Ein Yankee am Hofe König Artus
Twains urkomische Abrechnung mit dem romantisch verklärten Rittertum
Twains urkomische Abrechnung mit dem romantisch verklärten Rittertum
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1
Mark Twain<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Yankee</strong> <strong>am</strong> <strong>Hofe</strong> <strong>König</strong> <strong>Artus</strong>’<br />
Illustrierte Fassung
Mark Twain<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Yankee</strong> <strong>am</strong> <strong>Hofe</strong> <strong>König</strong> <strong>Artus</strong>’<br />
Illustrierte Fassung<br />
Übersetzung: G. Blache, J. Schulze, J. Botstiber, J. Ott<br />
Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier Verlag<br />
Published by Null Papier Verlag, Deutschland<br />
Copyright © 2016 by Null Papier Verlag<br />
1. Auflage, ISBN 978-3-95418-777-5<br />
www.null-papier.de/377<br />
Das hier veröffentlichte Werk ist eine kommentierte, überarbeitete und digitalisierte<br />
Fassung und unterliegt somit dem Urheberrecht. Verstöße werden juristisch verfolgt.<br />
<strong>Ein</strong>e Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Verwertung ohne Genehmigung<br />
des Verlages ist ausdrücklich untersagt.
Inhaltsangabe<br />
VORWORT DES VERLEGERS....................................9<br />
VORWORT DER ÜBERSETZERIN............................10<br />
VORREDE................................................................13<br />
EIN WORT DER ERKLÄRUNG.................................14<br />
DIE GESCHICHTE DES FREMDEN..........................21<br />
1. CAMELOT...........................................................27<br />
2. DER HOF DES KÖNIGS ARTUS..........................31<br />
3. RITTER DER TAFELRUNDE.................................41<br />
4. HERR DINADAN, DER HUMORIST.....................51<br />
5. EINE INSPIRATION............................................56<br />
6. DIE SONNENFINSTERNIS..................................66<br />
7. MERLINS TURM.................................................77<br />
8. DER MEISTER...................................................88<br />
9. DAS TURNIER...................................................98<br />
10. BEGINN DER ZIVILISATION...........................109<br />
4
11. DER YANKEE AUF DER FAHRT NACH<br />
ABENTEUERN........................................................117<br />
13. FREIE!.............................................................139<br />
14. »VERTEIDIGT EUCH, HERR!«........................153<br />
15. SANDYS ERZÄHLUNG.....................................161<br />
16. MORGAN LE FAY............................................175<br />
17. EIN KÖNIGLICHES BANKETT.........................186<br />
18. IN DEN KERKERN DER KÖNIGIN...................201<br />
19. FAHRENDES RITTERTUM ALS GEWERBE......219<br />
20. DAS SCHLOSS DES OGERS..........................225<br />
21. DIE PILGER....................................................238<br />
22. DIE HEILIGE QUELLE...................................259<br />
23. WIEDERHERSTELLUNG DER QUELLE...........277<br />
24. ALS RIVALE DES MAGIERS...........................292<br />
25. EINE KONKURRENZ-PRÜFUNG....................310<br />
26. DIE ERSTE ZEITUNG.....................................331<br />
27. DER YANKEE UND DER KÖNIG REISEN<br />
INKOGNITO.........................................................349<br />
5
28. DER KÖNIG WIRD GEDRILLT.......................364<br />
29. DIE BLATTERNHÜTTE...................................372<br />
30. DIE TRAGÖDIE IM HERRSCHAFTSHAUS......383<br />
31. MARKO...........................................................401<br />
32. DOWLEYS DEMÜTIGUNG.............................413<br />
33. VOLKSWIRTSCHAFT IM SECHSTEN<br />
JAHRHUNDERT....................................................426<br />
34. DER YANKEE UND DER KÖNIG ALS SKLAVEN<br />
VERKAUFT............................................................446<br />
35. EIN HERZZERREISSENDER VORFALL............466<br />
36. EIN ZUSAMMENSTOSS IM DUNKELN..........478<br />
37. EINE SCHRECKLICH MISSLICHE LAGE.........485<br />
38. HERR LANZELOT UND DIE RITTER KOMMEN<br />
ZUR RETTUNG HERBEI........................................499<br />
39. DER KAMPF DES YANKEES MIT DEN RITTERN<br />
............................................................................505<br />
40. DREI JAHRE SPÄTER.....................................524<br />
41. DER KIRCHENBANN......................................538<br />
6
42. KRIEG!...........................................................545<br />
43. DIE SCHLACHT AM SANDGÜRTEL...............567<br />
44. EINE NACHSCHRIFT VON CLARENCE...........591<br />
SCHLUSS-P. S. VON M.T...................................595<br />
DAS WEITERE VERLAGSPROGRAMM..................598<br />
7
null-papier.de/twain<br />
null-papier.de/twain<br />
8
Vorwort des Verlegers<br />
Als <strong>Ein</strong>-Mann-Verleger investiere ich in die Qualität meiner<br />
Veröffentlichungen und nicht in Werbung. Wenn Sie mich unterstützen<br />
möchten, schaffen Sie es <strong>am</strong> besten durch eine positive<br />
Bewertung. Und wenn es mal etwas zu kritisieren gibt,<br />
dann schreiben Sie mir doch bitte direkt, so erhalten Sie <strong>am</strong><br />
schnellsten eine Reaktion.<br />
Ihr<br />
Jürgen Schulze, redaktion@null-papier.de<br />
Immer bestens informiert:<br />
null-papier.de/newsletter<br />
9
Vorwort der Übersetzerin<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
auch wer von Mark Twain noch nichts gelesen hat, kennt<br />
doch sicher seine Geschichten um Tom Sawyer und Huckleberry<br />
Finn; zwei Jungen, die sich der erwachsenen Gesellschaft widersetzen.<br />
Und auch wer sich noch nicht in die Welt des sagenhaften<br />
<strong>König</strong> <strong>Artus</strong>‘ eingelesen hat, kennt doch mindestens die<br />
Ritter der Tafelrunde, den Zauberer Merlin, die Suche nach<br />
dem Heiligen Gral.<br />
Was kann die geneigte Leserschaft nun erwarten, wenn ein<br />
erklärter <strong>Yankee</strong>, ein moderner Amerikaner durch und durch,<br />
der politisch um die Errungenschaften der zu seiner Zeit modernsten<br />
Demokratie kämpft, durch eine Zeitverschiebung in die<br />
feudale Welt des 6. Jahrhunderts in Europa versetzt wird?<br />
Großes Vergnügen erwartet die Leserinnen und Leser, die<br />
die Bezeichnung der „heiligen Gralerei“ als bissig-ironisch erkennen<br />
und wertschätzen. <strong>Ein</strong>e kleine Warnung hingegen sei<br />
10
ausgesprochen: Die echten Fans der <strong>Artus</strong>-Welt sollten sich auf<br />
das Abenteuer dieses Buches vorsichtig einlassen. Sie würden<br />
nämlich bemerken, dass der <strong>am</strong>erikanische Realist Mark Twain<br />
keiner der ihren ist. Als praktischer, aktiver <strong>Yankee</strong> sieht der<br />
Erzähler seine Aufgabe darin, die Welt des finsteren Vormittelalters<br />
der Zivilisation zuzuführen, wenn er durch die Zeitverschiebung<br />
nun schon mal da ist.<br />
Und auch der geneigten Leserschaft wird einmal mehr bewusst<br />
werden, welche Errungenschaften die Menschheit des<br />
ausgehenden 19. Jahrhunderts bereits vorweisen kann. Es liegt<br />
in der Natur der Sache, dass sämtliche Zivilisationsbestrebungen<br />
im Geheimen - quasi im Untergrund - mit nur wenigen eingeweihten<br />
Vertrauten - quasi Sympathisanten - vonstattengehen<br />
können. Die politischen Gegner sind immerhin der Adel<br />
und der Klerus.<br />
Gleichzeitig muss der Protagonist im Bereich der Herrschenden<br />
bleiben, um an die Mittel zu kommen sowie den gesellschaftlichen<br />
<strong>Ein</strong>fluss ausüben zu können. Dadurch bekommt<br />
die Leserschaft einen <strong>Ein</strong>blick in die Welt des Feudalstaates,<br />
und das ausgerechnet in der sagenumwobenen <strong>Artus</strong>-Welt.<br />
Dass der mächtige Zauberer Merlin einen noch viel größeren<br />
Konkurrenten bekommt, lässt sich schon ahnen.<br />
Mark Twain erklärt selbst in seinem Vorwort, dass die endgültige<br />
Beantwortung der Frage nach der richtigen Herrschaftsform<br />
eines Staates nicht in seiner Absicht lag. Was ent-<br />
11
standen ist, ist eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Gesellschaftsformen,<br />
spannend, bissig-ironisch, durchdacht, und<br />
auch sehr menschlich. Und dadurch insges<strong>am</strong>t - heutzutage<br />
und global betrachtet - erstaunlich aktuell.<br />
Ich wünsche Ihnen erfreuliche, <strong>am</strong>üsante und auch nachdenkliche<br />
Stunden bei der Lektüre.<br />
Ihre<br />
Gabriele Blache<br />
12
Vorrede<br />
Die rauen Gesetze und Gebräuche, die in der vorliegenden<br />
Erzählung erwähnt werden, sind historisch, desgleichen<br />
die Vorfälle, die zu ihrer Veranschaulichung<br />
dienen. Es wird aber nicht behauptet, dass diese Gesetze und<br />
Gebräuche im sechsten Jahrhundert bestanden haben — nein —<br />
es wird nur behauptet, dass die Annahme, sie hätten im sechsten<br />
Jahrhundert existiert, keine Schmähung dieses Zeitalters<br />
bedeutet, da sie ja auch in der Geschichte Englands und in anderen<br />
Kulturkreisen weit späterer Zeit vorhanden waren. Jedenfalls<br />
ist der Schluss vollständig berechtigt, dass — sollte ein<br />
Teil von diesen Gesetzen und Gebräuchen in jener entlegenen<br />
Zeit gefehlt haben — sein Platz sicherlich durch etwas noch<br />
Schlechteres ausgefüllt war.<br />
13
<strong>Ein</strong> Wort der Erklärung<br />
Es war im Schlosse von Warwick, wo ich dem sonderbaren<br />
Fremden begegnete, von dem ich erzählen will. Er<br />
zog meine Aufmerks<strong>am</strong>keit durch drei Dinge auf sich:<br />
durch seine offene <strong>Ein</strong>fachheit, seine außerordentliche Vertrautheit<br />
mit altertümlichen Rüstungen und durch die beruhigende<br />
Wirkung seiner Persönlichkeit — er führte nämlich allein<br />
das Gespräch. Wir fanden uns, wie das bei bescheidenen Leuten<br />
der Fall ist, im Nachtrab eines Rudels von Menschen, die<br />
herumgeführt wurden, und er machte sofort Bemerkungen, die<br />
mich interessierten. Während er sprach, leise, angenehm, fließend,<br />
schien er unmerklich fortzutreiben aus dieser Welt und<br />
Zeit in irgendeine entlegene Ära und in ein altes, vergessenes<br />
Land und so wob er nach und nach einen solchen Zauber um<br />
mich, dass ich mich unter Gespenstern und Schatten zu bewegen<br />
glaubte und mit einer Reliquie des grauen Altertums unter<br />
Staub und Moder Zwiesprache zu halten schien. Und genau so,<br />
14
wie ich von meinen besten Freunden oder Feinden oder von<br />
meinen nächsten Nachbarn gesprochen hätte, sprach er von<br />
Herrn Bedivere, Herrn Bors de Ganis, Herrn Lanzelot vom See,<br />
Herrn Galahad und all den andern großen N<strong>am</strong>en der Tafelrunde<br />
— und wie alt, alt, unaussprechlich alt und verblichen, wie<br />
vertrocknet und vermodert er zu werden schien, als er so<br />
sprach! Plötzlich wendete er sich zu mir und sagte, ganz so, wie<br />
ein anderer vom Wetter gesprochen hätte oder von einer anderen<br />
gewöhnlichen Sache: »Sie haben von Seelenwanderung gehört<br />
— wissen Sie auch etwas von der Versetzung eines Zeitalters<br />
— oder eines Menschen in andere Zeiten?«<br />
Ich erwiderte, davon hätte ich noch nichts gehört.<br />
Er schien gar nicht zu bemerken, ob ich ihm antwortete<br />
oder nicht. <strong>Ein</strong>e halbe Sekunde Schweigen trat ein, unmittelbar<br />
unterbrochen durch die Stimme des bezahlten Cicerone: »Alter<br />
Panzer aus dem sechzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter des<br />
<strong>König</strong>s <strong>Artus</strong> und der Tafelrunde; soll dem Ritter Sagr<strong>am</strong>or le<br />
Desirous gehört haben; beachten Sie das runde Loch in der linken<br />
Brust des Kettenpanzers; Ursache unbestimmt; wahrscheinlich<br />
durch eine Kugel nach Erfindung der Feuerwaffen<br />
verursacht — vielleicht böswillig durch Cromwells Soldaten.«<br />
Mein neuer Bekannter lächelte — nicht ein modernes Lächeln,<br />
sondern eines, das schon vor vielen, vielen Jahrhunderten<br />
außer Gebrauch gekommen sein musste — und murmelte,<br />
15
anscheinend zu sich selbst: »Wisset wohl, ich sah es geschehen!«<br />
Dann, nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich tat es selbst.«<br />
Als ich mich von der mich durchzuckenden Überraschung<br />
über diese Bemerkung erholt hatte, war er fort.<br />
Diesen ganzen Abend saß ich bei meinem K<strong>am</strong>in im Warwick-Hotel,<br />
getaucht in einen Traum der alten Zeit, während<br />
der Regen an die Fenster schlug und der Wind um die Dachrinnen<br />
und Winkel brauste. Von Zeit zu Zeit vertiefte ich mich in<br />
Sir Thomas Malorys bezauberndes Buch und unterhielt mich<br />
mit seinen prächtigen Schilderungen von Wundern und Abenteuern,<br />
atmete den Duft seiner uralten N<strong>am</strong>en ein und versank<br />
wieder in Träume. Als endlich Mitternacht gekommen war, las<br />
ich als Schlaftrunk noch eine Erzählung, und zwar die hier folgende:<br />
Wie Herr Lanzelot zwei Riesen erschlug und ein Schloss befreite.<br />
Alsbald k<strong>am</strong>en zwei Riesen über ihn, wohlgepanzert bis ans<br />
Haupt, mit zwei grässlichen Keulen in den Händen! Herr Lanzelot<br />
hielt seinen Schild vor sich, wehrte den Schlag des einen<br />
Riesen ab und spaltete ihm mit seinem Schwerte den Kopf. Als<br />
dies sein Genosse sah, entfloh er wie wahnsinnig aus Angst vor<br />
den furchtbaren Streichen; Herr Lanzelot stürmte ihm nach mit<br />
aller Macht und traf ihn auf die Schulter und zerhieb ihn bis zur<br />
Mitte. Dann ging Herr Lanzelot in den Vorsaal und vor ihn tra-<br />
16
ten sechzig D<strong>am</strong>en und Jungfrauen und alle knieten vor ihn hin<br />
und dankten Gott und ihm für die Befreiung. Denn, Herr, sagten<br />
sie, der größte Teil von uns war hier seit sieben Jahren gefangen<br />
und wir arbeiteten allerlei Seidenarbeiten zu unserem Unterhalt<br />
und wir sind alle von hohem Stande, und gesegnet sei<br />
der Tag, Ritter, an dem du geboren wurdest. Denn du hast die<br />
höchste Ehre errungen, die je einem Ritter zuteilwurde, des<br />
wollen wir Kunde geben und wir bitten dich alle, du mögest uns<br />
deinen N<strong>am</strong>en nennen, d<strong>am</strong>it wir unseren Freunden vermelden<br />
können, wer uns aus dem Gefängnis befreite.<br />
Edle D<strong>am</strong>en, sagte er, mein N<strong>am</strong>e ist Lanzelot vom See. Und<br />
so nahm er Abschied von ihnen und befahl sie Gott. Dann bestieg<br />
er sein Ross und ritt in manch fremdes und wildes Land<br />
und durch viele Gewässer und Täler und fand nur schlechte<br />
Herberge. Endlich führte ihn sein Glück eines Abends in einen<br />
schönen Schlossgarten. Dort fand er eine alte D<strong>am</strong>e, die ihm<br />
gute Herberge gab, und er und sein Ross waren wohlgeborgen.<br />
Und als es an der Zeit war, brachte ihn seine Wirtin in eine<br />
schöne Dachstube, über dem <strong>Ein</strong>gang, zu seinem Lager. Hier<br />
entwaffnete sich Herr Lanzelot, legte seinen Harnisch neben<br />
sich, ging zu Bett und verfiel sogleich in Schlaf. Nun k<strong>am</strong> bald<br />
danach einer zu Pferde und pochte in großer Hast ans Tor. Als<br />
Herr Lanzelot das hörte, stand er auf und sah hinaus durchs<br />
Fenster und erblickte beim Mondenschein drei Ritter, die diesem<br />
einzelnen Mann nachritten und alle drei hieben zugleich<br />
mit den Schwertern auf ihn ein und der eine Ritter wendete<br />
17
sich mannhaft nach ihnen um und verteidigte sich. Wahrlich,<br />
sagte Herr Lanzelot, jenem einen Ritter werde ich helfen, denn<br />
es wäre eine Schande für mich, drei Ritter den einen überfallen<br />
zu sehen, und würde er erschlagen, wäre ich mitschuldig an<br />
seinem Tode. Und d<strong>am</strong>it nahm er seinen Harnisch und ließ sich<br />
durchs Fenster an einem Laken hinunter zu den vier Rittern<br />
und dann sagte Herr Lanzelot stolz: Kehret euch mir zu, ihr Ritter,<br />
und lasset diesen da. Und alle drei ließen ab von Herrn Kay<br />
und wandten sich gegen Herrn Lanzelot und es begann ein<br />
großes Kämpfen, denn alle drei fielen über ihn her und hieben<br />
manchen Hieb gegen Herrn Lanzelot und bestürmten ihn von<br />
allen Seiten. Dann rüstete sich Herr Kay, um Herrn Lanzelot zu<br />
Hilfe zu kommen. Nein, Herr, sagte der, ich will Eure Hilfe<br />
nicht, darum lasset mich allein mit ihnen, wenn anders Ihr meine<br />
Hilfe wollt. Um den Ritter zufrieden zu stellen, ließ ihm Herr<br />
Kay seinen Willen und stand beiseite. Und hierauf hatte sie Herr<br />
Lanzelot alsbald mit sechs Hieben zu Boden geschlagen.<br />
Und dann riefen alle drei: Herr Ritter, wir übergeben uns dir<br />
als einem Mann von unvergleichlicher Kraft. Was das betrifft,<br />
sagte Herr Lanzelot, nehme ich eure Übergebung nicht an, außer<br />
ihr ergebt euch Herrn Kay, dem Seneschall, nur unter dieser<br />
Bedingung will ich euer Leben schonen, sonst nicht. Edler<br />
Ritter, sagten sie, das wäre schrecklich für uns. Denn was Herrn<br />
Kay betrifft, wir verfolgten ihn hierher und hätten ihn besiegt,<br />
wäret Ihr nicht dazwischen getreten. Deshalb ist kein Grund<br />
vorhanden, dass wir uns ihm übergeben. Nun, diese Sache<br />
18
müsst ihr wohl überlegen, sagte Lanzelot, denn ihr könnt wählen,<br />
ob ihr leben wollt oder sterben, denn wenn ihr euch ergeben<br />
wollt, so kann es nur an Herrn Kay geschehen. Edler Ritter,<br />
sagten sie hierauf, um unser Leben zu retten, wollen wir tun,<br />
was du befiehlst. Dann müsst ihr, sagte Herr Lanzelot, <strong>am</strong> kommenden<br />
Pfingstsonntag an den Hof des <strong>König</strong>s <strong>Artus</strong> gehen und<br />
euch dort der <strong>König</strong>in Guinevra übergeben und euch alle drei<br />
ihrer Gunst und Gnade ausliefern und sagen, dass euch Herr<br />
Kay dorthin sendete, auf dass ihr ihre Gefangenen seid. Am<br />
Morgen stand Herr Lanzelot früh auf und verließ Herrn Kay<br />
schlafend; und Herr Lanzelot nahm Herrn Kays Rüstung und<br />
seinen Schild und waffnete sich, und hernach ging er zum Stall<br />
und holte dessen Ross und nahm Abschied von seiner Wirtin<br />
und so schied er.<br />
Und bald darauf erwachte Herr Kay und vermisste Herrn<br />
Lanzelot; und dann fand er heraus, dass er seine Rüstung und<br />
sein Ross genommen hatte. Nun, bei meinem Glauben, ich weiß<br />
wohl, dass er einige vom Hof des <strong>König</strong>s <strong>Artus</strong> betrüben wird:<br />
Denn die Ritter werden kühn gegen ihn sein und glauben, er sei<br />
ich und das wird sie täuschen; und durch seine Rüstung und<br />
seinen Schild geschützt, werde ich gewisslich in Frieden reiten.<br />
Und bald darauf nahm Herr Kay Abschied und dankte seiner<br />
Wirtin.<br />
Als ich das Buch niederlegte, klopfte es an die Türe, und<br />
mein Fremder k<strong>am</strong> herein. Ich bot ihm eine Pfeife und einen<br />
Stuhl an und machte es ihm bequem. Ich stärkte ihn auch mit<br />
19
einem schottischen Whisky — gab ihm einen Zweiten — dann<br />
noch einen — immer in der Erwartung seiner Geschichte. Nach<br />
solch einer vierten Zusprache fing er in ganz einfacher und natürlicher<br />
Weise selbst an:<br />
20
Die Geschichte des Fremden<br />
Ich bin Amerikaner. Geboren und erzogen wurde ich in<br />
Hartford im Staate Connecticut — übrigens auf der anderen<br />
Seite des Flusses, auf dem Lande. Ich bin also ein<br />
waschechter <strong>Yankee</strong> — und praktisch ja, und beinahe ohne jeden<br />
Überschwang — oder Poesie, um es anders zu sagen. Mein<br />
Vater war ein Grobschmied, mein Onkel ein Pferdedoktor, und<br />
ich war anfänglich beides. Dann ging ich hinüber in die große<br />
Waffenfabrik und lernte meinen eigentlichen Beruf; ich lernte<br />
alles, was dazu nötig ist; lernte alles machen — Flinten, Revolver,<br />
Kanonen, Kessel, Maschinen, alle Arten von arbeitssparenden<br />
Maschinen. Nun, ich konnte alles herstellen, was man nur verlangte<br />
— alles in der Welt, es machte keinen Unterschied, was.<br />
Und wenn es keinen raschen, modernen Weg gab, das Ding zu<br />
machen, so konnte ich einen erfinden — und das so einfach, wie<br />
man einen Holzklotz aus dem Wege räumt. Ich wurde Oberaufseher<br />
und hatte ein paar tausend Leute unter mir.<br />
21
Nun, ein Mann von dem Schlage ist ein Mensch voll K<strong>am</strong>pflust,<br />
das brauche ich nicht zu sagen. Mit ein paar tausend rohen<br />
Leuten unter sich, hat man genug von dieser Art von Vergnügen.<br />
Ich jedenfalls hatte es. Schließlich k<strong>am</strong> ich an einen, der<br />
mir gewachsen war, und ich bek<strong>am</strong> mein Teil. Es war während<br />
eines Missverständnisses mit einem Kerl, den wir Herkules zu<br />
nennen pflegten, das mit Brechstangen ausgetragen wurde. Er<br />
legte mich hin durch einen Hieb über den Kopf, der diesen krachen<br />
machte und einzelne Teile meines Schädels zu zersprengen<br />
und über die Nachbarpartie zu schleudern schien. Dann<br />
versank die Welt im Dunkel, ich fühlte nichts mehr und wusste<br />
von nichts mehr — wenigstens für eine Weile. — — — — — — — — —<br />
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />
— —<br />
Als ich wieder zu mir k<strong>am</strong>, saß ich unter einer Eiche auf dem<br />
Rasen mit einer ganzen, schönen und hellen Landschaft für<br />
mich — fast allein. Nicht vollkommen allein — denn vor mir hielt<br />
ein Kerl zu Pferde und blickte auf mich herunter — ein Kerl, wie<br />
aus einem Bilderbuch. Er steckte vom Kopf bis zu den Fersen in<br />
einer altertümlichen Rüstung, auf dem Kopf einen Helm in der<br />
Form eines Nagelfässchens mit Schüben darin, und er hatte<br />
einen Schild und ein Schwert und einen ungeheuren Speer; und<br />
sein Pferd hatte ebenfalls eine Rüstung an — ein stählernes<br />
Horn ragte von der Stirne vor und eine prächtige, rot- und<br />
grünseidene Schabracke bedeckte es, die wie eine Bettdecke<br />
rings herumhing, beinahe bis zum Boden.<br />
22
23
»Edler Herr, wollet Ihr vielleicht turnieren?«, sagte der Kerl.<br />
»Will ich was?«<br />
»Wollet Ihr einen Waffengang versuchen für Land oder<br />
D<strong>am</strong>e oder für —«<br />
»Was wollen Sie von mir?«, sagte ich. »Gehen Sie zurück zu<br />
Ihrem Zirkus, oder ich werde die Anzeige machen.«<br />
Nun, was tut der Kerl anderes, als ein paar hundert Ellen zurückreiten<br />
und dann auf mich zusprengen, so rasch er nur<br />
konnte, das Nagelfässchen fast bis auf den Pferdehals niedergebeugt<br />
und den Speer nach vorne gerichtet. Ich sah, er machte<br />
Ernst, ich war also auf dem Baum, als er ank<strong>am</strong>.<br />
Er hielt dafür, dass ich sein Eigentum wäre, der Gefangene<br />
seines Speeres. Der Beweis war auf seiner Seite — und der größere<br />
Vorteil — ich hielt es also fürs beste, ihm nachzugeben.<br />
Wir schlossen ein Übereinkommen, dass ich mit ihm kommen<br />
solle, er mich aber nicht verletzen dürfe. Ich stieg hinunter, und<br />
wir machten uns auf den Weg, ich an der Serie des Pferdes gehend.<br />
Wir marschierten bequem vorwärts, durch Lichtungen<br />
und über Bäche, die ich mich nicht erinnerte, je gesehen zu haben<br />
— was mich verwirrte und staunen machte — aber doch k<strong>am</strong>en<br />
wir zu keinem Zirkus oder Spuren von einem Zirkus. Ich<br />
gab also die Idee von dem Zirkus auf und vermutete, er wäre<br />
aus einem Irrenhaus entlaufen. Aber wir k<strong>am</strong>en auch zu keinem<br />
solchen — ich saß also auf dem Trockenen, wie man sagt. Ich<br />
befragte ihn, wie weit wir von Hartford wären. Er sagte, er hätte<br />
24
nie von dem Ort gehört; das hielt ich für eine Lüge, ließ es aber<br />
hingehen. Nach einer Stunde sahen wir eine, weit entfernte<br />
Stadt, im Tal an einem sich durchwindenden Flusse schlafend,<br />
und über ihr auf einem Hügel eine ungeheuer große Festung<br />
mit Türmen und Türmchen, die erste, die ich jemals, außer, in<br />
Bildern, gesehen hatte.<br />
»Bridgeport?«, sagte ich, hindeutend.<br />
»C<strong>am</strong>elot«, sagte er.<br />
Mein Fremder hatte Zeichen von Ermüdung gezeigt. Er<br />
überraschte sich jetzt beim <strong>Ein</strong>nicken und lächelte eines seiner<br />
rührend selts<strong>am</strong>en Lächeln und sagte: »Ich sehe, ich komme<br />
nicht mehr weiter. Aber kommen Sie mit mir, ich habe alles zu<br />
Papier gebracht und Sie können es lesen, wenn Sie wollen.«<br />
In seinem Zimmer angelangt, sagte er: »Zuerst führte ich ein<br />
Tagebuch; dann, nach vielen Jahren, nahm ich das Tagebuch<br />
und machte ein Buch daraus. Wie lange ist das her!«<br />
Er übergab mir das Manuskript und deutete auf die Stelle,<br />
wo ich beginnen sollte: »Beginnen Sie hier — ich habe Ihnen das<br />
Vorhergehende bereits erzählt.«<br />
Jetzt war er ganz in Schläfrigkeit versunken. Als ich bei seiner<br />
Türe hinausging, hörte ich ihn murmeln: »Gute Nacht und<br />
gute Herberge, edler Herr.«<br />
Ich setzte mich an mein Feuer und untersuchte meinen<br />
Schatz. Der erste Teil desselben — der größere Teil — war Per-<br />
25
g<strong>am</strong>ent und gelb vor Alter. Ich prüfte ein Blatt genau und sah,<br />
dass es ein Palimpsest war. Unter der alten, matten Schrift des<br />
<strong>Yankee</strong>-Historikers erschienen Spuren einer Schrift, die älter<br />
und noch matter war — lateinische Worte und Sätze: sichtlich<br />
Fragmente alter Mönchslegenden. Ich wendete mich zu der<br />
Stelle, die mir der Fremde gezeigt hatte, und begann zu lesen —<br />
wie folgt.<br />
26
1. C<strong>am</strong>elot<br />
<strong>am</strong>elot — C<strong>am</strong>elot«, sagte ich zu mir. »Ich kann mich<br />
nicht erinnern, je davon gehört zu haben. Wahrschein-<br />
Clich der N<strong>am</strong>e der Irrenanstalt.«<br />
Es war eine sanfte, ruhevolle Sommerlandschaft, lieblich wie<br />
ein Traum und so eins<strong>am</strong>, wie ein Sonntag. Die Luft war erfüllt<br />
vom Duft der Blüten, dem Summen der Insekten und dem Gezwitscher<br />
der Vögel, nirgends waren Menschen zu sehen oder<br />
Wagen, nichts regte sich und nirgends war ein Zeichen von Leben<br />
zu bemerken. Die Straße war nur ein sich dahinwindender<br />
Pfad mit Hufspuren und hie und da einem schwachen Abdruck<br />
von Rädern auf beiden Seiten der Rasenfläche — Räder, die anscheinend<br />
Reifen von der Breite einer Handfläche hatten.<br />
Plötzlich k<strong>am</strong> ein hübsches Mädelchen, vielleicht zehn Jahre<br />
alt, des Weges, mit einer Flut goldblonder Haare, die ihr über<br />
die Schultern fielen. Auf dem Kopf trug sie einen Kranz von feu-<br />
27
erroten Mohnblumen. Es war eine so schöne Kleidung, als ich je<br />
eine gesehen hatte — so viel davon da war. Sie ging träge einher,<br />
sorglosen Gemütes, der innere Friede spiegelte sich in ihrem<br />
unschuldigen Gesicht. Der Zirkusmensch schenkte ihr keine<br />
Beachtung — schien sie nicht einmal zu bemerken. Und sie — sie<br />
war nicht mehr erschreckt von seinem phantastischen Aufzug,<br />
als ob sie gewohnt wäre, seinesgleichen jeden Tag zu sehen. Sie<br />
ging so gleichgültig an ihm vorüber, wie an ein paar Kühen.<br />
Aber als sie mich bemerkte, das gab eine Aufregung! Sie warf<br />
die Hände in die Höhe und stand wie versteinert da; ihr Mund<br />
öffnete sich, ihre Augen starrten weit offen und ängstlich, sie<br />
war ein Bild erschrockener, mit Neugierde gemischter Furcht.<br />
So stand sie staunend, in einer Art verblüffter Verzauberung,<br />
bis wir an eine Waldecke k<strong>am</strong>en und ihrem Blick entschwanden.<br />
Dass sie vor mir erschrocken war statt vor ihm, das war<br />
mir unbegreiflich, das hatte weder Hand noch Fuß. Und dass sie<br />
mich für ein Schaustück ansah und ihre eigenen Verdienste in<br />
dieser Beziehung übersah, war eine noch verblüffendere Sache<br />
und eine Entfaltung von Großmut, die bei einem so jungen Ding<br />
überraschte. Das gab Stoff zum Nachdenken. Ich ging weiter<br />
wie im Traum.<br />
Als wir uns der Stadt näherten, begannen sich Zeichen von<br />
Leben zu zeigen. Hie und da k<strong>am</strong>en wir an einer elenden Hütte<br />
vorüber mit strohgedecktem Dach, umgeben von kleinen Feldern<br />
und Gartenstücken in mittelmäßigem Zustand. Auch Leute<br />
waren da — muskulöse Männer mit langen, groben, unge-<br />
28
kämmten Haaren, die ihnen ins Gesicht hingen und sie wie Tiere<br />
aussehen machten. Sie und die Frauen trugen gewöhnlich<br />
ein grobes Kleid aus Rohleinen, das bis unter die Knie reichte,<br />
und eine rohe Art von Sandalen, und manche hatten ein eisernes<br />
Halsband. Die kleinen Mädchen und Jungen waren immer<br />
nackt, aber niemandem schien das aufzufallen. Alle diese Leute<br />
starrten mich an, sprachen über mich, liefen in ihre Hütten und<br />
holten ihre F<strong>am</strong>ilien heraus, um mich anzugaffen; aber nie bemerkte<br />
jemand den andern Kerl, außer, um ihn ehrerbietig zu<br />
grüßen und keinen Dank für diese Mühe zu erhalten.<br />
In der Stadt standen einige fensterlose, solide Steinhäuser,<br />
zerstreut in einer Wildnis von strohgedeckten Hütten; die Straßen<br />
waren bloß krumme Gässchen und ungepflastert; Haufen<br />
von Hunden und nackten Kindern spielten in der Sonne und gaben<br />
dem Bilde Leben und Lärm. Schweine trieben sich zufrieden<br />
und wühlend herum und eines davon lag in einer d<strong>am</strong>pfenden<br />
Pfütze in der Mitte der Hauptstraße und säugte seine F<strong>am</strong>ilie.<br />
Plötzlich hörte man entferntes Schmettern einer militärischen<br />
Musik; es k<strong>am</strong> näher, noch näher, und bald k<strong>am</strong> ein<br />
prächtiger Reiterzug in Sicht, herrlich mit federgeschmückten<br />
Helmen, büßenden Panzern und flatternden Bannern, mit kostbaren<br />
Wämsern und Pferdedecken und vergoldeten Lanzenspitzen;<br />
und mitten zwischen Mist und Schweinen und nackten<br />
Bälgern, fröhlichen Hunden und schäbigen Hütten trabte der<br />
Zug stolz einher, und wir schlossen uns ihm an. Wir folgten ihm<br />
durch ein krummes Gässchen, und noch eines — und stiegen<br />
29
aufwärts, fortwährend aufwärts — bis wir endlich die luftige<br />
Höhe erreichten, wo das große Schloss stand. Dort folgte ein<br />
Wechsel von Trompetensignalen; dann eine Unterhaltung von<br />
der Mauer herunter, wo Bewaffnete in Panzern und Sturmhauben<br />
auf und ab marschierten, die Hellebarde geschultert, unter<br />
flatternden Bannern, welche die rohe Figur eines Drachen zeigten;<br />
dann wurden die großen Tore geöffnet, die Zugbrücke<br />
wurde heruntergelassen, und der Führer der Kavalkade sprengte<br />
vorwärts unter die drohenden Bogen; und wir, ihm folgend,<br />
fanden uns in einem großen, gepflasterten Hof, wo sich Türme<br />
und Türmchen auf allen vier Seiten in den blauen Himmel emporstreckten;<br />
und ringsherum saß alles von den Pferden ab,<br />
viele Begrüßungen und Zeremonien fanden statt, es gab ein<br />
Laufen hin und wieder und eine Entfaltung von sich bewegenden<br />
und vermischenden Farben und alles in allem ein vergnügtes<br />
Hasten und Lärm und Verwirrung.<br />
30
2. Der Hof des <strong>König</strong>s <strong>Artus</strong><br />
Im ersten Moment, wo mir dies möglich war, schlich ich<br />
mich beiseite und berührte einen alten, gewöhnlich aussehenden<br />
Mann an der Schulter und sagte in einschmeichelnder,<br />
vertraulicher Weise: »Freund, tut mir einen Gefallen.<br />
Gehört Ihr zu der Anstalt oder seid Ihr nur zufällig hier zu Besuch<br />
oder was Ähnliches?«<br />
Er sah mich dumm an und sagte: »Wahrlich, edler Herr,<br />
mich bedünkt …«<br />
»Das genügt«, sagte ich. »Ich denke, Ihr seid ein Patient.«<br />
Ich ging überlegend weg und sah mich gleichzeitig nach irgendeinem<br />
zufällig Vorübergehenden um, der bei Verstand<br />
wäre und mir Aufklärung geben könnte. Ich glaubte schon einen<br />
solchen gefunden zu haben; ich zog ihn also zur Seite und sagte<br />
ihm ins Ohr: »Wenn ich nur den Oberwärter einen Moment<br />
sprechen könnte — nur einen kleinen Moment —«<br />
31
»Lasst mich doch —«<br />
»Was soll ich Euch lassen?«<br />
»In Ruhe möget Ihr mich lassen, meine ich.«<br />
Dann fuhr er fort, mir zu erzählen, er sei ein Unterkoch und<br />
habe keine Zeit zum Schwatzen, obwohl er es sonst gerne täte;<br />
denn es wäre ihm ein wahrer Trost, zu erfahren, wo ich meine<br />
Kleider herhätte. Als er wegging, deutete er mit dem Finger und<br />
meinte, dort stehe jemand, der Zeit genug für mich hätte und<br />
mich außerdem ohne Zweifel auch suche. Das war ein lustiger,<br />
schlanker Junge in roten, engen Hosen, die ihn wie eine gegabelte<br />
Rübe aussehen machten. Der Rest seiner Kleidung bestand<br />
aus blauer Seide und zarten Spitzen und Krausen; er hatte<br />
lange, blonde Locken und eine federgeschmückte blassrote<br />
Atlasmütze gefällig schief aufs Ohr gesetzt. Seinen Blicken nach<br />
war er gutmütig, seinem Benehmen nach sehr mit sich zufrieden.<br />
Er k<strong>am</strong>, sah mich mit lachender und unverschämter Neugierde<br />
an und sagte, er wäre gekommen, um mich zu holen, und<br />
teilte mir mit, dass er ein Page und seines Herrn rechte Hand<br />
wäre.<br />
»Aber geh«, sagte ich, »du bist ja nicht mehr als höchstens<br />
sein kleiner Finger!«<br />
Das war etwas scharf, aber ich war ärgerlich. Jedenfalls aber<br />
fühlte er sich nicht getroffen, denn er tat nicht so, als ob er verletzt<br />
wäre. Als wir weitergingen, begann er in glücklicher, gedankenloser,<br />
jungenhafter Weise zu sprechen und zu lachen<br />
32
und war gleich gut Freund mit mir; er stellte alle möglichen<br />
Fragen über mich und meine Kleidung, wartete aber nie auf<br />
eine Antwort — plauderte unaufhörlich weiter, als ob er nicht<br />
wüsste, dass er nach etwas gefragt hatte, ohne eine Antwort zu<br />
erwarten, bis er endlich zufällig erwähnte, er sei zu Beginn des<br />
Jahres 513 geboren.<br />
<strong>Ein</strong>e Gänsehaut lief mir über den Rücken! Ich blieb stehen<br />
und sagte schwach: »Vielleicht habe ich dich nicht recht verstanden.<br />
Sag es nochmals — und sag es langs<strong>am</strong>: Welches Jahr<br />
war es?«<br />
»Fünfhundertdreizehn.«<br />
»513! Du siehst nicht danach aus! Geh, mein Junge, ich bin<br />
fremd hier und ohne Freunde: Sei aufrichtig und ehrlich gegen<br />
mich: Bist du bei Vernunft?«<br />
Er meinte, er wäre es.<br />
»Sind diese andern Leute alle bei Vernunft?«<br />
Er sagte, sie wären es.<br />
»Und dies ist kein Irrenhaus? Ich meine, es ist kein Ort, wo<br />
man verrückte Leute kuriert?« Er sagte, es wäre keines.<br />
»Nun dann«, sagte ich, »bin ich entweder verrückt oder etwas<br />
Entsetzliches ist mir passiert. Jetzt sage mir ehrlich und<br />
aufrichtig, wo bin ich?«<br />
»Am <strong>Hofe</strong> des <strong>König</strong>s <strong>Artus</strong>.«<br />
33
Ich wartete einen Augenblick, um diesen Gedanken bei mir<br />
Wurzel fassen zu lassen, und sagte dann: »Und was für ein Jahr<br />
haben wir jetzt nach deiner Meinung?«<br />
»528 — neunzehnten Juni.«<br />
Ich fühlte ein heftiges Herzklopfen und murmelte: »Ich werde<br />
meine Freunde niemals wiedersehen — nie, nie wieder. Sie<br />
werden erst in mehr als dreizehnhundert Jahren geboren werden!«<br />
Ich musste dem Jungen glauben, ich wusste nicht, warum.<br />
Irgendetwas in mir schien ihm zu glauben — mein Bewusstsein,<br />
könnte man sagen; aber mein Verstand tat es nicht. Mein Verstand<br />
lehnte sich geradewegs dagegen auf, das war nur natürlich.<br />
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um ihn zu beruhigen,<br />
weil das Zeugnis von Menschen mich nicht befriedigt hätte —<br />
mein Verstand hätte mir gesagt, sie seien wahnsinnig und hätte<br />
ihr Zeugnis nicht gelten lassen. Aber plötzlich brachte mich<br />
mein Glück auf einen guten Gedanken. Ich erinnerte mich, dass<br />
die einzige totale Sonnenfinsternis in der ersten Hälfte des<br />
sechsten Jahrhunderts <strong>am</strong> 21. Juni 528 alten Stils stattfand und<br />
drei Minuten nach 12 Uhr mittags begann. Ich wusste auch, dass<br />
keine totale Sonnenfinsternis in dem Jahre eintrat, das für mich<br />
das gegenwärtige war — nämlich 1879. Wenn ich also meine<br />
Ängstlichkeit und Neugierde bezwingen konnte, mir während<br />
der nächsten 48 Stunden nicht das Herz zu verzehren, so mus-<br />
34
ste es mir gelingen, herauszubringen, ob dieser Junge mir die<br />
Wahrheit sagte oder nicht.<br />
Da ich nun ein praktischer Mann aus Connecticut bin,<br />
schlug ich mir vorläufig das ganze Problem aus dem Kopf, bis<br />
der festgesetzte Tag und die Stunde kommen würde, d<strong>am</strong>it ich<br />
meine ganze Aufmerks<strong>am</strong>keit auf die gegenwärtigen Umstände<br />
richten konnte und wachs<strong>am</strong> und bereit wäre, für mich möglichst<br />
viel aus ihnen herauszuschlagen. Jedes Ding zu seiner<br />
Zeit, ist mein Motto, dann aber dieses Ding mit aller Macht<br />
durchsetzen, und selbst wenn man nur ein mickriges Blatt auf<br />
der Hand hat. Zwei Dinge nahm ich mir vor: Wenn es noch das<br />
neunzehnte Jahrhundert war und ich mich unter Verrückten<br />
befand und nicht wegkonnte, würde ich sofort das ganze Narrenhaus<br />
unterkriegen oder wissen, warum nicht; wenn wir aber<br />
andererseits wirklich im sechsten Jahrhundert waren, auch<br />
recht, nichts wäre mir lieber gewesen: Innerhalb von drei Monaten<br />
musste ich das ganze Land unterjochen; denn ich rechnete<br />
d<strong>am</strong>it, dass ich einen Vorsprung von ungefähr dreizehnhundert<br />
Jahren und mehr noch vor dem besterzogenen Manne<br />
im <strong>König</strong>reich hatte.<br />
Ich bin nicht der Mann, um Zeit zu verlieren, wenn ich einen<br />
Entschluss gefasst habe und es etwas zu tun gibt; ich sagte also<br />
zu dem Pagen: »Nun, Clarence, mein Junge, wenn das vielleicht<br />
zufällig dein N<strong>am</strong>e ist, wenn dir nichts daran liegt, wirst du<br />
mich jetzt ein wenig auf gleich bringen. Wie heißt der Mann,<br />
der mich herbrachte?«<br />
35
»Mein Herr und deiner? Das ist der gute Ritter und große<br />
Lord, Herr Kay der Seneschall Milchbruder unseres Lehnsherren,<br />
des <strong>König</strong>s.«<br />
»Ganz gut, nur weiter, und erzähle mir alles.«<br />
Er machte eine lange Geschichte daraus; was aber unmittelbar<br />
für mich Interesse hatte, war Folgendes. Er sagte, dass ich<br />
Herrn Kays Gefangener sei und nach gewohntem Brauch ins<br />
Gefängnis geworfen und dort bei knapper Hausmannskost bleiben<br />
würde, bis meine Freunde für mich Lösegeld zahlten —<br />
wenn ich nicht zufällig früher dort verfaulte. Ich sah, dass die<br />
letztere Möglichkeit die wahrscheinlichere war, regte mich<br />
aber nicht weiter darüber auf; die Zeit war zu kostbar. Der Page<br />
erzählte ferner, dass die Mahlzeit in der großen Halle jetzt ungefähr<br />
beendet sei und dass Herr Kay mich, sobald die Geselligkeit<br />
und das schwere Trinken beginne, hereinkommen lassen<br />
werde, um mich vor dem <strong>König</strong> <strong>Artus</strong> und den erlauchten Rittern<br />
der Tafelrunde zur Schau zu stellen, von seiner Heldentat<br />
bei meiner Gefangennahme zu prahlen und wahrscheinlich dabei<br />
ein wenig aufzuschneiden, dass es aber keine gute Lebensart<br />
und auch außerdem nicht besonders sicher wäre, ihn zu<br />
verbessern. Wenn aber meine Schaustellung beendet sei, dann<br />
müsste ich — marsch — ins Gefängnis; aber er, Clarence, würde<br />
schon einen Weg finden, mich hie und da zu besuchen, mich<br />
aufzuheitern und mir zu helfen, meine Freunde zu verständigen.<br />
36
Meine Freunde verständigen! Ich dankte ihm; weniger konnte<br />
ich nicht tun. Eben k<strong>am</strong> ein Diener — um mir zu sagen, dass<br />
ich benötigt würde. Clarence führte mich also hinein, geleitete<br />
mich nach einer Seite und setzte sich neben mich.<br />
Nun, es war ein merkwürdiger Anblick, und interessant. Es<br />
war ein riesiger Raum und beinahe leer — ja — und voll schreiender<br />
Kontraste. Er war sehr, sehr hoch; so hoch, dass die Banner,<br />
welche von den gebogenen Balken herabhingen, in einer<br />
Art von Zwielicht verschw<strong>am</strong>men; an jedem Ende war eine Galerie<br />
mit einem Steingeländer, hoch oben, mit Musikern in der<br />
einen und Frauen in den grellsten Farben in der anderen. Der<br />
Boden bestand aus großen Steinfliesen in schwarzen und weißen<br />
Vierecken und war von Alter und Gebrauch ziemlich zerschlagen<br />
und reparaturbedürftig. Verzierungen waren, genau<br />
genommen, keine vorhanden, obwohl an den Wänden mehrere<br />
große Teppiche hingen, die vermutlich für Kunstwerke gehalten<br />
wurden; es waren Schlachtenbilder mit Pferden von einer<br />
Gestalt, wie sie Kinder aus Papier ausschneiden oder aus Lebkuchen<br />
formen, mit Männern in Schuppenpanzern darauf, deren<br />
Schuppen durch runde Löcher dargestellt wurden — so dass<br />
die Bekleidung des Mannes aussah, als ob sie mit einem Biskuitstecher<br />
hergestellt wäre. <strong>Ein</strong>e Feuerstelle war da, groß genug,<br />
um darin zu lagern, und ihre vorstehenden Seiten und der Aufsatz<br />
aus geschnittenen und säulenförmigen Steinen sah aus wie<br />
das Tor einer Kathedrale. An den Wänden standen Bewaffnete<br />
37
mit Brustplatten und Sturmhauben, mit Hellebarden als einziger<br />
Waffe regungslos wie Statuen.<br />
In der Mitte dieses gotisch gewölbten Raumes stand ein Eichentisch,<br />
den sie die Tafelrunde nannten. Er war so groß wie<br />
eine Zirkusmanege und um ihn herum saß eine große Gesellschaft<br />
von Männern in Kleidern von so verschiedenen und<br />
prächtigen Farben, dass die Augen beim Hinsehen schmerzten.<br />
Sie trugen ihre Federhüte, außer wenn irgendeiner den <strong>König</strong><br />
direkt anredete, wobei er den Hut im Moment, wo er seine<br />
Rede begann, ein wenig lüftete.<br />
Hauptsächlich tranken sie — aus ganzen Stierhörnern — aber<br />
einige kauten noch immer Brot oder nagten an einem Rindsknochen.<br />
Im Durchschnitt k<strong>am</strong>en ungefähr zwei Hunde auf jeden<br />
der anwesenden Männer und die saßen in erwartungsvoller<br />
Stellung, bis ihnen ein abgenagter Knochen zugeworfen wurde;<br />
und dann stürzten Brigaden und Divisionen von ihnen darauf<br />
los und es folgte ein K<strong>am</strong>pf, der die Szene mit einem lärmenden<br />
Chaos von zus<strong>am</strong>menprallenden Köpfen und Körpern und<br />
schlagenden Schweifen erfüllte und das Getöse des Heulens<br />
und Bellens erstickte zeitweilig jedes Gespräch; aber daran lag<br />
nichts, denn ein Hundek<strong>am</strong>pf hatte jederzeit mehr Interesse;<br />
die Männer erhoben sich manchmal, um besser zusehen zu<br />
können und die D<strong>am</strong>en und Musiker beugten sich in derselben<br />
Absicht über die Steinbrüstung und alle brachen von Zeit zu<br />
Zeit in freudige Ausrufe aus. Schließlich streckte sich der siegreiche<br />
Hund mit dem Knochen zwischen seinen Pfoten bequem<br />
38
aus und fuhr fort, darüber zu knurren und ihn zu benagen und<br />
den Boden d<strong>am</strong>it einzudecken, genau so, wie es fünfzig andere<br />
schon taten; und der Rest des <strong>Hofe</strong>s nahm seine frühere Beschäftigung<br />
und Unterhaltung wieder auf.<br />
In der Regel war die Sprache dieser Leute anmutig und höflich,<br />
und ich bemerkte, dass sie gute und aufmerks<strong>am</strong>e Zuhörer<br />
waren, wenn jemand irgendetwas erzählte — ich meine, in einem<br />
hundek<strong>am</strong>pffreien Moment. Und offenbar waren sie ein<br />
kindliches und unschuldiges Volk; sie erzählten Lügen von den<br />
prächtigsten Mustern und mit der sanftesten und einschmeichelndsten<br />
Unbefangenheit und waren bereit und willig, den<br />
Lügen der anderen zuzuhören und sie außerdem auch noch zu<br />
glauben. Es war schwer, sie mit etwas Graus<strong>am</strong>em oder<br />
Schrecklichem in Verbindung zu bringen, und doch brachten<br />
sie Geschichten voll Blut und Leiden mit einem arglosen Behagen<br />
vor, das mich beinahe vergessen ließ, zu schaudern.<br />
Ich war nicht der einzige anwesende Gefangene. Es waren<br />
zwanzig oder mehr da. Arme Teufel, manche waren in grässlicher<br />
Weise verstümmelt, zerhackt und zerschnitten, und ihr<br />
Haar, ihr Gesicht und ihre Kleider waren verklebt mit schwarzen<br />
und geronnenen Krusten von Blut. Sie litten natürlich<br />
schwere körperliche Schmerzen und jedenfalls auch Müdigkeit,<br />
Hunger und Durst; zum mindesten hatte niemand ihnen die<br />
Wohltat des Waschens oder auch nur das Liebeswerk einer<br />
Arznei für ihre Wunden zukommen lassen; und doch hörte man<br />
sie keinen Seufzer und kein Stöhnen ausstoßen und sah sie kein<br />
39
Zeichen von Unruhe äußern oder eine Bewegung von Schmerz.<br />
Der Gedanke drängte sich mir auf: »Die Schurken — sie haben<br />
seinerzeit andere Leute so behandelt; da sie jetzt an die Reihe<br />
kommen, erwarten sie keine bessere Behandlung als diese; es<br />
ist also ihr philosophisches Benehmen nicht eine Frucht geistiger<br />
Erziehung, intellektueller Tapferkeit oder Vernunft; es ist<br />
bloße und tierische Dressur, sie sind weiße Indianer.«<br />
40
3. Ritter der Tafelrunde<br />
Das Gespräch der Tafelrunde bestand hauptsächlich aus<br />
Monologen — erzählenden Berichten von den Abenteuern,<br />
bei denen diese Gefangenen gemacht und ihre<br />
Freunde und Verteidiger erschlagen und ihrer Rosse und Rüstungen<br />
beraubt wurden. Im Allgemeinen waren diese mörderischen<br />
Abenteuer — soviel ich entnehmen konnte — keine <strong>Ein</strong>brüche,<br />
um Unbilden zu rächen, alle Streitigkeiten oder plötzlich<br />
entstandene Fehden auszutragen, nein, im Allgemeinen waren<br />
es einfach Zweikämpfe zwischen Fremden — zwischen Leuten,<br />
die einander nie vorgestellt worden waren und zwischen<br />
denen nicht der geringste Grund zu einer Beleidigung bestand.<br />
Oft hatte ich früher ein paar einander vollständig fremde Jungen<br />
sich begegnen gesehen und sie gleichzeitig sagen hören:<br />
»Ich bin stärker als du!« Und die Prügelei ging auch schon los.<br />
Bis jetzt hatte ich mir eingebildet, dass so etwas nur von Kindern<br />
gemacht werden könne und dass es eben ein Zeichen und<br />
41
Merkmal der Kindheit sei; aber diese dummen, großen Kerle<br />
hier machten es genau so und waren noch stolz darauf bis zum<br />
reifen Mannesalter und darüber hinaus. Und doch war etwas<br />
sehr <strong>Ein</strong>nehmendes an diesen großen Geschöpfen mit dem einfachen<br />
Herzen, etwas Anziehendes und Liebenswürdiges. In<br />
dieser ganzen Kinderstube schien sozusagen nicht genug Hirn<br />
vorhanden, um es als Köder auf eine Angel zu verwenden; aber<br />
nach kurzer Zeit schien einem nichts mehr daran zu liegen, weil<br />
man bald einsah, in einer solchen Gesellschaft sei kein Hirn nötig<br />
und würde sie nur gestört, gehindert und ihre Symmetrie<br />
vernichtet — vielleicht ihre ganze Existenz unmöglich gemacht<br />
haben.<br />
In fast jedem Gesicht war eine edle Männlichkeit zu bemerken,<br />
in einigen eine gewisse Hoheit und Anmut, die jede kleinliche<br />
Kritik verwies und beruhigte. <strong>Ein</strong>e äußerst edle Güte und<br />
Reinheit ruhte auf dem Gesicht dessen, den sie Herrn Galahad<br />
nannten und ähnlich auch auf dem des <strong>König</strong>s, Majestät und<br />
Größe lag in der Riesengestalt und dem erhabenen Benehmen<br />
des Herrn Lanzelot vom See.<br />
Momentan lenkte ein Vorfall das allgemeine Interesse auf<br />
diesen Herrn Lanzelot. Auf ein Zeichen von einer Art Zeremonienmeister<br />
standen sechs oder acht der Gefangenen auf, k<strong>am</strong>en<br />
zus<strong>am</strong>men vorwärts, knieten auf den Boden nieder, erhoben<br />
ihre Hände gegen die D<strong>am</strong>engalerie und baten um die Gnade<br />
eines Wortes mit der <strong>König</strong>in. Die <strong>am</strong> sichtbarsten sitzende<br />
D<strong>am</strong>e in dem dichten Blumenbeet von weiblichem Glanz und<br />
42
Putz beugte den Kopf zum Zeichen der Zustimmung, und hierauf<br />
lieferte der Sprecher der Gefangenen sich und seine Gefährten<br />
zur vollen Begnadigung, Lösegeld, Gefangenschaft oder<br />
Tod in ihre Hände aus, wie sie es nach ihrem Belieben wählen<br />
wolle; und dies tat er, wie er sagte, auf Befehl des Herrn Kay,<br />
des Seneschalls, dessen Gefangene sie seien, da er sie durch<br />
seine alleinige Kraft und Tapferkeit in heftigem K<strong>am</strong>pfe besiegt<br />
habe.<br />
Überraschung und Erstaunen flog von Gesicht zu Gesicht im<br />
ganzen Saale; das befriedigte Lächeln der <strong>König</strong>in verblich beim<br />
N<strong>am</strong>en des Herrn Kay, und sie sah enttäuscht aus; der Page flüsterte<br />
mir mit dem Tone und Ausdrucke maßlosen Hohnes ins<br />
Ohr: »Natürlich, Herr Kay! Ach, heiß’ mich einen Narren und<br />
mach’ das jemand anderm weiß! In zweimal tausend Jahren<br />
wird sich der unselige Erfindungsgeist der Menschen noch bemühen,<br />
eine zweite solche majestätische Lüge zu ersinnen!«<br />
Aller Augen waren in ernster Frage auf Herrn Kay gerichtet.<br />
Aber er war der Situation gewachsen. Er stand auf und spielte<br />
seine Partie glänzend, ohne einen Trick auszulassen. Er sagte,<br />
er wolle den Fall vorbringen, wie er sich zugetragen habe, er<br />
wolle die einfache, gerade Geschichte ganz ohne Bemerkung<br />
seinerseits erzählen, »und dann«, sagte er, »wenn ihr findet,<br />
dass jemandem Ruhm und Ehre gebühret, werdet ihr sie dem<br />
geben, der der mächtigste der Männer ist, die je einen Schild<br />
trugen oder einen Schwertstreich in christlichem K<strong>am</strong>pfe taten<br />
— dem, der hier sitzt!«, und er deutete auf Herrn Lanzelot. Ah,<br />
43
da hatte er sie! Es war ein guter, verblüffender Streich. Dann<br />
fuhr er fort und erzählte, wie Herr Lanzelot auf der Fahrt nach<br />
Abenteuern vor einiger Zeit sieben Riesen mit einem Streiche<br />
seines Schwertes tötete und hundertundzweiundvierzig gefangene<br />
Jungfrauen in Freiheit setzte; und dann ritt er weiter,<br />
noch immer Abenteuer suchend und fand ihn — Herrn Kay —<br />
einen verzweifelten K<strong>am</strong>pf gegen neun fremde Ritter kämpfend<br />
und nahm sofort den K<strong>am</strong>pf allein auf und besiegte die neun;<br />
und in jener Nacht stand Herr Lanzelot leise auf, legte Herrn<br />
Kays Rüstung an, nahm Herrn Kays Ross und begab sich in ferne<br />
Lande und besiegte sechzehn Ritter in einer Feldschlacht<br />
und vierunddreißig in einer anderen; und alle diese und die vorigen<br />
neun hatte er schwören lassen, dass sie gegen Pfingsten<br />
an den Hof des <strong>König</strong>s <strong>Artus</strong> reiten und sich dort der <strong>König</strong>in<br />
Guinevra ergeben müssten als Gefangene des Herrn Kay, des<br />
Seneschall, Beute seiner ritterlichen Kraft, und nun wäre dieses<br />
halbe Dutzend hier und die übrigen würden kommen, sobald sie<br />
von ihren gewaltigen Wunden geheilt seien.<br />
Nun, es war rührend zu sehen, wie die <strong>König</strong>in errötete und<br />
lächelte, wie überrascht und glücklich sie aussah und Herrn<br />
Lanzelot verstohlene Blicke zuwarf, die ihm mit tödlicher Sicherheit<br />
eine Kugel in den Leib verschafft hätten — wenn es in<br />
Arkansas geschehen wäre.<br />
Jeder lobte die Tapferkeit und Großmut des Herrn Lanzelot;<br />
meinerseits war ich vollkommen bestürzt, dass ein Mann, ganz<br />
allein, fähig gewesen sein sollte, solche Bataillone von geübten<br />
44
Kämpfern zu besiegen und gefangen zu nehmen. Ich sagte das<br />
zu Clarence, aber dieser Spottvogel meinte nur: »Und hätte<br />
Herr Kay nur Zeit gehabt, noch einen Schlauch voll sauren Weines<br />
in sich zu gießen, die Rechnung wäre wohl verdoppelt worden.«<br />
Ich sah den Jungen voll Sorge an; und als ich ihn anblickte,<br />
sah ich eine Wolke von tiefstem Kleinmut sich auf seinem Gesichte<br />
lagern. Ich folgte der Richtung seines Blickes und sah,<br />
dass ein sehr alter und weißbärtiger Mann, gekleidet in einen<br />
fliegenden schwarzen Talar, sich erhoben hatte und auf unsicheren<br />
Füßen an der Tafel stand, schwach das alte Haupt neigte<br />
und die Gesellschaft mit wässerigen und unsteten Augen betrachtete.<br />
Derselbe leidende Blick, den ich im Gesichte des Pagen<br />
bemerkt hatte, war in allen Gesichtern ringsum wahrzunehmen<br />
— der Blick von stummen Kreaturen, die wissen, dass<br />
sie dulden müssen und nicht klagen dürfen.<br />
»Hallo! Es geht schon wieder los«, seufzte der Junge. »Die<br />
gleiche alte Geschichte, die er schon tausendmal mit denselben<br />
Worten erzählt hat und die er erzählen wird, bis er einmal<br />
stirbt, so oft er sein Fass voll hat und seine Aufschneidemühle<br />
im Gang hält. Wollte Gott, ich wäre gestorben, bevor ich diesen<br />
Tag erlebte.«<br />
»Wer ist es?«<br />
»Merlin, der mächtige Lügner und Magier, möge er in der<br />
Hölle braten für die Langeweile, die er mit seiner einzigen Ge-<br />
45
schichte verursacht! Aber die Leute fürchten ihn, denn seinem<br />
Wink und Ruf gehorchen Stürme, Blitze und alle Teufel der Hölle,<br />
sonst hätten sie ihm schon vor langen Jahren die <strong>Ein</strong>geweide<br />
aus dem Leibe gerissen, um zu dieser Geschichte zu kommen<br />
und sie zu vernichten. Er erzählt sie immer in der dritten Person,<br />
um glauben zu machen, er sei zu bescheiden, um sich<br />
selbst zu rühmen. Fluch treffe ihn, Unheil sei sein Teil! Guter<br />
Freund, ich bitte dich, wecke mich zum Abendlied!«<br />
Der Junge schmiegte sich an meine Schulter und gab vor,<br />
einzuschlafen. Der alte Mann begann seine Erzählung und bald<br />
war der Junge wirklich eingeschlafen; das waren auch die<br />
Hunde und der ganze Hof, die Lakaien und die Reihen der Bewaffneten;<br />
die brummende Stimme brummte weiter; ein sanftes<br />
Schnarchen erhob sich von allen Seiten und unterstützte<br />
sie, wie eine tiefe und gedämpfte Begleitung von Blasinstrumenten.<br />
<strong>Ein</strong>ige Köpfe waren auf die gefalteten Hände gebeugt,<br />
andere lagen zurückgebeugt mit offenem Munde, der unbewusst<br />
Musik hervorbrachte; die Fliegen summten und bissen<br />
unbelästigt, die Ratten schwärmten leise aus Hunderten von<br />
Löchern hervor, trippelten herum und benahmen sich wie zu<br />
Hause; eine derselben saß aufrecht wie ein Eichhörnchen auf<br />
dem Kopfe des <strong>König</strong>s, hielt ein Stückchen Käse in den Händen,<br />
knabberte daran und ließ die Krümelchen mit naiver Unehrerbietigkeit<br />
in des <strong>König</strong>s Gesicht fallen. Es war ein beschaulicher<br />
Anblick und beruhigend für das müde Auge und den ermatteten<br />
Geist.<br />
46
Dies war des alten Mannes Geschichte. Er sagte: »Als nun<br />
47
der <strong>König</strong> und Merlin abreisten, k<strong>am</strong>en sie zu einem Eremiten,<br />
der ein guter Mann und großer Heilkundiger war. Der Eremit<br />
untersuchte also alle seine Wunden und gab ihm gute Salben:<br />
Der <strong>König</strong> war drei Tage dort und seine Wunden hatten sich<br />
dann so gebessert, dass er reiten und gehen konnte, und so<br />
nahm er Abschied. Und als sie ritten, sagte <strong>Artus</strong>, ich habe kein<br />
Schwert. Keine große Sache, sagte Merlin, nahebei weiß ich ein<br />
Schwert, das soll Euer sein, wenn ich es vermag. Sie ritten hierauf,<br />
bis sie zu einem See k<strong>am</strong>en, der klares Wasser hatte und<br />
sehr groß war und in der Mitte des Sees ward <strong>Artus</strong> einen Arm<br />
gewahr, gekleidet in weiße Seide, der hielt ein schönes Schwert<br />
in der Hand. Seht, sagte Merlin, drüben ist jenes Schwert, von<br />
dem ich gesprochen habe. Zugleich sahen sie ein Fräulein auf<br />
dem See gehen. Was für ein Fräulein ist das?, fragte <strong>Artus</strong>. Das<br />
ist die Jungfrau vom See, sagte Merlin, und inmitten des Sees ist<br />
ein Felsen und in diesem ist ein Raum, schöner als einer auf Erden,<br />
und dieses Fräulein wird nun zu Euch kommen, und dann<br />
sprecht freundlich zu ihr, d<strong>am</strong>it sie Euch jenes Schwert gibt.<br />
Alsbald aber k<strong>am</strong> das Fräulein zu <strong>Artus</strong> und begrüßte ihn und er<br />
sie wieder. Fräulein, sagte <strong>Artus</strong>, was für ein Schwert ist das,<br />
welches drüben der Arm über dem Wasser hält? Ich wollte, es<br />
wäre mein, denn ich habe kein Schwert. Herr <strong>König</strong> <strong>Artus</strong>, sagte<br />
das Fräulein, das Schwert ist mein, und wenn Ihr mir eine Gabe<br />
geben wollt, wenn ich es verlange, sollet Ihr es haben. Bei meinem<br />
Glauben, sagte <strong>Artus</strong>, ich will Euch jede Gabe geben, die<br />
Ihr fordert. Wohlan, sagte das Fräulein, steiget in jenen Nachen<br />
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da drüben und rudert Euch selbst zu dem Schwert und nehmt<br />
es und auch die Scheide an Euch, und ich werde meine Gabe<br />
fordern, wenn die Zeit gekommen ist. Herr <strong>Artus</strong> und Merlin<br />
stiegen hierauf von den Rossen und banden sie an zwei Bäume<br />
und gingen dann in den Nachen, und als sie zu dem Schwert k<strong>am</strong>en,<br />
welches die Hand hielt, erfasste es Herr <strong>Artus</strong> beim Griffe<br />
und nahm es mit sich. Und der Arm und die Hand verschwanden<br />
unter dem Wasser, und hierauf stiegen sie an Land und ritten<br />
weiter. Und dann erblickte Herr <strong>Artus</strong> ein reiches Zelt: Was<br />
bedeutet jenes Zelt? Es ist das Zelt des Ritters, mit dem Ihr zuletzt<br />
kämpftet, des Herrn Pellinor, sagte Merlin, aber er ist fort,<br />
er ist nicht hier; er hat zu tun mit einem Eurer Ritter, dem stolzen<br />
Eggl<strong>am</strong>e, und sie haben miteinander gekämpft, doch endlich<br />
floh Herr Eggl<strong>am</strong>e, sonst wäre er getötet worden, und er<br />
verfolgte ihn bis nach Carlion, und wir werden ihm bald auf der<br />
Straße begegnen. Das ist wohl gesprochen, sagte <strong>Artus</strong>, nun<br />
habe ich ein Schwert, nun will ich den K<strong>am</strong>pf mit ihm aufnehmen<br />
und gerächt sein an ihm. Herr, das sollt Ihr nicht, sagte<br />
Merlin, denn der Ritter ist müde vom K<strong>am</strong>pfe und der Verfolgung,<br />
und Ihr würdet keine Ehre einlegen, wenn Ihr jetzt mit<br />
ihm zu tun bekämet, außerdem wird sich unter den heute lebenden<br />
Rittern kaum einer seinesgleichen finden und deshalb<br />
ist mein Rat, lasset ihn vorbeireiten, denn er wird Euch binnen<br />
Kurzem noch gute Dienste leisten, und seine Söhne nach ihm.<br />
Auch werdet Ihr in Bälde den Tag sehen, an dem Ihr ihm mit<br />
freudigem Herzen Eure Schwester zur Ehe geben werdet.<br />
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Wenn ich ihn sehe, werde ich tun, wie du mir rätst, sagte <strong>Artus</strong>.<br />
Dann betrachtete Herr <strong>Artus</strong> das Schwert, und es gefiel ihm außerordentlich<br />
gut. Was gefällt Euch besser, das Schwert oder<br />
die Scheide?, fragte Merlin. Das Schwert gefällt mir besser, sagte<br />
<strong>Artus</strong>. Dann seid Ihr sehr unklug, sagte Merlin, denn die<br />
Scheide ist zehn solcher Schwerter wert, denn solange Ihr die<br />
Scheide bei Euch habt, werdet Ihr niemals Blut verlieren, seiet<br />
Ihr auch noch so sehr verwundet; darum nehmt stets die Scheide<br />
mit Euch. So ritten sie bis nach Carlion, und auf dem Wege<br />
begegneten sie Herrn Pellinor, aber Merlin hatte einen solchen<br />
Zauber ausgeübt, dass Pellinor Herrn <strong>Artus</strong> nicht sah und er ritt<br />
vorüber ohne ein Wort. Ich wundere mich, sagte <strong>Artus</strong>, dass der<br />
Ritter nichts sprach. Herr, sagte Merlin, er sah Euch nicht, denn<br />
hätte er Euch gesehen, er wäre nicht so ohne weiteres vorbeigeritten.<br />
So k<strong>am</strong>en sie nach Carlion, worüber seine Ritter sehr<br />
erfreut waren. Und als sie von seinen Abenteuern hörten, wunderten<br />
sie sich, dass er seine Person so allein aufs Spiel setzte.<br />
Aber der ganze Adel sagte, es wäre schön, unter einem Oberhaupt<br />
zu sein, das selbst auf Abenteuer auszog, wie es andere<br />
arme Ritter taten.«<br />
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