Flucht und Trauma im Kontext Schule
UNHCR-Traumahandbuch
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Erstsprache <strong>und</strong> Zweitspracherwerb<br />
als Ressource & Chance 20<br />
› Obwohl er fleißig lernt <strong>und</strong> die Hausübung gewissenhaft<br />
macht, merkt sich Omid die Vokabeln nicht.<br />
Er ist <strong>im</strong> Osten Afghanistans geboren <strong>und</strong> verlor bei<br />
einem Raketeneinschlag seine Mutter <strong>und</strong> zwei Geschwister.<br />
Als sein ältester Bruder <strong>und</strong> er sich weigerten,<br />
sich den Taliban anzuschließen, wurde seine<br />
Familie bedroht. Zu ihrem Schutz verließen sie das<br />
Land <strong>und</strong> flüchteten in den Iran, doch be<strong>im</strong> Grenzübertritt<br />
wurde die Gruppe beschossen <strong>und</strong> Omids<br />
Bruder schwer verletzt. Omid setzte die <strong>Flucht</strong> nach<br />
Europa alleine fort. Zu diesem Zeitpunkt war er<br />
14 Jahre alt.<br />
Viele Kinder <strong>und</strong> Jugendliche konnten in ihrer Erstsprache<br />
keinen passenden Wortschatz für ihre<br />
Gefühlswelt entwickeln, besonders wenn sie zum<br />
Zeitpunkt der <strong>Trauma</strong>tisierung noch sehr jung waren<br />
oder ihre Eltern selbst nicht über den nötigen<br />
Sprachschatz verfügten. Das kann ein Gr<strong>und</strong> dafür<br />
sein, dass sich ihr Vokabular in jeder weiteren Sprache<br />
anfangs kaum erweitert. Fehlende Lexik <strong>und</strong><br />
Schwierigkeiten <strong>im</strong> sprachlichen Ausdruck sind auch<br />
ein Hinweis auf Hochstress als Folge der <strong>Trauma</strong>tisierung<br />
(siehe S. 30).<br />
Nicht nur <strong>im</strong> Sprachunterricht kann das Thema „Gefühle“<br />
regelmäßig behandelt werden (siehe „St<strong>im</strong>mungsbarometer“,<br />
S. 45). Viele Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />
mit <strong>und</strong> ohne <strong>Flucht</strong>erfahrung sind zwei- oder mehrsprachig,<br />
wobei die Erstsprache für jedes Kind eine<br />
zentrale Rolle <strong>im</strong> Erwerb jeder weiteren Sprache einn<strong>im</strong>mt.<br />
Diese Ressource soll <strong>und</strong> kann in der <strong>Schule</strong><br />
gewürdigt <strong>und</strong> gefördert werden, wobei die Vielfalt<br />
der kulturellen Ausdrucksformen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Tabus in Bezug auf den Ausdruck von Gefühlen<br />
<strong>und</strong> Empfindungen beachtet werden müssen.<br />
Unumstritten ist die Wichtigkeit der prof<strong>und</strong>en Auseinandersetzung<br />
mit der Erstsprache/Familiensprache.<br />
Entwickeln die Kinder/Jugendlichen sich in ihrer Erstsprache<br />
gut, verankern sie ihre Gefühle besser <strong>und</strong><br />
finden auch in der neuen Kultur <strong>und</strong> Sprache einen<br />
angemessenen Ausdruck dafür. Auf diesem Weg erlernen<br />
sie, dass ihre Mitmenschen ähnliche Gefühle<br />
haben, <strong>und</strong> ihre Empathiefähigkeit wird gestärkt. Für<br />
Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mit nichtdeutscher Erstsprache<br />
kann es also förderlich sein, Sprachunterricht in<br />
der Herkunftssprache zu erhalten (vgl. La<strong>im</strong>er <strong>und</strong><br />
Wurzenrainer 2014).<br />
ZUSÄTZLICHE INFORMATION<br />
Körperschemastörungen –<br />
Herausforderungen <strong>im</strong> Unterricht<br />
Unter Körperschema versteht man die Wahrnehmung des eigenen Körpers in Bezug auf seine Umgebung.<br />
Ist dieses Bild, diese innere Landkarte nicht ausreichend entwickelt, sprechen wir von Körperschemastörungen.<br />
Diese haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Grob- <strong>und</strong> Feinmotorik <strong>und</strong><br />
können zur Entwicklung von zahlreichen Lernschwierigkeiten führen.<br />
Körperschemastörungen können Auswirkungen auf die Raumorientierung haben. Betroffene vertauschen<br />
etwa rechts <strong>und</strong> links <strong>und</strong> können somit Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Erlernen der Schreibweise von<br />
Buchstaben haben (sie verwechseln beispielsweise d mit b <strong>und</strong> verdrehen Zahlen, z.B. 23 mit 32). Das<br />
Lesen von Tabellen, Fahrplänen, Landkarten <strong>und</strong> ein fehlendes räumliches Vorstellungsvermögen können<br />
<strong>im</strong> Alltag zu einer großen Hürde werden. Dies stellt SchülerInnen <strong>und</strong> LehrerInnen zum Beispiel <strong>im</strong><br />
Geometrieunterricht vor große Herausforderungen.<br />
Im Sprachunterricht machen sich Körperschemastörungen unter Umständen sogar in der Syntax bemerkbar.<br />
Betroffene Kinder schreiben <strong>im</strong> Heft mal auf dieser, mal auf jener Seite, ihr Schriftbild ist uneinheitlich,<br />
sie schreiben anhaltend langsam <strong>und</strong> häufig über oder unter der Linie, Abstände zwischen den<br />
Wörtern fehlen vielleicht oder sind ungleich. Sie lesen eher stockend <strong>und</strong> verlieren be<strong>im</strong> Vorlesen leicht<br />
die Zeile.<br />
20 https://www.bifie.at/system/files/dl/srdp_cillia_spracherwerb_migration_2011-10-11.pdf [15.05.16]