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Berlin Ausstellung: Der Tod 21. April – 19. Mai 2001

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51 >>> David Riff<br />

"Leichenschmaus", <strong>2001</strong><br />

Digitaldrucke, Holz, Faden, Metall, Texte (?)<br />

David Riff (* London 1975) hat Theaterregie, Anthropologie, Geschichte und Literaturwissenschaften<br />

in Moskau, New Paltz (NY) und Bochum studiert. Momentan arbeitet<br />

er im multimedialen Bereich und ist Herausgeber von non/con ROM, einer digital-analogen<br />

Reihe zur Moskauer Kunst der 60er – 90er Jahre. Daneben ist er als Autor und<br />

Übersetzer von Essays, Prosa und lyrischen Texten tätig. David Riff lebt mit seiner Frau<br />

Katia in Bochum.<br />

1.<br />

Die unbemalte Leinwand steht schon seit drei Tagen in meinem düsteren Wohnraum.<br />

Zuerst entschied ich mich, die Leinwand nicht zu grundieren.<br />

Dann begann ich, zu warten. Drei Tage lang warte ich also nun, hungere, rauche ununterbrochen,<br />

aber nichts. Und dann heute: Auf der anderen Seite der unbemalten<br />

Leinwand erscheint eine Frau, die grazil und unverbindlich unter den mittelalterlichen<br />

Arkaden eines fernen Städtchens wandelt. Sie dreht sich um und sieht mich nicht.<br />

Obwohl ich alleine bin, schäme ich mich wie vor einer Kamera.<br />

Also fahre ich zum Carrefour und kaufe ein Hähnchen der teuersten Sorte, betrachte<br />

innig auf dem Qualitätsausweis des toten Tieres den Passbildbauern mit seinem<br />

Schnurrbart und frage mich, ob er auch die Frau auf der anderen Seite der unbemalten<br />

Leinwand kennt. Auf meinem Beifahrersitz schimmert neben dem Baguette die<br />

maisgelbe Haut des Hähnchens durch die Cellophanpackung, wie die Felder am<br />

Straßenrand durch das Fenster. Im steinernen Spülbecken beplätschere ich das Hähnchen<br />

mit eisigem Wasser. Wir beide bekommen Gänsehaut. Trockengetupft warten<br />

Salz und Pfeffer. Und dann der Ofen, symmetrisch bei 250 Grad für 10 Minuten, 200<br />

Grad für 20 Minuten, wenden, und da capo, 20 Minuten 200 Grad, 10 Minuten 250<br />

Grad...: Wartend schüttelt die Frau auf der anderen Seite der unbemalten Leinwand<br />

in Missbilligung ihren Kopf.<br />

Am wichtigsten, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu mir, ist wahrscheinlich die Form in<br />

du das Hähnchen bringst. Sie darf nicht zu tief und nicht zu flach sein. Wie immer bestimmt<br />

die Form den Inhalt. Für diesen Fall des <strong>Mai</strong>s-Brathähnchens gibt es objektive<br />

Regeln. Ich will etwas über den Formalismus-Vorwurf an die Konstruktivisten und<br />

über die Kulturgeschichte des Broilers als kurzlebigem Zwitterwesen zwischen kapitalistischem<br />

Wohlstand und kommunistischer Utopie antworten, aber es knistert und<br />

duftet, und die unbemalte Leinwand bleibt leer. Nur wenn ich später vom Knochenberg<br />

und Krümelgrund auferstehe, sitzt sie schon bei einer Tasse Espresso unter der<br />

mittelalterlichen Arkade im fernen Städtchen, und wenn ich versuche, sie durch die<br />

Leinwand zu packen, bleiben auf dem ungrundierten Stoff nur die Abdrücke meiner<br />

fettigen Finger.<br />

Aus: David Riff, "Leichenschmaus", <strong>2001</strong>

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