Berner Kulturagenda 2016 N° 15
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
21. – 27. April <strong>2016</strong> Anzeiger Region Bern 25<br />
3<br />
Schreibblockaden kennt er nicht<br />
2012 gelang dem Genfer Autor Joël Dicker mit dem Roman<br />
«Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» ein Riesenerfolg.<br />
Das Zentrum Paul Klee lädt zum Gespräch.<br />
nen. Doch dieser hat in Interviews keine<br />
derartigen Parallelen bestätigt. Es<br />
stecke nicht mehr in dieser Figur von<br />
ihm als in den anderen seiner Romanfiguren,<br />
der Druck habe ihn vielmehr beflügelt.<br />
Nichtsdestotrotz taucht Goldman<br />
in «Le Livre des Baltimore» erneut<br />
auf. Diesmal seziert Dicker Familienbande<br />
und Klassenunterschiede.<br />
In den 70er-Jahren verschwindet in einer<br />
Kleinstadt in New Hampshire Nola<br />
Kellergan, ein <strong>15</strong>-jähriges Mädchen.<br />
Mehr als 30 Jahre später entdeckt der<br />
gefeierte Jungautor Marcus Goldman,<br />
dass sein Freund und Mentor Harry<br />
Quebert mit dem Mädchen ein Verhältnis<br />
hatte, bevor dieses verschwand. So<br />
die Ausgangslage in Joël Dickers komplexem<br />
Roman «Die Wahrheit über den<br />
Fall Harry Quebert».<br />
Dicker gelang mit dem 2012 erschienenen<br />
Erstlingsroman ein Coup. Das<br />
Buch wurde über drei Millionen Mal<br />
verkauft, mit dem Grand Prix der Académie<br />
Française ausgezeichnet und in 40<br />
Sprachen übersetzt. Dicker ist 1985 in<br />
Genf geboren, hat französische und<br />
russische Wurzeln und eine enge Beziehung<br />
zu den Vereinigten Staaten, wo<br />
ein Teil seiner Familie lebt. Auch «Le<br />
Livre des Baltimore» (20<strong>15</strong>), sein zweiter<br />
Roman, spielt in der neuen Welt.<br />
Dickers Alter Ego?<br />
Natürlich wurde der so rasch in den<br />
Literaturhimmel katapultierte Autor oft<br />
gefragt, ob er unter Druck gestanden<br />
habe. Schliesslich hatte Dicker im ersten<br />
Roman auch das Verlagswesen unter<br />
die Lupe genommen. In Marcus<br />
Goldman, der nach einem ersten Erfolg<br />
an einer Schreibblockade leidet, wollten<br />
viele das Alter Ego Dickers erken-<br />
Literaturstar aus der Romandie: Joël Dicker.<br />
Jeremy Spierer<br />
Zu Gast in Bern<br />
Dicker selbst verschlägt es für einmal<br />
statt in die USA nach Bern. Der<br />
30-jährige Autor, der regelmässig Heiratsanträge<br />
bekommen soll, ist im<br />
Zentrum Paul Klee zu Gast. Im Rahmen<br />
eines literarischen Gesprächs<br />
wird er Red und Antwort stehen. Die<br />
Kulturjournalistin Mireille Descombes<br />
leitet das auf Deutsch und Französisch<br />
geführte Gespräch.<br />
Helen Lagger<br />
Zentrum Paul Klee, Bern<br />
Di., 26.4., 18.30 Uhr<br />
www.zpk.org<br />
Die Seele sitzt in der Leber<br />
TICKETS<br />
Der Film «Tinou» des <strong>Berner</strong> Regisseurs Res Balzli erzählt<br />
vom Alltag eines leberkranken Mannes, ohne auf den<br />
Magen zu schlagen.<br />
Tinous Welt ist grau und kalt – ihm ist<br />
etwas über die Leber gekrochen.<br />
«Tinou», das Spielfilmdebüt des <strong>Berner</strong><br />
Produzenten und Regisseurs Res<br />
Balzli («Bouton») erzählt die Geschichte<br />
eines ältereren Mannes, der eine<br />
neue Leber benötigt. Tagein, tagaus<br />
bestellt Tinou (Roger Jendly) bei Eve,<br />
deren Wohnwagen-Buvette auf der<br />
Untertorbrücke steht, oder im «Café<br />
Jungfrau», dessen Kulisse die Heitere<br />
Fahne bildet, seine Stange Bier und<br />
trinkt diese genussfrei. Sein Freund<br />
Aschi (Gilles Tschudi) dagegen präferiert<br />
den Roten, am liebsten als «Haubeli».<br />
Tinou steht auf der Warteliste für<br />
eine neue Leber; fortan trinkt er Kräutertee.<br />
Der immer angesäuselte Aschi<br />
dagegen erfährt, dass er einen Sohn<br />
hat – in Südafrika. Der 20-jährige Sean<br />
lädt seinen Vater prompt nach Kapstadt<br />
ein, um ihn kennenzulernen. Für<br />
Aschi ist klar: Tinou kommt mit.<br />
«Scharlachrot» in Senegal<br />
Aber dieser wird die Reise nicht mitmachen,<br />
sein Zustand ist kritisch. In<br />
der Mitte des Films wechselt die Erzählung<br />
in Tinous Traumwelt, die nach<br />
dem schwarz-weissen ersten Teil die<br />
Schifffahrt nach Afrika kunterbunt<br />
wiedergibt. «Scharlachrot» von Patent<br />
Ochsner wird in Senegal neuinterpretiert<br />
und ein nackter Mann huscht immer<br />
mal wieder durchs Bild – an skurrilen<br />
Einfällen fehlt es nicht.<br />
Balzlis Film ist eine Hommage an<br />
den 2014 verstorbenen Autor und Filmemacher<br />
Johannes Flütsch, der auch<br />
am Drehbuch von «Tinou» beteiligt<br />
war. Der Film endet, wo er begonnen<br />
hat: an der Aare, mit dem passenden<br />
Lied dazu von Stiller Has.<br />
<br />
Marie Gfeller<br />
CineMovie, Bern. Premiere<br />
in Anwesenheit der Filmcrew:<br />
Do., 21.4., 20.<strong>15</strong> Uhr<br />
Täglich, 16 und 21 Uhr<br />
www.quinnie.ch<br />
Wir verlosen 2 × 2 Tickets (bitte<br />
Wunschdatum und -zeit angeben):<br />
tickets@bka.ch<br />
Ursprünglich aus Südafrika: Geranien.<br />
Retrocharme<br />
Vier <strong>Berner</strong> Institutionen widmen sich unter dem Titel<br />
«Geranium City» in Ausstellungen und Veranstaltungen<br />
einer einst verpönten Pflanze.<br />
ZVG<br />
Xenix Film<br />
Tinou (Roger Jendly) träumt sich aus dem grauen Alltag nach Südafrika.<br />
Geranien sind spiessig? Von wegen.<br />
«Wir sind in der Post-Geranien-Abgrenzungszeit<br />
angekommen», sagt<br />
Beat Hächler, Direktor des Alpinen<br />
Museums und Initiator von «Geranium<br />
City». Heute versprühten die Blumen<br />
Retrocharme und hätten wenig<br />
mit den Zeiten zu tun, in denen zu einem<br />
guten schweizerischen Haushalt<br />
das Geranium auf dem Fensterbrett<br />
dazugehört habe.<br />
«Elsi» und «Rakete»<br />
«Geranium City» befasst sich mit<br />
Facetten der farbigen und anspruchslosen<br />
Pflanze. Im Botanischen Garten<br />
können etwa wilde Peragolien aus<br />
Südafrika betrachtet werden. Von dort<br />
ist die Blume ursprünglich importiert<br />
worden. «Trotzdem wird das Geranium<br />
in verschiedenen Ländern für etwas<br />
Eigentümliches gehalten», sagt<br />
Hächler. Um solche kulturgeschichtlichen<br />
Aspekte geht es in der Ausstellung<br />
« Biwak#16: Out of Africa» im<br />
Alpinen Museum. Und in der Kornhausbibliothek<br />
wird ein Peragolien-Handbuch<br />
präsentiert. Denn heute<br />
existieren über 16 000 Geraniensorten<br />
– «Elsi», «Rakete», «Sugar Baby», und<br />
«Stadt Bern» sind nur vier davon.<br />
Regine Gerber<br />
Diverse Orte, Bern<br />
Mo., 25.4. bis 30.9.<br />
www.geraniumcity.ch<br />
Pegelstand<br />
Kolumne<br />
von Alexandra von Arx<br />
Kürzlich war ich im Literaturhaus Basel<br />
an einer Lesung von Aleksandar Hemon.<br />
Womöglich habe ich hier schon<br />
einmal von ihm geschwärmt, denn sein<br />
Roman «Lazarus» und der autobiografische<br />
Band «Das Buch meiner Leben»<br />
waren für mich regelrechte Erleuchtungen.<br />
Dass er ein wunderbarer und relevanter<br />
Autor ist, entspringt, glaube<br />
ich, nicht nur meiner subjektiven<br />
Wahrnehmung, immerhin hat Hemon<br />
auch schon ein MacArthur Fellowship<br />
erhalten. Dieser «Genie-Preis» ist mit<br />
625 000 US-Dollar eine der höchstdotierten,<br />
zugleich an keine Bedingungen<br />
geknüpften Auszeichnungen in<br />
«Stellen Sie sich das vor:<br />
Da sitzt ein Weltklasse-<br />
Autor und fast niemanden<br />
interessiert es.»<br />
den USA. Nebenbei bemerkt ist die<br />
Liste der bisherigen Preisträger eine<br />
wahre Fundgrube.<br />
Ich hatte mir also mein Ticket bereits<br />
im Vorverkauf gesichert. Unnötige<br />
Angst. Es kamen gerade mal 16 Nasen.<br />
Stellen Sie sich das vor: Da sitzt<br />
ein Weltklasse-Autor, aber fast niemanden<br />
interessiert es. Nur will ich<br />
das nicht recht glauben. Zwei Erklärungsversuche:<br />
Entweder machen feste<br />
Subventionen träge und es wurde<br />
beispielsweise versäumt, die slawische<br />
Community anzusprechen, die<br />
mit dem in Bosnien geborenen Autor<br />
hätte abgeholt werden können. Um<br />
mein verstaubendes Kulturmanagementvokabular<br />
wieder einmal anzuwenden:<br />
Zielgruppenspezifisches<br />
Marketing nennt sich das.<br />
Oder es hat sich herumgesprochen,<br />
wie solche Lesungen in der Regel ablaufen.<br />
Von 80 Minuten wurden nämlich<br />
10 von der Moderation für die Einführung<br />
aufgewendet, anschliessend<br />
gingen gefühlte 50 Minuten für einen<br />
auf Deutsch lesenden, sich selbst in<br />
Szene setzenden Schauspieler drauf<br />
und weitere 10 für die Lesung von Hemon<br />
auf Englisch. Schliesslich blieben<br />
noch knappe 10 Minuten für ein Gespräch,<br />
in dem Hemon nicht mehr als<br />
andeuten konnte, was er eigentlich alles<br />
zu sagen gehabt hätte und worüber<br />
man sich mit ihm hätte unterhalten<br />
können. Ein bisschen schade. Oder<br />
was denken Sie dazu?<br />
Alexandra von Arx ist derzeit in der<br />
<strong>Berner</strong> Kulturförderung tätig und organisiert<br />
das hiesige Literaturfest sowie die<br />
Literatur-Gespräche im Schweizerhof<br />
Bern.<br />
Illustration: Rodja Galli, a259