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Die Stufe 166

Jugend Zeitschrift "Die Stufe 166"

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Im Brennpunkt<br />

Vom Glück des (Selber-)Machens<br />

Was Hand-Werk und Kreativität heute für uns bedeuten<br />

Das (selber) Machen ist für mich<br />

schon seit ich denken kann ein wichtiges<br />

Thema. Schon im Kindergarten<br />

und in der Schule waren meine<br />

Hände in ständigem Einsatz. Äpfel<br />

auf der Wiese der Oma ernten und<br />

Apfelmus einkochen waren schon<br />

damals so selbstverständlich wie<br />

das Herstellen von etwa 50 bis 100<br />

Gläsern Marmelade über das ganze Jahr verteilt.<br />

<strong>Die</strong>ses (selber) Machen zieht sich spätestens seit meinem<br />

freiwilligen ökologischen Jahr, das ich auf einem Biolandhof bei<br />

Tauberbischofsheim gemacht habe, wie ein roter Faden durch<br />

mein Leben. Im Studium wurde aus der Not eine Tugend gemacht<br />

und für die ganze WG Sauerkirschen und Zwetschgen<br />

eingekocht. Zu dieser Zeit<br />

sind auch unzählige Rezepte<br />

für Chutneys und süß/<br />

sauer eingelegte Kürbisse,<br />

rote Beete und Zucchini<br />

entstanden. Keine Diskussion<br />

in unserer Studenten WG<br />

war, dass wir das komplette<br />

Haus vor unserem Einzug<br />

selbst streichen und auch<br />

die Netzwerkverkabelung<br />

selbst machen. Ja, damals<br />

haben wir noch in alle Räume<br />

Kabel gezogen und mit einer<br />

speziellen Zange an die Stecker angebracht.<br />

Mittlerweile haben wir ein eigenes Haus und einen großen<br />

Garten, in dem fünf Hühner leben und uns mit Eiern versorgen.<br />

Spätestens seit unserer Umbauaktion weiß ich, dass meine<br />

Hände sehr viel mehr leisten können, als ich es bis dahin<br />

angenommen habe. Wände einreißen, Fachwerkbalken abschleifen,<br />

Kabel verlegen, Gipsen, Streichen, Böden einbauen,<br />

Fenstersimse und Zimmerdecken einbauen, dies alles hat zwar<br />

viel Zeit und Mühe gekostet, erfüllt mich aber mit großem Stolz!<br />

Aber warum eigentlich? In GEO 08/2015 schreibt Hanne<br />

Tügel, dass wir wiedererkannt hätten, dass die Verrichtungen<br />

von gestern bei uns „teuflisch viel Vergnügen, Befriedigung<br />

und Stolz“ hervorrufen. In unserem Alltag sind viele Menschen<br />

damit beschäftigt, digitale Daten hin und her zu schieben und<br />

brauchen hierzu einen richtigen Gegenpol.<br />

Während meines Studiums habe ich für solche Erzählungen<br />

nur ein mitleidiges Grinsen von meinem Gegenüber erhalten<br />

und noch vor vier Jahren waren wir als Hühnerhalter absolute<br />

Exoten. Mittlerweile sind Hühner im eigenen Garten „in“ und<br />

„cool“. In Zeiten vieler Lebensmittelskandale hat ein Umdenken<br />

stattgefunden. Was früher als verschroben galt, erfährt<br />

heute neue Anerkennung. Darauf deuten auch Begriffe wir<br />

„Urban Gardening“, im übertragenen Sinne das Unterhalten<br />

eines Schrebergartens und „Maker Space“ als neuer Begriff<br />

für die Werkstatt oder den Hobbyraum [GEO 08/205] hin.<br />

Selbstverständlich kann ich auch eine Nähmaschine bedienen<br />

und so sind im letzten Jahr kleine Tüllsäckchen als<br />

Weihnachtsgeschenk für Freunde und Verwandte entstanden.<br />

<strong>Die</strong>se Tüllsäckchen passen in jede Handtasche und können<br />

beim Einkauf im Supermarkt oder auf dem Markt die verhasste<br />

Plastiktüte ersetzen. In diesem Jahr stehen natürlich neue<br />

Projekte auf der Liste:<br />

Einen Teil der Weilheimer<br />

Süßkirschen habe ich<br />

bereits zu kandierten<br />

Kirschen verarbeitet und<br />

der Apfelsaft, der bisher<br />

lediglich als solcher getrunken<br />

wurde, soll nun<br />

auch den ersten eigenen<br />

Most ergeben.<br />

Wirft man hierzu einen<br />

Blick auf die 200<br />

000 Jahre währende<br />

Menschheitsgeschichte,<br />

so wird auch der „Do-it-yourself“<br />

Boom verständlicher. In 99,85% der Menschheitsgeschichte<br />

hat der Mensch sich und seine Entwicklung lediglich<br />

mit Muskeln, Hand und Hirn vorangebracht. Erst seit etwa 250<br />

Jahren, seit Erfindung der Dampfmaschine ist unsere nächste<br />

Umgebung mit Maschinen und Automaten vollgestellt, die uns<br />

das Leben erleichtern sollen [GEO 08/2015].<br />

Ich fühle mich, wenn ich die Nähmaschine auspacke und<br />

mal wieder an einer kniffeligen Stelle bei der Reparatur eines<br />

Lieblingskleidungsstücks hängen bleibe, schon manchmal<br />

etwas hilflos. Wenn mein Freund dann noch sagt, dass ich<br />

das Teil doch einfach wegwerfen soll, weiß ich aber sofort<br />

wieder warum ich genau das nicht machen will. Es ist meine<br />

unterbewusste Sehnsucht nach Entschleunigung. Es geht mir<br />

nicht darum, an etwas herum zu pfuschen, das andere (eine<br />

professionelle Schneiderin) in kürzerer Zeit und besser erledigen<br />

könnten. Es geht mir darum, ein Kleidungsstück, das<br />

vielleicht ein kleines Loch hat, nicht sofort in die Tonne zu<br />

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