Clausewitz-Gesellschaft
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Zur Zukunft der Nationalstaaten in Europa: Was man aus mehr<br />
als 1000 Jahren mitteleuropäischer Geschichte folgern könnte 1<br />
Hans-Herbert Schulz<br />
Gedenktage haben gerade wieder einmal Konjunktur: Das Jahr 2014 gab Gelegenheit,<br />
an den Ausbruch des I. Weltkrieges zu erinnern, 2015 an das Kriegsende<br />
vor 70 Jahren oder an 60 Jahre Bundeswehr, 25 Jahre Deutsche Einheit, aber<br />
auch an 200 Jahre Ende der Napoleonischen Kriege, das Ende des Wiener Kongresses,<br />
und auch an den 200. Geburtstag Bismarcks. Mit diesem Strauß von<br />
Ereignissen ist für uns Deutsche ein Wechselbad der Erinnerungen verbunden;<br />
Schlussfolgerungen für unsere Zukunft ergeben sich daraus nicht so ohne weiteres.<br />
Ein Blick auf die politische Landkarte Europas zeigt, dass Deutschland<br />
geopolitisch gegenüber anderen Staaten in einer besonderen Rolle ist, nämlich<br />
in einer Mittel- oder Zentrallage.<br />
Anders die klassischen Nationalstaaten, die sich eher an der Peripherie befinden,<br />
wie Großbritannien, die Skandinavischen Staaten, aber auch Frankreich<br />
oder z.B. die Niederlande, die im Wesentlichen unverändert – zum Teil seit<br />
Jahrhunderten – existieren. Ich denke, die Frage muss gestellt werden, warum<br />
Entwicklungen so unterschiedlich verlaufen, auch, warum es in einem Teil Europas<br />
frühzeitig Nationalstaaten gegeben hat, während in Deutschland noch<br />
Schiller und Goethe in den Xenien 1796 feststellten: „Zur Nation euch zu<br />
bilden ihr hofft es Deutsche vergebens, bildet, ihr könnt es, dafür freier zu<br />
Menschen euch aus“ 2<br />
Zum Begriff der Nationalstaaten<br />
Schiller postulierte auch „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei<br />
Dinge“, 3 etwas, was uns aus heutiger Sicht eher verwundert. Offensichtlich<br />
lohnt es sich, einen Blick auf den Begriff ‚Nation’ zu werfen. Wie Heinrich<br />
August Winkler in seiner „Geschichte des Westens“ ausführt, hat es zwei unterschiedliche<br />
Begriffe von Nation gegeben: Im Westen verband sich der Begriff<br />
mit dem jeweiligen Staat, im Osten eher sprachlich-kulturell. 4 „Wo die<br />
Nationalbildung von der Monarchie ausging, erhielt der Begriff der Nation<br />
einen Bezug auf den Staat“ 5 (nämlich in Westeuropa). Anders bei den multiethnischen<br />
Königreichen, so in Mittel- und Osteuropa, ähnlich auch in Italien:<br />
„In Ansätzen bildeten sich also bereits im Mittelalter zwei unterschiedliche Nationsbegriffe<br />
heraus: ein staatlich politischer in Westeuropa und ein sprachlichkultureller,<br />
der sich bei den Deutschen und Italienern sowie im östlichen Mitteleuropa<br />
durchsetzte.“ 6<br />
Die Peripherie<br />
In Großbritannien gab es seit dem Feldzug Wilhelms des Eroberers 1066 –<br />
trotz aller inneren Kämpfe zwischen Engländern, Walisern, Schotten und Iren,<br />
die noch zu Schlachten im 18. Jahrhundert führten – dennoch eine kontinuierliche<br />
Entwicklung bis heute. Ähnlich war es auch in Frankreich, das eine Entwicklung<br />
vom westfränkischen Reich hin zum heutigen Territorium erreichte,<br />
natürlich auch mit Kämpfen (man denke nur an den Hundertjährigen Krieg<br />
mit England), letztlich aber kontinuierlich und ohne Identitätskrisen.<br />
Auch in Skandinavien haben sich Nationen und Nationalstaaten herausgebildet,<br />
bei denen vielleicht als einzige Besonderheit die vorübergehenden unterschiedlichen<br />
Zuordnungen zu Reichen in Personalunion war. Dennoch bestand<br />
eigentlich nie ein Zweifel daran, wo Dänemark, Norwegen, Schweden<br />
oder auch Finnland zu „verorten“ gewesen wären – Gebiet, Staat, Volk und<br />
Sprache bildeten weitgehend eine Einheit.<br />
Russland, als halb europäische, halb asiatische Macht, von der man oft nicht<br />
so recht weiß, wohin sie kulturell gehört 7 , hat seit den Zeiten des Großfürstentums<br />
Moskau im 15. Jahrhundert kontinuierlich seine Expansion nach Osten<br />
betrieben und erstreckte sich zur Zeit Peters des Großen bereits bis an den Pazifik.<br />
Allerdings sind „die politischen Grenzen zwischen Russland und seinen<br />
(jeweiligen) westlichen Nachbarn [...] seit dem 18. Jahrhundert durch Staatsteilungen,<br />
Kriege und Regimeverfall immer wieder verschoben worden“. 8<br />
Eine gewisse Sonderrolle nimmt Polen in diesem Zusammenhang ein – denkt<br />
man an das frühe Polnisch-Litauische Großreich, an drei polnische Teilungen<br />
(1772, 1776, 1795), an das wiedererstandene Polen nach dem Ersten Weltkrieg<br />
und an die Westverschiebung nach dem zweiten Weltkrieg – auch ein Problem<br />
der Mitte und Peripherie, das gesondert betrachtet werden müsste.<br />
Auch Italien nimmt bei dieser Betrachtung eine Sonderrolle ein: Der Norden<br />
bis Rom war lange Zeit als Teil des Heiligen Römischen Reiches Teil der Mitte-<br />
Problematik. Seit der ebenfalls späten Entstehung eines Nationalstaates kamen<br />
aber Staat, Volk, Sprache und Kultur weitgehend zur Deckung, sieht man von<br />
Südtirol und einigen im Faschismus ausgelebten Macht- und Expansionsphan-<br />
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