800 Jahre Brig
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Stadtgemeinde <strong>Brig</strong>-Glis (Hg.)<br />
<strong>800</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Brig</strong><br />
bearbeitet vom<br />
Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums<br />
unter der Leitung von Dr. Marie-Claude Schöpfer
Herausgeber: © Stadgemeinde <strong>Brig</strong>-Glis, Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums<br />
Layout: Sven Frachebourg, Mengis Druck AG<br />
Satz: Christine Bregy-Witschard, Marie-Claude Schöpfer, Ursi Imboden-Bürki<br />
Fotos Umschlag und Innendeckel: Christian Pfammatter<br />
Verlag: Rotten Verlags AG, Visp<br />
Druck: Mengis Druck AG, Visp<br />
ISBN: 978-3-906118-39-0
Inhaltsverzeichnis<br />
Louis Ursprung<br />
Vorwort 9<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Zum Geleit 10<br />
Kapitel 1 – Das alte <strong>Brig</strong>. Gemeinde und Zenden im Mittelalter<br />
und in der Frühen Neuzeit 13<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Louis Carlen<br />
Der Adel in <strong>Brig</strong> im Mittelalter 18<br />
Iwar Werlen<br />
Der Ortsname «<strong>Brig</strong>» 22<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
<strong>Brig</strong>er Wappen 28<br />
Gregor Zenhäusern<br />
Ein altes <strong>Brig</strong>er Geschlecht: die Perrig 30<br />
Philipp Kalbermatter<br />
Walliser Landeshauptmänner aus <strong>Brig</strong> 39<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Glis, Gamsen und <strong>Brig</strong>erbad 41<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Familie Wegener und ihre herrschaftlichen Häuser 43<br />
Kapitel 2 – Vom Saumpfad über die Passstrasse bis zum epochalen Bau<br />
des Tunnels. Die Simplonstadt <strong>Brig</strong> als Drehscheibe des Verkehrs 49<br />
Marie-Claude Schöpfer und Franco Arnold<br />
Georges Tscherrig<br />
Dr. med. Ernest Guglielminetti, alias Dr. Goudron (1862–1943) 84<br />
Georges Tscherrig<br />
Baumeister Louis Rossi (1857–1911) hat das neue <strong>Brig</strong> geprägt 91<br />
Georges Tscherrig<br />
Dr. med. Daniele Pometta, alias Tunneldoktor (1869–1949) 93<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Familie Theiler 95
Kapitel 3 – Kaspar Stockalper vom Thurm (1609–1691).<br />
Eine Charakterskizze 99<br />
Gabriel Imboden<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Der falsche «Jodok» 106<br />
Patricia Cavadini-Bielander<br />
Das Stockalperschloss und das alte Stockalperhaus 124<br />
Kapitel 4 – Märkte, Bruderschaften und Migranten. Schlaglichter auf<br />
die <strong>Brig</strong>er Wirtschaftsgeschichte vom ausgehenden Mittelalter<br />
bis zur Compagnie Fratelli Loscho 127<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Der erste Walliser Bundesrat Josef Escher (1885–1954) 146<br />
Roland Flückiger-Seiler<br />
Das Hotel Couronnes et Poste 147<br />
Carmela Kuonen Ackermann<br />
Die Susten in <strong>Brig</strong> 153<br />
Ursula Flury Ruppen<br />
Das Hotel Müller – ein erfolgreicher Familienbetrieb (1881–1951) 156<br />
Mark Andreas Seiler<br />
Die Familie Seiler und <strong>Brig</strong> 159<br />
Kapitel 5 – <strong>Brig</strong> im Banne der Naturgefahren 165<br />
Gregor Zenhäusern<br />
Gabriel Imboden<br />
Die wilden Wasser von <strong>Brig</strong> 189<br />
Rolf Escher<br />
24.9.1993, der schwarze Freitag 191<br />
Kapitel 6 – Von ewigen Einwohnern, Protestanten, Kriegsgästen und Migranten.<br />
Eine sozialhistorische Blütenlese zur Bevölkerung von <strong>Brig</strong><br />
vom 18. bis zum 21. Jahrhundert 197<br />
Franco Arnold<br />
Franco Arnold<br />
Das Tunnelspital 212
Stefan Loretan<br />
Die Geschichte des Spitals in <strong>Brig</strong> 220<br />
Jürg Brühlmann<br />
Das Architektenpaar Heidi (1926–2010) und Peter Wenger (1923–2007) 225<br />
Kapitel 7 – <strong>Brig</strong> als Ordenshort und Schulstätte. Von den Jesuiten<br />
und Ursulinen zur modernen Bildungsstadt 231<br />
Josef Guntern und Marie-Claude Schöpfer<br />
Josef Guntern und Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Kollegiumskirche 240<br />
Josef Guntern und Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Klosterkirche der Ursulinen 246<br />
Josef Guntern und Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Kapuziner in <strong>Brig</strong> (1657/59–1660er <strong>Jahre</strong> und 1948 – dato) 252<br />
Josef Guntern und Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Mariannhiller in <strong>Brig</strong> (1937–2004) 253<br />
Paul Martone<br />
Die Herz-Jesu-Pfarrei <strong>Brig</strong> 254<br />
Marie-Claude Schöpfer<br />
Die Sebastianskapelle 256<br />
Kapitel 8 – Die Stadtgemeinde <strong>Brig</strong>-Glis im Jubiläumsjahr 2015 259<br />
Eduard Brogli<br />
Robert Lochmatter<br />
Chronologie wichtiger Ereignisse im Bereich der obligatorischen Schulen<br />
nach der Gemeindefusion von <strong>Brig</strong>-Glis 270<br />
Eduard Brogli<br />
Zahlen, Daten, Fakten 273<br />
Marco Dini<br />
Die Fusion von 1972/73 – Aufbruch und Erfolgsgeschichte 277<br />
Uli Wirz<br />
Bildhauer Hans Loretan (1920–2008) 282<br />
Uli Wirz und Pierre Imhasly<br />
Kunstmaler Alfred Grünwald (1929–1966) 284<br />
Anmerkungsverzeichnis 289<br />
Abkürzungsverzeichnis 324<br />
Abbildungsverzeichnis 325
Vorwort<br />
Louis Ursprung, Stadtpräsident, <strong>Brig</strong>-Glis<br />
Geneigte Leserin, geneigter Leser<br />
Sie halten das offizielle Jubiläumsbuch «<strong>800</strong> <strong>Jahre</strong><br />
<strong>Brig</strong>» in Ihren Händen. Es soll Ihnen einen abwechslungsreichen<br />
Überblick zu einem kleinen Marktflecken<br />
bieten, der 1215 erstmals in einer lateinisch abgefassten<br />
Urkunde erwähnt wird und sich seither in<br />
einer bemerkenswerten wie bewegten Geschichte<br />
zur heutigen Stadt <strong>Brig</strong>-Glis entwickelt hat, die 1973<br />
aus der Fusion der politischen Gemeinden <strong>Brig</strong>, Glis<br />
und <strong>Brig</strong>erbad hervorgegangen ist. In Bälde wird<br />
<strong>Brig</strong>-Glis die Einwohnerzahl von 13’000 erreichen und<br />
damit seine Bevölkerungszahl wie kaum eine andere<br />
Gemeinde im Kanton Wallis in den letzten 150 <strong>Jahre</strong>n<br />
um etwa das 18-fache erhöht haben. Erstaunlicherweise<br />
verlief dieses Wachstum in einer organischen<br />
Art und Weise. Die Bevölkerung, urban und ländlich<br />
zugleich, hat es immer verstanden, Tradition und Moderne<br />
zu kombinieren und die erheblichen Veränderungen<br />
letztlich in eine positive Entwicklung zu lenken.<br />
Auch dramatische Ereignisse wie beispielsweise<br />
die Unwetterkatastrophe von 1993 hat die Simplonstadt<br />
gemeistert und sogar daraus städtebauliche<br />
Vorteile gezogen, wie die zahlreichen Besucherinnen<br />
und Besucher feststellen können. Das ehrt und<br />
spornt uns zugleich für die Zukunft an.<br />
Unser Dank geht in erster Linie an das Forschungsinstitut<br />
zur Geschichte des Alpenraums unter der<br />
kompetenten wie sympathischen Leitung von Frau<br />
Dr. Marie-Claude Schöpfer für die sorgfältige Projektierung<br />
und erfolgreiche Realisierung dieses Buchs<br />
sowie an die zahlreichen Persönlichkeiten, die sich<br />
bereit erklärt haben, einen Autorenbeitrag zu leisten.<br />
<strong>800</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Brig</strong>: <strong>Brig</strong>-Glis feiert, feiern Sie mit.<br />
Das Jubiläumsbuch wird Ihnen aber nicht nur einen<br />
Überblick, sondern auch einen punktuellen Tiefblick<br />
um die drei Meilensteine der <strong>Brig</strong>er Geschichte verschaffen,<br />
das heisst der Ära Stockalper im 17. Jahrhundert,<br />
der «Franzosenzeit» mit dem Bau der napoleonischen<br />
Passstrasse über den Simplon 1805 und<br />
schliesslich die Boom-<strong>Jahre</strong> der Belle Epoque des beginnenden<br />
20. Jahrhunderts mit dem geradezu euphorisch<br />
wahrgenommenen Anschluss an das europäische<br />
Schienennetz, welches auf dem legendären<br />
Orientexpress via <strong>Brig</strong>, London und Istanbul verband,<br />
die damaligen Machtzentralen des Okzidents und<br />
des Orients. Lassen Sie sich in die Geschichten und<br />
Geschichtchen einlullen und amüsieren Sie sich dabei<br />
ungeniert.<br />
9<br />
Vorwort
Zum Geleit<br />
Marie-Claude Schöpfer, Direktorin Forschungsinstitut, <strong>Brig</strong>-Glis<br />
10<br />
Das im Stockalperschloss domizilierte Forschungsinstitut<br />
zur Geschichte des Alpenraums betreibt seit<br />
mittlerweile einem Vierteljahrhundert historische<br />
Grundlagenforschung im Oberwallis. Die dem Wissenschaftsbetrieb<br />
verpflichtete Einrichtung wird<br />
getragen von der Schweizerischen Stiftung für das<br />
Stockalperschloss, der Direktion für Erziehung, Kultur<br />
und Sport des Kantons Freiburg, der Universität<br />
Freiburg, dem Departement für Bildung und Sicherheit<br />
des Kantons Wallis und von der Stadtgemeinde<br />
<strong>Brig</strong>-Glis. Als die Vertreter des letztgenannten Partners<br />
mich als Leiterin der Forschungsstelle 2011 anfragten,<br />
ob ich und mein Team uns bereit erklären<br />
könnten, für das 2015 zu begehende <strong>800</strong>-jährige Jubiläum<br />
der Stadt <strong>Brig</strong> eine Festpublikation zu realisieren,<br />
habe ich – ungeachtet des neben dem regulären<br />
Forschungsbetrieb anfallenden beachtlichen<br />
Mehraufwands – keine Sekunde gezögert, das herausfordernde<br />
Wagnis einzugehen. Sind doch seit der<br />
Veröffentlichung der von Prof. Dr. Louis Carlen zum<br />
750-jährigen Jubiläum von <strong>Brig</strong> auf das Jahr 1965<br />
hin verfassten verdienstvollen Festschrift keine eigentlichen<br />
Monographien zur Ortsgeschichte mehr<br />
erschienen. Das Desiderat einer aktuellen, umfassenden<br />
und für ein breites Publikum bestimmten<br />
Gesamtschau drängte sich geradezu auf.<br />
Von Anfang an stand fest, dass sich die Publikation<br />
«<strong>800</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Brig</strong>» ganz im Sinne des zu begehenden<br />
historischen Jubelfestes konzeptuell auf die Geschichte<br />
des zwischen Rhone und Saltina auf einer<br />
sanften Hügelkuppe angelegten Passfussortes in den<br />
vergangenen acht Jahrhunderten zu konzentrieren<br />
hat. Dass bei der Realisierung eines derartigen Ansinnens<br />
nicht nur aus praktischen Erwägungen und<br />
zeitlichen Einschränkungen Vollständigkeit und eine<br />
lückenlose Darbietung nicht zu erreichen sind, versteht<br />
sich von selbst. Zu betonen ist schliesslich die<br />
Tatsache, dass die Geschichte von <strong>Brig</strong> erst seit der<br />
Fusion der Munizipalitäten von <strong>Brig</strong>, <strong>Brig</strong>erbad und<br />
Glis (mit Gamsen) zur vereinigten Stadtgemeinde<br />
seit 1973 zur Geschichte von <strong>Brig</strong>-Glis geworden ist.<br />
Zwar werden auf die während mehr als siebeneinhalb<br />
Jahrhunderten als eigenständige kommunale<br />
Gebilde organisierten heutigen Gemeindeteile ab<br />
und an Seitenblicke geworfen, doch stellen diese benachbarten<br />
Ort schaften nicht den zentralen Gegenstand<br />
der vorliegenden Publikation dar.<br />
Neben den grossen historischen Entwicklungslinien<br />
in den Bereichen von Politik, Wirtschaft, Verkehr, Gesellschaft,<br />
Kultur und Umwelt richtet sich der Fokus<br />
der reich illustrierten Festpublikation auf besondere<br />
Ereignisse, herausragende Persönlichkeiten und bedeutende<br />
Geschlechter, historische Bauwerke und<br />
städtische Charakteristika. Die Numerik des Jubiläums<br />
aufgreifend, umfasst das Buch acht Hauptkapitel<br />
sowie zahlreiche Nebenartikel und Kurztexte,<br />
die nicht einer chronologischen, sondern einer<br />
thematischen Gliederung unterliegen. Wort und<br />
Bild im vorliegenden Buch künden von der Farbigkeit<br />
und dem Facettenreichtum der Geschichte und<br />
Geschichten des Alpenstädtchens <strong>Brig</strong> am Fuss des<br />
Simplonpasses, die insgesamt vor allem die jahrhundertewährende<br />
Bedeutung <strong>Brig</strong>s als Drehscheibe im<br />
Wirtschafts- und Verkehrsgefüge und als Hort von<br />
Bildung und Kultur widerspiegeln.<br />
Der uneingeschränkte Dank der Schriftleiterin geht<br />
an die Equipe des Forschungsinstituts zur Geschichte<br />
des Alpenraums, allen voran an Christine Bregy-Witschard,<br />
die mit ihren engagierten Bemühungen um<br />
Administration, Redaktion, Layout und Satz das Werden<br />
der Publikation massgeblich mitgeformt hat, an<br />
M. A. Franco Arnold für die vorbereitenden Arbeiten,<br />
an Ursi Imboden-Bürki für die Mitarbeit bei Layout<br />
und Satz sowie für die Lektoratsdienste, an Dr. Gregor<br />
Zenhäusern für die Lektorats- und an Sandra Brantschen-Steiner<br />
für die Korrektoratsarbeiten sowie an<br />
René Pfammatter für die Aufbereitung der Grafiken.<br />
Des Weiteren danke ich dem beteiligten Team<br />
von der Mengis Druck AG, Katja In-Albon und Sven<br />
Frachebourg, für die reibungslose, angenehme und<br />
fruchtbare Zusammenarbeit und für die zahlreichen<br />
Geleit
wertvollen Hilfestellungen. Schliesslich bedanke ich<br />
mich bei den Autorinnen und Autoren, die mit ihren<br />
grösseren und kleineren Textbeiträgen massgeblich<br />
zum erfolgreichen Zustandekommen des Buchs beigetragen<br />
haben. Last but not least richtet sich der<br />
Dank der Historikerin an die verantwortlichen Initiatoren<br />
der Stadtgemeinde <strong>Brig</strong>-Glis, die das runde<br />
<strong>800</strong>-Jahr-Jubiläum in beachtenswerter Weise nicht<br />
nur zum Anlass nahmen, Festivitäten – schillernde<br />
Events, wohlklingende Konzerte und farbenprächtige<br />
Lichtshows – durchzuführen, sondern auch ein von<br />
langer Hand vorbereitetes Publikationsvorhaben und<br />
damit ein bleibendes, sachlicher historischer Analyse,<br />
Interpretation und Einordnung verschriebenes Produkt<br />
zu realisieren.<br />
11<br />
Geleit
12<br />
Geleit
196<br />
Kapitel 5 – Naturgefahren
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte<br />
Von ewigen Einwohnern, Protestanten, Kriegsgästen<br />
und Migranten. Eine sozialhistorische Blütenlese zur<br />
Bevölkerung von <strong>Brig</strong> vom 18. bis zum 21. Jahrhundert<br />
Franco Arnold<br />
«Die allgemeine Unwissenheit des Volkes ist ebenso<br />
merkwürdig als seine Trägheit. In Rücksicht auf<br />
Kultur und Wissenschaften stehen sie im Vergleich<br />
mit den eigentlichen Schweizern, die eine sehr aufgeklärte<br />
Nation sind, noch einige Jahrhunderte zurück»,<br />
bemerkt der anglikanische Geistliche William<br />
Coxe (1747–1828), der seit 1804 die Söhne bedeutender<br />
englischer Familien auf ihren Reisen begleitete und<br />
als profunder Kenner der Schweiz bezeichnet werden<br />
kann, 1781 zu den Walliserinnen und Wallisern. In ein<br />
ähnliches Horn stösst der Berner Alpenforscher Jakob<br />
Samuel Wyttenbach (1748–1830), als er 1777 im Zuge<br />
seiner Alpenreise auch das Wallis besuchte: «Diese<br />
Trägheit steigt bey ihnen oft zu einem solchen Grad,<br />
dass sie lieber das trübe und oft mit Schlamm angefüllte<br />
Wasser aus der Rhone trinken, als sich lauteres,<br />
gesundes und frisches Quellwasser aus einer<br />
Entfernung von einer Viertelstunde herzuholen.» Der<br />
grosse Johann Wolfgang von Goethe erschrak auf seiner<br />
zweiten Schweizerreise von 1779 ob der «Hässlichkeit<br />
der Städte und Menschen» 1 im Rhonetal, und der<br />
Naturforscher Karl Friedrich August Meisner (1765–<br />
1825) attestierte den Wallisern «tiefe Einfalt, Unwissenheit,<br />
Aberglaube und Bigotterie». «[D]as sorgfältige<br />
Abnehmen des Obstes scheint den Leuten zu<br />
mühsam zu seyn; höchstens schütteln sie ihre Bäume,<br />
und viele warten lieber mit aller Gemüthsruhe,<br />
bis die Früchte von selbst abfallen.» 2<br />
Gemäss diesen Schilderungen scheinen die Walliser<br />
im 18. Jahrhundert ein Volk von dummen Faulpelzen<br />
und stinkenden Kretinen gewesen zu sein.<br />
Das von den durchreisenden Beobachtern gezeichnete<br />
Bild verfestigte sich und prägte auch die historische<br />
Forschung: So zog etwa Beat Kaufmann in<br />
seiner Dissertation zur Entwicklung des Wallis vom<br />
Agrar- zum Industriekanton aus einer Analyse dieser<br />
und weiterer Reiseberichte das Fazit, dass die Landschaft<br />
Wallis eine agrarisch geprägte Region ersten<br />
Ranges, ein isoliertes und ökonomisch rückständiges<br />
Gebiet gewesen sei, das sich durch das Fehlen von<br />
ansässigem Kleinhandel, Arbeitsteilung und Marktproduktion<br />
sowie durch die Vorherrschaft der häuslichen<br />
Selbstversorgung auszeichnete. Diese einseitige<br />
Charakterisierung von Walliser Wirtschaft und<br />
Gesellschaft zieht nicht nur die idyllisierende Komponente<br />
von Reiseberichten unzureichend in Rechnung,<br />
sie vernachlässigt auch, dass die grösstenteils dem<br />
197<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 1, S. 196: Aus<br />
Italien eingewanderte<br />
Familie Bertolami<br />
protestantischen Pietismus, und damit Sauber keit,<br />
Ordnung und medizinischem Fortschritt, verpflichteten<br />
reisenden Zeitgenossen nicht unparteiisch<br />
argumentierten. Zudem wurden diese Vorstellungen<br />
landesintern – nicht selten aus idealistischen<br />
Gründen – gleichermassen herangezogen. 3 Noch in<br />
der Mitte des 19. Jahrhunderts schienen die Walliser,<br />
gemäss Stefano Franscini (1796–1857), Mitglied<br />
des ersten Bundesrats, «einem anderen Zeitalter<br />
anzugehören». 4<br />
Obschon eine breit abgestützte, flächendeckende<br />
Industrialisierung fern, das wirtschaftliche Wachstum<br />
alles andere als exorbitant und die fassbare<br />
staatliche Wirtschaftspolitik der Epoche äusserst<br />
kurzsichtig waren, dürften die Realitäten der Walliser<br />
Ökonomie und Gesellschaft im ausgehenden<br />
Ancien Régime dieser Einschätzung kaum entsprochen<br />
haben. Zwar lässt sich – vor allem für das Oberwallis<br />
und sein Zentrum <strong>Brig</strong> – im eidgenössischen<br />
und europäischen Vergleich eine wirtschaftliche<br />
Rückständigkeit, zumindest im Bereich der industriellen<br />
Produktion, nicht von der Hand weisen. Das<br />
Bild einer rein landwirtschaftlich orientierten Gesellschaft<br />
entspricht aber keineswegs der historischen<br />
Realität, hatten sich doch insbesondere in den Oberwalliser<br />
Zentren bereits im Mittelalter verschiedene<br />
Gewerbe zweige entwickelt, die während Jahrhunderten<br />
vom Simplonpasshandel zehrten. Nicht zuletzt<br />
war es denn auch der Transitverkehr, der <strong>Brig</strong><br />
sein städtisches Gepräge verlieh. 5 So bezeichnete ein<br />
Reisender des beginnenden 19. Jahrhunderts die Ortschaft<br />
als eine der interessantesten Städte des Wallis<br />
und pries sie als malerischen, gut entwickelten Flecken<br />
inmitten einer wilden Landschaft. 6<br />
Kleine Sozialgeschichte <strong>Brig</strong>s<br />
Heute leben im Bezirk <strong>Brig</strong> mehr als 25’000 Menschen.<br />
Allein die Stadtgemeinde <strong>Brig</strong>-Glis umfasste<br />
im Jahr 2012 insgesamt 12’728 Einwohner. 7 Nur 44 %<br />
aller <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er sind verheiratet. Im<br />
Abb. 2: Ansicht von <strong>Brig</strong><br />
aus Osten, Aquatinta<br />
von Luttringshausen<br />
und Falkeisen um 1829<br />
198<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 3: Gruppenbild einer<br />
<strong>Brig</strong>er Familie um 1900<br />
im Hof des Stockalperschlosses<br />
Schnitt haben Paare im Bezirk 1,84 Kinder, 8 die oft auf<br />
die Namen Noah, Luca, Lena oder Mia getauft werden.<br />
9 Diese unscharf skizzierten Gegebenheiten hätten<br />
die <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er um das Jahr 1700 vermutlich<br />
in Aufruhr versetzt, gestaltete sich das Leben<br />
im Simplonstädtchen damals weitaus beschaulicher.<br />
Anlässlich der 750-Jahr-Feier der Gemeinde im Jahr<br />
1965 stellte der ehemalige <strong>Brig</strong>er Stadtpräsident<br />
Moritz Kämpfen fest, dass «<strong>Brig</strong> […] nicht einem<br />
launischen Zufall eines geistlichen oder weltlichen<br />
Herrschers zu verdanken, […] sondern langsam und<br />
stetig gewachsen» sei. 10<br />
Die Bevölkerung des Zendens im 18. Jahrhundert<br />
Das Durchgangsstädtchen <strong>Brig</strong> wurde in den mittelalterlichen<br />
und neuzeitlichen Jahrhunderten von<br />
einigen Hundert Personen bewohnt. Die helvetische<br />
Volkszählung von 1798 führte 468 Bewohner auf. 11<br />
In der Region des Zenden <strong>Brig</strong> lebten um 1<strong>800</strong> rund<br />
2000 Personen. 12 Für das Wallis insgesamt ergab die<br />
Erhebung des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine<br />
Bevölkerungszahl von 57’275 Personen. 13 Im <strong>Brig</strong>er<br />
Zenden verheiratete man sich damals erst relativ<br />
spät. Bei den Frauen bewegte sich das durchschnittliche<br />
Heiratsalter zwischen 26 und 29 <strong>Jahre</strong>n, während<br />
die Männer in der Regel im Alter von 28 bis<br />
30 <strong>Jahre</strong>n den Bund der Ehe schlossen. Etwa zwei<br />
Drittel aller Ehepaare zeugten zwischen fünf und<br />
neun Kindern. Getauft wurde der zahlreiche Nachwuchs<br />
des Öfteren auf die Namen Johann Josef oder<br />
Josef und Anna Maria, Maria Katharina oder Maria.<br />
Die Familienbande waren eng, was nicht zuletzt die<br />
1500 nachweisbaren Dispensen belegen, die zwischen<br />
1650 und 1850 für im Bezirk <strong>Brig</strong> geschlossene<br />
199<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
200<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
201<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 4, S. 200f.: Blick<br />
vom Stockalperschloss<br />
auf die <strong>Brig</strong>er Altstadt<br />
202<br />
Ehen erteilt wurden. 48 Mal wird eine Blutsverwandtschaft<br />
zweiten Grades als Grund angeführt. 14 Insgesamt<br />
zeigte sich das Alltagsleben sehr stark vom katholischen<br />
Glauben und vom kirchlichen Kalender<br />
bestimmt. Den grossen Einfluss der Religion verdeutlichen<br />
die rund 40 Feiertage, an welchen noch<br />
zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Arbeit brachlag.<br />
Die Sonntage miteingerechnet war fast jeder vierte<br />
Tag im Jahr ein Feiertag. 15<br />
Die Französische Revolution und die Napoleonischen<br />
Kriege zeitigten starke Rückwirkungen auf die regionale<br />
Demografie. Nach einem misslungenen Aufstand<br />
der Oberwalliser Zenden gegen das von Frankreich<br />
oktroyierte Regime im Frühjahr 1798 formierte<br />
sich neue Opposition. Am 19. August schworen sich<br />
die Anhänger der Bewegung an einer geheimen Versammlung<br />
in <strong>Brig</strong>, für ihren Glauben und gegen die<br />
Eingliederung in die helvetische Armee zu kämpfen<br />
und im Falle eines Vorstosses der österreichischen<br />
Truppen den französischen Invasoren im Unterwallis<br />
nicht zur Seite zu stehen. Während der im Mai und<br />
Juni 1799 ausgefochtenen Kämpfe verloren die Oberwalliser<br />
Truppen zusehends an Boden, bis die französischen<br />
und lemanischen (waadtländischen) Divisionen<br />
schliesslich Dorf für Dorf vom Pfynwald bis nach<br />
Münster unterwarfen. Das obere Rhonetal wurde teilweise<br />
in Schutt und Asche gelegt. Ganze Ortschaften<br />
standen verlassen da und aufgrund der vielen Todesopfer<br />
blieben Äcker hektarweise unbestellt. 300 verwaiste<br />
Kinder wurden in den frankophonen Kantonsteil<br />
vermittelt. 16 Auch das Städtchen <strong>Brig</strong> blieb von<br />
den Auswirkungen der Revolution nicht verschont.<br />
Die Gemeinde verzeichnete zwischen 1798 und 1802<br />
einen Bevölkerungsrückgang von über 15 %. 17<br />
Die Bevölkerung des Bezirks vom 19. bis<br />
zum 21. Jahrhundert<br />
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte sich die<br />
demografische Struktur des Oberwallis drastisch. Die<br />
Bevölkerungszahlen stiegen nach dem Beitritt des<br />
Wallis zur Eidgenossenschaft im Jahr 1815 zunächst<br />
stark an. Diesem Aufschwung folgte eine Baisse. 18<br />
Der erste eidgenössische Zensus von 1850 führt für<br />
die Stadt <strong>Brig</strong> 721 Einwohner. Mit Aus nahme von<br />
zwei kurzfristigen Einbrüchen zwischen 1880 und<br />
1888 sowie zwischen 1920 und 1930 stiegen die Bevölkerungszahlen<br />
von diesem Zeitpunkt an stetig<br />
und rapide an. 19 Zwischen 1888 und 1900 verdoppelte<br />
sich die Einwohnerzahl auf 2194 Personen. Nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem massiven<br />
Wachstum, so dass <strong>Brig</strong> 1970, am Vorabend des politischen<br />
Zusammenschlusses mit den Nachbargemeinden<br />
Glis und <strong>Brig</strong>erbad, bereits 5191 Einwohner<br />
zählte, während in den westlich gelegenen Dörfern<br />
Glis 3389 und <strong>Brig</strong>erbad 175 Personen lebten. Ein<br />
Jahrzehnt nach der Fusion, als erstmals die Bevölkerung<br />
der neu geschaffe nen Stadtgemeinde <strong>Brig</strong>-Glis<br />
gezählt wurde, umfasste das Gemeinwesen bereits<br />
9608 Einwohner. Die Bevölkerungszunahme dieser<br />
Dekade erfolgte jedoch vor allem auf dem Gebiet der<br />
ehemaligen Gemeinde Glis. Während sich in <strong>Brig</strong> allmählich<br />
eine Überalterung der Gesellschaft abzeichnete,<br />
lag der Anteil der Personen unter 20 <strong>Jahre</strong>n in<br />
Glis und <strong>Brig</strong>erbad bei über 40 %. 20 Dieser Befund<br />
führte zu einer auch nach der Jahrtausendwende<br />
anhaltenden Beschleunigung des Bevölkerungsanstiegs.<br />
Die Volkszählung von 2010 führte für <strong>Brig</strong>-<br />
Glis erstmals über 12’000 Einwohner auf. Die Stadt<br />
ist damit zu den fünf grössten Gemeinden des Kantons<br />
zu zählen.<br />
Diese demografische Entwicklung wirkte sich auf<br />
die Stellung der Gemeinde in der Region aus. Während<br />
um 1850 nur 17 % der Bevölkerung des Bezirks<br />
<strong>Brig</strong> im Hauptort lebten, erreicht diese Quote heute<br />
beinahe die 50 %-Marke. Darüber hinaus stellen<br />
die <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er aktuell 15,4 % der gesamten<br />
Ober walliser Einwohnerschaft. In der Mitte des<br />
19. Jahrhunderts war ihr Gewicht mit 3,1 % Anteil<br />
am deutschsprachigen Kantonsteil bedeutend kleiner.<br />
Einerseits ist die Gemeindefusion von 1973 diesbezüglich<br />
ein relevanter Faktor. Ebenso viel Einfluss<br />
dürften andererseits die sich auf schweizerischer<br />
Ebene abzeichnende Tendenz zur Verstädterung<br />
und die in den Berggebieten feststellbare Talflucht<br />
genommen haben. Um 1850 lag das prozentuale Verhältnis<br />
zwischen den Gemeinden der Rhonetalebene<br />
und der Berghänge bevölkerungsmässig bei etwa<br />
40:60. In der nachfolgenden Zeit kam es zu einer Annäherung,<br />
bis das Verhältnis zwischen 1900 und 1910<br />
kippte. 1941 lebten bereits 54 % der Walliser Bevölkerung<br />
in den Talgemeinden. 21 In der zweiten Hälfte des<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 5: <strong>Brig</strong> um 1900,<br />
rechts unten der alte<br />
Bahnhof<br />
20. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert<br />
stieg dieser Anteil weiter an. Heute wohnen gut<br />
zwei Drittel der Kantonsbevölkerung in den Zentren<br />
des Talgrundes (2011: 64,2 %). Insgesamt hat sich die<br />
Talbevölkerung damit seit 1850 versechsfacht. Die<br />
Einwohnerschaft des Städtchens <strong>Brig</strong> wuchs in derselben<br />
Zeitspanne um mehr als das Siebzehnfache.<br />
Burger, ewige Einwohner, Tolerierte und<br />
Ausländer<br />
Bis zum Ende des Ancien Régime bildeten die Burgergemeinden<br />
im Wallis das Fundament der sozialen<br />
und politischen Ordnung. Der vererbbare Status<br />
des Burgers war Voraussetzung für die aktive und<br />
passive Teilnahme an der Gemeinde-, Zenden- und<br />
Landespolitik. In der postrevolutionären Ära, nach<br />
der Aufhebung des minderrechtlichen Status der<br />
Unterwalliser Untertanengebiete blieben Ungleichheiten<br />
auf kommunaler Ebene bestehen. Dies widerspiegelt<br />
sich in den zeitgenössischen Volkszählungen,<br />
welche die Einwohner – auch diejenigen des<br />
Städtchens <strong>Brig</strong> – in fünf Klassen einteilen. Die ersten<br />
beiden Klassen umfassen die privilegierten, mit<br />
allen poli tischen und genossenschaftlichen Rechten<br />
ausgestatteten Gemeindeburger und die auswärts<br />
lebenden Burger. In die dritte Klasse fielen die aus<br />
dem Raum der Eidgenossenschaft zugezo genen Einwohner,<br />
in die vierte Klasse die sogenannten ewigen<br />
Einwohner (Immigranten aus anderen Staaten oder<br />
Kantonen mit Wohnrecht im Wallis), die Tolerierten<br />
(Ansässige mit temporärer Aufenthaltsbewilligung)<br />
– die für ihren Aufenthaltsstatus jährliche Beiträge<br />
zu entrichten hatten – und die Ausländer. Zur<br />
fünften Klasse gehörten fremde Handwerker und Tagelöhner<br />
ohne festen Wohnsitz. Grundsätzlich wurde<br />
203<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 6: Eugen Stockalper<br />
vom Thurm (1783–1852)<br />
erlangte über eine<br />
glanzvolle Karriere in<br />
fremden Diensten grosse<br />
Würden und Ehren.<br />
204<br />
zwischen «Gemeindern» und sogenannten «Heimatlosen»<br />
unterschieden. Zu letzterer Kategorie zählten<br />
die ewigen Einwohner, die Tolerierten, die Unehelichen<br />
22 und die Findelkinder. Allen «Heimatlosen»<br />
gemein war, dass sie – in unterschiedlichen Schattierungen<br />
– nicht über dieselben Rechte verfügten<br />
wie die Burger. 23 Im beginnenden 19. Jahrhundert<br />
zählte in <strong>Brig</strong> etwa ein Drittel der ansässigen Bevölkerung<br />
zu dieser rechtlich benachteiligten Gruppe.<br />
1837 waren sogar 38 % der <strong>Brig</strong>e rinnen und <strong>Brig</strong>er<br />
«Heimatlose». 24<br />
Das nach der Bundesstaatsgründung verabschiedete<br />
eidgenössische Heimatlosengesetz von 1850 sah<br />
im Sinne der Schaffung eines einheitlichen Bürgerrechts<br />
vor, dass jene sozial benachteiligten Personen<br />
eingebürgert werden sollen. Der Walliser Staatsrat<br />
weigerte sich jedoch, dieses Gesetz anzunehmen, da<br />
er das Problem durch kantonale Anpassungen der<br />
<strong>Jahre</strong> 1830, 1852 und 1853 bereits als gelöst betrachtete.<br />
Es folgte ein jahrzehntelanges Ringen. Erst seit<br />
1870 kam es mit 20 <strong>Jahre</strong>n Verspätung nach der Verabschiedung<br />
eines kantonalen Heimatlosengesetzes<br />
vom 3. Juni 1870 und bundesrätlicher Intervention in<br />
zwei Punkten zu «Einbürgerung und Naturalisation».<br />
Von den 4920 in den nächsten <strong>Jahre</strong>n vollzogenen<br />
Einbürgerungen fielen 99 auf die Gemeinde <strong>Brig</strong>. Die<br />
meisten der berücksichtigten Personen waren bereits<br />
ewige Einwohner und stammten nahezu in corpore<br />
aus dem süddeutschen Raum und Österreich. 25 Die<br />
Ausländerquote sank dem kantonalen Trend folgend<br />
zwischen 1870 und 1880 auch in der Gemeinde <strong>Brig</strong><br />
von 11,2 % auf 6,8 %.<br />
Seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen lässt<br />
sich jedoch für die Stadt am nördlichen Fuss des Simplonpasses<br />
grundsätzlich ein überdurchschnittlich<br />
hoher Ausländeranteil nachweisen. Bereits zu Beginn<br />
des 19. Jahrhunderts waren über 100 nicht dem Wallis<br />
entstammende Personen in <strong>Brig</strong> wohnhaft. Um 1850<br />
stellten die ausländischen Einwohner 16,5 % der Bevölkerung,<br />
während ihr Anteil auf kantonaler Ebene<br />
bei nur 2 % lag. Gewiss spielte die attraktive Lage<br />
<strong>Brig</strong>s an einer überregionalen Transitlinie, welche die<br />
Migrationsströme auf die Stadt hin kanalisierte, eine<br />
tragende Rolle. Es fällt zudem auf, dass in der übrigen<br />
Eidgenossenschaft weitere grössere Ballungsräume<br />
von Migranten – wie die Simplonstadt – grenznahe<br />
situiert und / oder urban geprägt waren. Aber auch<br />
die Vielfalt des angesiedelten Gewerbes und das<br />
städtische Klima wirkten vermutlich anziehend auf<br />
Migranten und trugen zu einer durchwegs hohen<br />
Ausländerquote bei. 26<br />
Auswanderungen und Solddienste<br />
Ein weiterer Faktor für den vergleichsweise hohen<br />
Anteil ausländischer Einwohner stellt in verschiedenen<br />
Regionen und Ortschaften des Wallis – zumindest<br />
im 19. Jahrhundert – die Auswanderung nach<br />
Übersee dar. 27 Im städtisch geprägten <strong>Brig</strong> scheinen<br />
diese Emigrationswellen aber keine tragende Rolle<br />
gespielt zu haben, denn sie betrafen grösstenteils<br />
die Berggemeinden. So emigrierte aus dem Bezirk<br />
<strong>Brig</strong> zwischen 1850 und 1874 mit insgesamt 433 Personen<br />
eine beträchtliche Gruppe, doch entstammten<br />
diese Emigranten vor allem den Gemeinden Naters<br />
und Mund, die einen regelrechten demografischen<br />
Aderlass erlitten. 28 Aus der Stadt <strong>Brig</strong> wanderten zwischen<br />
1862 und 1873 mit 25 Bürgern nur sehr wenige<br />
Per sonen aus. Das kleinstädtische Milieu scheint die<br />
Auswanderungslust nicht befördert zu haben. Hingegen<br />
emigrierten aus Glis ungefähr im gleichen<br />
Zeitraum 61 Einwohner, wobei es sich in diesem Fall<br />
meist um ganze Familien und nicht um Einzelpersonen<br />
handelte. 29 Die Emigranten aus <strong>Brig</strong> und Umgebung<br />
siedelten sich bevorzugt in der argentinischen<br />
Provinz Santa Fe und in New Orleans im US-Bundesstaat<br />
Louisiana an. 30 So stammten etwa die Gründerfamilien<br />
der Kolonie San Jerónimo Norte in der<br />
argentinischen Pampa aus <strong>Brig</strong>, Glis und Ried-<strong>Brig</strong>. 31<br />
Nicht selten setzten Migrationsströme im Gefolge<br />
von latenten Krisen ein. Im Wallis des 19. Jahrhunderts<br />
stellte die prekäre wirtschaftliche Situation<br />
den vermutlich wichtigsten Auswanderungsansporn<br />
dar. Die natürlichen Gegebenheiten und eine grosse<br />
Steuerlast bestimmten diese ebenso mit wie die<br />
verzögerte Industrialisierung und das erbrechtliche<br />
Modell der Realteilung, das zu einer starken Parzellierung<br />
der landwirtschaftlich bearbeiteten Flächen<br />
führte und viele Familien um ihre Existenz bangen<br />
liess. Hinzu traten die Folgewirkungen der politischen<br />
Umwälzungen der ersten Jahrhunderthälfte 32<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
205<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
206<br />
sowie die in regelmässiger Abfolge gehäuft auftretenden<br />
Naturkatastrophen: «In einem Zeitraume von<br />
ungefähr 60 <strong>Jahre</strong>n ist unser liebes Vaterland von<br />
vielerlei Plagen heimgesucht worden. So verheerten<br />
im Jahr [18]37 bis 39 die Heuschrecken den schönsten<br />
Theil unserer Kornfelder […]. In den <strong>Jahre</strong>n 1840,<br />
45 und 47 brachte der Bürgerkrieg, wohl aus mißverstandener<br />
Politik, Unheil über das Land […]. Im <strong>Jahre</strong><br />
57 erzitterte die Erde […]. In den <strong>Jahre</strong>n 1835 und 60<br />
traten die Rhone und manche ihrer Zuflüsse aus ihrem<br />
Bette, rissen Gebäude und Boden mit sich fort<br />
und überschütteten prachtvolle Wiesen und ausgedehnte<br />
Felder mit Sand und Gestein.» 33 Aus der Sicht<br />
eines Zeitgenossen war das Wallis ein «Tummel- und<br />
Sammelplatz aller Zerstörungselemente, eine ungeheure<br />
auseinanderfallende Ruine». 34<br />
Obschon in einigen Fällen solche Katastrophen den<br />
unmittelbaren Anlass zur Auswanderung lieferten,<br />
standen im Allgemeinen persönliche Beweggründe<br />
wie Streitigkeiten in der Familie und die Hoffnung<br />
auf ein besseres wirtschaftliches Auskommen als<br />
entscheidende Faktoren zur Emigration im Vordergrund.<br />
35 Der Pauperismus, die Verarmung breiter<br />
Bevölkerungskreise, war bereits in der ersten Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts zu einem beunruhigenden<br />
und rege diskutierten sozialen Problem geworden. 36<br />
Verschuldeten und finanzschwachen Wallisern bezahlten<br />
die Gemeinden, um weitere Armenlasten<br />
zu verhindern, nicht selten die Reise nach Übersee.<br />
Angehörige gesellschaftlicher Randgruppen, etwa<br />
geistig behinderte und arbeitsunfähige Menschen,<br />
wurden aus denselben Gründen in die Fremde «spediert».<br />
37 Auswanderungsagenturen lockten mit Inseraten<br />
und (zumindest teils unwahrer) Propaganda<br />
Walliserinnen und Walliser in die Ferne und setzten<br />
mit ihren Massnahmen schubweise Migrationen<br />
nach Übersee in Gang. 38 Die im Walliser Staatsarchiv<br />
überlieferten Auswanderungsregister führen<br />
einen gewissen Othmar Nanzer aus Glis, der illegal<br />
Werbung für eine solche Einrichtung betrieb. 1882<br />
oder 1883 nach Argentinien migriert, kehrte Nanzer<br />
zwischen 1889 und 1896 beinahe jährlich ins Wallis<br />
zurück und zog – obwohl gesetzlich untersagt –<br />
durch das Rhonetal, um Kundschaft für eine Basler<br />
Auswanderungsagentur zu akquirieren. 1896 waren<br />
seine Bemühungen von Erfolg gekrönt, denn er gewann<br />
zwölf Personen, darunter zwei Grächner und<br />
eine auf dem <strong>Brig</strong>erberg wohnhafte Familie Arnold,<br />
zum Kauf eines Tickets über den Atlantik. Allerdings<br />
legte daraufhin der <strong>Brig</strong>er Advokat Salzmann beim<br />
Staatsrat eine Beschwerde ein. 39 Nanzer wird nicht<br />
der einzige «Hausierer» gewesen sein, der die Auswanderung<br />
zu einem lukrativen Geschäft zu machen<br />
versuchte.<br />
Der zwischen 1880 und 1888 für <strong>Brig</strong> feststellbare<br />
minime Bevölkerungsrückgang ist vermutlich auf<br />
Abwanderungen respektive auf einen geschwächten<br />
Zustrom aus Bergdörfern zurückzuführen. Keine<br />
Rolle spielte dabei der 1848 und 1859 verbotene Solddienst.<br />
Zwar war das Reislaufen nicht mehr in demselben<br />
Masse prägend für die Walliser Gesellschaft<br />
wie noch in den davorliegenden Jahrhunderten, doch<br />
standen auch im 19. Jahrhundert viele Walliser und<br />
etliche <strong>Brig</strong>er in den Diensten Frankreichs oder Spaniens<br />
sowie der Königreiche Piemont-Sardinien und<br />
Neapel. 40 Eugen Stockalper vom Thurm (1783–1852)<br />
brachte es in fremden Diensten 1849 bis zum Gouverneur<br />
von Neapel (Abb. 6). Die meisten Söldner<br />
verpflichteten sich nun aber nur noch für einige <strong>Jahre</strong><br />
und nicht mehr wie früher üblich für Jahrzehnte.<br />
Diese zeitlich begrenzte Solddienstauswanderung ist<br />
aus rückblickender Perspektive zahlenmässig nicht<br />
fassbar, da sie von Bevölkerungszählungen und ähnlichen<br />
Quellen nicht erfasst wurde. 41<br />
Die Simplontunnelbauten und die Fratelli<br />
d’Italia<br />
Auf die Phase des Bevölkerungsschwunds folgte eine<br />
gegenteilige Entwicklung. Innerhalb von zwölf <strong>Jahre</strong>n<br />
wuchs die Einwohnerzahl <strong>Brig</strong>s bis 1900 um fast<br />
90 % auf 2194 Personen an. Die Anzahl Ausländer versiebenfachte<br />
sich im selben Zeitraum von 93 auf 703.<br />
Der grösste Anstieg erfolgte seit August 1898 mit den<br />
einsetzenden Arbeiten zum Bau des Simplontunnels<br />
und den Zuzügen vor allem italienischer Mineure.<br />
Um das Jahrhundertprojekt zu realisieren, wurden<br />
in grosser Zahl Arbeitskräfte benötigt, die sich im<br />
Wallis nicht hätten rekrutieren lassen. 42 Auch wenn<br />
nicht alle registrierten Ausländer im Stollen arbeiteten,<br />
stellte der Tunnelbau doch den ausschlaggebenden<br />
Anreiz für die Immigration in die Region <strong>Brig</strong><br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 7: Vier junge italienische<br />
Immigranten<br />
in der Sonntagstracht<br />
um 1900<br />
207<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 8: Die Hochzeitsgesellschaft<br />
Abbadessa-<br />
Di Francesco vor dem<br />
Hotel Angleterre in <strong>Brig</strong><br />
am 15. August 1921<br />
208<br />
dar. Viele Migranten zogen denn nach der Eröffnung<br />
des ersten Simplontunnels auf der Suche nach Arbeit<br />
wieder fort, weiter zu anderen Grossbaustellen in der<br />
Schweiz und in Europa oder nach Ausbruch des Ersten<br />
Weltkriegs in den Dienst für ihr Vaterland. Ungeachtet<br />
dessen lebten 1920 immer noch 846 ausländische<br />
Staatsbürger in <strong>Brig</strong>, denn der Bau der zweiten<br />
Röhre des Simplontunnels erforderte 1912 bis 1921<br />
wiederum ausländische Arbeitskräfte. Zugleich war<br />
zwischenzeitlich eine nicht unbeträchtliche Zahl italienischer<br />
Immigranten, teils bereits in zweiter Generation,<br />
als Gewerbetreibende in der Stadt dauerhaft<br />
sesshaft geworden. 43 Erstmals in ihrer Geschichte sah<br />
sich die <strong>Brig</strong>er Gesellschaft mit einem derart hohen<br />
Aus länderanteil an der Einwohnerschaft konfrontiert.<br />
35 % der Gesamtbevölkerung betrug die Quote<br />
um die Jahrhundertwende.<br />
Die italienischen Arbeiter wurden von der ansässigen<br />
Bevölkerung als andersartig und fremd wahrgenommen.<br />
Wie schockiert und überrumpelt die Einheimischen<br />
ob der gewandelten Gegebenheiten und<br />
Umstände waren, zeigt im Rückblick ein Bericht aus<br />
den 1950er <strong>Jahre</strong>n: «[Sie kamen] mit fremden Menschen,<br />
Idiomen, Sitten. Mit Maschinen, Bohrhämmern,<br />
Dynamitladungen, die die Stille zerrissen. Mit<br />
Arbeitern, die keinen Respekt vor dem gelassenen<br />
Bürgertum zeigten. Fluchten, stritten, spielten. Aus<br />
jedem neu und leicht gebauten Haus eine ‹pensione<br />
con alloggio› machten, und ihre mechanischen Klaviere<br />
bis in alle Nacht in grösster Lautstärke spielen<br />
liessen. Zwischenhinein auch einmal streikten. […]<br />
Da half nichts mehr, […] um so mehr als mit den ersten<br />
Arbeitern auch die ersten fremden Geschäftsleute<br />
ins Land gekommen waren und ihre zungenfertige<br />
Konkurrenz nicht von schlechten Eltern war.<br />
[…] Die Welt war aus den Fugen geraten. Aber ihr<br />
Ächzen und Seufzen bei der Umstellung hatten den<br />
<strong>Brig</strong>ern, ich darf fast sagen den Oberwallisern, die<br />
Augen geöffnet.» 44<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 9: Das Fahrradgeschäft<br />
Ferrarini mit dem stolzen<br />
Besitzer (1910)<br />
Bald entluden sich diese in der regionalen Presse<br />
registrierten sozialen Spannungen in Schlägereien<br />
zwischen Gruppen von Einheimischen und Ausländern.<br />
In den durchaus als parteiisch zu bezeichnenden<br />
Berichterstattungen figurierte etwa das Messer<br />
ironisch als «Nationalwaffe» der Italiener und Messerstechereien<br />
wurden als ihre «Lieblingsbeschäftigung»<br />
bezeichnet. Der Pfarrer von Naters, Ignaz<br />
Amherd, beurteilte die neue Lage zwar etwas differenzierter,<br />
doch die italienischen Mitbürger in kein<br />
gutes Licht rückend: «Diese Italiener sind ein armes<br />
Volk, die meisten haben keine Erziehung, keine Religion,<br />
kein Schamgefühl, sie leben wie Naturmenschen.<br />
Diebstahl, Betrug, Mord, Unsittlichkeit, Gotteslästerung<br />
ist ihnen, wenige ausgenommen, wie angeboren.»<br />
45 Jenseits des Rottens gestaltete sich das «Problem»<br />
ungleich schwieriger und belastender, waren<br />
doch insgesamt zwei Drittel der Bevölkerung der<br />
Gemeinde Naters (2644 Personen) Ausländer. Hinzu<br />
kam, dass die Tunnelarbeiter in Naters in einer abgesonderten<br />
Arbeitersiedlung, im sogenannten «Negerdorf»,<br />
und nicht wie in <strong>Brig</strong> Tür an Tür mit den Einheimischen<br />
lebten. Doch auch im Simplonstädtchen<br />
wurde 1914 schliesslich ein kleiner, dezentral in der<br />
Nähe des Tunnelzugangs gelegener «Barackenbau»<br />
zur Aufnahme der Ausländer errichtet. 46<br />
Trotz aller Spannungen und sozialer und kultureller<br />
Diskrepanzen gab es auch positive Stimmen. So<br />
zeigte sich etwa ein Korrespondent in seinem Bericht<br />
vom 26. Juli 1899 angetan von dem in <strong>Brig</strong> herrschenden<br />
«multikulturellen» Flair: «Die Strassen wimmeln<br />
von buntem Durcheinander […]. [D]a kommt der Minatore<br />
mit seiner Lampe, hier einige überdrüssige<br />
Kutscher auf die Post losfluchend und dort gar eine<br />
in Pumphosen gehüllte Französin, die sich jedenfalls<br />
die Füsse wund geradelt hat und nebenan noch<br />
eini ge englische Damen mit Bergstöcken, so lang<br />
wie eine Angelrute! <strong>Brig</strong> ist Fremdenstation geworden.»<br />
47 Ungeachtet aller Schwierigkeiten fand das<br />
209<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
210<br />
Zusammenleben mit den Fremden seine geregelten<br />
Bahnen, vielleicht nicht zuletzt beflügelt vom einsetzenden<br />
Tourismus, den der Schreiber vage andeutet.<br />
Die Präsenz einer derart grossen Gruppe von Arbeitern<br />
in <strong>Brig</strong> liess die Stadt in den Gemeinderatswahlen<br />
1908 zum Zentrum der Oberwalliser Sozialdemokraten<br />
avancieren, deren Anhänger zwei Vertreter<br />
der Linken in den städtischen Rat wählten. Eine Pionierrolle<br />
übernahm der Postbeamte, wendige Redner<br />
und Publizist sowie nachmalige Gemeinderat<br />
von <strong>Brig</strong> und Siders, Grossrat und Nationalrat Karl<br />
Dellberg (1886–1978), der sich unerschrocken und<br />
konsequent für die Anliegen der Arbeiter einsetzte.<br />
Das politische und gewerkschaftliche Engagement<br />
Dellbergs führte, da sein Arbeitgeber sich an seiner<br />
aktiven Haltung störte, 1933 zu seiner vorzeitigen<br />
Pensionierung und Gerichtsverfahren. 48 Obwohl die<br />
Arbeiterbewegung in der Stadt <strong>Brig</strong> vergleichsweise<br />
klein blieb, bedeutete ihr Aufflackern vor dem Hintergrund<br />
des katholisch-konservativ geprägten Alltagslebens<br />
und des etablierten politischen Gefüges der<br />
Simplonstadt einen ernst zu nehmenden Einbruch,<br />
der obendrein die Entwicklung der christlich-sozialen<br />
Bewegung förderte. 49<br />
Die Protestanten<br />
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlebte <strong>Brig</strong><br />
einen nicht unbeträchtlichen konfessionellen Zuwachs.<br />
Während im Jahr 1850 im Städtchen am Fuss<br />
des Simplonpasses ein einziger Nicht-Katholik gelebt<br />
hatte und noch 1888 die «Neugläubigen» im katholischen<br />
<strong>Brig</strong> mit 29 Anhängern (und damit nur 2,5 %<br />
aller Einwohner) ein marginales Dasein gefristet hatten,<br />
wurde hier bereits 1876 die zweite reformierte<br />
Gemeinde im Wallis ins Leben gerufen.<br />
Die Situation der Protestanten änderte sich in den<br />
nächsten dreissig <strong>Jahre</strong>n entscheidend. Die protestantische<br />
Minderheit in <strong>Brig</strong> wuchs stetig, bis sie<br />
1920 bereits 491 Einwohner umfasste. Obwohl nun<br />
immerhin 15 % aller Gemeindeangehörigen – mehr<br />
Personen als in jeder anderen Oberwalliser Gemeinde<br />
– dem evangelisch-protestantischen Glauben angehörten,<br />
war die katholische Dominanz ungebrochen.<br />
<strong>Brig</strong> übernahm damit im «schwarzen» Wallis<br />
eine Vorreiterrolle. Aussergewöhnlich scheint auch<br />
die Wahl des Protestanten Hermann Häussler in den<br />
Gemeinderat. 1902 und 1906 nahm der Oberingenieur<br />
der Simplon-Baugesellschaft Einsitz ins Gremium.<br />
Während der konservative Walliser Bote ob der<br />
Wahl die Nase rümpfte («Jetzt sollen die Protestanten<br />
noch kommen und uns Wallisern das Evangelium<br />
der Toleranz predigen.»), gratulierte der <strong>Brig</strong>er<br />
Anzeiger zur «glücklichen Wahl». Aus ausserkantonaler<br />
Perspektive fand das Ereignis nur Lob: die Basler<br />
Nachrichten betonten in ihrer Berichterstattung<br />
die «Toleranz des kleinen Städtchens». 50 Das Anwachsen<br />
der protestantischen Glaubensgemeinschaft in<br />
<strong>Brig</strong> steht – wie der Fall Häussler exemplarisch verdeutlicht<br />
– ebenfalls hauptsächlich im Kontext der<br />
Eisenbahnlinien- und Tunnelbauten sowie der damit<br />
einhergehenden optimierten verkehrstechnischen<br />
Erschliessung des Oberwallis seit der zweiten Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts.<br />
Die Verbreiterung der andersgläubigen Bevölkerungskreise<br />
<strong>Brig</strong>s ging einher mit einem gleichzeitig<br />
gesteigerten Zulauf von Personen aus weiteren<br />
Kantonen. Die vielfach protestantischen Arbeitsmigranten<br />
aus der Schweiz zogen vor allem aus dem<br />
Aargau, aus Bern, Luzern und der Waadt zu. Während<br />
um 1900 293 kantonsfremde Schweizer in <strong>Brig</strong><br />
lebten, verdreifachte sich ihre Anzahl in nur 20 <strong>Jahre</strong>n<br />
auf 846. Schritt für Schritt organisierte sich die<br />
reformierte Gemeinschaft, in gutem Einvernehmen<br />
mit der Stadtgemeinde und der katholischen Mehrheit.<br />
Die festgestellte «bienveillance» der Glaubensgemeinschaft<br />
gegenüber zeigte sich ebenso wie das<br />
im «Messager évangélique» beschriebene Wohlwollen<br />
der einheimischen Bevölkerung besonders auch<br />
in den verschiedenen Möglichkeiten, welche die Gemeinde<br />
ihren protestantischen Einwohnern zur Ausübung<br />
des Glaubens und zur Erziehung der Kinder<br />
zur Verfügung stellte. Zunächst stand den Protestanten<br />
in <strong>Brig</strong> für den Gottesdienst der Saal im Burgerhaus<br />
zur Verfügung. Bedingt durch einen grösseren<br />
Zuwachs während der Zeit des Ersten Weltkriegs versammelten<br />
sich die <strong>Brig</strong>er Protestanten seit 1915 aus<br />
Platzgründen im alten Tunnelspital, das sie schliesslich<br />
erwarben und umgestalteten. Bis heute ist das<br />
mit einem Glockenturm bestückte und um einen<br />
Anbau erweiterte ehemalige Krankenhaus mit der<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 10: Empfang der<br />
französischen Internierten<br />
vor dem Bahnhof<br />
<strong>Brig</strong><br />
Lukaskirche das evangelische Zentrum <strong>Brig</strong>s. 51 Im<br />
Verlauf des 20. Jahrhunderts pendelte sich der Anteil<br />
der protestantischen <strong>Brig</strong>er Bevölkerung bei<br />
rund 400 Personen ein. Erst seit den 1980ern wuchs<br />
die Gemeinschaft wieder an. Entsprechend erfreute<br />
sich auch die evangelische Schule grösseren Zulaufs,<br />
weshalb der erste im Gefolge der Eröffnung einer<br />
Schule 1947 in den 1950er <strong>Jahre</strong>n getätigte Anbau<br />
1992 durch einen weiteren ergänzt werden musste.<br />
2011 kam es zur nicht unumstrittenen Auflösung des<br />
Schulbetriebs.<br />
«Unsere Kriegsgäste» oder «Verräter ihres<br />
Landes»?<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg verschärften sich der öffentliche<br />
Diskurs über die Ausländerfrage und die<br />
Angst vor Überfremdung. Die eidgenössische Wirtschaftspolitik<br />
nahm protektionistischere und die<br />
Ausländerpolitik restriktivere Züge an. 52 In der Zwischenkriegszeit<br />
halbierte sich der Ausländeranteil<br />
an der Bevölkerung beinahe, bis 1941 nur noch 229<br />
ausländische Einwohner in <strong>Brig</strong> lebten. Insgesamt<br />
hatte sich der Anteil der ausländischen Bevölkerung<br />
seit 1900 von 35 % auf knapp 7 % reduziert. Zwar verfälschen<br />
Einburgerungen diesen Trend respektive<br />
die Quote, die Zahl der <strong>Brig</strong>er Burger erhöhte sich<br />
zwischen 1900 und 1941 von 265 auf 441. Ungeachtet<br />
dessen kann nicht von einer Abfederung der ausländischen<br />
Abwanderung durch «Naturalisation»<br />
gesprochen werden, da in dieser Zeit nicht mehr als<br />
zwei Dutzend Fremde in die Gemeinde eingebürgert<br />
wurden. 53 Massgeblich Rückwirkungen auf den<br />
Wegzug ausländischer Arbeiter und die Emigration<br />
Einheimischer zeitigte auch die kritische Wirtschaftslage<br />
der frühen 1920er <strong>Jahre</strong>. Während es in grösseren<br />
Industriestätten zu Massenentlassungen kam,<br />
wurde in vielen kleineren Betrieben und Fabriken<br />
211<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Das Tunnelspital<br />
Franco Arnold<br />
212<br />
Am 18. November 1899 lieferte der geschlossene<br />
Krankenwagen der Baugesellschaft des Simplontunnels<br />
einen italienischen Arbeiter, der im Stollen<br />
zwischen zwei Wagen eingeklemmt worden war,<br />
ins unternehmenseigene Spital ein. Der Tunnelarzt,<br />
Dr. Daniele Pometta, diagnostizierte eine Beckenfraktur<br />
und eine Blasenruptur. Zwölf Stunden später erlag<br />
der Verunfallte seinen Verletzungen. Er war der<br />
erste von 67 Bauarbeitern, die im Simplontunnel ihr<br />
Leben liessen. Jährlich forderte der Jahrhundertbau<br />
tausende Verletzte. Um die Patienten getrennt von<br />
der Stadtbevölkerung behandeln zu können, liess die<br />
Bauunternehmung eigens ein Spital errichten, das<br />
im November 1899 den Betrieb aufnahm.<br />
Die lebensrettende Einrichtung, die eine professionelle<br />
ärztliche Behandlung und verbesserte medizinische<br />
und sanitäre Versorgung der Mineure<br />
garantierte, stellte ein Novum im zeitgenössischen<br />
Tunnelbau dar. Das Spital befand sich nur zehn<br />
Gehminuten vom Stolleneingang entfernt an der<br />
heu tigen Tunnelstrasse in <strong>Brig</strong> und verfügte über<br />
46 Betten. Der aus dem Tessin stammende «Tunneldoktor»<br />
Pometta kurierte im Dienst der Bauunternehmung<br />
rund sechs neue Patienten pro Tag, insgesamt<br />
6777 Verletzte und 6447 Kranke. Ein grosser<br />
Teil der Arbeiter wurde mit Quetsch- oder Schnittwunden<br />
oder ähnlichen Blessuren eingeliefert. Allerdings<br />
kam es bisweilen auch zu schweren Verletzungen,<br />
die in einigen Fällen der harten Tunnelarbeit, in<br />
anderen aber dem ausschweifenden Lebenswandel<br />
der Minatori geschuldet waren. In 22 Fällen musste<br />
Dr. Pometta eine Amputation vornehmen. 34 Mal<br />
mussten Messerstiche und 13 Mal Schussverletzungen<br />
verarztet werden. Daneben hatte Dr. Pometta mit<br />
Typhus, Pocken, einem Leprafall, Influenza, Mumps<br />
und Geschlechtskrankheiten zu kämpfen. 1<br />
Mit der Eröffnung des Simplontunnels am<br />
19. Mai 1906 und dem Bau des Oberwalliser Kreisspitals<br />
1906/07 2 büsste das Tunnelspital seine Funktion<br />
ein. Nachdem sich die Stadtregierung bereits in den<br />
vorangehenden <strong>Jahre</strong>n offen gegenüber der evangelisch-reformierten<br />
Minderheit gezeigt hatte, deren<br />
Zahl mit der eisenbahntechnischen Erschliessung des<br />
Wallis und der Ansiedlung der chemischen Industrie<br />
im Oberwallis stark angewachsen war, erhielt jene<br />
durch Kauf des ehemaligen Lazaretts der Mineure<br />
ein eigenes Zentrum. Nach Erweiterungen des ehemals<br />
schlichten Baus wurde die Spitalkirche 1919 eingeweiht.<br />
Ein grosszügiger Gemeinschaftssaal und ein<br />
Unterrichtszimmer zur Beherbergung der von 1912<br />
bis 2011 bestehenden, zunächst im alten Zollgebäude<br />
des Bahnhofs untergebrachten Kleinkinderschule<br />
wurden zusätzlich eingerichtet. 3<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 11: Das Tunnelspital,<br />
im Hintergrund das Dorf<br />
Naters<br />
die Produktion gedrosselt. Zollpolitische und nichttarifäre<br />
Hemmnisse brachten die Exporte ins Stocken.<br />
Zudem belastete die Missernte von 1921 den<br />
landwirtschaftlichen Sektor schwer. In der Folge stiegen<br />
Lebenshaltungskosten in der Region erheblich<br />
an. 54 Die schrumpfende <strong>Brig</strong>er Bevölkerung jener <strong>Jahre</strong><br />
widerspiegelt diesen ökonomischen Druck. Insgesamt<br />
sank die Zahl der sesshaften Ausländer während<br />
der Weltkriege beträchtlich.<br />
Hingegen steigerte sich die Zahl von fremden Neuankömmlingen,<br />
deren Aufenthalt am Fuss des Simplonpasses<br />
von begrenzter Dauer war. Grösstenteils<br />
handelte es sich um Flüchtlinge sowie verletzte und<br />
kranke Soldaten ausländischer Kriegsmächte, die in<br />
Gefangenschaft geraten waren und zwischen 1916<br />
und 1918 beziehungsweise 1940 und 1945 zur Pflege<br />
und Kur in der Schweiz interniert wurden. Nicht<br />
für alle <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er stellte diese Situation<br />
eine Neuerung dar, denn 1871 war die Gemeinde<br />
bereits Refugium von 99 französischen Soldaten<br />
der Bourbaki-Armee gewesen. 55 Während des Ersten<br />
Weltkriegs wurden in <strong>Brig</strong> ausschliesslich belgische<br />
und französische Kriegsgefangene einquartiert<br />
(Abb. 10). Da die Touristenströme kriegsbedingt verebbten,<br />
wurden leer stehende Hotellerie-Betriebe zu<br />
Unterkünften für die hilfsbedürftigen Soldaten umfunktioniert.<br />
Viele belgische Internierte lebten in den<br />
Hotels Du Pont und Terminus. Letzteres befand sich<br />
im alten Bahnhofsgebäude.<br />
Während ihres Aufenthalts betätigten sich die meisten<br />
Soldaten in eigens eingerichteten Ateliers oder<br />
in der Privatwirtschaft und lebten Tür an Tür mit der<br />
einheimischen Bevölkerung. 56 An Weihnachten 1916<br />
registrierten die Behörden 187 belgische und französische<br />
Militärangehörige. Während der folgenden<br />
Monate reduzierte sich ihre Zahl wieder, doch lebten<br />
im Februar 1918 immerhin noch 53 Soldaten in<br />
<strong>Brig</strong>. 57 Berücksichtigt man die Tatsache, dass sich die<br />
213<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Gesamtbevölkerung im Verlauf des Kriegs von etwa<br />
3000 auf 2636 Personen reduzierte, 58 stellten die Internierten<br />
zwar einen kleinen, aber nicht unmerklichen<br />
Anteil an der Einwohnerschaft dar.<br />
Während des Zweiten Weltkriegs strömten in zwei<br />
Schüben erneut fremde, vornehmlich französische,<br />
polnische und italienische Soldaten ins Wallis. 59 Während<br />
in <strong>Brig</strong> keine Internierungslager existierten,<br />
richtete die Nachbargemeinde Glis zwischen Oktober<br />
1944 und April 1945 ein solches Lager für polnische<br />
Soldaten ein. Die heutige Polenstrasse erinnert<br />
an diese Einrichtung. In der alten Teigwarenfabrik del<br />
Oro im <strong>Brig</strong>er Rhonesand befand sich ein Empfangszentrum,<br />
das die Kriegsgetriebenen – jedoch nur für<br />
kurze Zeit – beherbergte. 60 1941 sind insgesamt nur<br />
229 ausländische Einwohner, darunter zwölf Juden,<br />
die trotz strengem Migrationsregime der schweizerischen<br />
Eidgenossenschaft während des Weltkriegs<br />
in Sicherheit leben konnten, in <strong>Brig</strong> registriert. Diese<br />
Quote stellte den absoluten Tiefststand seit 100 <strong>Jahre</strong>n<br />
dar. Deshalb ist anzunehmen, dass die offiziellen<br />
Statistiken diese zeitweiligen Kriegsgäste nicht in jedem<br />
Fall aufführten.<br />
Vom grossen Aufschwung der «Trente<br />
glorieuses» bis zur Ölkrise von 1973<br />
Nach der Stagnationsphase der 1920er und 1930er<br />
<strong>Jahre</strong> und dem «Weltenbrand» in den 1940er <strong>Jahre</strong>n<br />
erholten sich die Bevölkerungszahlen rasant. Die<br />
Generation der sogenannten Babyboomer trug mit<br />
geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen zu einem<br />
kräftigen Wachstum der Oberwalliser Bevölkerung<br />
bei. Zwischen 1950 und 1960 wuchs die Einwohnerschaft<br />
<strong>Brig</strong>s um mehr als 20 %. Auch die Zahl der Ausländer<br />
erhöhte sich markant. Die Ortschaft profitierte<br />
vom westeuropäischen Wirtschaftsaufschwung<br />
der Nachkriegszeit und entwickelte sich zum prosperierenden<br />
Städtchen. Das Gewicht der einzelnen<br />
Wirtschaftssektoren wandelte sich entscheidend.<br />
Während 1941 noch 121 <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er in<br />
Abb. 12: <strong>Brig</strong>er Frauenalltag<br />
– Bertha von<br />
Stockalper-Seiler mit<br />
ihrem Sohn Kaspar in<br />
der Burgschaft (1901)<br />
214<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 13: <strong>Brig</strong>er Frauenalltag<br />
– Schülerinnen in<br />
der Frauenarbeitsschule<br />
des Instituts St. Ursula<br />
der Landwirtschaft tätig gewesen waren, arbeiteten<br />
im Jahr 1970 rund 100 Personen weniger in diesem<br />
Bereich. Hingegen erwarben immer mehr Einwohner<br />
ihr Einkommen mit handwerklichen Betätigungen,<br />
in der Baubranche und Industrie. Der Anteil der<br />
Erwerbstätigen im tertiären Sektor stieg innerhalb<br />
von drei Jahrzehnten auf 68,8 % oder 1433 Personen.<br />
Schätzungen zufolge waren um 1850 noch rund drei<br />
Viertel der Walliser Bevölkerung im landwirtschaftlichen<br />
Sektor tätig gewesen, vor allem in den Bereichen<br />
von Viehzucht und Weinanbau. 61<br />
Während dieser «Trente glorieuses», der Periode<br />
der drei goldenen Jahrzehnte des wirtschaftlichen<br />
und sozialen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg,<br />
herrschte in der Schweiz ein grosser Bedarf an<br />
menschlichen Ressourcen, was in mehreren Wellen<br />
erneut die Immigration von fremden, insbesondere<br />
aus dem südlichen Europa stammenden Arbeitskräften<br />
nach sich zog. Der ausländische Bevölkerungsanteil<br />
vervierfachte sich zwischen 1950 und<br />
1970 beinahe und überschritt die Millionengrenze.<br />
Das Anwachsen dieser Bevölkerungsschicht führte<br />
zu erheblichen sozialen Spannungen, die auf politischer<br />
Ebene etwa die von James Schwarzenbach<br />
(1911–1994) lancierte Initiative zur Beschränkung der<br />
Ausländerzahl in der Schweiz (Schwarzenbach-Initiative),<br />
die 1970 nach einer leidenschaftlich ausgefochtenen<br />
Debatte knapp abgelehnt wurde, und weitere<br />
fremdenfeindliche Massnahmen der Exponenten des<br />
rechten Parteienspektrums zur Folge hatten. 62<br />
In den an Italien angrenzenden Regionen des Wallis<br />
wuchs die Zahl der Saisonniers und Grenzgänger im<br />
Vergleich zu den ständig wohnhaften Einwanderern<br />
markant, weil die meisten Wirtschaftsmigranten in<br />
den stark saisonal geprägten Bereichen von Tourismus<br />
und Baubranche tätig waren. 63 Der vergleichsweise<br />
geringe Anstieg der ausländischen Bevölkerung<br />
mit festem Wohnsitz in <strong>Brig</strong> findet vor diesem<br />
Hintergrund eine plausible Erklärung. Die Anzahl der<br />
ständig sesshaften Ausländer erhöhte sich zwischen<br />
1950 und 1970 nur um rund 50 %. Die Oberwalliser<br />
Bevölkerung war sich der ökonomischen Bedeutung<br />
der «Gastarbeiter» für das regionale Wirtschaftgefüge<br />
bewusst. Fremdenfeindliche Volksbegehren stiessen<br />
im Allgemeinen eher auf wenig Unterstützung<br />
und die Stimmbeteiligung blieb tief. Vor allem in den<br />
215<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
216<br />
Tourismusdestinationen, in den städtisch geprägten<br />
Ortschaften und den wirtschaftlichen Zentren wurden<br />
derartige Vorstösse von der Bevölkerung meist<br />
deutlich verworfen. Hingegen wurde die Schwarzenbach-Initiative<br />
von den <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>ern im<br />
Juni 1970 nur äusserst knapp abgelehnt. 64<br />
Neben dem Tessiner Grenzort Chiasso nahm das<br />
Städtchen <strong>Brig</strong> insofern eine besondere Stellung ein,<br />
als eine Vielzahl der Immigranten über die Grenzbahnhöfe,<br />
wie sie diese beiden Ortschaften beherbergten,<br />
ins Land einreisten. Die in erster Linie aus<br />
dem italienischen Mezzogiorno stammenden, nur<br />
das Allernotwendigste mit sich führenden Arbeitssuchenden<br />
muss ten vielfach stundenlange medizinische<br />
Untersuchungen und demütigende persönliche<br />
Befragungen über sich ergehen lassen. Die Fremdenpolizei<br />
zeigte auf den Quais und in den Räumlichkeiten<br />
des Bahnhofareals ein weitaus traurigeres Gesicht,<br />
als dies die Bilder auf den Perrons und in den<br />
Wartesälen zunächst annehmen liessen. 65<br />
Mit der Ölkrise von 1973 und der in den meisten Industriestaaten<br />
einsetzenden Rezession reduzierten<br />
sich die Einwanderungsströme in die Schweiz und<br />
mit ihnen die Ausländerquote wieder. Das Wallis und<br />
im Besonderen seine Industriebetriebe waren von<br />
den wirtschaftlichen Folgen dieser Depression stark<br />
betroffen. Die Arbeitslosenzahlen stiegen und ausländische<br />
Arbeitskräfte wanderten ab. 66 Die Ausländerstatistik<br />
von <strong>Brig</strong> widerspiegelt diese Prozesse.<br />
1980 wohnten in der fusionierten Stadtgemeinde<br />
475 Ausländer, während zehn <strong>Jahre</strong> früher in den drei<br />
eigenständigen Gemeinden <strong>Brig</strong>, Glis und <strong>Brig</strong>erbad<br />
insgesamt noch 605 ausländische Staatsbürger gewohnt<br />
hatten. Diese Grundtendenz schwächte sich<br />
etwas ab, wird die beträchtliche Zunahme der Einbürgerungen<br />
seit der Mitte der 1970er <strong>Jahre</strong> (vor allem<br />
1975 und 1976) in Rechnung gezogen. 67 In diesem<br />
Jahrzehnt erhöhte sich entsprechend die Zahl der<br />
Kantonsbürger italienischer Muttersprache, während<br />
die Anzahl italienischsprachiger Ausländer sank.<br />
Die Frauen<br />
Mit dem kräftigen und kontinuierlichen Anwachsen<br />
der arbeitstätigen Bevölkerung nach den Weltkriegen<br />
stieg auch der Anteil berufstätiger Frauen. Obwohl<br />
die Erwerbslosenquote der <strong>Brig</strong>erinnen (bzw.<br />
die Hausfrauenquote) noch heute über dem Schweizer<br />
Schnitt liegt, ist die Zahl der erwerbstätigen<br />
Frauen in den vergangenen Jahrzehnten doch stetig<br />
gewachsen. So gehen nur noch 63 % der in <strong>Brig</strong> wohnhaften<br />
Frauen (Minderjährige und Pensionärinnen<br />
eingerechnet) aktuell keiner beruflichen Tätigkeit<br />
nach. 1970 lag die Rate bei 77,2 %. Vor dem Ausbruch<br />
des Zweiten Weltkriegs muss die Quote um einiges<br />
höher gewesen sein.<br />
Ohnehin liefert ein Blick auf das weibliche Geschlecht<br />
hinsichtlich der strukturellen Veränderung der Bevölkerung<br />
interessante Erkenntnisse. Von der Mitte des<br />
17. Jahrhunderts bis zur Bundesstaatsgründung im<br />
Jahr 1848 registrieren die Taufbücher von Glis einen<br />
Überschuss an Knabengeburten. 68 50,7 % aller während<br />
dieser 200 <strong>Jahre</strong> getauften Neugeborenen waren<br />
männlichen Geschlechts. Dieses Übergewicht<br />
glich sich jedoch über die höhere Säuglingssterblichkeit<br />
bei Knaben aus. 69 Ungeachtet dessen lässt<br />
sich noch anlässlich der eidgenössischen Volkszählung<br />
von 1850 ein Ungleichgewicht zu Gunsten des<br />
männlichen Geschlechts feststellen. So machten die<br />
Frauen bei der ersten geschlechtsspezifischen Zählung<br />
lediglich 48,1 % der <strong>Brig</strong>er Bevölkerung aus. Die<br />
Quote sank daraufhin sogar noch leicht und erreichte<br />
um 1900 ihren Tiefpunkt mit einem Frauenanteil<br />
an der gesamten Einwohnerschaft von sehr tiefen<br />
42,3 %. Dieses gravierende Missverhältnis hat seine<br />
Ursache in der bereits erwähnten Immigration Hunderter<br />
männlicher Gastarbeiter aus dem Ausland, die<br />
für den Bau des Simplontunnels nach <strong>Brig</strong> kamen.<br />
Nur einige Minatori brachten ihre Familien mit ins<br />
Oberwallis. Die meisten kamen zunächst allein und<br />
liessen ihre Angehörigen später nachziehen. Die Familiennachzüge<br />
brachten schliesslich wieder einen<br />
leichten Anstieg des weiblichen Anteils an der Einwohnerschaft<br />
mit sich. Um 1900 lebten 928 Frauen<br />
in der Stadt <strong>Brig</strong>, 20 <strong>Jahre</strong> später waren es 1591. Hingegen<br />
war der Anteil der männlichen <strong>Brig</strong>er Bevölkerung<br />
in diesen zwei Dekaden nur um 300 Personen<br />
angewachsen.<br />
Die Volkszählung nach dem Ersten Weltkrieg ergab<br />
erstmals ein weibliches Übergewicht an der Gesamt-<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
evölkerung. Einerseits ist der hohe Frauenanteil auf<br />
die kriegsbedingte Emigration 70 und den Kriegstod<br />
italienischer Arbeiter zurückzuführen, andererseits<br />
trug vermutlich die verbesserte medizinische Versorgung<br />
zu einer Senkung der Sterberate von Müttern<br />
im Kindbett bei. Von diesem Zeitpunkt an hielt sich<br />
eine leichte weibliche Überzahl, die aktuell auf ein<br />
Mehr von ca. 500 Frauen angewachsen ist. Im schweizerischen<br />
Vergleich fällt der <strong>Brig</strong>er Frauenanteil an<br />
der Bevölkerung von 51,9 % denn auch relativ hoch<br />
aus. Eine schlüssige Erklärung für dieses Phänomen<br />
gibt es indes nicht.<br />
Modernisierung, Urbanisierung und Individualisierung<br />
Spätestens seit dem Jahr 1990 durchlebt <strong>Brig</strong>-Glis<br />
einen Prozess der Urbanisierung, der sich nicht nur<br />
durch ein anhaltendes Wachstum der Wohnbevölkerung,<br />
sondern auch durch eine soziale Diversifizierung<br />
und die Modernisierung verschiedener gesellschaftlicher<br />
Bereiche auszeichnet. Vermehrt liessen<br />
und lassen sich ausländische Bürger aus verschiedenen<br />
Staaten in der Stadtgemeinde nieder. Bis 2011 ist<br />
diese Bevölkerungsgruppe auf 1788 Personen angewachsen.<br />
Mit 14,3 % der Gesamtbevölkerung reicht<br />
ihr Anteil jedoch nicht annähernd an die Quote der<br />
Periode des Simplontunnelbaus (1900: 34,9 %) oder<br />
der Epoche nach dem Beitritt des Wallis zur Eidgenossenschaft<br />
(1816: 25,7 %) heran.<br />
Auf sozio-kultureller Ebene hat sich die Schicht der<br />
nach <strong>Brig</strong>-Glis gewanderten Migranten entscheidend<br />
gewandelt. Die im Ort lebenden Tunnelarbeiter an<br />
der Wende zum 20. Jahrhundert hatten nur selten<br />
eine Schulbildung absolviert. 70 % dieser Migranten<br />
konnten weder lesen noch schreiben. 20 % hatten<br />
eine sehr rudimentäre Ausbildung durchlaufen und<br />
nur 10 % waren fähig «die bescheidensten Ansprüche<br />
darin zu befriedigen», 71 wie die Erhebungen des Tunnelarztes,<br />
Dr. Daniele Pometta, zeigten. Auch mit den<br />
Migrationswellen der 1960er und 1970er <strong>Jahre</strong> zogen<br />
eher bildungsferne Schichten in den Kanton Wallis.<br />
Heute liegt das Bildungsniveau der in <strong>Brig</strong> lebenden<br />
Ausländerinnen und Ausländer dagegen weit<br />
über dem nationalen Durchschnitt. 72 Während die<br />
in <strong>Brig</strong> lebenden Migranten noch in der ersten Hälfte<br />
des 20. Jahrhunderts vorwiegend aus den Nachbarländern,<br />
vor allem aus Italien und Frankreich, ins<br />
Oberwallis kamen, 73 liessen sich erst seit den 1960er<br />
<strong>Jahre</strong>n zunehmend auch Wirtschaftskräfte aus Spanien<br />
und seit den 1990er <strong>Jahre</strong>n Migranten aus dem<br />
ehemaligen Jugoslawien und Albanien in der Region<br />
nieder. Auf der Rangliste der Nationalitäten stehen<br />
die Deutschen heute mit 336 ständig wohnhaften<br />
Einwohnern, vor den Portugiesen mit 211 Personen<br />
und den Italienern mit 197 Einwohnern an der Spitze.<br />
Insgesamt leben im Städtchen am Fuss des Simplonpasses<br />
Einwanderer aus 86 Ländern aller Kontinente.<br />
Unter ihnen finden sich – um zwei Beispiele<br />
anzuführen – unter anderem 51 Kasachen und 18 Panameños.<br />
Im Gleichschritt mit der Intensivierung der<br />
multikulturellen Einwanderung nahm die Anzahl gesprochener<br />
Sprachen zu. Die von 90,3 % gesprochene<br />
deutsche Sprache ist jedoch nach wie vor dominant.<br />
Zum Vergleich: Um 1900 gaben weniger als 60 % der<br />
<strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er Deutsch als Muttersprache<br />
an. Nicht zuletzt aufgrund der Immigration reduzierte<br />
sich auch das Gewicht des katholischen Glaubens<br />
in der Stadtgemeinde. So bekannten sich im Jahr<br />
2000 «nur» noch 82,9 % der <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er<br />
zum Katholizismus. Neben den Anhängerschaften<br />
von orthodoxer Kirche und Islam ist insbesondere<br />
die Zahl der Konfessionslosen angewachsen.<br />
Darüber hinaus zeigt sich die <strong>Brig</strong>er Gesellschaft der<br />
jüngsten Zeit geprägt durch den auch andernorts<br />
in Westeuropa feststellbaren Prozess der Individualisierung.<br />
So umfassten im Jahr 2000 über 30 % aller<br />
Haushaltungen nur eine Person. Drei Jahrzehnte<br />
früher lagen die Einpersonenhaushalte bei einer<br />
geringen Quote von 13 %. Auch die Familiengrössen<br />
und die Altersstruktur der Einwohnerschaft haben<br />
sich verkleinert respektive verändert. Die in der ersten<br />
Hälfte des 20. Jahrhunderts noch mehr als sechs<br />
Personen umfassenden Haushaltungen reduzierten<br />
ihren Anteil von 13,1 % auf nur mehr 1,2 %. Zudem sind<br />
nur 18,2 % aller <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er weniger als<br />
20 <strong>Jahre</strong> alt. Der Anteil der Seniorinnen und Senioren,<br />
die 60 <strong>Jahre</strong> alt und älter sind, ist stetig angewachsen<br />
und beträgt mittlerweile stattliche 23,6 %. 74<br />
Zum Vergleich: Vor 150 <strong>Jahre</strong>n hatten die Kinder und<br />
Jugendlichen einen Anteil von 41,2 % an der Gesamtbevölkerung,<br />
während die Gruppe der Betagteren<br />
217<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 14: Die Antoniuskapelle<br />
in der oberen<br />
Burgschaft<br />
nur 8,4 % stellte. Die Entwicklung hin zu dieser nicht<br />
unproblematischen Gesellschaftsstruktur setzte erst<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise nach<br />
1970 ein. Die Gründe sind vielschichtig und komplex.<br />
Eine tragende Rolle spielen die verbesserte medizinische<br />
Versorgung und die breite Anwendung von<br />
Kontrazeptiva.<br />
Fazit<br />
Die präsentierten Zahlen, Fakten, Prozesse und Anekdoten<br />
zur Entwicklung und Veränderung der <strong>Brig</strong>er<br />
Bevölkerung und Gesellschaft haben zwei wesentliche<br />
Konstanten hervorgehoben: Zum einen lässt sich<br />
festhalten, dass das Städtchen am Fuss des Simplonpasses<br />
im Verlauf der Jahrhunderte stetig gewachsen<br />
ist. Schritt für Schritt hat sich <strong>Brig</strong> zur Stadt und<br />
zum Zentrum des deutschsprachigen Kantons teils<br />
entwickelt. Mit Ausnahme von Zermatt hat sich keine<br />
andere Ortschaft des Oberwallis, die nicht zu den<br />
Industriezentren des Kantons zählt, in den vergangenen<br />
150 <strong>Jahre</strong>n derart rasant vergrössert wie <strong>Brig</strong>.<br />
Diese positive Entwicklung verdankt das an Rotten<br />
und Saltina gelegene Städtchen vor allem seiner Lage<br />
am Fusse eines bedeutenden Alpenübergangs. Zum<br />
anderen hat der Simplon <strong>Brig</strong>-Glis, als weitere bedeutende<br />
Konstante, stets einen hohen Anteil ausländischer<br />
Einwohner beschert. Obschon mit dem<br />
Anwachsen der Migrantenströme seit 1898 auch soziale<br />
Spannungen entstanden, zeigte sich das Städtchen<br />
doch grösstenteils allem Fremden gegenüber<br />
offen. Wahrscheinlich schuf der während Jahrhunderten<br />
fliessende Transitverkehr der Immigration<br />
einen verständnisvollen Nährboden, denn mit den<br />
Waren importierten die <strong>Brig</strong>erinnen und <strong>Brig</strong>er Profit<br />
versprechendes gewerbliches und handwerkliches<br />
Know-how. Ohne Zutun der «Fratelli d’Italia»<br />
und weiterer Ein- und Durchwanderer wäre <strong>Brig</strong>-Glis<br />
heute nicht das, was es ist. Stumme Zeitzeugen – die<br />
zentrumsprägende Architektur aus dem Mittelalter<br />
und der Neuzeit und vor allem Stockalpers als «domus<br />
mercatoria» errichteter Prachtbau – belegen indirekt<br />
nachdrücklich die grosse Bedeutung des internationalen<br />
und überregionalen Verkehrs.<br />
218<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
219<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Die Geschichte des Spitals in <strong>Brig</strong> 1<br />
Stefan Loretan<br />
220<br />
Wer das noch heute moderne, funktionelle <strong>Brig</strong>er<br />
Spital betritt, ist sich kaum über dessen mehr als<br />
710-jährige ununterbrochene Geschichte bewusst.<br />
Und doch können wir heute auf 711 <strong>Jahre</strong> Gründung,<br />
107 <strong>Jahre</strong> Altbau und 37 <strong>Jahre</strong> Neubau zurückblicken.<br />
Da auf der schon damals wichtigen Simplonroute<br />
zwischen dem Johanniterspital in Salgesch und<br />
dessen Zweigniederlassung unterhalb der Passhöhe<br />
arme Reisende kaum Unterkunft fanden, wurde<br />
auf weltliche und geistliche Anregung hin 1304 das<br />
Spital in <strong>Brig</strong> gegründet. Die der Jungfrau Maria und<br />
dem heiligen Antonius, dem Eremiten, geweihte<br />
Stiftung bezog ein Ritterhaus an der Ausfallstrasse<br />
zum Pass und verfügte schon bald über einen ansehnlichen<br />
Grundbesitz. Früh ging die Verwaltung<br />
in weltliche Hände über. Bereits 1388 erscheinen die<br />
fünf oberen Zenden und die <strong>Brig</strong>er Burger als Träger<br />
der Stiftung. Wahrscheinlich wurde um diese Zeit ein<br />
erster Spitalbau aufgezogen, von dem auch die 1396<br />
gegossene, wohl älteste noch heute geläutete Glocke<br />
des Wallis Zeugnis ablegt. Als sensationelle Seltenheit<br />
erscheinen dort die Jahrhunderte in römischen<br />
Ziffern (MCCC), das sechsundneunzigste Jahr<br />
aber in arabischen Zahlen, welche grundsätzlich erst<br />
100 <strong>Jahre</strong> später allmählich in Gebrauch kommen, 2<br />
ein Sinnbild für die integrativen Kräfte <strong>Brig</strong>s! Bereits<br />
1304 wird die Ausübung der sechs Werke der Barmherzigkeit<br />
als Stiftungsziel aufgeführt. Damit ist das<br />
breite Spektrum der im Spital Aufnahme Findenden<br />
angetönt und der für mittelalterliche Hospitäler charakteristische<br />
fliessende Übergang von Herberge und<br />
Krankenstube erklärbar.<br />
Bis ins 17. Jahrhundert liegen nur spärliche Hinweise<br />
auf das <strong>Brig</strong>er Spital vor. Im Jahr 1622 werden etwa<br />
das «Katholische christliche Exercitio oder die gute<br />
Polizeyordnung» gelobt, mit der die <strong>Brig</strong>er das Haus<br />
der Armen führten. 3 Eine erste realistische Darstellung<br />
des Spitals findet sich auf dem Merian-Stich von<br />
1654 (Kap. 1, Abb. 6). Dieses Spital wies beschränkte<br />
Platzverhältnisse auf: eine kleine Kammer und Stube,<br />
einen grossen Schlafsaal und eine Krankenstube<br />
mit fünf Betten. Die Patientenbetreuung geht auch<br />
aus der Erwähnung einer «Scherery» (Wundärztin)<br />
hervor, die 1646 immerhin einen Viertel der bedeutenden<br />
Zins einnahmen der Stiftung als Lohn erhielt.<br />
Wegen den Kapitalien und Grundgütern interessierte<br />
sich auch Kaspar Stockalper für diese Einrichtung.<br />
Ein von ihm weiter südlich geplanter Neubau kam<br />
nie zur Ausführung. Im frühen 19. Jahrhundert findet<br />
sich dann eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft<br />
aus «gesunden und kranken Pilgern und<br />
Reisenden, Krüppelhaften, Wahnsinnigen, Blinden<br />
und zur Arbeit Untauglichen» im Spital zusammen. 4<br />
Daneben sind des Öfteren Geburten, eingekaufte<br />
Pfründner und einmal sogar eine ganze Familie vermerkt.<br />
1831 wird eine Werkstatt und Wollspinnerei erwähnt,<br />
in denen die Insassen arbeiteten.<br />
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Spital<br />
von der Einwohnergemeinde übernommen und<br />
durch Ursulinen betrieben. Einen starken Anstieg der<br />
Bettenbelegung brachte der Eisenbahnbau. Die verletzten<br />
und erkrankten Arbeiter der Gornergrat- und<br />
Simplonbahn führten freilich ab 1896 bald zu einer<br />
völligen Überbelegung. Ausserdem waren die hygienischen<br />
Einrichtungen derart mangelhaft, dass der<br />
Tunnelarzt Dr. Daniele Pometta als Ursache zweier<br />
Typhusepidemien das Waschhaus des Bürger-Spitals<br />
ermitteln musste. Er leitete seit 1899 das eigens<br />
für den Tunnelbau erstellte «Spital der Simplonun-<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 15: Das erste <strong>Brig</strong>er<br />
Kreisspital<br />
ternehmung». Wie die alte Antoniusstiftung lag es<br />
ebenfalls an der Stadtgrenze auf freiem Feld, diesmal<br />
im Osten gegen den Tunneleingang zu. Es wies<br />
auf zwei Stockwerken je einen 14 Betten fassenden<br />
Krankensaal auf und verfügte im östlichen Hausteil<br />
bereits über ein Konsultations- und ein Operationszimmer,<br />
eine elektrische Beleuchtung, Bäder und<br />
Duschen sowie über einen Speiseaufzug. Um die<br />
schmutzige Wäsche nicht durch das ganze Haus<br />
tragen zu müssen, führte ein Schacht von den beiden<br />
Krankenzimmern direkt in die Waschküche. Die<br />
Toiletten waren mit Wasserspülung ausgerüstet und<br />
eine zentrale Anlage bereitete warmes Wasser auf.<br />
Durch diese moderne Einrichtung trat das Ungenügen<br />
des alten Bürgerspitals noch klarer zutage. Anfangs<br />
dachte die Gemeinde an eine Übernahme des<br />
nach Beendigung der ersten Etappe des Simplontunnelbaus<br />
nicht mehr benutzten Spitals der Unternehmungen.<br />
Das Gesuch wurde aber von der Bundesbahn<br />
in Bern abgelehnt. Das Gebäude wurde später<br />
an die reformierte Kirchgemeinde verkauft und wird<br />
als Kirche und Pfarrhaus bis heute genutzt. Als die<br />
Betreiber des 1906 begonnenen Lötschbergbahnbaus<br />
eine Summe von 50’000 Franken in Aussicht stellten,<br />
rief der Gemeinderat von <strong>Brig</strong> unter der Leitung ihres<br />
Präsidenten, Dr. iur. Hermann Seiler, am 7. März 1907<br />
das Oberwallis zur Gründung eines Kreisspitals auf.<br />
Da sich die Oberwalliser Bezirke und Gemeinden fast<br />
vollständig an diesem Neubau beteiligten, konnte<br />
das Spital bereits am 5. Februar 1908 in Betrieb genommen<br />
werden. Als Standort hatte die Gemeinde<br />
<strong>Brig</strong> 4000 m 2 Land zur Verfügung gestellt, das erneut<br />
an der äussersten, nun nordwestlichen Gemeindegrenze<br />
lag. Neben der sicher noch unterschwellig<br />
mitspielenden Scheu vor den Kranken wurde aber<br />
bewusst die Nähe zum Bahnhof und die sonnige, trockene<br />
Lage gewählt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen<br />
befanden sich alle 24 ein- bis siebenbettigen<br />
Zimmer des dreigeschossigen Gebäudes auf der Südseite.<br />
Die Innenausstattung der Räume war typisch<br />
für damalige moderne Krankenzimmer. Abgerundete<br />
Ecken, hohe Fenster, fugenlose Böden und die sparsame<br />
Eisenmöblierung sollten grösste Sauberkeit und<br />
eine leichte Reinigung ermöglichen. Besonderer Wert<br />
wurde zudem auf eine grosszügige Belichtung und<br />
Belüftung der Räumlichkeiten gelegt. Um die wohl<br />
221<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
222<br />
nicht ganz unbegründeten Klagen der Bevölkerung,<br />
im Spital werde man durch Ansteckungen erst recht<br />
krank, zu entkräften, erstellte man 1916 an der Saltina<br />
ein einstöckiges Absonderungshaus mit dreizehn<br />
Betten. Neben einem für das Jahr 1921 fotografisch<br />
festgehaltenen schwersten Pockenfall wurden<br />
dort bis 1927 die drei letzten endemischen Leprafälle<br />
nördlich der Alpen gepflegt. Sie erlangten bei Fachärzten<br />
europaweit Interesse und wurden in mehreren<br />
Fachpublikationen und sogar in einer Dissertation<br />
dokumentiert.<br />
Als Präsident des Verwaltungsrates stand dem neuen<br />
Spital für volle 53 <strong>Jahre</strong>, mit enormem persönlichem<br />
Einsatz, Dr. iur. Hermann Seiler vor. Für Kost,<br />
Pflege und ärztliche Behandlung hatten die Patienten<br />
anfangs Fr. 2.50 pro Tag zu bezahlen. Dieser Betrag<br />
wurde dann sogar unter den Selbstkostenpreis<br />
auf Fr. 1.80 gesenkt, um das Spital beim Volk beliebt<br />
zu machen. Sowohl Gastarbeiter (zwei Drittel der<br />
Kranken) als auch Einheimische konnte sich nämlich<br />
nur schwer an die straffe Ordnung des Betriebes und<br />
die Müeslikost der Baldegger Schwestern gewöhnen.<br />
Diese übernahmen mit <strong>Brig</strong> erstmals die gesamte<br />
Führung und Betreuung eines Spitals, nachdem das<br />
Kloster St. Ursula wegen Schwesternmangels ein entsprechendes<br />
Gesuch abgelehnt hatte. Die Baldeggerinnen<br />
erhielten einen <strong>Jahre</strong>slohn von 200 Franken,<br />
der erst 1943 auf 360 Franken erhöht wurde. Gerade<br />
diese geringe Entlöhnung, trotz des enormen zeitlichen<br />
Einsatzes, trug zusammen mit den ebenfalls<br />
bescheidenen Arztgehältern wesentlich zum guten<br />
Gedeihen des Werks bei, ist aber auch mit ein Grund<br />
für die heute sogenannte Kostenexplosion. Denn als<br />
die weitgehend um Gotteslohn arbeitenden Ordensschwestern<br />
durch weltliches Personal ersetzt werden<br />
mussten, nahmen die Betriebskosten nicht, wie oft<br />
behauptet, explosionsartig zu, sondern sie waren vorher<br />
schlichtweg unglaublich tief.<br />
Im Einverständnis mit der Oberwalliser Ärztegesellschaft<br />
wurde das Belegarztsystem aufgegeben und<br />
1912 mit Dr. Daniele Pometta der erste Spitalchefarzt<br />
gewählt. 1915 folgte nach seiner Wahl zum ersten<br />
Oberarzt der Suva Dr. Josef de Kalbermatten, der<br />
den Spitalbetrieb volle 20 <strong>Jahre</strong> lang leitete. 1916 erhielt<br />
der Operationssaal ein natürliches Oberlicht<br />
und Kapelle wie Küche wurden vergrössert. 1924<br />
zog man an der Südfront, in Anlehnung an die damals<br />
flo rierenden Lungensanatorien, teilweise verglaste<br />
Liegeterrassen vor die Fassade und 1940/41<br />
wurde der Westflügel um drei Fensterachsen verlängert.<br />
Damit konnten ein zweiter Operationssaal<br />
und eine eigene Geburtenabteilung eingerichtet<br />
werden. Die Erweiterung des ursprünglichen Spitalgebäudes<br />
fand dann 1960/61 mit dem Bau eines<br />
wohl etwas zu grosszügigen Kapellentraktes auf der<br />
Ostseite seinen Abschluss. Später säkularisiert, dient<br />
die ehemalige Kapelle heute als Aula. Zwei der vier<br />
grossen bunten Fenster und drei schmale Zwischenstücke<br />
mit Rebenmotiven nach Entwürfen des Kunstmalers<br />
Alfred Grünwald erhielten bei der Mediathek<br />
einen angemessenen neuen Standort. 5 Die Pläne für<br />
den Bau einer Tuberkulosenanstalt mussten wegen<br />
stag nierender Bettenbelegung nach Beendigung der<br />
Tunnelarbeiten 1922 aufgegeben werden. Dazu trug<br />
auch die 1934 eröffnete, konkurrierende Privatklinik<br />
der Ursulinen in Visp bei. 6 Sie hatten durch geschickten<br />
Einbezug kirchlicher und politischer Kräfte diese<br />
Gründung schon seit den 1920er <strong>Jahre</strong>n betrieben,<br />
um ihre Missionsschwestern in der Krankenpflege<br />
ausbilden zu können. Durch diese anfangs existenzgefährdende<br />
Situation und die Politisierung der Institutionen<br />
(<strong>Brig</strong> vom «schwarzen» Hermann Seiler<br />
und Visp vom «gelben» Viktor Petrig präsidiert) ist die<br />
über Jahrzehnte mehr oder weniger offen ausgetragene<br />
Feindschaft zwischen den beiden Spitälern erklärbar.<br />
Für die Patienten und ihre Hausärzte bedeutete<br />
dies allerdings eine freie Spitalwahl und für die<br />
Chefärzte ein Ansporn zur engeren Zusammenarbeit<br />
mit den Zuweisenden.<br />
Da im Spital bis in die 1950er <strong>Jahre</strong> noch mehr Patienten<br />
an Infektionen starben als an den heute dominierenden<br />
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wurde<br />
die Frage einer entsprechenden Abteilung erneut<br />
akut. Ein anfänglich geplanter Ausbau des 1916 im<br />
Eiltempo und in schlechter Bauweise errichteten<br />
«Absonderungshauses» war nicht machbar. So erstellte<br />
man 1954/55 im Westen des Spitals ein vierstöckiges<br />
Infektionsgebäude. Im mit dem Hauptbau<br />
verbundenen Keller wurde das Labor eingerichtet. Erneut<br />
lagen sämtliche Krankenzimmer auf der Südseite<br />
und verfügten über durchgehende Liegebalkone.<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 16: Das Antoniusspital<br />
in der oberen<br />
Burgschaft<br />
223<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
224<br />
Licht-, Luft- und Sonnenbaden galten seit 1862 über<br />
fast 100 <strong>Jahre</strong> als ausschliessliche Therapie der Tuberkulose.<br />
Das Parterre war allgemein Infektiösen vorbehalten,<br />
erster und zweiter Stock nahmen Tuberkulöse<br />
und Chronischkranke auf. Klosterfrauen und Personal<br />
belegten den dritten Stock.<br />
Nach 20-jähriger Dienstzeit musste Dr. de Kalbermatten<br />
1935 wegen seiner durch Röntgenstrahlen<br />
geschädigten Hände den Chefarztposten aufgeben.<br />
Als Nachfolger wurde Dr. Josef Schmidt gewählt.<br />
Während seiner 35-jährigen Tätigkeit stieg die Patientenzahl<br />
kontinuierlich von etwa 550 auf 3400 jährlich<br />
an. Dr. Schmidt ist noch heute bei älteren Oberwallisern<br />
für seine rasche Magenresektionstechnik<br />
bekannt. Dieser entsprach auch seine legendär knappe<br />
und präzise, manchmal wohl auch etwas schroffe<br />
Umgangs- und Ausdrucksform. Als letzter alleiniger<br />
Chefarzt war er dann auch um fachliche und charakterlich<br />
geeignete Nachfolger bemüht. Bereits 1961 begann<br />
Dr. Wolfgang Imahorn Kinder in einem eigens<br />
eingerichteten Zimmer zu betreuen und seit 1965<br />
operierte Dr. Hugo Grandi als ORL-Facharzt im Spital.<br />
Während Dr. Alfred Klingele die Geburts- und Frauenabteilung<br />
schon 1969 übernommen hatte, konnte<br />
Dr. Schmidt 1971 die Chirurgie an Dr. Karl Arnold<br />
und die neugebildete Medizin an Dr. Joseph Escher<br />
abgeben. Letzterer richtete im als Infektionshaus aufgegebenen<br />
Neubau eine moderne Medizinische Abteilung<br />
ein, in der je ein Stockwerk für Frauen und<br />
Männer reserviert war. 1972 konnte die erste Intensivstation<br />
des Oberwallis eröffnet werden. Erstmals<br />
stand zudem im Kanton Wallis auch ein Isotopenlabor<br />
zur Verfügung. Neben einer gut eingerichteten<br />
Kreislaufdiagnostik wurde die gastro-enterologische<br />
Endoskopie eingeführt. 1976 konnte die arbeitsintensive<br />
Radiologie an Dr. Stefan Zurbriggen übergeben<br />
werden. Wegen den von Dr. Arnold neu angebotenen<br />
Lungen-, Gefäss-, grossen Bauch- und vor allem<br />
osteosynthetischen Operationen wurden die Platzverhältnisse<br />
im Altbau bald einmal knapp. Auch entsprachen<br />
die sanitären Anlagen (z. B. ein einziger Toilettenraum<br />
pro Stockwerk) schon lange nicht mehr<br />
den damaligen Anforderungen.<br />
Da an der 1966 und vor allem 1970 unter Staatsrat<br />
Bender betriebenen Koordinationsplanung der beiden<br />
Oberwalliser Spitäler von Visp eine bindende<br />
Aufteilung der Subspezialitäten verweigert wurde,<br />
bezogen 1978 alle Abteilungen den herzförmig konzipierten<br />
Neubau jenseits der Saltina. Dabei sind die<br />
beiden Bettentrakte des neuen Kreisspitals in der<br />
Form zweier ineinander verschränkter Zylinder bezeichnenderweise<br />
annähernd kreisförmig angelegt.<br />
Nach denselben Plänen realisierte das Berner Architekturbüro<br />
Itten und Brechbühl im selben Jahr in kleinerem<br />
Massstab das Caritas Baby Hospital in Bethlehem<br />
(Israel) und 1979 das grössere Regionalspital von<br />
Sitten. Europaweit erstmalig wurde in <strong>Brig</strong> unter der<br />
Leitung von Dr. Gottlieb Guntern im Herbst 1978 eine<br />
offene psychiatrische Klinik in ein Allgemeinspital integriert.<br />
Damit entfiel die bisherige Verbannung der<br />
seelisch Erkrankten in die weit entfernte und sprachlich<br />
fremde Anstalt von Malévoz. Eine später eingerichtete<br />
ambulante Sprechstunde gewährleistete<br />
schliesslich die gesamte psychiatrische Versorgung<br />
des Oberwallis.<br />
Eine Zusammenfassung der Entwicklung des <strong>Brig</strong>er<br />
Kreisspitals ab 1978 würde den Rahmen dieses Beitrags<br />
bei weitem sprengen und den meisten der hier<br />
seither Wirkenden nicht gerecht werden. Als am<br />
1. Januar 2004 mit der neuen kantonalen Spitalorganisation<br />
die Eigenständigkeit des <strong>Brig</strong>er Kreisspitals<br />
durch Enteignung erlosch, kümmerten sich hier<br />
über 25 Chef- und Leitende Ärzte, mehr als 10 Konsiliarärzte<br />
und über 500 Spitalmitarbeiter um die<br />
4215 sta tionären und die ebenfalls zahlreichen ambulanten<br />
Kranken. 7 In den folgenden <strong>Jahre</strong>n wurden<br />
alle tragenden Disziplinen der Allgemeinen Medizin<br />
und der Chirurgie, die Intensiv- und die Notfallstation<br />
ins Visper Spital verlegt. Anfangs 2014 wurden<br />
dann die Weichen für ein einziges Spital im Oberwallis<br />
gestellt. Ein Neubau «im Grünen» schied von<br />
vornherein aus finanziellen Gründen aus. Aufgrund<br />
einer objektiven Analyse entschied sich der Walliser<br />
Staatsrat, einzig den Standort <strong>Brig</strong> zum neuen<br />
Oberwalliser Spital auszubauen. 8 So wird in der Einrichtung<br />
auch künftig wieder, wie im ehemaligen<br />
Antoniusspital, eine bunt zusammengewürfelte<br />
Gesellschaft von Einheimischen und Touristen (den<br />
«Pilgern unserer Zeit»), von physisch und psychisch<br />
Kranken, von ambulant und stationär Behandelten<br />
zusammenfinden. 9<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Das Architektenpaar Heidi (1926–2010) und Peter Wenger (1923–2007)<br />
Jürg Brühlmann<br />
Wer die Furkastrasse in <strong>Brig</strong> nach Süden schauend<br />
entlang geht und kurz vor dem Sebastiansplatz nach<br />
rechts in den Hinterhof einbiegt, steht unvermittelt<br />
vor einem blau-weissen Holzhaus, thronend auf einem<br />
weissen Sockel aus Beton: Das Atelier Wenger<br />
(Abb. 17). Das Haus mutet unscheinbar an, keine<br />
grosse Architekturgeste, sympathisch und fast normal.<br />
Steigt der Besucher das für die 1950er <strong>Jahre</strong> typische<br />
Treppenhaus hoch bis in den dritten Stock,<br />
steht er unvermittelt vor einer gelben Tür, klein angeschrieben<br />
mit «Heidi und Peter Wenger Architekten<br />
ETH BSA SWB». Dahinter findet sich das ehemalige<br />
Architekturbüro Wenger. Mehr als 50 <strong>Jahre</strong> lang<br />
hat das Architektenpaar in seinem Atelier mit Worten<br />
und Taten Gegen entwürfe zur weit verbreiteten<br />
Lebensnorm entwickelt. Unkonventionell haben die<br />
Wengers eine Welt erkundet und geformt, die sich in<br />
Vielem von schweizerischen und erst recht von gängigen<br />
Oberwalliser Vorstellungen abhob. 1<br />
Heidi wurde 1926 als Tochter von Karl Dellberg (1886–<br />
1978), des prominenten Walliser Sozialisten, geboren<br />
und wuchs in <strong>Brig</strong> auf. Sie absolvierte eine französischsprachige<br />
Matura in Siders und begann 1948 als<br />
eine der wenigen Frauen an der ETH Zürich Architektur<br />
zu studieren. Peter wurde 1923 in Münchenstein<br />
bei Basel geboren. Er studierte zunächst zwei Semester<br />
Maschinenbau, bevor er ebenfalls 1948 an der ETH<br />
ein Architekturstudium in Angriff nahm. Heidi und<br />
Peter Wenger müssen sich in den Vorlesungen von<br />
Hans Hofmann begegnet sein, sie verliebten sich und<br />
wurden ein Paar. 1952 kamen sie nach Abschluss ihrer<br />
Studien als diplomierte Architekten nach <strong>Brig</strong> – das<br />
heisst Peter folgte Heidi ins Oberwallis. Der Start der<br />
jungen Architekten gelang fulminant. Dem Evangelischen<br />
Kindergarten, ihrem ersten Bauprojekt, folgte<br />
das Wohnhaus Bellavista mit angrenzendem Restaurant,<br />
die Grenzsanität am <strong>Brig</strong>er Bahnhofplatz, ein<br />
Mehrfamilienwohnhaus mit Ladengeschoss an der<br />
Furkastrasse, ein Wohnhaus auf der Biela, das Wohnund<br />
Geschäftshaus Pacozzi ebenfalls an der Furkastrasse<br />
in <strong>Brig</strong> und das Atelier Wenger über dem Lagerhaus<br />
Pacozzi sowie 1955 das Trigon, ihr Ferienhaus<br />
auf dem Rosswald (Abb. 18).<br />
In vier <strong>Jahre</strong>n schufen Heidi und Peter Wenger ein<br />
stattliches Portfolio. Doch dann folgte eine Phase<br />
des sich Hinterfragens, ein Bruch: «Ist das nun das<br />
Bauen, wie wir es uns vorgestellt haben?» Die beiden<br />
verabschiedeten sich von der Architekturszene,<br />
denn sie wollten nun mehr erreichen als nur möglichst<br />
viel zu bauen. Es war eine Zeit der Unsicherheit,<br />
die vom Suchen nach neuen Vorbildern geprägt war.<br />
Heidi und Peter wollten den von der ETH vorgezeichneten<br />
Pfad verlassen und das Nacheifern der grossen<br />
Meister (Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Alvar<br />
Aalto oder Arne Jacobsen) aufgeben. Sie schlossen<br />
ihr Atelier für einige <strong>Jahre</strong>, widmeten sich der Suche<br />
nach neuen Inhalten und bemühten sich um eine<br />
Veränderung in der Architektur. Mit der Errichtung<br />
des Ferienhauses Trigon und ihres Atelierhauses in<br />
<strong>Brig</strong> hatten sie zwar bereits neue Türen aufgestossen,<br />
doch waren sie sich dieser Wende damals noch<br />
nicht bewusst. Heidi und Peter Wenger entdeckten<br />
die Strukturen der Mathematik, der Geometrie, der<br />
Astronomie, der Physik, der Musik, der Bewegung, der<br />
Sprache und des Tanzes. In Amerika fanden sie neue<br />
Vorbilder in Frank Lloyd Wright, Richard Buckminster<br />
Fuller, in Charles und Ray Eames und in Konrad<br />
Wachsmann, dem aus Deutschland geflohenen Architekten.<br />
Ihr Beruf erlangte wieder Sinn und Perspektive.<br />
Die Zusammenarbeit mit Hans Brechbühler<br />
225<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 17: Das Atelier<br />
Wenger in <strong>Brig</strong><br />
226<br />
in Bern von 1958 bis 1961 und mit Alberto Camenzind<br />
für die Expo 64 ermöglichte ihnen über die gemeinsam<br />
bearbeiteten Wettbewerbe hinaus, ihre Vorstellungen<br />
vom Leben, von Struktur und Raum umzusetzen.<br />
Zwischen 1955 und 1965 fanden Heidi und Peter<br />
Wenger auch als Architekten einen neuen Zugang<br />
zum Bauen. Sie definierten den gebauten Raum als<br />
eine grosse Hülle, die Baukon struktion und das Baumaterial<br />
als Schmuck und die Funktion als eine sich<br />
stets wandelnde Aufgabe, die sich allein an den Lebensbedürfnissen<br />
der Gebäudenutzer und -bewohner<br />
zu orientieren hatte. Es ist daher bezeichnend,<br />
dass sie ihre Ende der 1970er <strong>Jahre</strong> realisierte Ausstellung<br />
«Lebensräume-Spielräume» nannten. Über<br />
ihre Definition des Spielraums öffneten sich neue<br />
Formen für Hüllen, Räume und Raumbezüge. Auf ihren<br />
Reisen trafen die Wengers im damals fremden<br />
und fernen China auf reale Umsetzungen ihrer Idealvorstellungen<br />
von Raum und Zeit. Gemeinsam mit<br />
Werner Blaser durchforsteten sie das Land. In dieser<br />
Zeit begann Heidi Chinesisch zu lernen, um mit<br />
dem Pinsel die Formen der Schriftzeichen zu verstehen.<br />
Peter dokumentierte ein heute verschwundenes<br />
China. Weit über 1000 Bilder wurden im kleinen Fotolabor<br />
im Atelier Wenger entwickelt, kopiert, vergrössert,<br />
nummeriert, katalogisiert und abgelegt für das<br />
eigene Archiv des Wissens.<br />
Am Ende der 1960er <strong>Jahre</strong> setzte eine neue Phase im<br />
Atelier ein. Heidi und Peter überarbeiteten den Wettbewerbsentwurf,<br />
mit dem sie den ersten Preis für das<br />
Kinderdorf St. Antonius in Leuk (Abb. 19) gewonnen<br />
hatten. Als Fundament des Grundrisses nutzten sie<br />
durchgehend den 120 Grad Winkel. Zweiflüglig biegt<br />
sich die 1970 bis 1972 erstellte Anlage dem Rebberg<br />
entlang und entfaltet Raum und Zwischenraum dem<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 18: Das Ferienhaus<br />
Trigon auf dem Rosswald<br />
Rhonetal und der Sonne zugewandt, einem Origami<br />
ähnlich. Die Gebäudevolumen sind in überschaubare<br />
Pavillons mit ausladenden Dächern auf verschiedenen<br />
Terrassen gegliedert. Die Vorplätze breiten sich<br />
stufenartig aus und gehen sanft ins Gelände über.<br />
Die Konstruktion in Holz und Beton gibt der Anlage<br />
eine gelassene Heiterkeit und Selbstverständlichkeit.<br />
1982 wurde die Anlage um eine pagodenförmige<br />
Mehrzweckhalle aus Holz erweitert. Im Kinderdorf als<br />
Lebens- und Spielraum hat der architektonische Wille<br />
von Heidi und Peter feste Form angenommen. Er<br />
fasziniert bis heute in seiner Ursprünglichkeit. Noch<br />
2010 meinte Heidi Wenger, das Kinderdorf sei ihr bestes<br />
Gebäude. Hier hätten sie ihre Ideen gültig und<br />
klar umsetzen können.<br />
Dem Kinderdorf folgte 1972 bis 1974 die kühne Konstruktion<br />
der Postgarage im <strong>Brig</strong>er Rhonesand. Das<br />
weit gespannte, vorfabrizierte Betondach der Garage<br />
ruht auf wenigen Stützen (Abb. 20). Dadurch können<br />
die langen Postautos problemlos wenden, parkieren,<br />
in die Waschanlage fahren oder für den Service aufgebockt<br />
werden. Über dem gefalteten Dach schwebt ein<br />
Turm mit vier Wohngeschossen, die über Liftschacht<br />
und Treppenhaus mit dem Erdgeschoss verbunden<br />
sind. Die an ein Tankschiff erinnernde Gebäudestruktur<br />
und die Materialisierung geben der Garage einen<br />
kräftigen, plastischen Ausdruck. Es ist wohl eines der<br />
gelungensten modernen <strong>Brig</strong>er Gebäude.<br />
Am Genfersee, in Changins bei Nyon, bauen die Wengers<br />
1970 bis 1975 das Schweizerische Forschungszentrum<br />
für Agronomie. Die Verwandtschaft zur Postgarage<br />
sticht ins Auge. Das gefaltete Dach haben die<br />
Architekten weiterentwickelt, indem es multifunktional<br />
mit Installationskanälen, Lüftungsschächten,<br />
227<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 19: Das Kinderdorf<br />
in Leuk<br />
228<br />
Beleuchtungsbändern und Lichtinstallationen versehen<br />
wurde. Der Grundriss der städtisch anmutenden<br />
Anlage basiert auf zwei sich überlagernden Rechteck-Rastern.<br />
Dieses Prinzip wird das Architektenpaar<br />
<strong>Jahre</strong> später, um eine 90 Grad Drehung verfeinert, bei<br />
der Errichtung des Fortbildungszentrums in Tramelan<br />
wieder aufnehmen. Dem Raster als Grundstruktur<br />
der Architektur bleiben Heidi und Peter Wenger<br />
von da an treu.<br />
Zu Beginn der 1970er <strong>Jahre</strong> herrscht reger Betrieb im<br />
Atelier Wenger. Zeitweise arbeiten zwischen zwölf<br />
und zwanzig Mitarbeiter im kleinen Büro, so dass die<br />
Wohnfläche ebenfalls als Büro genutzt werden musste.<br />
Bei Heidi und Peter Wenger existierte ohnehin keine<br />
Trennung zwischen Architektur- und Privatleben.<br />
Gelassen kommentierten sie aus späterer Perspektive<br />
diese trotz weltweitem Erdölschock und Schweizer<br />
Baukrise betriebsame Zeit. Die Wengers erhielten<br />
etwa einen Auftrag der PTT zur Errichtung der Bodenstation<br />
der Satelliten in Leuk-Brentjong. Diesen bauten<br />
sie als grossen, stützenfreien Raum, denn die Infrastruktur<br />
der Station wurde auf eine Veränderung<br />
und Anpassung der Gegebenheiten hin ausgelegt.<br />
Die Wengers wählten das Mero-System, eine Stahlstruktur,<br />
die auf dem Tetraeder basiert, um die grossen<br />
Spannweiten zu überbrücken. Die flache, kaum<br />
aus dem Boden ragende Anlage baut auf einem<br />
60 Grad gewinkelten Grundriss auf. Sie duckt sich<br />
ins Gelände und wird nur von Süden her mit einer<br />
eleganten Sockelmauer sichtbar. Einzig die weissen<br />
Satellitenantennen, die Masten der Sendeanlage und<br />
der kugelförmige Ausstellungspavillon bilden ein<br />
bereits aus der Ferne erkennbares Ensemble in der<br />
Berg landschaft. Auch die Ausstellung mit Schautafeln,<br />
Modellen und Dia-Projektionen über die Schwei-<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
Abb. 20: Die Postgarage<br />
im <strong>Brig</strong>er Rhonesand<br />
zer Fernmeldetechnik im Weltraum hat das Atelier<br />
Wenger entworfen, geplant und gebaut. Leider ist sie<br />
mit dem Verkauf der Anlage an die Amerikaner abgebrochen<br />
und zerstört worden.<br />
Das letzte grosse Projekt von Heidi und Peter war<br />
das CIP, das Fort- und Weiterbildungszentrum des<br />
Kantons Bern in Tramelan. 1979 gewannen sie den<br />
ausgeschriebenen Wettbewerb. 1986 begannen sie<br />
mit dem Aushub. Der Bau schritt nur langsam voran<br />
und wurde nach fünfjähriger Bauzeit 1991 fertiggestellt.<br />
Die Anlage basiert auf einem verdrehten<br />
Quadratraster und ist pavillonartig ins Gelände gesetzt.<br />
Die weis se Gebäudehülle mit der leuchtend<br />
gelben umlaufenden Stahlkonstruktion wirkt wie<br />
ein auf der Wiese gelandetes Raumschiff. Es erinnert<br />
an Buckminster Fullers Buch «Raumschiff Erde». Das<br />
Zentrum dient bis heute als Bildungshaus, Ausstellungshalle,<br />
Dorfbibliothek und Hotel in nahezu unveränderter<br />
Form. Peter Wenger bezeichnete das CIP<br />
dereinst als das Meisterwerk Heidis und seines Architektenlebens.<br />
Es ist kein Zufall, dass Heidi und Peter Wenger 2003<br />
ihre Ausstellung in Sitten «50 <strong>Jahre</strong> lebendige Architektur»<br />
nannten. Die Fähigkeit zu eigenständigem<br />
Denken und eigenverantwortlichem Handeln stellte<br />
für das ungewöhnliche Architektenpaar stets die<br />
Grundlage ihrer Architektur und ihrer Beziehung dar.<br />
Dem Kompromiss schworen sie ihr ganzes Leben lang<br />
ab. Dafür bewunderte sie die Architekturszene; diese<br />
Haltung bescherte ihnen aber auch Feinde. Heidi und<br />
Peter Wenger lebten und arbeiteten mehr als 50 <strong>Jahre</strong><br />
in <strong>Brig</strong> – im Grunde waren sie jedoch nicht selten<br />
auf einem andern Stern zu Hause.<br />
229<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte
230<br />
Kapitel 6 – Bevölkerungsgeschichte