essayDie Angst vor derTechnikEin Plädoyer für den Austauschzwischen Tanz <strong>und</strong> JournalismusErgibt Sinn nur für Eingeweihte? „M!M“ von Laurent ChétouaneFoto: Oliver FantitschZeitgenössischer Tanz ist eine hybride Kunstform,der unzählige Techniken, aber keineNormie rungssysteme zu Gr<strong>und</strong>e liegen. Wie findetman als Journalist durch den „Wald“ nachwachsenderTechniken <strong>und</strong> <strong>mit</strong> welchem Vokabularschlägt man sich durch? Einen Problemberichthat Astrid Kaminski verfasst – <strong>und</strong> einenAppell: Formate zu finden, in denen sich Tänzer,Choreografen, Journalisten, Interessierte überdie Körper-, Imaginations- <strong>und</strong> choreografischenTechniken im zeitgenössischen Tanz austauschenkönnen.Text: Astrid KaminskiTanzjournalistin„Conceptual dance is over“, so tönte ein Schlachtrufvon Trajal Harrell beim Festival Tanz im August2013. Ein Schockmoment für den Tanzjournalismus.Gerade jetzt, da sich sogar Theaterkritikerimmer öfter in den Klammerbegriffskontext Performancehineinwagen, selbst wenn darin ein Tänzervorkommen sollte? Da jeder, der je ein zeichentheoretischesSeminar besucht hat, das neue BiotopChoreografie für sich entdeckt hat, in dem fastalles aufgeht? Jetzt, wo wir so viel poststrukturalistischenEnthusiasmus dafür aufbringen können,die Farben der Tänzerturnhosen zu beschreiben?Gerade jetzt: wird wieder getanzt. Und das sogarzu echter Musik. Der Physiker, Theatertext-Dekonstruktivist<strong>und</strong> choreografische Autodidakt LaurentChétouane legt ein Violinkonzert auf, zu demsich zwei Tänzer fast ununterbrochen bewegen:„M!M“. Sebastian Matthias, nebenbei auch Doktorand,engagiert ein Kammermusikensemble, um <strong>mit</strong>„Danserye“ zum Tanz zu laden, <strong>und</strong> William Forsythelässt in „Selon“ ein Quartett in konkreter (wennauch doppelbödiger) Beziehung zur Musik tanzen.Plötzlich stellt sich nicht nur die Frage nach derMusikkenntnis, sondern auch nach Tanztechniken inihren Beziehungen zu Tanzvokabular <strong>und</strong> -ästhetikwieder neu. Und da<strong>mit</strong> beginnt das Angstproblemim Tanzjournalismus. Wird der Versuch gemacht,über Techniken zu schreiben, geht das nicht seltenschief. Aus jüngerer Zeit erinnere ich mich an ziemlichschiefe Erwähnungen von Release Technique<strong>und</strong> „Modern“. William Forsythe bemerkte in einemInterview für das Kunstmagazin frieze d/e (11), vieleTanzkritiker hätten „keine systematischen analytischenFähigkeiten“. Ich nehme mich da nicht aus,er vielleicht auch nicht. Aber solche Analysesystemelassen sich auch nirgendwo normiert beziehen. Mitseinen im Web zugänglichen „Improvisation Technologies“hat William Forsythe einen ersten Schrittder Aufklärung unternommen. Kurze Clips veranschaulichenRaum- <strong>und</strong> Körperlinien im Bezug zurBewegung <strong>mit</strong>tels grafischer Tools. Das ist tatsächlicheine Hilfestellung für die Beobachtungspraxis.Nur: Bei einer Performance von Meg Stuart kommeich da<strong>mit</strong> nicht weit. Die Improvisationen ihrerTänzer entstehen, soweit ich das verstehe, eheraus dem Einfühlen in bestimmte Zustände, die sie„Container“ nennt. Andere Choreografen nutzendas freie Ausformulieren einer „task“ oder die Kontaktimprovisation.Dabei sind das keine Techniken,sondern Methoden, die oft aus Mischformen verschiedenerTechniken entwickelt wurden.Der von den Choreografengebrauchte Wortschatzist individuell <strong>und</strong> nichtkompatibel.Wo also anfangen, wenn man über Techniken schreibenmöchte oder muss? Und: Muss man überhaupt?Beliebtes Gegenargument: Ein Theaterkritiker erklärtauch nicht, welche Sprachübungen ein Schauspielergemacht hat, um seine Verschlusslaute perlend klingenzu lassen. Kein Musikkritiker erläutert, <strong>mit</strong>telswelcher Imaginationstechnik eine artikulationsreichePhrasierung mutmaßlich möglich wurde. Er erwartevon keinem Tanzkritiker, dass er (<strong>mit</strong> Hilfe von Body-Mind-Centering) schon mal „in der eigenen Lymphegewesen“ sei, meint folglich auch der ChoreografChristoph Winkler.Ich frage außerdem Laurent Chétouane, SebastianMatthias, Kadir „Amigo“ Memis, Zufit Simon sowieMichael Löhr <strong>und</strong> Tänzer aus seiner Profiklasse imTanzstudio Marameo (Danke noch einmal für diewertvolle Gesprächszeit!). Die meisten stimmen <strong>mit</strong>Christoph Winkler überein: Sie glauben nicht, dasssich mehr von ihrer Arbeit transportiert, wenn einKritiker erwähnt, <strong>mit</strong>tels welcher Technikkombinationein Tänzer seine Schüttel- oder Sprungsequenzen4 tanzraumberlin januar/februar 2014
Kadir „Amigo“ Memis in „Zeybreak“Foto: MAIFOTOausführt. Die Fachzeitschrift tanz hat wohl nichtumsonst die Technik größtenteils aus den journalistischenTexten ausgelagert <strong>und</strong> im hinteren Teil alseigene Rubrik den Fachleuten überlassen.Was das Vokabular angeht, sind sich meine Gesprächspartnerebenfalls einig: Der von den Choreografengebrauchte Wortschatz sei individuell <strong>und</strong> nicht kompatibel.Sasha Waltz verwendet eigene Begrifflichkeiten,ebenso wie William Forsythe oder Emanuel Gat.Ein „retournement“ ist bei Laurent Chétouane zumBeispiel eine bestimmte Art „vom Raum gerufen zuwerden“. Dies zu verfolgen ist zwar interessant, abereine Enzyklopädie dieser Begriffe wäre sinnlos, daständig von der Wirklichkeit überholt.Sich da<strong>mit</strong> abzufinden, greift aber zu kurz – das istder zweite Punkt, über den ich <strong>mit</strong> meinen Gesprächspartnernreden kann. Was, wenn die Technik nichtvon der Tanzsprache oder der Ästhetik zu trennen ist?Eine Bewegung endet im zeitgenössischen Tanz meistnicht in einer Pose, Position, Geste oder Figur. Ichmuss ein Stück weit in ihre Mechanismen <strong>und</strong> Dynamikenhinein, um ihr folgen, die Phrasierung erleben<strong>und</strong> zu einer Empfindung kommen zu können. Weilsich daraus ganz andere Interpretationsspielräumeöffnen, muss ich unterscheiden können zwischeneiner Ästhetik aus additiven Techniken <strong>und</strong> einer, die,wie bei Chétouane oder Forsythe, konsequent einendekonstruktivistischen Zugang benutzt. Wenn Chétouanedie Graham-Technik wählt, dann wiederumnicht als Ästhetik, sondern weil ihn gewisse Mechanikendavon interessieren.persönliche Färbungen, <strong>und</strong> leistet da<strong>mit</strong> einen sensibilisierendenZugang zur hybriden Materie. Dabeistellt er kein Kompendium dar, sondern ein Exzerpt –er ist exemplarisch in der Darstellung, nicht repräsentativfür die heutige Praxis. Die schnellen Entwicklungender Kurs- <strong>und</strong> Choreografenszene kann der Bandnicht abdecken. Es fehlt (neben einem Glossar) zumBeispiel die GaGa-Technik, die der Leiter der BatshevaDance Company, Ohad Naharin, entwickelte <strong>und</strong>deren namentliche Unkenntnis einen, wie ich inzwischenweiß, im heutigen Berlin einigermaßen disqualifiziert.Auch David Zambrano kommt nicht vor. Hip-Hop <strong>und</strong> Streetdance sowieso nicht, obwohl Choreografenvon Bruno Beltrão über Amigo bis zu EmanuelGat längst Elemente davon in den zeitgenössischenTanz einbeziehen.Eine Lösung habe ich hier nicht,aber einen Vorschlag:AustauschEs bleibt daher das Gespenst im Nacken, das fragt:Beruht diese oder jene Ästhetik auf einer spezifischenoder zumindest einer dominanten Technik?Einer Tanz-, Körper-, Imaginationstechnik? ÜberAmigos ausverkauftes Tanzstück „Scha’irlie“ hatsich, vermutlich aus lauter Angst vor Popping <strong>und</strong>Locking, kein Kritiker zu schreiben getraut. Um alldas aufzuarbeiten, fehlt neben den Gelegenheitenauch die Zeit. Die Tanzwissenschaft hat bislangmehr Journalisten einkassiert als ausgespuckt. Unddie Situation in den Medien ist prekär. Keine deutscheZeitung oder R<strong>und</strong>funkanstalt vergibt für Tanzeine eigene Redaktionsstelle. Einige wenige Kritikeraus glücklicheren Generationen beziehen einekleine Pauschale, die meisten machen noch allesmögliche Andere, um zu überleben. Und obwohlviele sowohl über praktische als auch wissenschaftlicheHintergründe verfügen, handelt es sich alsogroßteils um eine semiprofessionelle Spezies vonEnthusiasten.Was tun? Eine Lösung habe ich hier nicht. Abereinen Vorschlag: Austausch. In der New YorkerJudson Church gibt es ein im zweiwöchigen Turnusstattfindendes Format, bei dem choreografischeArbeiten öffentlich nur zu dem Ziel gezeigtwerden, darüber zu reflektieren. Feedback für dieKünstler <strong>und</strong> Einsichten für Aufgeregte das Publikum Performer werden inso im gleichen Maß ermöglicht. Die Stimmung Meg Stuarts isttoll! Ist ein ähnliches Format nicht auch „Built to zwischen last“Tänzern, Choreografen, Journalisten Foto: Chris Van <strong>und</strong> der Burght Interessiertenin Berlin möglich? So dass man danach wieHekuba in den „Troerinnen“ sagen kann: „Nie warich im Innern der Schiffe. Aber ich weiß von ihnendurch Worte, die ich hörte, <strong>und</strong> Bilder, die ich sah.“Diese Frage hat für mich nichts <strong>mit</strong> einem Kunstvoyeurismuszu tun, sondern vielmehr <strong>mit</strong> einemBedürfnis nach Austausch, der eben nicht gleichein privater sein muss. Gleichzeitig ist der Abstand,den Befindlichkeitskritiken („gut“ oder „schlecht“)voraussetzen, eine Kategorie, die niemand mehrwirklich braucht. – Es sei denn, wir schreiben ausschließlichfür die Subventionsgeber.Das Tanzquartier Wien macht gegenwärtig zusammen<strong>mit</strong> dem Magazin Theater der Zeit vor, wieman das Publizieren über Tanz auch ganz gut ohneJournalisten schafft. Seit Oktober gibt es in jederAusgabe des Theatermagazins eine Sammlungvon freien Textformaten, die im Zusammenhang<strong>mit</strong> der Publikationsreihe Scores im Tanzquartierentstehen. Darin schreiben Performer, Choreografen,Wissenschaftler <strong>und</strong> Philosophen über Beobachtungen,die im Kontext von Tanz <strong>und</strong> Performancerelevant sind. Auch das ist eine Antwort aufden Austauschbedarf, genauso wie auf das, wasim Fachjournalismus fehlt. Auf der anderen Seitebleibt dabei aber auch das Format einer konstruktivenKritik auf der Strecke. Um dem zu genügen, <strong>mit</strong>all der Direktheit, Flüchtigkeit <strong>und</strong> auch emotionalenDisposition, die darin enthalten ist, müssen wirunseren Modus der Beobachtung erweitern. Dasreine Ausblenden der komplizierten Technik(en)-frage führt höchstens dazu, dass von der w<strong>und</strong>erbarenMechanik des zeitgenössischen Tanzes dochwieder nur das ausbuchstabierte Konzept alleinübrig bleibt.Es gilt also das Verhältnis von Erzeugung <strong>und</strong> Erscheinunginterpretieren zu können. Einen Einstieg bietetdas Buch „Tanztechniken 2010“, das in der Zusammenarbeit<strong>mit</strong> Institutionen aus Geldern des TanzplanDeutschland entwickelt wurde. Der anspruchsvolleBand <strong>mit</strong> zwei Demonstrations-CDs verbindetfür sieben Techniken Praxis <strong>und</strong> Theorie, Einflüsse <strong>und</strong>Tanzklasse zur Jooss-Leeder-Technik. Bild aus dem Band „Tanztechniken 2010“ Foto: Andrea Keizjanuar/februar 2014 tanzraumberlin 5