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36 Vermischtes BESTplus<br />
Das Bruchfenster<br />
9. November 1989, 20:00 Uhr. Onkel Kurt hatte sich gerade sein<br />
Abendbier eingeschenkt, als die Fernsehansagerin der Aktuellen<br />
Kamera des DDR Fernsehens über die Mitteilung zur Reiseregelung<br />
für die DDR-Bürger berichtete. Es war dumm gelaufen,<br />
den Sperrfristvermerk bis 4:00 morgens, 10. November hatte das<br />
ZK-Mitglied der SED Günter Schabowski nicht mitbekommen.<br />
Er verhedderte sich in dem Papierstapel, den ihm der Parteivorsitzende<br />
Egon Krenz am Ende der ZK-Tagung für die Pressekonferenz<br />
zugeschoben hatte. Dann lief alles aus dem Ruder, der<br />
Damm war gebrochen, die Mauer fiel.<br />
Den kleinen Sven bekümmerte das nicht. Immer wieder zog<br />
er sich an der schweren Wohnzimmer-Gardine hoch, um dann,<br />
zunehmend mutiger werdend, seine ersten Schritte in den Raum<br />
zu wagen. Dieses Mal hatten Svens Eltern kaum Augen für ihn<br />
und Onkel Kurt tat etwas, was er sonst nie im Kreis der Familie<br />
gemacht hätte, er schaltete auf das West-Fernsehen um. Wie<br />
gebannt verfolgte er die Bilder, er war ganz bleich, dann holte<br />
er die Flasche Nordhäuser Korn.<br />
Vier Wochen später. Sven Bodenhagen schaffte es schon rücklings<br />
halb rutschend, halb krabbelnd die Treppenstiegen runter.<br />
Er folgte seiner Mutter unbemerkt in den hinteren Raum<br />
im Kellerflur. Flink schlüpfte er in den Raum hinter die Tür. Die<br />
Mutter sah ihn nicht. Einen Tragekorb mit Eingemachtem in der<br />
Hand, drehte sie den Lichtschalter aus und zog die Tür hinter<br />
sich zu. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben erfuhr Sven<br />
schreckliche Angst. Nur ein ganz schwacher Lichtschimmer einer<br />
Straßenlaterne drang durch das schmale, trübe Fenster oben<br />
an der Außenwand des dunklen Kellerraumes. Sven wimmerte,<br />
dann nässte er sich ein. Nach einiger Zeit hörte er die „Sven,<br />
Sven!“-Rufe. „Mama!“, klang es verzweifelt aus dem<br />
Raum. Endlich fanden sie ihn.<br />
1987 kam Sven auf die Welt, zwei Jahre zuvor<br />
sind sie, seine Eltern und Onkel Kurt mit Tante<br />
Klara in das schmucke Häuschen in Klein-<br />
Machnow eingezogen. Onkel und Tante lebten<br />
oben im ersten Stock, sie hatten keine Kinder,<br />
dafür aber Parteikarriere gemacht. Etliche<br />
Nachbarn waren auch verdiente Genossen.<br />
Das Verhältnis zu den Hausbesitzern aus der<br />
vorsozialistischen Zeit war dagegen eher angespannt.<br />
Es waren Onkel Kurts Beziehungen, dass<br />
sie in das Villen-ähnliche, leicht marode Häuschen<br />
einziehen konnten. Neben seiner Tätigkeit im<br />
Ministerium, war Onkel Kurt ehrenamtlicher Volkskontrolleur<br />
der Arbeits-und Bauern-Inspektion. Im Zusammenhang mit einer<br />
Auszeichnung erhielt er kurz nach dem Umzug nach Klein-Machnow<br />
Fünftausend Mark Prämie. Mit diesem Geld und kollektiver<br />
Unterstützung konnten sie das neue Domizil renovieren; sogar<br />
eine Sauna wurde eingebaut. Nur wenige Jahre später, nach<br />
der Wende, mussten sie von dem als Bonzenviertel bekannten<br />
Klein-Machnow wegziehen. Die Treuhand kam, ein Versicherungsvertreter<br />
aus dem Westen zog den Vater über den Tisch,<br />
kurze Zeit später gab es das Kombinat nicht mehr und der Vater<br />
wurde arbeitslos.<br />
Die Luft um Onkel Kurt wurde immer dünner, es gab Selbstmorde<br />
unter seinen ehemaligen Partei-Genossen. Die meisten flohen in<br />
den Alkohol oder passten sich an. Sven war damals gerade mal<br />
fünf Jahre alt. Für ihn waren die ersten Kinderjahre in der DDR<br />
nur noch schemenhafte Erinnerungs-Bruchstücke. Häuser, der<br />
bröckelnde Putz grau in grau, knatternde Trabants und Wartburgs,<br />
Nachbarkinder mit fröhlichen blauen Halstüchern, in den<br />
Straßenzügen große rote Schriftzüge und der allgegenwärtige<br />
Braunkohlengestank. Einzig sein Onkel Kurt, der ältere Bruder<br />
seines Vaters, bedeutete für ihn so eine Art Sinnbild des zweiten<br />
deutschen Staates damals, aus dem er stammte. Oft hörte<br />
Sven Onkel Kurt sagen: „Die Treuhand und diese Kapitalisten-<br />
Verbrecher plündern uns aus! “Sie lebten jetzt in Berlin-Marzahn.<br />
Onkel Kurt gleich um die Ecke in der Stolzenhagener Straße,<br />
Tante Klara hatte sich von ihm getrennt und fand einen Partner<br />
in Westdeutschland. An der Wand im Flur von Onkel Kurts kleiner<br />
Wohnung waren eine ganze Reihe von Auszeichnungen und<br />
Ehrungen, alle mit Hammer und Sichel. Er war ein hohes Tier, damals,<br />
wie Svens Vater erzählte. Onkel Kurt selbst war schweigsam<br />
und schien sich von der neuen Welt abzuschotten. Manchmal traf<br />
er sich mit alten Genossen und kam dann angetrunken vorbei.<br />
Jahre später knatterten Sven und seine Kumpels auf ihren<br />
Boards über die Betonplatten im Viertel oder leerten<br />
die sixpacks aus dem Nettomarkt. So dünn wie<br />
Sven Bodenhagen war, so flink und gelenkig war<br />
er auch, sie nannten ihn Spargel-Marzahn. Respekt<br />
hatte er nur vor Onkel Kurt. „Faule, disziplinlose<br />
Pissnelken“ hörte er ihn oft auf die Lehrer schimpfen,<br />
wenn Svens Eltern wieder mal frustriert von den Elternabenden<br />
kamen. Schließlich hatte Sven die Schulpflicht<br />
erfüllt und sollte in irgendwelchen Ausbildungsmaßnahmen<br />
für den Arbeitsmarkt tauglich gemacht werden.<br />
Sven brauchte mehr Geld als er hatte, das Saufen