51 >>> David Riff "Leichenschmaus", <strong>2001</strong> Digitaldrucke, Holz, Faden, Metall, Texte (?) David Riff (* London 1975) hat Theaterregie, Anthropologie, Geschichte und Literaturwissenschaften in Moskau, New Paltz (NY) und Bochum studiert. Momentan arbeitet er im multimedialen Bereich und ist Herausgeber von non/con ROM, einer digital-analogen Reihe zur Moskauer Kunst der 60er – 90er Jahre. Daneben ist er als Autor und Übersetzer von Essays, Prosa und lyrischen Texten tätig. David Riff lebt mit seiner Frau Katia in Bochum. 1. Die unbemalte Leinwand steht schon seit drei Tagen in meinem düsteren Wohnraum. Zuerst entschied ich mich, die Leinwand nicht zu grundieren. Dann begann ich, zu warten. Drei Tage lang warte ich also nun, hungere, rauche ununterbrochen, aber nichts. Und dann heute: Auf der anderen Seite der unbemalten Leinwand erscheint eine Frau, die grazil und unverbindlich unter den mittelalterlichen Arkaden eines fernen Städtchens wandelt. Sie dreht sich um und sieht mich nicht. Obwohl ich alleine bin, schäme ich mich wie vor einer Kamera. Also fahre ich zum Carrefour und kaufe ein Hähnchen der teuersten Sorte, betrachte innig auf dem Qualitätsausweis des toten Tieres den Passbildbauern mit seinem Schnurrbart und frage mich, ob er auch die Frau auf der anderen Seite der unbemalten Leinwand kennt. Auf meinem Beifahrersitz schimmert neben dem Baguette die maisgelbe Haut des Hähnchens durch die Cellophanpackung, wie die Felder am Straßenrand durch das Fenster. Im steinernen Spülbecken beplätschere ich das Hähnchen mit eisigem Wasser. Wir beide bekommen Gänsehaut. Trockengetupft warten Salz und Pfeffer. Und dann der Ofen, symmetrisch bei 250 Grad für 10 Minuten, 200 Grad für 20 Minuten, wenden, und da capo, 20 Minuten 200 Grad, 10 Minuten 250 Grad...: Wartend schüttelt die Frau auf der anderen Seite der unbemalten Leinwand in Missbilligung ihren Kopf. Am wichtigsten, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu mir, ist wahrscheinlich die Form in du das Hähnchen bringst. Sie darf nicht zu tief und nicht zu flach sein. Wie immer bestimmt die Form den Inhalt. Für diesen Fall des <strong>Mai</strong>s-Brathähnchens gibt es objektive Regeln. Ich will etwas über den Formalismus-Vorwurf an die Konstruktivisten und über die Kulturgeschichte des Broilers als kurzlebigem Zwitterwesen zwischen kapitalistischem Wohlstand und kommunistischer Utopie antworten, aber es knistert und duftet, und die unbemalte Leinwand bleibt leer. Nur wenn ich später vom Knochenberg und Krümelgrund auferstehe, sitzt sie schon bei einer Tasse Espresso unter der mittelalterlichen Arkade im fernen Städtchen, und wenn ich versuche, sie durch die Leinwand zu packen, bleiben auf dem ungrundierten Stoff nur die Abdrücke meiner fettigen Finger. Aus: David Riff, "Leichenschmaus", <strong>2001</strong>
Daniela Risch