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Erziehung - GEW

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mehr Ehrenamtliche<br />

Karikaturen: Thomas Plaßmann<br />

Prekäre Arbeitsverhältnisse – man<br />

kennt sie aus dem Niedriglohnbereich<br />

für gering Qualifizierte. Doch zunehmend<br />

greifen sie auf den gesamten<br />

Bildungssektor über: Minijobs in<br />

Kitas, befristete Lehrtätigkeiten mit<br />

geringem Verdienst in der Familienbildung<br />

oder an Hochschulen, Ein-<br />

Euro-Jobs oder schlecht bezahlte Zeitverträge<br />

an Volkshochschulen und<br />

neuerdings auch an Schulen.<br />

Es sind hoch qualifizierte<br />

Fachkräfte mit akademischem<br />

Abschluss, die oft am<br />

Rande des Existenzminimums<br />

arbeiten. Ein Trend,<br />

der gestoppt werden muss –<br />

nicht nur im Interesse der Beschäftigten.<br />

Einen Verlust an Qualität in der Bildung<br />

kann sich Deutschland nicht leisten.<br />

Beispiel Schule: Würde man Jitka Stuck*<br />

fragen, welches Thema sie mit ihren<br />

Schülern in einem Monat im Englisch-<br />

Unterricht behandeln wird, die 32-jährige<br />

Lehrerin wüsste nicht genau, was sie<br />

antworten sollte. Die gebürtige Tschechin<br />

ist eine von derzeit mehr als 300<br />

Lehrerinnen und Lehrern, mit deren<br />

Hilfe der Berliner Schulsenat den Unterrichtsausfall<br />

stoppen will. Seit Ende Februar<br />

arbeitet Jitka Stuck an einer verbundenen<br />

Haupt- und Realschule im<br />

Stadtteil Neukölln. Die Casting-Idee<br />

des neuen Bildungssenators Jürgen Zöllner<br />

(SPD) stieß in der Öffentlichkeit auf<br />

wohlwollendes Echo – zunächst, bis<br />

sich herausstellte, dass die Lehrer nur als<br />

Feuerwehr eingesetzt werden sollen und<br />

ihr Anstellungsvertrag mit Beginn der<br />

Sommerferien ausläuft.<br />

Oder noch früher, wie Jitka Stuck fürchtet.<br />

In ihrem Vertrag steht nämlich, dass<br />

sie an dem Tag ihren Schreibtisch räumen<br />

muss, wenn die erkrankte Kollegin<br />

wieder gesund an ihren Arbeitsplatz<br />

zurückkehrt. „Eine makabre Situation“,<br />

sagt Stuck, „ich muss also froh sein,<br />

wenn die Kollegin länger krank bleibt.“<br />

Was nach den Sommerferien wird, weiß<br />

sie noch nicht. Das kleine Fünkchen<br />

Hoffnung, dass irgendwo eine Stelle als<br />

Lehrerin frei wird, bleibt.<br />

„Eine vernünftige Unterrichtsplanung<br />

ist unter solchen Bedingungen natürlich<br />

nicht möglich“, sagt Jitka Stuck zu dieser<br />

Ex-und-Hopp-Einstellungspolitik.<br />

„Die Kinder fragen mich fast jeden Tag,<br />

wie lange ich denn noch bleiben werde.“<br />

Oft sitze sie am Wochenende auf der<br />

Wohnzimmercouch und grüble darüber<br />

nach, ob es überhaupt noch Sinn<br />

macht, sich intensiv auf die kommenden<br />

Wochen vorzubereiten. Die Englischlehrerin<br />

sieht sich als Lückenbüßerin<br />

für eine verfehlte Einstellungspolitik<br />

des Senats und sie weiß von anderen<br />

Kolleginnen und Kollegen, die das vom<br />

Senat als Chance angepriesene Angebot<br />

nicht angenommen haben. „Die gehen<br />

lieber an eine Privatschule. Da verdienen<br />

sie zwar weniger, dafür stimmt dort<br />

meist das Lern- und Arbeitsklima.“<br />

Es sind vor allem junge Lehrerinnen<br />

und Lehrer, die an den Berliner Schulen<br />

als Reservisten eingesetzt werden sollen.<br />

Wobei die Bezeichnung „Reservisten“<br />

keineswegs eine sprachliche Übertreibung<br />

ist. Peter Sinram, Pressesprecher der<br />

Berliner <strong>GEW</strong>, berichtet von einer Lehrerin,<br />

die nach dem Casting zur Schule<br />

bestellt wurde, um ihren Vertrag zu unterschreiben.<br />

Dort habe man der jungen<br />

Kollegin mitgeteilt, dass sich die Sache<br />

erledigt habe; die erkrankte Lehrerin sei<br />

wieder gesund. Kaum daheim angekommen,<br />

habe bei der „Reservistin“ dann erneut<br />

das Telefon geklingelt, sie solle<br />

doch noch kommen, da justement ein<br />

Lehrer einen Hörsturz erlitten habe und<br />

auf unbestimmte Zeit ausfalle.<br />

Das Schicksal Jitka Stucks ist beispielhaft<br />

für eine relativ neue Entwicklung,<br />

die zunehmend den gesamten Bildungssektor<br />

erfasst. Längst ist auch die Mittelschicht<br />

von der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse<br />

betroffen, sagt Berthold<br />

Vogel vom Hamburger Institut für Sozialforschung.<br />

Die „Fragilität und Unsicherheit<br />

von Beschäftigten halte selbst<br />

in die stabilen Kernbereiche der Arbeitsgesellschaft<br />

Einzug“, also auch in die öffentlichen<br />

Dienste. „In der Erwachsenenbildung<br />

und der Kleinkindpädagogik<br />

ist das schon länger zu beobachten.“<br />

Viele Erzieherinnen und Weiterbildner<br />

hätten sich hier bereits „mit der Situation<br />

der permanenten Unsicherheit arrangiert“,<br />

sagt der Sozialwissenschaftler,<br />

der befürchtet, dass diese Entwicklung<br />

auf die Schulen übergreift.<br />

Schule als Unternehmen<br />

So hält es Vogel durchaus für möglich,<br />

dass Schulleitungen sich künftig aus<br />

Gründen knapper Kassen dafür entscheiden,<br />

die Nachmittagsbetreuung an<br />

ihren Einrichtungen an private Bildungsfirmen<br />

zu vergeben, die eigene<br />

Kräfte zu deutlich schlechteren Kondi-<br />

4/2007 <strong>Erziehung</strong> und Wissenschaft 7

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