Kurzgeschichte_SOLO_ReyAnton
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Solo<br />
Man hätte sich nicht einmal etwas einfallen lassen müssen,<br />
eine Ausrede, und selbst wenn, hätte man sagen können,<br />
man sei an diesem Wochenende schon verabredet,<br />
habe Termine, müsse nach L., um jemandem beim Umzug<br />
zu helfen, oder einfach: nein danke, man freue sich,<br />
dass man in Betracht gezogen worden sei, es gehe aber<br />
nicht, vielleicht bei anderer Gelegenheit.<br />
Jedenfalls wäre es besser gewesen, den Weg nicht zu<br />
machen, die Einladung auszuschlagen – rückblickend.<br />
Doch man legte zuhause das Cello in den Kasten, etwas<br />
Wäsche, den Pyjama in den Rucksack, die Zahnbürste,<br />
einige Beutel Aspégic Forte gegen allfällige Kopfschmerzen<br />
und die Schachtel Imovane, falls man keinen Schlaf<br />
fände wie oft in ungewohnter Umgebung; tags darauf<br />
sollte man wieder munter wirken, in der Gesellschaft<br />
eine gute Falle machen, darum packte man das alles ein,<br />
begab sich zum Bahnhof, fuhr mit der S-Bahn zwischen<br />
die Hügel, stieg in E. ins Postauto und nahm von der Haltestelle<br />
bei der Abzweigung in ein Seitental das Strässchen<br />
unter die Füsse. Die andern waren mit dem Auto<br />
angereist und bereits oben, man hat keines, aber Prinzipien,<br />
und darum das Angebot: «Ruf’ an, wenn du unten<br />
bist» abgelehnt: «Nein, das schaff’ ich noch.» Und auf<br />
den Einwand: «Aber du nimmst doch das Cello mit, hast<br />
ein Cello dabei» gesagt: «Klar, den Kasten häng’ ich mir<br />
über die Schulter.»<br />
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Nun trug man ihn in der einen Hand, weil schon der<br />
Rucksack an den Schultern zog, die Sonne brannte,<br />
Schweiss floss von der Stirn, man versuchte, im Schatten<br />
der Bäume zu bleiben, kletterte auf den leeren Kapseln<br />
der Bucheckern vom letzten Jahr, die sich am Rand des<br />
rutschigen Schotterwegs versammelt hatten, bergan.<br />
– Wenn jetzt ein Auto käme, nähme man gerne darin<br />
Platz.<br />
Das Cello ist an und für sich leicht. Aber der Kasten<br />
blödsinnig schwer. Doch ist er nötig, weil es zu einem<br />
Stimmriss führt, wenn das Instrument ohne Kasten, nur<br />
mit einer Hülle drum gegen eine Ecke stösst oder gar<br />
zu Boden fällt. In der Stadt ist die Last kaum spürbar,<br />
aber auf dem Land, wenn’s dazu noch bergauf geht. Wohl<br />
darum gibt’s in abgelegenen Gegenden nicht so viel Kultur,<br />
weil hier alles sehr gewichtig wird. Oben angekommen<br />
wird man gleich das Hemd wechseln müssen; nicht<br />
nur in den Achselhöhlen, auch auf dem Rücken, wo der<br />
Rucksack das Tuch gegen die Haut presst, machen sich<br />
Schweissflecken breit. –<br />
Zwar kannte man den Weg ungefähr, war ihn vor geraumer<br />
Zeit schon mal gegangen, einfach um zu schauen,<br />
wo dieses Haus steht, jedoch ohne Gepäck. Doch so hatte<br />
man den Aufstieg nicht in Erinnerung: endlos und steil<br />
wie eine Eigernordwand.<br />
Jetzt noch anzurufen für den Taxidienst wär’ ein Gesichtsverlust<br />
gewesen, also biss man die Zähne zusammen,<br />
nahm sich vor, sich nichts anmerken zu lassen, easy<br />
und gut gelaunt zu wirken, versuchte, den Ärger darüber,<br />
dass man wieder sich selbst auf den Leim gekrochen war,<br />
zu vergessen.<br />
In den ersten Jahren als Neuzuzüger in dieser Stadt<br />
hatte man keinen Zugang zur Welt der alteingesessenen<br />
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egüterten Kreise gehabt. Dass es solche reiche Leute gab,<br />
wusste man schon, schliesslich wurden sie ab und zu erwähnt.<br />
Kollege R. – Kollege in Anführungszeichen – erzählte<br />
jeweils montags in der Morgenpause mit vor Stolz<br />
geschwellter Brust davon, wenn er das Wochende als Gast<br />
der von W. auf der Oberheitere verbracht hatte. Gab zu<br />
verstehen, dass er mit der Familie, die ihre Sommerfrische<br />
in den Hügeln seit Jahrhunderten von einer Generation<br />
zur andern weitergab, gut befreundet sei. Eben darum<br />
war man vor einiger Zeit schon dort oben vorbeigegangen,<br />
einfach so, bei einem Spaziergang über Land, um<br />
diese Oberheitere zu sehen, wo man als Auserwählter in<br />
den Genuss grosszügiger Gastfreundschaft käme: recht<br />
abgelegen, aber mit toller Aussicht, Wohnhaus für den<br />
Pächter und Stallungen, ein riesiges Chalet im Laubsägestil<br />
etwas abgesetzt davon am Waldrand, wohl damit<br />
die Fliegen aus dem Kuhstall nicht direkt auf die Konfitüre<br />
der Herrschaften flögen. Man näherte sich nicht,<br />
ging lediglich in einiger Ferne vorbei. Hingehen war sowieso<br />
verboten, über die Zufahrt ein Schlagbaum, dran<br />
ein Schild: «Privat». Aber mit dem Fernglas konnte man<br />
gut die Veranden betrachten, umlaufend, menschenleer,<br />
Fensterläden geschlossen.<br />
Man kommt aus bescheidenen Verhältnissen, wurde<br />
nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren,<br />
träumt ab und zu schon davon, dass einem auch etwas<br />
zufällt, ohne dass man sich danach strecken, sich dafür<br />
abstrampeln muss, möchte hie und da wenigstens ein bisschen<br />
Glanz geniessen, der, so meint man jedenfalls, auf<br />
einen abstrahlt in Gesellschaft solcher angesehener Leute<br />
mit altem Geld. Drum wohl die Zusage. Und indirekt<br />
verdankte man R. die Einladung, oder besser gesagt, hat<br />
sie eben nicht verdankt.<br />
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Die Aufforderung, das Cello mitzunehmen, kam von Vera<br />
von W., der Hausherrin. So hoffte man, Gelegenheit zu<br />
haben, mit ihr ein Duett zu spielen, es gab einiges, was<br />
von den technischen Anforderungen her drin lag. Jedenfalls<br />
hatte man vorsorglich geeignete Noten kopiert und<br />
mit dabei, und den eigenen Part zuhause bereits ein bisschen<br />
geübt.<br />
«Für alle Fälle das Cello mitnehmen», hatte sie gesagt.<br />
R. habe jeweils die Handorgel dabei. Man hätte sie gerne<br />
gefragt, ob sie mit der Geige ... Das war gleich nach dem<br />
letzten Konzert, da kam ihr Mann dazu. Ihm war man<br />
zuvor noch nie direkt begegnet. Lediglich von weitem<br />
gesehen hatte man ihn hie und da, wenn er die Konzerte<br />
besuchte. Sie machte einen bekannt. Ja ja, er habe den<br />
Namen schon gehört, man käme ja vielleicht auch auf die<br />
Oberheitere, übernächstes Wochenende, habe ihm seine<br />
Frau mitgeteilt, so viel er wisse. Vera von W. spielt im<br />
selben Laienorchester – jedes Jahr ein Kirchenkonzert mit<br />
Chor, das füllt die Bänke, wenn alle Mitwirkenden zwei,<br />
drei Angehörige als Zuhörer aufbieten, und ein normales,<br />
meist etwas schlechter besucht – bei den Geigen, mit denen<br />
hat man sonst nicht viel zu tun, weiss teilweise kaum<br />
deren Namen. Richtig mit ihr ins Gespräch kam man erst,<br />
als sich nach einer Probe zufällig herausstellte, dass man<br />
einen gemeinsamen Bekannten hat, eben R. Er habe mit<br />
ihrem Mann das Gymnasium besucht und sei schon oft<br />
bei ihnen zu Gast gewesen. Das wusste man ja, weil R.<br />
danach stets ausgiebig davon erzählt hatte. «Ehemaliger<br />
Kollege», hat man bemerkt, man arbeite seit einer Weile<br />
nicht mehr im selben Betrieb, und gedacht: Kollege?<br />
Schon, wenn damit lediglich jemand bezeichnet wird,<br />
der am selben Ort arbeitet. Aber kein guter. Er gönnte<br />
niemandem nur eine einzige Lorbeere, neidete jedem den<br />
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Dreck unter den Fingernägeln. Seit man sich selbständig<br />
gemacht hatte, rief er ab und zu an, erkundigte sich nach<br />
dem Geschäftsgang, aber nur, weil er schon zuvor aus<br />
dritter Hand erfahren hatte, dass es nicht besonders lief. –<br />
Gleich duschen geht wohl nicht, vermutlich hat’s nur<br />
eine Gästedusche auf dem Gang und im Zimmer nicht<br />
mal ein Lavabo, wo man sich frisch machen kann vor dem<br />
Abendessen.<br />
Es war jetzt vier Uhr, man brauchte noch eine halbe<br />
Stunde bis zum Haus, macht halb fünf. In den zwei Stunden<br />
bis zum Abendessen könnte man das Cello auspacken<br />
und sich etwas einspielen, sobald die Finger trocken sind.<br />
---<br />
Oben waren alle schon da, auch R. mit seiner Hohner.<br />
Orgelt nicht schlecht, bei jeder Gelegenheit, auswendig<br />
nach Gehör. Wahrscheinlich ist das auf der Ziehharmonika<br />
nicht schwierig.<br />
Mit ihm zusammen etwas spielen kam nicht in Frage,<br />
weil man nicht gern improvisiert; liegt einem nicht, da<br />
wär’ die Handorgel vorne und das Cello an der Wand.<br />
Nach dem Zimmerbezug hat man sich mit einem<br />
Frottétuch etwas trocken gerieben und ein frisches Hemd<br />
angezogen, dann das Cello aus dem Kasten genommen,<br />
gestimmt und mit Spielen angefangen, Bach, bei offener<br />
Türe. Drauf streckten einige den Kopf rein, hörten zu,<br />
Vera von W. auch, und zuletzt R.<br />
Schon bei den ersten Tönen G-D-H-A: ruhige Hand.<br />
Der Bogen flattert nicht. Die Läufe klingen kraftvoll und<br />
geschmeidig. Ein schönes Gefühl! Man wüsste niemanden,<br />
der es nicht mag, wenn er im Zentrum ist und ihm<br />
etwas gelingt.<br />
Da tritt R. näher.<br />
Hält die Hand hin. Gegen die Bogenspitze. Dort, wo<br />
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sie hin müsste beim Aufstrich. Sagt: «Fertig. Du bist jetzt<br />
nicht dran.»<br />
Klar ist fertig.<br />
Doch das lässt man sich nicht gefallen.<br />
– Hätte man aber müssen. –<br />
Man legte das Cello in den Kasten zurück, den Bogen<br />
dazu.<br />
Die Zuhörer verzogen sich. Nur R. blieb. Stand da,<br />
nicht hämisch grinsend oder triumphierend, einfach da.<br />
Man war durchgefallen, hatte mittendrin den Faden<br />
verloren, hätte einfach Abstrich machen können, wenn<br />
Aufstrich nicht ging, so viel an Improvisation sollte jedem<br />
zumutbar sein.<br />
– Vielleicht dachte er nicht mal, was einem selbst durch<br />
den Kopf ging. –<br />
Als der Kasten geschlossen war, packte man ihn an der<br />
Hemdbrust und verpasste ihm eine Ohrfeige. Nicht richtig<br />
fest, eher symbolisch.<br />
Er lachte nur, allerdings etwas verlegen.<br />
Darauf musste man gehen, das war klar. An ein gemütliches<br />
Beisammensein im Haus der von W. war so<br />
jedenfalls nicht mehr zu denken.<br />
Das Wenige, was man schon ausgepackt hatte, war<br />
schnell wieder im Rucksack.<br />
Den Gastgebern erklärte man: «Entschuldigt, aber man<br />
lässt auch nicht alles durch.»<br />
Sie schauten verdutzt. «Das ging einfach zu weit. Er ist<br />
zu weit gegangen», schiebt man noch nach.<br />
– Zwar kannte man R. ja. Man hätte auf so was gefasst<br />
sein müssen. Hätte man schlecht gespielt, hätte er es nicht<br />
getan. Er hätte sich gefreut. Dass man gut spielte, hielt er<br />
nicht aus. Ein Kollege, dem etwas gelingt, darf in seinen<br />
Augen nicht sein. Wahrscheinlich befürchtete er, man<br />
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mache ihm die musikalische Platzhirschposition streitig.<br />
Klar: Dreinschlagen ist primitiv. Zum Glück hat niemand<br />
das Ohrfeigen gesehen.<br />
Wahrscheinlich wird jetzt über einen geredet. R. sagt<br />
wohl, man verstünde keinen Spass, sei sofort eingeschnappt,<br />
eine beleidigte Leberwurst. Die Ohrfeige behält<br />
er für sich, dachte man auf dem Weg zurück zur<br />
Postautohaltestelle. –<br />
Zwei Tage später dann ein Anruf von Vera: «Schade,<br />
dass du abgereist bist. Aber besser für dich. So ist dir viel<br />
erspart geblieben.»<br />
Es sei schlimm gewesen, für alle ein Schock, man könne<br />
von Glück reden, dass man’s nicht miterleben musste,<br />
und habe da eine gute Nase gehabt; es sei kein erholsames,<br />
sondern ein trauriges Wochenende geworden.<br />
Das «erspart geblieben» hat man überhört. Hat gesagt:<br />
«Ja, schon traurig», in der Meinung, es beziehe sich auf<br />
den vorzeitigen Abgang. Aber schlimm? Schock? Übertrieben!<br />
Drum hat man erwidert, man hätte einen ja wohl<br />
schnell vergessen.<br />
Vera: «Also nicht, dass du meinst, es gäbe dir jemand<br />
die Schuld.»<br />
Man sagte drauf, das wolle man auch hoffen. Man hätte<br />
auf so etwas gefasst sein müssen, da man R. ja kenne,<br />
möglicherweise habe man schon etwas überreagiert.<br />
Sie: «Herzversagen.»<br />
«Genau, und der Verstand oder jedenfalls der Anstand<br />
versagt ihm auch immer wieder», ereifert man sich.<br />
Sie: «Du kommst wohl nicht an die Beerdigung?»<br />
«An welche Beerdigung?» –<br />
Langsam dämmert’s einem.<br />
Tot sei er im Bett gelegen, als man am Sonntagmorgen<br />
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gegen elf in seinem Zimmer nachschaute, weil er nicht<br />
zum Frühstück kam.<br />
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An einer Ohrfeige stirbt man nicht.<br />
Ihm noch eine runterhauen sollte man.<br />
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