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Die roten Frauen von Riederau - Hinterland Magazin

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Hilde Kramer<br />

das rote Hünenmädchen<br />

<strong>Die</strong> <strong>roten</strong> <strong>Frauen</strong> <strong>von</strong> <strong>Riederau</strong><br />

Eine Familiengeschichte in der Zeit der Baierischen Räterepublik<br />

Von Egon Günther und Thies Marsen<br />

KPD Mitglieder<br />

bei der Räte Demonstration auf der Theresienwiese


Juli 1919: <strong>Die</strong> Revolution in München ist<br />

niedergeschlagen, die siegreichen Weißen<br />

Truppen haben Hunderte Aufständische<br />

ermordet, die Anführer der Räterepublik, „jenes<br />

seltsamen Frühlings zu München”, sind erschlagen,<br />

erschossen oder vom Standgericht zu langjährigen<br />

Haftstrafen verurteilt worden. Am letzten Tag der<br />

Standgerichtsbarkeit stehen auch zwei <strong>Frauen</strong> vor<br />

Gericht: Gabriele Kaetzler und ihre einstige Schülerin<br />

Hilde Kramer. <strong>Die</strong> Revolution, an der sie<br />

maßgeblich beteiligt waren, hat unter anderem das<br />

Wahlrecht für <strong>Frauen</strong> erkämpft. Doch als <strong>Frauen</strong><br />

werden Gabriele Kaetzler und Hilde Kramer <strong>von</strong><br />

den Militärs des Standgerichts nicht ernst genommen.<br />

Zu ihrem Glück. So bleibt ihnen das Schicksal<br />

eines Gustav Landauer, Rudolf Eglhofer oder<br />

Eugen Leviné erspart, sie bleiben am Leben. Am<br />

Ende werden Kramer und Kaetzler sogar freigesprochen.<br />

Erstere wird allerdings des Landes verwiesen.<br />

Und bis Ende 1919 hat auch letztere dem<br />

Freistaat den Rücken gekehrt.<br />

Gabriele Kaetzler stammt aus einer vermögenden,<br />

adeligen Familie. Ihr Vater Max Freiherr <strong>von</strong> der<br />

Goltz war Chef des kaiserlichen Marinekabinetts.<br />

Doch Gabriele ist das schwarze – besser gesagt:<br />

das tiefrote Schaf der Familie. Sie brennt mit ihrem<br />

Hauslehrer durch, an dem sie, neben anderem, vor<br />

allem eines schätzt: seine sozialistische Weltanschauung.<br />

Gabriele Freifrau <strong>von</strong> der Goltz und<br />

Gustav Kaetzler heiraten, bekommen sechs Kinder<br />

und ziehen schließlich 1908 <strong>von</strong> Berlin nach <strong>Riederau</strong>,<br />

damals ein kleiner Weiler am Westufer des<br />

Ammersees: Ein Dutzend Häuser, vor allem <strong>von</strong><br />

Bauern und Fischern, und dazu ein paar Wochenendvillen<br />

<strong>von</strong> vermögenden Sommerfrischlern aus<br />

der Stadt. Das Haus am Ammersee entwickelt sich<br />

im Folgenden zu einem Treffpunkt namhafter<br />

Links-Politiker. Zu Gast sind u.a. Karl Liebknecht,<br />

Johann Knief und, so wird berichtet, Rosa Luxemburg.<br />

Doch schon bald nach der Ankunft am Ammersee<br />

wird Gustav Kaetzler schwer krank. Gabriele muss<br />

ab sofort für Kinder und Mann sorgen: <strong>Die</strong> gelernte<br />

Lehrerin gründet ein Landerziehungsheim im<br />

Nachbardorf Holzhausen – für Kinder beiderlei<br />

Geschlechts im Alter <strong>von</strong> 8 bis 14 Jahren. Auch<br />

ihre eigenen Kinder schickt sie nicht nach <strong>Die</strong>ßen<br />

auf die Konfessionsschule, sondern erzieht sie zu<br />

Hause. Statt, wie damals üblich, auf Zucht und<br />

Ordnung setzt sie in ihrem Landheim auf äußerst<br />

fortschrittliche und freizügige Erziehungsmethoden.<br />

So manchem Nachbarn in <strong>Riederau</strong> sind die Erzie-<br />

hungsmethoden Gabriele Kaetzlers tatsächlich viel<br />

zu freizügig. Es gibt Beschwerden, weil sie, wie<br />

aus einem Brief aus dem Jahre 1913 hervorgeht,<br />

„die Kinder beiderlei Geschlechts und <strong>von</strong> verschiedenem<br />

Alter in ihrem Garten und an freiliegenden<br />

Badeplätzen ohne Badekleider Luft- und<br />

Wasserbäder nehmen” ließ. Als Gabriele Kaetzler<br />

sich über die Sittlichkeitsauffassung der <strong>Riederau</strong>er<br />

in einem Spottgedicht lustig macht, gibt es schließlich<br />

sogar ein Gerichtsverfahren. Wie der Rechtsstreit<br />

ausgegangen ist, ist unbekannt, das Erziehungsheim<br />

allerdings scheitert. Kurz vor dem<br />

Ersten Weltkrieg muss Gabriele Kaetzler das Heim<br />

schließen, da ihr, wie ein Bekannter schreibt<br />

„wesentliche bürgerliche Eigenschaften, Ordnungs-,<br />

Zeit- und Erwerbsinn abgingen, wohl die<br />

Folge einer extrem aristokratischen Erziehung, die<br />

keinen Übergang zur bürgerlichen Auffassung vermitteln<br />

konnte.”<br />

<strong>Die</strong> Revolution liegt in der Luft<br />

Am 29. Oktober 1918 stirbt Gabriele Kaetzlers Ehemann<br />

Gustav schließlich im Alter <strong>von</strong> 68 Jahren.<br />

Doch sie hat keine Zeit für Trauer, denn auch in<br />

Deutschland brechen neue Zeiten an. Überall im<br />

Deutschen Reich brodelt es, in München ebenso<br />

wie in Berlin, wo inzwischen Gabrieles Kaetzlers<br />

Tochter Louise, genannt Wise, wohnt. Anfang<br />

November schreibt Wise an ihre Mutter: „Schutzleute<br />

unter den Linden! Ich ahnte ja noch gar<br />

nichts und dachte sofort an Revolution. Liebknecht<br />

ist auf einem offenen Planwagen gefahren worden<br />

und sowie er aus dem Bahnhof kam, ein einziges:<br />

Hoch! Hoch Liebknecht! und Liebknecht sofort –<br />

heiser und elend! – Hoch die Sozialrevolution! Nieder<br />

mit dem Krieg! Verhaftet sind Unmassen <strong>von</strong><br />

Leuten, am Bahnhof und vor der Russischen Botschaft<br />

wurde blankgezogen.”<br />

<strong>Die</strong> Revolution liegt in der Luft, das ist überall zu<br />

spüren. Als erstes bricht sie in München aus. Auf<br />

einer Friedenskundgebung <strong>von</strong> USPD, SPD und<br />

Bauernbund auf der Münchner Theresienwiese<br />

rufen der Pazifist Kurt Eisner und der Bauernbündler<br />

Carl Gandorfer die Republik aus. <strong>Die</strong> Soldaten<br />

meutern, die kriegsmüde Volksmenge stürmt die<br />

Kasernen, der bayerische König flieht. Ein Arbeiter-<br />

und Soldatenrat formiert sich. Mit dabei: <strong>Die</strong><br />

19jährige Hilde Kramer, die als zehnjähriges Waisenkind<br />

einst <strong>von</strong> Gabriele Kaetzler in <strong>Riederau</strong><br />

aufgenommen worden war. Am 18. November<br />

1918, zehn Tage nach dem Umsturz, schreibt sie<br />

an Wise in Berlin: „Ich schreibe dir aus dem<br />

baiern<br />

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baiern<br />

Kriegsministerium, denn ich bin augenblicklich im<br />

Propagandaausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates<br />

tätig. Es waren tolle Tage, die Tage der Revolution.<br />

Durch einen Studenten kam ich in einen<br />

Kreis <strong>von</strong> linksradikalen Stundenten, größtenteils<br />

Luxemburgern, hinein. Wir haben unter den größten<br />

Schwierigkeiten Flugblätter gedruckt und mit<br />

Hilfe <strong>von</strong> Eisner und der Unabhängigen Organisation<br />

verteilt. Fabelhaft war’s, wenn wir in der<br />

einen Studentenbude saßen und revolutionäre<br />

Pläne brüteten.”<br />

Gabriele Kaetzler hockt derweil in <strong>Riederau</strong>, ab<br />

vom Geschehen, mit ihren drei jüngsten Kindern.<br />

Am 3. Dezember schreibt sie an eine Bekannte:<br />

„Ich sitze hier in einem politisch so rückständigen<br />

Winkel. Ich höre Tag für Tag die immer unverhüllteren<br />

Drohungen gegen Eisner, ich höre mit eigenen<br />

Ohren die dreckigen Verleumdungen und bin<br />

voller Zagen und voller Angst.”<br />

Zunächst scheint alles auf einen Sieg der Revolution<br />

hinzudeuten. Doch ausgerechnet die Führer<br />

der SPD fallen ihren eigenen Parteigenossen in<br />

den Rücken. Sie paktieren mit den alten Mächten,<br />

verbünden sich schließlich mit den rechtsnationalen<br />

Freikorps und beauftragen diese, die revolutionären<br />

Aufstände im ganzen Deutschen Reich<br />

niederzuschlagen. Auch die Ermordung der prominentesten<br />

Arbeiterführer Karl Liebknecht und Rosa<br />

Luxemburg durch rechte Freischärler im Januar<br />

1919 geht auf das Konto der Mehrheitssozialisten.<br />

Gabriele Kaetzlers Haus am Ammersee wird in dieser<br />

Zeit zum Archiv der revolutionären Bewegungen<br />

im ganzen Deutschen Reich. Aus dem ganzen<br />

Reich schicken Genosse Material zur Verwahrung<br />

im vermeintlich sicheren Bayern. Täglich bekommt<br />

sie Dutzende <strong>von</strong> Zeitschriften, Broschüren und<br />

Flugblättern.<br />

Das rote „Hünenmädchen” Hilde<br />

Ihr ehemaliger Zögling, Hilde Kramer, bei Ausbruch<br />

der Revolution erst 18 Jahre und damit nach<br />

den damaligen Gesetzen noch nicht volljährig,<br />

wird unterdessen zu einer der zentralen Figuren<br />

der Münchner Räterepublik. Schon ihre auffällige<br />

Pagenfrisur und ihre Körpergröße <strong>von</strong> fast zwei<br />

Metern machen sie zu einer in der ganzen Stadt<br />

bekannten Erscheinung der Revolution: das<br />

„Hünenmädchen Hilde”, „die Rote Hilde”, das<br />

„Mädchen mit dem Tituskopf”. Bereits am 30.<br />

November 1918 ist sie bei der Bildung der „Vereinigung<br />

Revolutionärer Internationalisten Bayerns”<br />

dabei und wird – neben Erich Mühsam – zur<br />

Geschäftsführerin ernannt. Als Münchner Delegierte<br />

reist sie „mit rotem Band im Knopfloch” durch<br />

das ganze Deutsche Reich um Verbindung zu<br />

anderen Gruppen zu knüpfen. Sie unterzeichnet<br />

auch einen Aufruf der Internationalen Kommunisten,<br />

was selbst in den eigenen Reihen auf Kritik<br />

stößt: Der Kommunistenführer Eugen Leviné soll<br />

sich darüber mokiert haben, dass ein 18jähriges<br />

Mädchen, das noch nie politisch tätig war, einen<br />

Aufruf unterschreibt.<br />

In der Revolutionsregierung ist Hilde Kramer<br />

zunächst im Landessoldatenrat beschäftigt, arbeitet<br />

dann als Berichterstatterin der „Roten Fahne”, der<br />

Zeitung der gerade gegründeten Kommunistischen<br />

Partei, und wird zuletzt Schreiberin der Stadtkommandantur,<br />

wo sie auch für das Ausstellen <strong>von</strong><br />

Ausweisen zuständig ist. In der Münchner Revolutionsregierung<br />

eskaliert unterdessen der Streit zwischen<br />

den Gemäßigten um Kurt Eisner und den<br />

Radikalen um Erich Mühsam. Eisner lässt am 10.<br />

Januar 1919 zahlreiche prominente Linksradikale<br />

verhaften: Darunter Leviné, Mühsam, Levien und<br />

auch Hilde Kramer. Doch schon bald muss sich<br />

Eisner dem Druck der Straße beugen und alle wieder<br />

laufen lassen. In den zahlreichen Büchern<br />

über die Revolutionszeit in München taucht der<br />

Name Hilde Kramer nicht auf. Einzig Oskar Maria<br />

Graf hat ihr in Wir sind Gefangene zumindest ein<br />

kleines Denkmal gesetzt: In einer Szene begegnet<br />

er Hilde Kramer im Polizeipräsidium, wo sie zeitweise<br />

als Schreiberin der Stadtkommandantur<br />

arbeitet.<br />

<strong>Die</strong> Revolution in München steht schon bald unter<br />

einem schlechten Stern: <strong>Die</strong> Landtagswahlen im<br />

Januar 1919 enden mit einer bitteren Niederlage<br />

für die Linke. Am 21. Februar 1919 macht sich<br />

Ministerpräsident Kurt Eisner auf den Weg zum<br />

Landtag, wo er seinen Rücktritt einreichen will.<br />

Doch vor dem Außenministerium in der Promenadestraße<br />

lauert ihm der junge Adelige Anton Graf<br />

<strong>von</strong> Arco auf Valley auf. Graf Arco schießt dem<br />

Ministerpräsidenten in den Kopf. Eisner stirbt, Arco<br />

wird selbst durch Schüsse der Leibwächter lebensgefährlich<br />

verletzt. Nun schlägt die Stimmung um:<br />

Alois Lindner vom Revolutionären Arbeiterrat<br />

stürmt in den Landtag und feuert mehrere Schüsse<br />

auf den Vorsitzenden der gemäßigten Sozialdemokraten,<br />

Erhard Auer, ab, der schwer verletzt wird.<br />

Ein neuer Zentralrat der bayerischen Republik, in<br />

dem die Linksradikalen das Sagen haben, übernimmt<br />

die Macht. <strong>Die</strong> Redaktionsgebäude der


Münchner Zeitungen werden besetzt. Eisner wird<br />

unter großer Anteilnahme der Bevölkerung auf<br />

dem Ostfriedhof zu Grabe getragen. <strong>Die</strong> Anhänger<br />

des Rätesystems erhalten weiteren Auftrieb, als am<br />

22. März bekannt wird, dass die Ungarn eine Räterepublik<br />

ausgerufen haben. Bei einer Konferenz<br />

im Wittelsbacher Palais, im einstigen Schlafzimmer<br />

der Gemahlin des letzten Königs <strong>von</strong> Bayern,<br />

beschließen am 6. April 1919 der Münchner Arbeiter-<br />

und Soldatenrat sowie Anarchisten und Sozialdemokraten<br />

die Einrichtung einer Räterepublik.<br />

Gustav Landauer verkündet am 7. April 1919 um<br />

sechs Uhr morgens: „Das Volk ist <strong>von</strong> jetzt ab Herr<br />

seines Landes. Bis auf die letzten Reste werden<br />

sofort Ausbeutung und Unterdrückung abgeschafft<br />

werden. Der freie Volksstaat Baiern wird ein sozialistisches<br />

Gemeinwesen.”<br />

Das bayerische Kabinett unter Führung des gemäßigten<br />

SPD-Politikers Johannes Hoffmann flieht ins<br />

Bamberger Exil und beginnt bald Kontakt zu den<br />

reaktionären Kräften zu knüpfen, um München<br />

zurückzuerobern. <strong>Die</strong> 1. Münchner Räterepublik<br />

wird nur eine Woche alt: Am Palmsonntag putschen<br />

rechte Kräfte. In blutigen Kämpfen vor<br />

allem am Münchner Hauptbahnhof werden sie <strong>von</strong><br />

den Rotgardisten besiegt. Eine neue, zweite Räterepublik<br />

wird proklamiert – diesmal unter kommunistischer<br />

Führung. In ganz München ist der Generalstreik<br />

ausgerufen, bewaffnete Arbeiter bilden<br />

Kompanien und Bataillone und halten Truppenparaden<br />

in der Innenstadt ab. Doch auch die 2. Räterepublik<br />

hat nur kurz Bestand, denn <strong>von</strong> Norden<br />

her marschieren die Weißen Garden auf München<br />

zu. Bei Dachau können sie kurzzeitig <strong>von</strong> der<br />

Roten Armee unter Ernst Toller zurückgeschlagen<br />

werden. Doch es ist nur eine Atempause für die<br />

Revolution.<br />

Das blutige Massaker <strong>von</strong> München<br />

Am 1. Mai 1919, einem winterlichen bitterkalten<br />

Tag, erobern die Truppen der Regierung Hoffmann<br />

die Landeshauptstadt. Sie sind besser bewaffnet<br />

und gegenüber der Roten Armee weit in der Überzahl.<br />

Unter ihnen sind viele, die später in der<br />

nationalsozialistischen Bewegung eine zentrale<br />

Rolle spielen werden. <strong>Die</strong> weißen Truppen richten<br />

ein blutiges Massaker an, Hunderte Arbeiter werden<br />

ermordet. Gabriele Kaetzler und ihre Töchter<br />

Wise und Fite sind in München, als die Weißen<br />

Garden einmarschieren. Sie verstecken sich in<br />

Hilde Kramers Wohnung: Am 2. Mai werden sie<br />

dort verhaftet. Hilde Kramer flieht zu Fuß nach<br />

Fite Kaetzler,<br />

Zürich, 1934<br />

baiern<br />

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baiern<br />

Wise Barthel, 1974, mit ihrem Bruder<br />

Tommi Kaetzler und ihrem Sohn Thomas<br />

S. Barthel<br />

Gabriele Kaetzler, 1946<br />

<strong>Riederau</strong>, wo die Weißen Truppen sie eine Woche<br />

später aufspüren. Das Haus der Familie Kaetzler<br />

wird durchsucht, die Zeitschriften und Dokumente,<br />

die Gabriele Kaetzler aus dem ganzen Reich zugeschickt<br />

bekommen hat, werden beschlagnahmt.<br />

Hilde Kramer, Gabriele Kaetzler und ihre Töchter<br />

Wise und Fite werden in der Münchner Ettstraße<br />

inhaftiert und verhört, doch keine <strong>von</strong> ihnen<br />

macht eine Aussage, so dass die Polizei ihnen<br />

einen Spitzel in die Zelle schickt. Wise und Fite<br />

werden schließlich ins Gefängnis Aichach überführt,<br />

Hilde Kramer und Gabriele Kaetzler kommen<br />

nach Stadelheim. Wer sich während dieser<br />

Zeit um die drei jüngsten Kaetzler-Kinder in <strong>Riederau</strong><br />

kümmert, ist unklar. Vermutlich der älteste<br />

Sohn Stasi. Ende Juni 1929 schreibt er aus <strong>Riederau</strong><br />

an seine Schwestern im Gefängnis: „Mutt ist<br />

in Stadelheim. Ich habe sie jetzt ein paar mal<br />

besucht. Es geht ihr körperlich gut, sie sieht wie<br />

früher aus. Hilde, der es zuerst schlecht ging, und<br />

Frau Bertels sind auch in Stadelheim. <strong>Die</strong> anderen<br />

Genossen: Weinberger, Eglhofer und Landauer sind<br />

totgeschlagen bzw. erschossen und totgeprügelt<br />

worden. Toller auch in Stadelheim. Und das größte<br />

Verbrechen: Leviné erschossen, Mutt hat die Schüsse<br />

gehört. Er wurde an die Gefängnismauer in Stadelheim<br />

gestellt, rief: Es lebe die Weltrevolution!<br />

und wurde <strong>von</strong> 10 Weißgardisten niedergeknallt.”<br />

Am 29. Juni 1919 kommen Fite und Wise Kaetzler<br />

aus dem <strong>Frauen</strong>gefängnis Aichach frei – allerdings<br />

unter der Auflage, Bayern zu verlassen. Sie gehen<br />

nach Berlin. Gegen ihre Mutter Gabriele und Hilde<br />

Kramer ergeht Anklage wegen Hochverrats.<br />

Gabriele Kaetzler wird freigesprochen und am 4.<br />

Juli aus der Schutzhaft entlassen. Viele Nachbarn<br />

und Freunde vom Westufer des Ammersees haben<br />

sich für ihre Freilassung eingesetzt. Hilde Kramer<br />

bleibt vorerst in Haft und wartet auf ihren Prozess.<br />

Am 16. Juli 1919 schreibt sie aus dem Gefängnis<br />

Stadelheim an ihre ehemaligen Lehrerinnen: „Ich<br />

glaube und bin fest überzeugt da<strong>von</strong>, dass wir für<br />

die Kommenden kämpfen, im Gefängnis sitzen,<br />

dass unsere Führer für sie starben. Wir machen der<br />

neuen Generation den Weg frei, wir bereiten für<br />

sie eine neue Zeit. <strong>Die</strong>sen neuen Menschen wird<br />

es obliegen, dass wir in der kommenden Räterepublik<br />

– und sie wird kommen trotz aller Noskeschen<br />

Maschinengewehre – beginnen, fortführen,<br />

eine Gemeinschaft (keinen Staat) zu gründen, an<br />

deren Geschäften sich das ganze arbeitende Volk<br />

beteiligt. Sie fragen mich nach meinem Verlobten<br />

und weisen dabei gleich auf die Ehe hin. Ich<br />

denke ja gar nicht daran zu heiraten. Um mir mein


persönliches Leben zu gestalten brauche ich keinen<br />

Stempel vom Standesamt. Heiraten werden<br />

wir aus Prinzip nicht. Hier in Bayern ist ja die<br />

Anschauung über derlei Dinge überhaupt viel<br />

freier, da ist freie Liebe etwas Allgemeines.”<br />

Flucht aus der Ordnungszelle Bayern<br />

Schließlich wird auch die Anklage gegen Hilde<br />

Kramer fallengelassen. Sie wird des Landes verwiesen<br />

und muss Bayern ebenfalls verlassen. Gabriele<br />

Kaetzler geht vorerst zurück an den Ammersee zu<br />

ihren drei jüngsten Kindern. Auf Anweisung der<br />

Münchner Polizei wird sie <strong>von</strong> der Polizeidirektion<br />

<strong>Die</strong>ßen überwacht: „Eine scharfe Kontrolle sämtlicher<br />

bei Frau Kaetzler verkehrenden Personen ist<br />

angezeigt, da die Genannte nach Aktenlage fanatische<br />

Kommunistin ist.”<br />

Im Oktober 1919 hält es Gabriele Kaetzler in der<br />

Ordnungszelle Bayern nicht mehr aus. Sie kehrt<br />

dem Ammersee den Rücken und flüchtet zu dem<br />

Maler und Kommunisten Heinrich Vogeler nach<br />

Worpswede. In dem Künstlerdorf in Niedersachsen<br />

haben zahlreiche Räterevolutionäre Unterschlupf<br />

gefunden. Der elfjährige Aufenthalt Gabriele Kaetzlers<br />

und ihrer Familie in Bayern ist vorbei.<br />

Natürlich ist damit nicht die Geschichte <strong>von</strong><br />

Gabriele Kaetzler und ihren Kindern vorbei. Auch<br />

nach der gescheiterten Revolution und der<br />

anschließenden Vertreibung bleibt die Familie mit<br />

den politischen und sozialen Kämpfen ihrer Zeit<br />

eng verknüpft. Gabriele Kaetzler stirbt 1954 im<br />

Alter <strong>von</strong> 82 Jahren in Zürich. Hätte nicht die<br />

Kunsthistorikerin Christiane Hauck in einer verstaubten<br />

Polizeiakte des Münchner Staatsarchivs<br />

Briefe der Familie Kaetzler gefunden, wäre das<br />

Schicksal <strong>von</strong> Gabriele und den ihren wohl gänzlich<br />

dem Vergessen anheim gefallen. Doch die<br />

Erinnerung an diese ungewöhnliche Familie in<br />

einer ungewöhnlichen Zeit hat dennoch die Jahrzehnte<br />

überdauert – ausgerechnet in einer Polizeikladde<br />

im Aktenschrank ihrer Verfolger.<<br />

baiern<br />

Thies Marsen<br />

ist Journalist beim Bayerischen<br />

Rundfunk und lebt in<br />

Oberbaiern<br />

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