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Ausgabe 07, November 2016, € 2,50, Zugestellt durch Österreichische Post, www.wmsport2000.at<br />

Winter 2016/17<br />

Ist der Skirennsport noch zu retten?<br />

Schwerpunkt: TRÄUMEN<br />

Die Rückkehr der Fassdauben<br />

Die Kunst des Unterwegs-Seins<br />

Wer kennt sie? Die Trud.<br />

Bioidente Hormone<br />

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gangart 1


SCHWERPUNKT TRÄUMEN<br />

WAS VON DEN<br />

TRÄUMEN BLEIBT<br />

Die einen träumen vom besseren Leben. Die anderen von einer Einbauküche.<br />

Die einen haben Sex mit ihrem Hollywood-Star. Die anderen<br />

reden mit ihrer toten Oma. Träume sind eine Spielwiese unseres Geistes.<br />

Bei Tag und bei Nacht. Wir sollten sie nicht verbauen.<br />

Ein Beitrag von Wolfgang Tonninger<br />

„Wenn es Wirklichkeitssinn<br />

gibt, muss<br />

es auch Möglichkeitssinn<br />

geben.“<br />

Robert Musil:<br />

Der Mann ohne<br />

Eigenschaften<br />

Martin Luther King hatte einen <strong>Traum</strong>. An der Spitze der Bürgerrechtsbewegung<br />

und in einer Zeit, in der die Rassentrennung<br />

zum politischen Alltag gehörte, malte er in sich das Bild<br />

eines anderen Zustands, das er wortgewaltig in den Köpfen<br />

von hunderttausenden Menschen verankerte. Der <strong>Traum</strong>, von<br />

dem er sprach, war nur ein anderes Wort für sein erweitertes<br />

Vorstellungsvermögen, mit dem er eine Gegenwirklichkeit<br />

schuf und heraufbeschwor. Fünf Jahre nach seiner denkwürdigen<br />

Rede in Washington, die in die Geschichte eingehen sollte,<br />

wurde er am 4. April 1968 bei einem Attentat ermordet. Sein<br />

<strong>Traum</strong> von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen – „dass<br />

eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer<br />

Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am<br />

Tisch der Brüderlichkeit sitzen können und meine vier kleinen<br />

Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie<br />

nicht nach ihrer Hautfarbe“ – ihrer Kultur, Kleidung oder Religion!<br />

–, „sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird“ – blieb<br />

lebendig bis zum heutigen Tag.<br />

„Die großen Träume“, schreibt der Autor und Regisseur Alexander<br />

Kluge, „dienen zur Horizont-Erzeugung. Das ist nicht das<br />

Gleiche wie die Träume, die man nachts hat. Früher sagte man<br />

zu den großen Träumen auch Utopie. Das ist ein falsches Wort.<br />

Utopie bedeutet: kein Ort. Ein <strong>Traum</strong> hat aber immer einen Ort.<br />

Der Träumende ist nicht irgendwo im luftleeren Raum, sondern<br />

in einer konkreten Situation. Darauf antworten die Träume.<br />

Träume sind nicht nur ein Ausdruck von Wünschen, sie sind auch<br />

der Ausdruck von Not. Wären wir im Paradies, müssten wir nicht<br />

träumen. Träume sind keine Utopien, es sind Heterotopien, also<br />

andere Orte, eine andere Wirklichkeit, die gleich neben der ersten<br />

Wirklichkeit liegt.“<br />

Gleich daneben und doch ganz anders<br />

Ich sitze am Gipfel des Fritzerkogels und träume vor mich hin.<br />

Es ist Nacht. Aber ich halte die Augen offen. Der Himmel über<br />

mir und die Stille um mich herum lassen mich demütig werden.<br />

Langsam setzt sich die Unruhe in mir – nimmt Platz. Und<br />

nach einer Weile frage ich mich, wie der kleine<br />

Prinz in der gleichnamigen Erzählung von Antoine<br />

de Saint-Exupéry, ob die Sterne vielleicht<br />

deswegen so leuchten, damit jeder den seinen<br />

wiederfinden kann. Wenn ich sage, „ich träume<br />

vor mich hin“, dann meine ich diese Art schwereloser<br />

Bildproduktion, die von woanders aus<br />

mir kommt als im geschäftigen Wachzustand,<br />

wo jeder Gedanke auf seine Nützlichkeit hin<br />

überprüft wird.<br />

Träume stellen eine eigene Wirklichkeit her.<br />

Egal, ob sie im Schlaf produziert werden oder<br />

im Wachen. Die einen werfen ein Licht in die<br />

Regionen des Unbewussten, die anderen<br />

in die Regionen des noch nicht Dagewesenen,<br />

Unbezogenen. Wobei diese strikte<br />

Trennung nur auf den ersten Blick einfach<br />

scheint. Denn bei näherem Hinsehen zeigt<br />

sich, dass vom Unbewussten her gedacht<br />

das Bewusste einen blinden Fleck markiert<br />

und unsere Träume – solange wir träumen<br />

– für uns ebenso wirklich sind, wie nur irgendein<br />

Erlebnis unseres wachen Lebens<br />

sein kann. Das ist keine postmoderne<br />

Spitzfindigkeit, sondern eine Einsicht,<br />

die schon vor mehr als 2000 Jahren den<br />

taoistischen Philosophen Dschuang<br />

Dsi stutzig machte, als ihm im <strong>Traum</strong><br />

Flügel wuchsen: „Ich habe letzte Nacht<br />

geträumt, ich sei ein Schmetterling,<br />

und jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich<br />

ein Mensch bin, der träumt, er sei<br />

ein Schmetterling, oder ob ich<br />

vielleicht ein Schmetterling<br />

bin, der träumt, ein Mensch<br />

zu sein.“<br />

12 gangart


Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge hat Ende des 18. Jahrhunderts<br />

festgehalten, dass im Wachen die Bilder Empfindungen<br />

hervorrufen, während im <strong>Traum</strong> die Empfindungen Bilder inspirieren.<br />

Das könnte ein Einstieg sein – in eine Wirklichkeit, die ihr Geheimnis<br />

hütet bis zum heutigen Tag.<br />

Historische Spuren I<br />

Die Welt der Träume hat von jeher Menschen angezogen, inspiriert<br />

und verunsichert. <strong>Traum</strong>bücher, in denen Träume als Offenbarungsmedium<br />

göttlichen oder dämonischen Ursprungs, aber auch als<br />

Spiegel der menschlichen Seele gehandelt und systematisiert wurden,<br />

sind spätestens seit der Antike fixer Bestandteil einer privatreligiösen<br />

Subkultur. Bis das grelle Licht der Aufklärung auf sie fiel und als<br />

nutzlose, verzerrende oder gefährliche Truggespinste brandmarkte.<br />

Fran<strong>ci</strong>sco de Goya malte sich aus, was viele zu dieser Zeit dachten<br />

und betitelte damit 1799 eine seiner Radierungen aus den Caprichos:<br />

El sueño de la razón produce monstruos. Der Schlaf der Vernunft gebiert<br />

Ungeheuer. Mit der Aufklärung wird das Auge zum bevorzugten<br />

Sinnesorgan. Um in der Tageshelle die Wahrheit zu erblicken, war man<br />

bereit, dafür die anderen Sinne zu opfern und das, was in der Nacht<br />

mit uns passiert, geflissentlich auszuklammern. Wer beiden Welten<br />

lauschen wollte, war auch zuvor schon ein Grenzgänger – wie jener<br />

Odysseus aus Ithaka, der sich auf seinen Irrfahrten dem betörenden<br />

Gesang der Sirenen nur hingeben konnte, indem er sich von seinen<br />

Gefolgsleuten an den Schiffsmast binden ließ – nicht ohne vorher deren<br />

Ohren mit Wachs verschlossen zu haben, damit sie weiterrudern<br />

konnten.<br />

Doch es wäre falsch, sich die fortan verbotenen Verlockungen,<br />

von denen hier die Rede ist, nur als entrückte Ungeheuerlichkeit<br />

vorzustellen. Der Albtraum der neuen Rationalität beginnt<br />

schon dort, wo der Mensch sich nicht in die Apparatur<br />

der maschinellen Produktion hineinzwängen lässt. In<br />

diesem Sinne hat auch die Taugenichts-Figur, die Joseph<br />

von Eichendorff 1823 entwirft, gegen-aufklärerische<br />

oder zumindest Industrie-kritische Züge. Es ist für<br />

die Zeit skandalös, wie sehr dieser Figur die bürgerlichen<br />

Kardinaltugenden Fleiß und Effektivität fehlen. Seine<br />

Abneigung gegen das Arbeitsame drückt sich in seiner<br />

Schlafsucht aus: keine Reise, kein Tun, ohne dass er dem<br />

Schlaf verfällt: „Ich wollte mir doch Italien recht genau besehen<br />

und riß die Augen alle Viertelstunden weit auf. Aber<br />

kaum hatte ich ein Weilchen so vor mich hingesehen, so<br />

verschwirrten und verwickelten sich mir die sechzehn Pferdefüße<br />

vor mir wie Filet so hin und her und übers Kreuz,<br />

daß mir die Augen gleich wieder übergingen, und zuletzt<br />

geriet ich in ein solches entsetzliches und unaufhaltsames<br />

Schlafen, daß gar kein Rat mehr war.“<br />

Nicht nur sein Geigenspiel ist „brotlose Kunst“, durch<br />

sein Schlafen verweigert er sich einer auf Nutzen und<br />

Gewinn ausgerichteten Welt und begibt sich in das für<br />

die Vernunft unzugängliche Reich der Träume. Daneben<br />

frönt er einer weiteren symptomatischen Verhaltensweise:<br />

dem Ersteigen von Bäumen. Um zu fliehen, sich zu<br />

verstecken, zur eigenen Belustigung oder – um zu schlafen;<br />

in der Blätterkrone entzieht er sich den Forderungen<br />

seiner Umgebung, ist unauffindbar, und wird noch dazu<br />

mit einem weiten Ausblick in das Land hinaus belohnt.<br />

Die Sicherheit, mit der Taugenichts in diesem Land<br />

unterwegs ist, hat etwas <strong>Traum</strong>wandlerisches – jenseits<br />

geläufiger Kategorien und Wegweiser.<br />

> Fortsetzung nächste Seite<br />

gangart 13


© Jure Vukadin<br />

wichtig. Er zeigt dir, dass du<br />

nicht ewig Zeit hast, deine<br />

Träume zu verwirklichen.<br />

Und der Weihnachtsmann<br />

schenkt dir dieses kindliche<br />

Vertrauen in die transformative<br />

Kraft deiner Bilder.“ Ich<br />

hole tief Luft und übersetze<br />

für mich: Egal, was du tust<br />

im Leben – du brauchst das<br />

Bild des Gelingens in dir,<br />

damit die Welt weiß, wohin<br />

sie zu gehen hat.<br />

Im Weltraumanzug<br />

durch die Wirklichkeit –<br />

Harald Katzenschläger<br />

vom Dreamicon Valley<br />

Historische Spuren II<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts,<br />

sorgt Sigmund Freud<br />

für eine erste Renaissance<br />

der Träume, indem er sie<br />

ordnet und als Ausdruck unserer<br />

geheimsten Wünsche<br />

beschreibt. Allerdings war er<br />

davon überzeugt, dass viele<br />

Fantasien nur in maskierter<br />

Form in Träumen auftauchten.<br />

Nur in der Verfremdung<br />

gelinge es dem Unbewussten,<br />

sie am „inneren Zensor“,<br />

an unserer Kontrollinstanz<br />

im Kopf, vorbeizuschleusen.<br />

Doch damit der Schwierigkeiten<br />

nicht genug: Denn das<br />

Material seiner Psychoanalyse<br />

sind ja nicht die Träume<br />

selbst, sondern die <strong>Traum</strong>berichte<br />

der Klienten, die Rückerinnerung<br />

an das Träumen<br />

nach dem Aufwachen.<br />

Ausfahrt Dreamicon Valley<br />

Dass Träumer landläufig als Taugenichtse gelten, davon weiß<br />

Harald Katzenschläger, der Gründer des Dreamicon Valley, ein Lied<br />

zu singen. Er sitzt im 9. Stock eines blauen Glaszylinders, der wie<br />

ein Leuchtturm in der pannonischen Landschaft an der Grenze zu<br />

Ungarn steht. Man könnte ihn als <strong>Traum</strong>flüsterer bezeichnen, der<br />

Menschen dabei hilft, ihre Träume zu benennen, zu befreien und in<br />

die Welt zu begleiten. „Viele Menschen trauen sich nicht zu träumen,<br />

weil die Angst, ihren Status zu verlieren, größer ist als die Sehnsucht,<br />

das, was in ihnen brennt, zu verwirklichen. Das hat auch damit zu tun,<br />

dass in unserer Gesellschaft ein Träumer als Nichtsnutz gilt, der auf<br />

einer Bank sitzt und wartet, dass sich alles von alleine erfüllt.“<br />

Diesem Mythos setzt Katzenschläger seinen Slogan "Your dream<br />

works" entgegen. „Wir fragen alle Menschen, die zu uns kommen,<br />

konsequent, was ihr <strong>Traum</strong> ist, wie er funktionieren könnte und was sie<br />

für den nächsten Schritt benötigen. Zum Träumen gehört eine gewisse<br />

Naivität, zweifellos, aber man muss auch bereit sein, etwas dafür zu<br />

tun.“ Katzenschlägers Gefährten in diesen Flüstersitzungen sind<br />

vorzugsweise der Weihnachtsmann und der Tod: „Der Tod ist ganz<br />

Wir alle wissen, wie schwierig<br />

es ist, einen guten <strong>Traum</strong> gut zu erzählen.<br />

Die Wörter lassen uns im Stich. Die Reihenfolge<br />

wird auf den Kopf gestellt. Man kündigt<br />

etwas Wunderbares an, und am Ende bleiben<br />

ein schaler Geschmack und die Frustration,<br />

dass der <strong>Traum</strong> beim Erzählen seinen Glanz<br />

verloren hat. Folgerichtig beschreibt Walter<br />

Benjamin den <strong>Traum</strong> als einen unscheinbaren<br />

Mantel, den man nicht wenden kann. Außen die<br />

graue Langeweile des Schlafes und innen mit<br />

einem wunderbaren und schillernden Seidenfutter<br />

ausgestattet: „Wenn wir träumen, sind wir<br />

in den Arabesken dieses Futters zu Hause.“<br />

Auch wenn Freuds Theorie die Resonanz in der<br />

Wissenschaft versagt blieb, ist die Zeit vorbei,<br />

in der die Verachtung der Träume als sinnloses<br />

Synapsengeflimmer ihr kleinster gemeinsamer<br />

Nenner war. Heute sind Neurobiologen in der<br />

14 gangart


Lage, dem träumenden Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen. Und<br />

dabei hat sich gezeigt, dass beim Träumen – wenn auch mit anderer<br />

Gewichtung – das ganze Gehirn beteiligt ist. Bildgebende<br />

Verfahren (wie fMRT und PET) zeigen auch, dass in den eigentlichen<br />

<strong>Traum</strong>phasen während des REM-Schlafes das limbische<br />

System, das Emotionen verarbeitet, sogar aktiver ist als im<br />

Wachzustand; und dass der präfrontale Cortex – jenes Areal, das<br />

für die eigene Persönlichkeit, für Logik, Sinn und Moral und die<br />

langfristigen Folgen des eigenen Handelns zuständig ist – im<br />

<strong>Traum</strong>zustand irgendwie betäubt ist. Damit ist das Denken von<br />

Zwängen, Geboten und Verboten befreit, und die Phantasie kann<br />

sich austoben. Weil der <strong>Traum</strong> ein kreativer Mischvorgang ist, ist<br />

er auch so schwer zu erzählen. Alte Erfahrungen verbinden sich<br />

mit neuen Erlebnissen und werden phantasievoll weitergesponnen<br />

– in immer neuen Verstrickungen.<br />

Warum das so ist, darüber kann man trefflich spekulieren.<br />

Allan Hobson vergleicht das träumende Gehirn mit einer „Simulationsmaschine“,<br />

die ihre eigene virtuelle Realität erzeugt, um<br />

in dieser für das Wachleben zu trainieren: Motorik, Wahrnehmung,<br />

Triebe. Nachts ist Spielzeit für das Gehirn. Abgekoppelt<br />

von der Außenwelt, darf es, was es sonst nicht darf. Und der<br />

finnische Neurowissenschaftler Antti Revonsuo geht so weit,<br />

die Träume für ein Installationsprogramm unserer genetischen<br />

Software zu halten: Die im Erbgut codierten Überlebenstricks<br />

werden in der Ruhe der Nacht ins Gedächtnis übertragen. Weil<br />

der präfrontale Cortex der evolutionsgeschichtlich jüngste Teil<br />

unseres Gehirns ist, der beim Heranwachsen als letztes heranreift,<br />

vermuten andere Forscher, dass wir im <strong>Traum</strong> in den<br />

Bewusstseinszustand unserer Ahnen zurückfinden. Wieder<br />

andere vergleichen das <strong>Traum</strong>bewusstsein mit dem Denken und<br />

Fühlen kleiner Kinder. Auch ihnen fallen ja Dinge ein, auf die<br />

kein Erwachsener kommt, solange er wach ist.<br />

Ausfahrt Alice Springs<br />

Für die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, ist die ganze<br />

Welt von einem dichten Netz aus <strong>Traum</strong>pfaden, den ‚Songlines’<br />

überzogen, die wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen ein<br />

feinmaschiges Gewebe aus Schöpfungsmythen bilden. Sie berichten<br />

von den Ahnen, die in der <strong>Traum</strong>zeit über den Kontinent<br />

wanderten und singend alles benannten, was ihre Wege kreuzte.<br />

Dabei besangen sie nicht, was da war, sondern brachten mit<br />

ihrem Gesang die Welt erst ins Dasein. Sie schufen sie mit ihren<br />

Liedern.<br />

„Manchmal“, erzählt Arkady, ein Aborigines-Vertrauter in den<br />

<strong>Traum</strong>pfaden des Bruce Chatwin, „wenn ich meine ‚alten Männer’<br />

durch die Wüste fahre und wir zu einer Kette von Sandhügeln<br />

kommen, fangen sie plötzlich an zu singen. ‚Was singt ihr Leute<br />

da?’, frage ich sie, und sie antworten: ‚Wir singen das Land herbei,<br />

Boss. Dann kommt das Land schneller.“ Sie besingen damit noch<br />

heute das Geheimnis der Einbildungskraft, dass etwas erst in<br />

den Köpfen vorgestellt werden muss, bevor es zu existieren<br />

beginnen kann. Unser Bild, das wir von der Welt haben, geht uns<br />

auf unserem Weg durch die Welt voran.<br />

Das deckt sich übrigens auch mit neuesten Erkenntnissen der<br />

Kognitionspsychologie, die zeigen, wie selektiv unsere Wahrnehmungsprozesse<br />

laufen. Unsere Augen sind demnach nicht nur<br />

Sehapparate, um eine Welt außerhalb von uns zu entdecken,<br />

sondern auch Projektoren, die das, was in uns wirklich ist,<br />

nach außen werfen. Was unter anderem zur Folge hat, dass<br />

die Geschichten, die wir über uns erzählen (oder singen),<br />

bestimmen, wie und was wir von der Welt wahrnehmen; und<br />

dass es nicht egal ist, ob wir dabei unserer Angst oder unserer<br />

Liebe das Drehbuchschreiben überlassen. Diese Entscheidung<br />

treffen wir jeden Tag. Und sie weist weit hinein in die<br />

Welt unserer Träume.<br />

Erinnerungslücken<br />

Wir alle träumen. Nur haben wir zum einen verlernt, uns<br />

daran zu erinnern, und zum anderen brav verinnerlicht, die<br />

Tagträume als nutzlos oder gefährlich abzutun. Gleichzeitig<br />

tun wir so, als ob im Schlaf nichts Seltsames in uns vorginge,<br />

„seltsam“ wenigstens verglichen mit unserem logischen,<br />

zweckorientierten Denken im Wachzustand. „Wir sind tüchtig,<br />

doch dabei erschreckend phantasiearm“, wie Erich Fromm es<br />

auf den Punkt bringt. Wir sind wahre Meister im Finden von<br />

Argumenten, warum etwas nicht funktionieren kann und<br />

schicken Menschen mit Visionen vorzugsweise zum Arzt.<br />

Und wir tun dies, weil wir Angst haben, dass da einer wirklich<br />

innovativ wird und die Regeln bricht, in denen wir uns<br />

komfortabel eingerichtet haben.<br />

Hannes Treichl hat ein Buch über die Meuterei des Denkens<br />

geschrieben. Darin geht es um Innovation, aber auch um<br />

eine träumende Form der Kreativität. Er nennt diese Dinge in<br />

einem Atemzug: „Neues wächst in Stille. Kreativität ist jenseits<br />

von Worten und Etiketten. Gedeiht dort, in der lautlosen Lücke.<br />

Zwischen Wahrnehmung und Interpretation.“<br />

Das Refugium der Träume sind die Lücken, Zwischenräume<br />

und schlecht beleuchteten Winkel in einer Welt, in der alles<br />

Information ist, die man nutzen kann. Aufgeklärt und an<br />

allen Ecken und Enden erschlossen, spielen wir die Tatsachen<br />

gegen die Träume aus und merken nicht, was wir uns damit<br />

nehmen. Denn jeder <strong>Traum</strong> verweist auf einen Reichtum und<br />

öffnet uns in Richtung Möglichkeitsform, die wichtig ist, um<br />

in einer bis ins kleinste Detail durchgetakteten Wirklichkeit<br />

nicht den Verstand zu verlieren. Diese Dramatik unterstreicht<br />

der deutsche Schriftsteller Heiner Müller: „Menschen,<br />

die man daran hindert zu träumen, werden entweder<br />

sterben oder untergehen.“<br />

Ausfahrt Tokio<br />

Es war kurz vor der Jahrtausendwende, da wuchs in Japan<br />

eine neue Generation heran. Ihre Vertreter werden Otaku<br />

genannt, was im Japanischen eine sehr distanzierte Form der<br />

Anrede bedeutet. Die Otaku bevorzugen kleinste Informationshäppchen<br />

und meiden jeden körperlichen Kontakt. Sie<br />

verfügen über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und hassen<br />

Zusammenhänge. Sie leben in künstlich geschaffenen Informationsnischen<br />

und kommunizieren ausschließlich über ihr<br />

Fachgebiet.<br />

In Japan ist alles Zeichen und Information: Man nährt sich<br />

von Information, und man kleidet sich in Information. Man<br />

> Fortsetzung nächste Seite<br />

gangart 15


lässt sich den linken Arm bräunen, um zu<br />

signalisieren, dass man ein prestigeträchtiges<br />

importiertes Auto fährt – mit dem Lenkrad auf<br />

der linken Seite.<br />

Die Otaku leben in der Welt der digitalen<br />

Medien wie Fische im Wasser. Sie sind selbst<br />

Medium, durch das jeder Inhalt hindurchgehen<br />

kann, ohne eine Spur zu hinterlassen.<br />

Sie verarbeiten alles, was ihnen unterkommt,<br />

ohne Verzögerung. Die Otaku unterscheiden<br />

nicht zwischen Belebtem und Unbelebtem. Sie<br />

behandeln Menschen wie Dinge und Dinge wie<br />

Menschen. Sie sind dem Fetisch der Information<br />

verfallen. Sie lesen nicht mehr, sie scrollen<br />

sich durch ihr Daumenkino. Unaufhörlich. Und<br />

wenn sie müde werden, nehmen sie Tabletten<br />

oder fallen in einen traumlosen Schlaf.<br />

Vom endlosen Erbsenzählen<br />

Im WIRED-Magazin spricht Chris Anderson<br />

von einem neuen Zeitalter des Daten-Totalitarismus<br />

und vom Glauben, die ganze Welt in<br />

Daten und Information übersetzen zu können.<br />

Daten schaffen Fakten. Zweifellos. Doch diese<br />

Fakten – das ist die Ironie der Geschichte<br />

– verlieren immer mehr an Bedeutung. Wir<br />

leben in einem postfaktischen Zeitalter, in<br />

dem jeder alles behaupten und niemand mehr<br />

nachprüfen kann, was richtig ist. Im Zuge<br />

der totalen Informationsüberflutung hat sich<br />

mehr oder weniger aus Versehen parallel zur<br />

Informationsgesellschaft eine „Nichtwissenwollengesellschaft“<br />

etabliert – ein Zusammenschluss<br />

an Menschen, die jeder Information<br />

misstrauen und nur mehr aus ihrem Bauch<br />

heraus, in dem sie ihre eigenen Vorurteile<br />

nähren, entscheiden. Dass widerliche und<br />

gefährliche Menschen wie Donald Trump sich<br />

heute knapp an der Mehrheitsfähigkeit bewegen,<br />

ist nicht anders zu erklären.<br />

Und die sozialen Netzwerke tragen das Ihre<br />

dazu bei, dass im Dauerregen der Informationen<br />

nur das als Faktum zählt, was man<br />

ohnehin schon glaubt. Winston Smith wird in<br />

Orwells «1984» durch Folter dazu gebracht,<br />

zu glauben, dass zwei und zwei fünf ist. Der<br />

Punkt, so erläutert der Folterer, sei, dem Gefolterten<br />

klarzumachen, dass es keine Wahrheit<br />

außer der von der Partei verkündeten gibt.<br />

Computer sind heute in der Lage, in einer<br />

Sekunde soviel Daten zu verarbeiten,<br />

dass sie Dinge tun können, die lange Zeit<br />

dem Menschen vorbehalten waren. Maschinen<br />

sind die besseren Schachspieler,<br />

Maschinen sind die besseren Autofahrer,<br />

Maschinen schlagen uns in Gebieten, wo<br />

wir dachten, dass es um Intuition also<br />

um etwas zutiefst Menschliches geht.<br />

Die US-Daten-Firma Acxiom handelt<br />

heute mit persönlichen Daten von rund<br />

300 Millionen US-Bürgern, also von<br />

beinahe allen. Acxiom weiß inzwischen<br />

mehr über die US-Bürger als das FBI. Bei<br />

Acxiom werden Menschen in 70 Kategorien<br />

eingeteilt und werden im Katalog<br />

wie Waren angeboten. Mit Daten ist (fast)<br />

alles möglich. Wir können beinahe jedes<br />

Kaufverhalten vorhersehen. Wir können<br />

die Zukunft ableiten, aber gestalten können<br />

wir sie damit nicht.<br />

Vor diesem Hintergrund wird klar, wie<br />

wichtig es ist, das Träumen nicht zu verlernen.<br />

Das Dunkle, das Opake, das uns<br />

Menschen eben auch ausmacht, hochzuhalten.<br />

Der totalen Transparenz ein<br />

kleines, sorgsam behütetes Geheimnis<br />

entgegenzuhalten. Ein letztes Refugium<br />

zu behaupten, das sich nicht quantifizieren<br />

lässt.<br />

Unser Gehirn ist eine Baustelle. Lebenslang.<br />

Und das ist gut so. Denn wären<br />

wir irgendwann fertig, wären wir auch<br />

satt. Wir würden zwar weiter Informationen<br />

durch uns hindurchziehen lassen,<br />

aber wir würden aufgehört haben zu<br />

lernen; neugierig oder begeistert zu<br />

sein. Es wäre still in uns. Gespenstisch<br />

still. Keine Synapsen mehr, die feuern.<br />

Keine Brücken, die geschlagen werden.<br />

Nur noch ein dumpfes Verdauen von<br />

Information. Und alles wäre in ein fahles<br />

Licht getaucht. Kein Licht der Aufklärung<br />

und Selbstbestimmung, sondern<br />

ein bläulich-weißes Licht der Apparatur,<br />

an die wir angeschlossen sind.<br />

Informationen füttern den Geist. Träume<br />

machen ihn hungrig.<br />

Wenn ein Mensch im<br />

<strong>Traum</strong> das Paradies<br />

durchwanderte, und<br />

man gäbe ihm eine<br />

Blume als Beweis,<br />

dass er dort war, und<br />

er fände beim Aufwachen<br />

diese Blume<br />

in seiner Hand – was<br />

dann?<br />

S. T. Coleridge<br />

gefunden im ‚Buch der Träume’<br />

von Jorge Luis Borges<br />

BUCHTIPPS:<br />

Wolfgang Tonninger,<br />

Udo Bräu:<br />

Wegmarken im<br />

Möglichkeitenland.<br />

Wie der narrative Zugang<br />

Menschen und Unternehmen<br />

beweglicher macht.<br />

Jorge Luis Borges: Buch der Träume<br />

Bruce Chatwin: <strong>Traum</strong>pfade<br />

Joseph von Eichendorff:<br />

Aus dem Leben eines Taugenichts<br />

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein<br />

könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher<br />

Hannes Treichl: Meuterei des Denkens<br />

gangart 17

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