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Eine Nacht vor Weihnachten

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<strong>Eine</strong> <strong>Nacht</strong><br />

<strong>vor</strong> <strong>Weihnachten</strong><br />

MieDie<br />

Grafik: Christos Georghiou/Dollarphotoclub.com


Es war die <strong>Nacht</strong> <strong>vor</strong> <strong>Weihnachten</strong>. Es war eine <strong>Nacht</strong>, gerade wie diese heute. Die Gassen des<br />

kleinen Ortes Bethlehem waren den ganzen Tag in hektischer Betriebsamkeit gefüllt gewesen. Zahlreiche<br />

Fremde hatten sich die Klinken der wenigen Herbergen in die Hand gegeben und nach einem<br />

Schlafplatz für die <strong>Nacht</strong> gesucht. Seit Tagen schon gab es in der kleinen Stadt ein reges Kommen<br />

und Gehen. Kaum wurde ein Bett frei, war es auch schon wieder belegt. Die Gastwirte rieben sich<br />

die Händchen. Sie machten ein Geschäft wie noch nie zu<strong>vor</strong>. Die Leute ließen sich die Unterkunft<br />

etwas kosten und sparten auch nicht an Essen und Getränken. Man traf Familienangehörige, die<br />

man schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und alte Bekannte. Man aß und trank, sobald<br />

man sich hatte registrieren lassen. Denn das war der eigentliche Grund der Reise: die große<br />

Volkszählung.<br />

Bethlehem war auch das Ziel eines jungen Paares, das sich aus Nazareth auf den langen Weg<br />

gemacht hatte. Miriam und Yossef hatten sich gut <strong>vor</strong>bereitet. Das war auch nötig, denn die junge<br />

Frau war hochschwanger. Das Gehen fiel ihr schwer. Und so kamen sie nur langsam <strong>vor</strong>an. Über<br />

zwei Wochen waren sie unterwegs. Manchmal fanden sie eine Unterkunft zur <strong>Nacht</strong>, manchmal<br />

nicht. Dann schlüpften sie in einen Stall und machten sich ein Lager aus Heu. Wenn es dunkel wurde,<br />

kuschelten sie sich aneinander, erzählten sich Geschichten aus Zeiten, in denen sie sich noch<br />

nicht gekannt hatten, oder malten sich die Zukunft aus. Auch in dieser <strong>Nacht</strong>, in der <strong>Nacht</strong> <strong>vor</strong> <strong>Weihnachten</strong>,<br />

schliefen sie im Heu. In der ganzen Gegend war kein Bett mehr zu bekommen gewesen.<br />

Also waren sie froh, als sie den Stall in der Nähe von Bethlehem gefunden hatten. Miriam war von<br />

den Strapazen des Tages heute besonders mitgenommen. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf den<br />

großen Heuhaufen sinken, den Yossef aufgeschüttet hatte. Das Baby bewegte sich in ihrem Bauch.<br />

Und immer wieder fühlte sie ein Ziehen im Rücken. Doch das wollte sie Yossef nicht verraten. Er<br />

sollte sich keine Sorgen machen. Draußen wurde es empfindlich kühl. Yossef rollte die Decke aus.<br />

Sie war in den letzten Wochen staubig und dreckig geworden. In Bethlehem würden sie sich nach


einer neuen Decke umsehen müssen. Doch für heute war sie noch einmal gut genug. Sie bot Schutz<br />

gegen die Kälte. Und das genügte. Miriam legte ihren Kopf an Yossefs Schulter. Hinter ihrer Stirn<br />

klopfte Schmerz. Der Stall war alt und roch nach Schafen. Vermutlich waren sie früher am Tag an<br />

ihnen <strong>vor</strong>beigekommen. <strong>Eine</strong> Gruppe Hirten hatte auf einer Weide beisammengesessen und das<br />

Mittagessen mit ihnen geteilt. „Morgen sind wir in Bethlehem“, sagte Yossef, „und dann sehen wir zu,<br />

dass wir schnell wieder nach Hause kommen.“ Miriam hatte gelacht. „Ja, das ist eine gute Idee. Viel<br />

Zeit haben wir nicht mehr.“<br />

Yossef blickte an die Stalldecke. Durch einen Ritz konnte er einen hellen Stern entdecken. Sonst war<br />

alles dunkel um sie her. Wie würde es sein, wenn das Baby da war? Viele Hunderte Male hatte er es<br />

sich ausgemalt. Ein wenig Angst hatte er. Niemals würde er das seiner Frau gestehen. Doch vermutlich<br />

hatte sie es sowieso bereits gemerkt. Auch wenn sie nicht wusste, dass er sich ums Haar aus<br />

dem Staub gemacht hätte. Bei dem Gedanken zog es ihm das Herz zusammen. Für einen Moment<br />

hatte er tatsächlich an ihrer Beziehung gezweifelt. Wie sollte er auch nicht. Seit Menschengedenken<br />

war ein Baby im Bauch einer jungen Frau ein untrüglicher Beweis ihrer Untreue, wenn der Verlobte<br />

sicher nicht der Vater war. Es hatte ihm das Herz gebrochen. Denn bis dahin hatte er niemals Grund<br />

gehabt, an ihrer Zuneigung zu zweifeln. Als er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, war er aus<br />

allen Wolken gefallen. Von einer Sekunde auf die Nächste war seine Welt zusammengebrochen. Alle<br />

Pläne und Träume nichtig. Und trotzdem liebte er sie noch. Auch wenn er nicht mehr wusste, wer sie<br />

eigentlich war. Sie schien so aufrichtig zugewandt, so klar, und so rein. Und dann war sie plötzlich<br />

schwanger... Mehrere Tage hatte er sich immer wieder gefragt, wer der Vater des Kindes sein könnte.<br />

Und weil ihm niemand eingefallen war, hatte er in jedem einen Feind gesehen. Nur mit Mühe konnte<br />

er sich auf seine Arbeit konzentrieren. Zunächst hatte er sich entschieden, jeden Kontakt zu Miriam<br />

abzubrechen. Unter diesen Umständen wollte er nicht wieder mit ihr sprechen. Schwanger – kurz<br />

<strong>vor</strong> der geplanten Hochzeit. Er war ihr noch nicht einmal eine schlüssige Erklärung wert. Nein, so


wollte und konnte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. „Sie wird die Konsequenzen tragen müssen“,<br />

hatte er sich gedacht, während er in seiner Werkstatt versuchte, seine Aufträge abzuarbeiten. Konsequenzen…<br />

Sie würden hart sein. Er könnte sie öffentlich anklagen. Sie würde gesteinigt werden.<br />

Ein Gedanke, den Yossef trotz seiner schweren Enttäuschung nicht ertragen konnte. Am einfachsten<br />

wäre es, wenn der Vater des Kindes genug Mut aufbringen würde, seine Verantwortung zu übernehmen<br />

und die junge Frau heiraten würde. Aber jeder wusste doch, dass Miriam und Yossef kurz <strong>vor</strong><br />

der Hochzeit standen. So einfach war es also nicht. Yossef würde sich offiziell trennen müssen. Und<br />

dann würde er, Yossef, mitansehen müssen, wie Miriam mit einem anderen Mann all das verwirklichen<br />

würde, was sie sich gemeinsam erträumt hatten. Das könnte er niemals. Er war ein friedliebender<br />

Mensch, aber allein bei der Vorstellung, brannte in ihm der Zorn. Mit mehr Schwung als nötig,<br />

ließ er den Hammer auf das Holz knallen. In diesem Moment war ihm eine Idee gekommen. Es gab<br />

einen Weg. Er würde still und heimlich seine Sachen packen, und gehen. Damit wäre allen geholfen.<br />

Der Vater des Kindes könnte Miriam heiraten. Und wenn der Andere sich nicht zu dem Kind bekennen<br />

würde, würde Miriam von Yossefs Weggang nur profitieren. Denn dann würde jeder glauben, er<br />

selbst sei der Vater des Kindes und habe sich aus dem Staub gemacht. Die Schande wäre dann nicht<br />

zu groß. Man würde Mitleid mit ihr haben. Schließlich wusste jeder ihrer Bekannten, dass die Hochzeit<br />

kurz be<strong>vor</strong>stand. Man hätte vermutlich Verständnis für das uneheliche Baby. Als Zimmermann<br />

würde er überall Arbeit finden. Sein Plan stand. Er arbeitete bis spät am Abend. Als er seinen letzten<br />

Auftrag beendet hatte, packte er seine Werkzeuge sorgfältig fort. Sie waren das Wichtigste, das<br />

er auf den Weg mitnehmen musste. Seine sonstigen Habseligkeiten waren schnell zusammengepackt.<br />

Viel brauchte er nicht. Bei Morgengrauen würde er Nazareth verlassen. Er würde in Richtung<br />

Bethlehem wandern. Wie gerädert ließ er sich auf sein Bett fallen. Es dauerte lange, bis er in einen<br />

unruhigen Schlaf verfiel, der von wirren Träumen begleitet wurde. Er träumte von Steinigung, von<br />

gemeinsam verbrachten Stunden, von einer Wanderung nach Bethlehem und von einem vaterlosen


Baby. Und dann von einem Engel. Ein beeindruckend großer Mann in weißen Kleidern, der den Alpträumen<br />

ein Ende bereitete. Er legte Yossef die Hand auf die Schulter. „Du bist besorgt?“, fragte er.<br />

Im Traum nickte Yossef nur. So peinlich es ihm war: Er spürte Tränen in seinen Augen und blickte zur<br />

Seite. „Yossef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Miriam, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was<br />

sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du<br />

den Namen Yeshua geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.“ Yossef schrak aus dem<br />

Schlaf hoch. Er saß in seinem Bett. Sein Herz raste. Er wusste, er hatte geträumt. Aber er wusste,<br />

dass dieser Traum eine Bedeutung hatte. „Deine Frau… Vom Heiligen Geist… Ein Sohn…“ Es gab<br />

keinen Betrug. Keine Untreue. Keinen Verrat. Und dann war da noch etwas: „Du sollst ihm den Namen<br />

Yeshua geben.“ Das Kind war nicht von ihm. Aber der Engel hatte ihm die Verantwortung für das<br />

Kind übergeben. „Du sollst ihn Yeshua nennen.“ Das war ein Auftrag. Und er hatte ihn angenommen.<br />

Langsam schob sich eine Wolke <strong>vor</strong> den Stern über dem Stalldach, und Yossef tauchte aus seinen<br />

Erinnerungen auf. Neben ihm schlief Miriam tief und fest. Er legte seine Hand auf ihren Bauch und<br />

spürte das Baby. Yossef lächelte. Und dann schloss auch er müde die Augen. Es war die <strong>Nacht</strong> <strong>vor</strong><br />

<strong>Weihnachten</strong>. In einem Stall in der Nähe von Bethlehem. <strong>Eine</strong> <strong>Nacht</strong>, gerade wie diese heute.<br />

Grafik: Christos Georghiou/Dollarphotoclub.com

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