MauerfallZwischen Ost und West<strong>Meyn</strong> <strong>Info</strong> - Ausgabe Dezember 2010Aufregung seit vielen Wochen. In unserem Ferienhaus unweit von Berlin verfolge ich die Bilder am Fernseher und weiß sie nicht sogenau einzuschätzen: Meist junge Menschen verlassen in großer Zahl über Ungarn die DDR, das Land, in dem ich geboren bin.Seltsam, denke ich, würde ich mein Land verlassen?Sommer 1989. Ich werde in drei Monaten 12 Jahre alt und mag mein Leben in der DDR sehr gern. Das liegt sicher auch an derStadt, in der ich lebe, wo man so vieles machen kann: Berlin mit seinen leicht verfallenen Häusern und Straßenzügen - ideal zumSpielen; meine Kindheit spielt sich viel draußen ab: Rollschuhfahren um die Blocks im Sommer, Schlittschuhlaufen im Winter, Eisessen in der Mokka-Milch-Eisbar, ab und an ins "Theater der Freundschaft" oder auf den Fernsehturm gehen, vor allem ins Cafénach ganz oben, das dreht sich nämlich. Langweilig ist mir nie und eingesperrt fühle ich mich erst recht nicht. Ich darf sogar seit dreiJahren allein mit der U-Bahn zur Schule fahren. Die Schule ist in Ordnung, denn da passiert auch immer viel. Mit der Klasse, dieeine richtige Gemeinschaft ist, treffen wir uns immer mittwochs, zweimal im Monat am Nachmittag, und laden uns Leute ein, dievom Krieg erzählen oder von Gorbatschow aus Russland berichten. Aber normale Sachen wie Theater oder Feiern machen wir auch.Daher gibt es mittwochs nie Hausaufgaben auf, staatlich verordnet sozusagen. Nur eines finde ich seltsam: Einmal im Monat erzähltuns ein Mitschüler, der von einer Besprechung mit anderen Mitschülern und einer Lehrerin zurückkehrt, etwas über Berlin-West unddie BRD. Meistens geht es darum, dass die Arbeitslosenzahlen und die Zahl der Drogentoten angestiegen sind. Merkwürdiges Land,von dem ich nicht viel weiß und wohin auch kaum jemand, den ich kenne, in den Urlaub fährt - mit Ausnahme meiner Großmutter.Sie fährt regelmäßig nach Kappeln zu Verwandten, erzählt nie von Drogentoten, sondern bringt immer Unmengen an Kaffee undSchokolade mit. Dass nur sie in den anderen Teil Deutschlands reisen darf, verwundert mich nicht groß. Schließlich ist sie Rentnerinund hat alle Zeit der Welt. Und weder ihr Kaffee noch die Geschichten von den alten Tanten in Kappeln machen mich neugierig.Mein Land zu verlassen, käme für mich nicht in Frage.Das Ende der DDR fällt zusammen mit dem Ende meiner Kindheit. Wäre ich 1989 ein paar Jahre älter gewesen, hätte ich sicherlichnoch miterleben müssen, wie sich die Erinnerungen meiner Kindheit mit den Realitäten vermengten, die ich von älteren Freundenund Eltern erst viel später erfuhr: der Studien- und Berufswunsch, der bei Zweifeln an der richtigen (sozialistischen) Gesinnungeventuell abgelehnt worden wäre, der verwehrte Wunsch, nun doch einen Blick hinter die Grenzen der Mauer zu wagen, dieBekanntschaft mit Menschen, deren Kindheit in der DDR durch Ausgrenzung geprägt war, weil sie der Kirche angehörten oder ihreEltern das Land verlassen wollten, die Erkenntnis, dass die 120-prozentige Planerfüllung an allen Bereichen des öffentlichen Lebensseltsamerweise trotzdem zu großen Bedarfslücken führte. In meiner Klasse war ich beispielsweise die letzte, die ein Telefon bekam,erst ein paar Jahre nach der Wende. Die Ereignisse hinter den Gittern von Hohenschönhausen und die Schüsse an der Mauer auf eineVielzahl von jungen Menschen waren dann die traurigen Höhepunkte, die mein kindlich verklärtes Bild von der DDR gänzlichzerstörten. Die Wende hat mich wachgerüttelt aus dem polit-utopischen Kindheitsschlaf und hat mich von heute auf morgenerwachsen gemacht. Ich fühlte mich damals betrogen von Ideen, an die ich geglaubt hatte, und nie wieder wollte ich vorbehaltsloseiner größeren politischen Gemeinschaft angehören. Meine kritische Einstellung entstand damals fast über Nacht und Züge davon begleiten mich noch immer. Der Zusammenschluss der DDR und der BRD kam soschnell, dass ich nicht hinterher kam, aber die Zeit, die ich darunter litt, verging. Das tatsächliche Zusammenwachsen von Ost undWest erlebte ich in Berlin seit dem Ende der 90er-Jahre. Mein Freundeskreis durchmischte sich auf der Uni - sogar einePinnebergerin fand darin Platz, die bei meiner Hochzeit in Lippe/NRW mit einem Ostwestfalen in ihrer Rede die wildesten Theorienerfand, wie mein Mann und ich trotz Mauer hätten heiraten können. In meinem Freundeskreis sind Ost-West-Paare in der Mehrzahlund die jeweils andere Herkunft sorgt immer für Gesprächsstoff. Vor knapp fünf Jahren bin ich von Berlin (Ost) aus beruflichenGründen nach Elmshorn gezogen - eine Nordwesterweiterung. Gegenwärtig war mir meine DDR-Vergangenheit gleich am erstenSchultag, den ich am LMG verbrachte. Mein Mentor unterrichte damals in der ersten Stunde, die ich bei ihm hospitierte, die Gründefür das Scheitern der DDR. Ich weiß nicht mehr, was seltsamer war - die Vorstellung, bald selbst unterrichten zu müssen, oder dieTatsache, hier meine eigene Kindheit in Geschichtsbüchern und Tafelbildern wiederzufinden. Ich dachte immer, dazu müsse manviel älter als 28 sein.Die Dankbarkeit für diesen Umbruch, der mir damals so plötzlich meine Kindheit nahm, verspüre ich nun besonders seit einigenJahren, auch wenn sich darin eine Spur des Innehaltens mischt, dass nicht alle Menschen aus der DDR die Vereinigung von Ost undWest so zufriedenstellt wie mich heute. Unsere Eltern hatten es weitaus schwieriger als wir Kinder von 1989, sich in den neuenVerhältnissen zurechtzufinden. Viele Biografien waren durch die Zeit der DDR so stark geprägt, dass sie sich nicht glücklich ineinem neuen deutschen Staat fortführen ließen.R. Brüggemann- 10 -
Deutsche EinheitSeit zwanzig Jahren<strong>Meyn</strong> <strong>Info</strong> - Ausgabe Dezember 2010Vor zwanzig Jahren, am 23.08.1990 um 2.30 Uhr, erklärte die Volkskammer den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich desGrundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Knapp ein Jahr zuvor, am 9. November 1989war die Mauer gefallen. Mit einem Fachtag Geschichte werden die Schülerinnen und Schüler des 13. Jahrgangs am 9. Dezembersich an diese Ereignisse erinnern. Zwei Zeitzeugen sind zu diesem Fachtag eingeladen: Rainer Eppelmann und Ulrich Schwarz.Rainer Eppelmann war vor dem Mauerfall Pfarrer der Ostberliner Samaritergemeinde, dann Gründungsmitglied des DemokratischenAufbruchs und Mitglied des zentralen Runden Tisches. Von März 1990 bis Oktober 1990 war Eppelmann zunächst Minister ohneGeschäftsbereich und dann Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR. Von den ersten gesamtdeutschen Wahlen bis zurBundestagswahl 2005 war Eppelmann Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 1998 ist er ehrenamtlicher Vorsitzender desVorstandes der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er lebt in Berlin. Ulrich Schwarz war bis zum Mauerfall Korrespondentdes Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" in Ostberlin. Im Dezember 1977 brachte Ulrich Schwarz ein "Manifest der Opposition"eines bis dahin unbekannten "Bundes Deutscher Kommunisten" aus der DDR in den Westen, wo es im Januar 1978 im "Spiegel"abgedruckt wurde (Teil der Handlung im Film "Das Leben der Anderen"). Schwarz musste die DDR verlassen, das Spiegel-Bürowurde geschlossen. Mit der Wiedereröffnung des Büros 1985 wurde Schwarz wieder Korrespondent in Ostberlin, erlebte dieAuflösung der DDR mit und schmuggelte Video-Bänder der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in den Westen. Heute lebtSchwarz im Ruhestand in Berlin. In der 3. und 4. Stunde stehen die beiden Herren den Schülerinnen und Schülern in der Aula Redeund Antwort.Die Deutschklassen des 11. Jahrgangs, die in diesem Semester den 'Wenderoman' "Adam und Evelyn" von Ingo Schulze lesen,haben dann in der 5. Stunde Gelegenheit, Fragen an die beiden Herren zu stellen.Dank an dieser Stelle dem 'Verein der Freunde', der die Reisekosten für die beiden Besucher übernommen hat. Und ein besondererDank auch an die beiden Zeitzeugen für ihre Bereitschaft, sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler zu stellen.M. KuckhoffLyrikprojektEindrücke von NeuengammeAm 9.11.2010 sind wir, die Klasse 10a, und vier andere Klassen zur Gedenkstätte Neuengamme und dem ehemaligenKonzentrationslager gefahren. Dort erwartete uns ein "Guide", der uns durch die Ausstellung und über das Gelände führte. DieAusstellung ist gut gestaltet und berührend, da sie auf persönlichen Erfahrungen und Biographien aufbaut. Allgemein herrschte einebedrückte Stimmung, zumal der 9. November der Tag der Reichspogromnacht ist. Wir haben versucht, unsere Eindrücke inGedichte zu fassen, von denen zwei hier zu lesen sind. Lynn B. und Katharina T., 10aWer schmeißt denn einen Menschen wegSind sie nichts wert? Sie leben doch. Sie spür'n den Schmerz.Wer schmeißt denn einen Menschen weg?Sie wollen frei sein,glücklichleben.Ihr Herz ist auf. Wer schmeißt denn einen Menschen weg?Sie suchen Trostum zu vergessen, dass sie sterben. Wer schmeißtdenn einen Menschen weg?Ihr nehmt das Lebenvon so vielen.Könnt ihr so leben?Wer schmeißt denn einen Menschen weg? AliciaT.Das KonzentrationslagerAnkunft.Um mich herum ist es lautIn mir drin ganz stillVorbereitung auf das KommendeIch sehe einen großen leeren PlatzSehe dieMenschen vor meinem inneren Auge:MenschenAbgemagert bis auf die KnochenMenschenBekleidet mit einem einzigenStofffetzenMenschenNicht mehr als nur eine NummerAber trotzdem nochMenschenMit einer FamilieMenschenMitGefühlenMenschenMit einem LebenIch sehe das BettDrei Leute in einem Bett, In dem ich nicht einmal allein schlafen könnte.DieFolgen:Tod und VernichtungIch sehe den FlussEinen Fluss,Den die Menschen selbst graben musstenDie Folgen:Tod undVernichtungIch sehe die LehmkuhleWasser ist darinIn dem die Menschen bei Kälte und Hitze arbeiten musstenDie Folgen:Tod undVernichtungIch sehe den ZaunEine Berührung...Die Folgen:Tod und VernichtungDas KonzentrationslagerDie Folgen:Tod undVernichtungDaniella W.- 11 -