenAuftragseinbruch 2008/09 än<strong>der</strong>te sich dies: Schon zu Beginn <strong>der</strong>Krise wurden flexibel Beschäftigte (Befristete, Leiharbeiter) »ausgesteuert«bzw. nicht mehr weiterbeschäftigt.<strong>Das</strong> Leitbild des Sharehol<strong>der</strong>-Value hat die Managementpraxis des Unternehmenseine Zeit lang geprägt. Doch schon vor dem Ausbruch <strong>der</strong> Krise


26Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekspielte es, beeinflusst durch einen Führungswechsel, in <strong>der</strong> Managementrhetorikkeine Rolle mehr (Dörre/Holst 2009). Auch die in den 1990er Jahrenmit dem Ziel einer Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten eingeführteCenter-Struktur wurde teilweise zurückgenommen. Gleichwohl zeugenBudgetierung und zentrale Personalplanung mit knappen Personalpuffernvon einer ungebrochenen Relevanz kapitalmarktkonformer Steuerungskriterien,die fest in den betrieblichen Abläufen verankert sind. So stehen dieAbteilungsleiter in direkter Ergebnisverantwortung, werden aber zentralistischüber vorgegebene Budgets gelenkt. Davon erfasst sind auch die Personalausgaben,was letzten Endes erhöhten Druck auf die Beschäftigten undihre Interessenvertretungen erzeugt. Wie an<strong>der</strong>e weltmarktorientierte Unternehmenauch, agiert das untersuchte Werk unter <strong>der</strong> Vorgabe, einen Teil <strong>der</strong>Belegschaft »planmäßig« flexibel, d.h. über Leiharbeit, Befristungen o<strong>der</strong>Werkverträge, zu beschäftigen. Auch ohne Sharehol<strong>der</strong>-Value-Leitbild sollensich die ArbeiterInnen und Angestellten zum Wohle des Betriebs »unternehmerisch«verhalten – konzernweit findet buchstäblich ein »Flexibilitätswettbewerb«statt, in welchem die Anpassungsbereitschaft <strong>der</strong> Belegschaftzur entscheidenden ökonomischen Ressource geworden ist.In den untersuchten Betrieben des Optoelektronik-Unternehmens liegendie Dinge etwas an<strong>der</strong>s. Obwohl <strong>der</strong> Sharehol<strong>der</strong> Value in <strong>der</strong> dortigen Managementrhetoriknie eine dominante Rolle gespielt hat, werden die Beschäftigtenseit geraumer Zeit mit einem Leitbild konfrontiert, das an die»unternehmerische« Arbeitskraft im globalen Wettbewerb appelliert. <strong>Das</strong>Management agiert nach <strong>der</strong> – offen kommunizierten – Devise: »Noch produzierenwir vor Ort; was in fünf Jahren ist, wissen wir nicht.« Die so erzeugteUnsicherheit hat durch die Aufspaltung des Unternehmens in mehrereeigenständige Betriebe am Ort und die damit verbundene Implementationinterner Marktbeziehungen zusätzliche Schubkraft erhalten. Während ausSicht <strong>der</strong> Unternehmensspitze vieles, was jahrzehntelang ein beson<strong>der</strong>es Firmenbewusstseinausmachte, in <strong>der</strong> globalen Konkurrenz obsolet erscheint,sorgen sich die Betriebsräte um die Einheit des Unternehmens und den Zusammenhalt<strong>der</strong> Belegschaft.Für beide untersuchten Werke gilt jedoch, dass Führungskräfte wie Festangestelltefür sich und ihr Werk eine Art Son<strong>der</strong>bewusstsein beanspruchen.Über Jahrzehnte und Generationen hinweg ist eine Identifikation mit demUnternehmen und den lokalen Werken gewachsen, die sich so ausgeprägtin an<strong>der</strong>en Betrieben <strong>der</strong> Branche nicht finden dürfte. Auch um diese – vermeintlichen– Son<strong>der</strong>fälle einordnen zu können, greifen wir zusätzlich aufeinige an<strong>der</strong>e Erhebungen zurück. Dazu gehören Daten aus einer repräsentativenBevölkerungsumfrage, die im Kontext des Jenaer Son<strong>der</strong>forschungs-


<strong>Das</strong> Unbehagen am Kapitalismus und die <strong>LohnarbeiterInnen</strong>27bereichs 580 »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch.Diskontinuität. Tradition. Strukturbildungen« erhoben wurden. Darüber hinauswerden Daten aus einer Befragung von Geschäftsführungen aus weiterenoptoelektronischen Betrieben in Ostdeutschland präsentiert. Vom Blickauf Orientierungen im Management versprechen wir uns einen beson<strong>der</strong>enKontrast zum Bewusstsein <strong>der</strong> befragten ArbeiterInnen und Angestellten.Die Kontextualisierung dieser zusätzlich herangezogenen Daten erfolgt inden jeweiligen Kapiteln. Die ebenfalls um Kontrastierung bemühten Ausführungenzum <strong>Gesellschaftsbild</strong> von prekär Beschäftigten und Erwerbslosenbasieren wesentlich auf qualitativen Untersuchungen, die im Rahmeneines Teilprojekts des erwähnten Son<strong>der</strong>forschungsbereichs 580 <strong>der</strong> DFGmit dem Titel »Entsteht eine neue Unterschicht« durchgeführt wurden. Diewichtigsten Befunde dieses Vorhabens sind inzwischen in einer eigenen Monografieveröffentlicht (Dörre/Scherschel/Booth et al. 2013).Der vorliegende Band stellt den empirischen Befunden aus Belegschaftsbefragungenin Industriebetrieben somit weitere zur Seite, die in unterschiedlichenProjekten am Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie<strong>der</strong> Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt wurden. 9 Erinformiert über den theoretischen Kontext <strong>der</strong> Forschungen, das Konzeptkapitalistischer Landnahmen und dessen Relevanz für die durchaus eigensinnigeSubjektkonstitution befragter ArbeiterInnen und Angestellter. Zieldes Buches ist es, die Ergebnisse unterschiedlicher Studien inhaltlich aufeinan<strong>der</strong>zu beziehen. Es geht uns um den Zusammenhang, <strong>der</strong> zwischeneinzelnen empirischen Befunden besteht. Aus diesem Grund verzichten wirauf ausführliche methodische Erläuterungen zu den quantitativen und qualitativenErhebungen. Auch die Kategorien und Verfahren, die wir für dieTypenbildungen genutzt haben, werden nicht ausführlich erläutert. Dies istbzw. wird in den Publikationen zu den Einzelstudien geschehen. Im vorliegendenBand beschränken wir uns darauf, die Datensätze im Anhang kurzvorzustellen.Inhaltlich knüpft <strong>der</strong> Band an klassische Forschungen zum Arbeiterbewusstseinan. Mit Bezug auf die bereits erwähnte Studie von Popitz, Bahrdtund Mitarbeitern werden zunächst aktuelle empirische Ergebnissen zum <strong>Gesellschaftsbild</strong>von <strong>LohnarbeiterInnen</strong> präsentiert und zu sieben forschungsleitendenAnnahmen verdichtet (Kapitel 1). Den nachfolgenden Teil mit einzelnenempirischen Studien eröffnet ein Beitrag zum Arbeitsbewusstsein undzur Interessenorientierung <strong>der</strong> Beschäftigten des besagten ostdeutschen In-9Zum Teil liegen den einzelnen Kapiteln frühere Veröffentlichungen zugrunde,die stark überarbeitet und durch Originalbeiträge komplettiert werden.


28Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschekdustrieunternehmens aus <strong>der</strong> Optikbranche (Kapitel 2). Daran schließt einKapitel zur Wahrnehmung <strong>der</strong> Leiharbeit durch Stammbeschäftigte eineswestdeutschen Industriebetriebes an (Kapitel 3). Krisenerfahrungen in ihrenAuswirkungen auf das Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein sind sodannGegenstand eines ersten Exkurses, <strong>der</strong> neben Daten aus einer repräsentativenBevölkerungsbefragung eine vergleichende Diskussion von Befundenaus Belegschaftsbefragungen ost- und westdeutscher Betriebe vorstellt (Kapitel4). In Kapitel 5 wenden wir uns dem <strong>Gesellschaftsbild</strong> von Erwerbslosenund prekär Beschäftigten zu, das im Kontrast zum Bewusstsein <strong>der</strong>»übriggebliebenen« Stammbeschäftigten analysiert wird. Abgerundet werdendie Untersuchungen von einem zweiten Exkurs zur Gesellschaftssichtleiten<strong>der</strong> Angestellter aus kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) <strong>der</strong>ostdeutschen optoelektronischen Industrie (Kapitel 6). <strong>Das</strong> abschließendeKapitel 7 nimmt die Ausgangsthesen wie<strong>der</strong> auf und diskutiert sie anhandvon zusätzlichem quantitativen und qualitativen Material aus <strong>der</strong> Hauptuntersuchung,um so die subjektiven Grenzen kapitalistischer Landnahmenzu thematisieren.


Die Autorinnen und AutorenMichael Behr, langjährige Tätigkeit als Soziologe am Lehrbereich Arbeits-,Industrie- und Wirtschaftssoziologie an <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-UniversitätJena mit dem Themenschwerpunkt Arbeit und Arbeitsmarkt, ist Abteilungsleiterfür Arbeitsmarktpolitik und Berufliche Bildung des ThüringerMinisteriums für Wirtschaft, Arbeit und Technologie.Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologiean <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-Universität Jena; Arbeitsschwerpunkte sindu.a. Theorie kapitalistischer Landnahmen, Prekarität sowie Arbeitsbeziehungenund soziale Konflikte. Er ist Mit-Initiator und einer <strong>der</strong> Direktorendes DFG-Forschungskollegs »Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung.Dynamik und (De-)Stabilisierung mo<strong>der</strong>ner Wachstumsgesellschaften«(Postwachstumsgesellschaften).Margrit Elsner war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich Arbeits-,Industrie- und Wirtschaftssoziologie <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-UniversitätJena, leitet aktuell die Geschäftsstelle des dortigen Instituts fürSoziologie und ist Koordinatorin <strong>der</strong> Initiative Internationales UN-JahrGlobal Un<strong>der</strong>standing des Lehrstuhls Sozialgeographie.Anja Happ war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich Arbeits-,Industrie- und Wirtschaftssoziologie und ist aktuell Referentin am Bundesamtfür Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Eschborn. Arbeitsschwerpunkt:Evaluation von För<strong>der</strong>programmen des Bundesministeriums fürWirtschaft und Technologie.Hajo Holst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Arbeits-, Industrie-und Wirtschaftssoziologie <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-Universität Jena;Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Nachhaltige Flexibilisierung und prekarisierteArbeit, Temporalstrukturen des Kapitalismus sowie internationalvergleichende Arbeitsbeziehungen.Bernd Martens, Soziologe, langjährige Tätigkeit an <strong>der</strong> Universität Jena imSon<strong>der</strong>forschungsbereich 580 »Gesellschaftliche Entwicklungen nachdem Systemumbruch«, zuletzt im Zentrum für Sozialforschung Hallein einem Kooperationsprojekt <strong>der</strong> Bundeszentrale für politische Bildungbeschäftigt.Ingo Matuschek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Arbeits-,Industrie- und Wirtschaftssoziologie <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-UniversitätJena; Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Flexibilisierung von Arbeit, verän<strong>der</strong>teProduktionsregime und Arbeitsbeziehungen sowie die Soziologiepolitischen Handelns.


286 Die Autorinnen und AutorenChristoph Thieme, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Arbeits-,Industrie- und Wirtschaftssoziologie an <strong>der</strong> FSU Jena, Arbeitsschwerpunkte:Regionale Arbeitsmarktanalysen zu Entwicklungspotenzialenund Fachkräftebedarf; Leiharbeit, Innovation, Kooperation und Fachkräfteentwicklungauf betrieblicher Ebene.

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