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gangart_5_Bildung

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Laut UNESCO werden in den nächsten 30 Jahren<br />

mehr Menschen eine erfolgreiche Ausbildung<br />

abschließen als seit dem Beginn der Geschichtsschreibung.<br />

Das heißt auch, dass plötzlich so etwas<br />

wie akademische Grade nichts mehr wert sind.<br />

Wenn Personalchefs bei Einstellungsgesprächen<br />

die Schulnoten der Bewerber gar nicht mehr sehen<br />

wollen, sondern auf andere Fähigkeiten achten, der<br />

Abschluss also keine Jobgarantie mehr darstellt,<br />

dann ist es legitim zu fragen, was auf dem Weg<br />

dorthin im Normalfall alles auf der Strecke bleibt.<br />

Ken Robinson, der britische Autor und Vordenker<br />

in Sachen <strong>Bildung</strong>, erzählt in einem TED-Vortrag<br />

die Geschichte von einem sechsjährigen Mädchen<br />

in der Grundschule. Normalerweise eher abwesend<br />

in der letzte Reihe sitzend ist es beim Zeichenunterricht<br />

voll dabei. 20 Minuten lang zeichnet das<br />

Mädchen und nimmt rundherum nichts mehr<br />

wahr. Der Lehrerin fällt das auf, sie geht schließlich<br />

zu dem Mädchen und fragt sie, was sie denn<br />

da zeichnet. Ohne aufzublicken sagt das Mädchen:<br />

„Ich zeichne ein Bild von Gott.“ Überrascht antwortet<br />

die Lehrerin: „Aber niemand weiß, wie Gott<br />

aussieht.“ Darauf das Mädchen: „In einer Minute<br />

wissen Sie es.“<br />

Ken Robinson erzählt uns die Geschichte nicht,<br />

weil er sich über das Mädchen lustig macht. Er erzählt<br />

sie uns, weil sie uns an etwas ganz Wichtiges<br />

erinnert: wie selbstbewusst Kinder ursprünglich<br />

sind, wenn es um ihre Phantasie geht. Wenn Sie<br />

Erstklassler fragen, wer von Ihnen ein Künstler<br />

ist, heben 90% die Hand. Am Ende der Schulzeit<br />

bleiben fast alle Hände unten. Warum ist das so?<br />

Warum wird in der Schule Kreativität systematisch<br />

ausgetrieben? Kreativität, die darin besteht,<br />

Bekanntes in neuen Konstellationen zu denken,<br />

wie Arthur Koestler in seinem berühmten Buch „The Act of Creativity“<br />

ausführt: „Der schöpferische Akt schafft nicht aus dem<br />

Nichts – er deckt auf, wählt aus, mischt, kombiniert, bildet Synthesen<br />

aus bereits vorhandenen Tatsachen, Vorstellungen und<br />

Fertigkeiten.“ Dafür braucht es Umgebungsbedingungen, die<br />

vor allem eines sicherstellen: Dass wir die Zeit und den Raum<br />

haben, langsam zu arbeiten. Es ist die Schule des zweiten Blicks.<br />

Zwischenfrage: Wie viele Verwendungsmöglichkeiten gibt es für<br />

eine Büroklammer? Wenn Sie 10-15 Möglichkeiten aufzählen, gehören<br />

Sie zum Durchschnitt. Kreative Menschen schaffen zweihundert<br />

Möglichkeiten und mehr. Das ist bemerkenswert, weil<br />

es in komplexen Situationen, wie wir sie heute haben – das heißt,<br />

Situationen mit vielen Abhängigkeiten –, vor allem darum geht,<br />

Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und<br />

möglichst verschiedene Lösungswege in Betracht zu ziehen.<br />

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns aufschwingen, den Begriff<br />

der Intelligenz radikal neu zu denken, bevor wir <strong>Bildung</strong>sdebatten<br />

führen, die schon in den Grundannahmen fragwürdig<br />

sind. Drei Dinge gelten dabei als gesichert: 1) Intelligenz ist<br />

nicht eindimensional, sondern vielfältig. Wir begreifen die Welt<br />

visuell, über Töne, durch unseren Tastsinn, emotional, abstrakt<br />

und über die Bewegung. 2) Sie ist dynamisch und interaktiv.<br />

Potenziale erschließen sich über Vernetzungen – im Gehirn<br />

genauso wie im Sozialen. Tatsächlich entsteht Kreativität – also<br />

originelle Ideen, die Bedeutung haben – sehr häufig durch Interaktion.<br />

3) Sie ist individuell, was soviel heißt, dass jedes Kind<br />

begabt ist und Potenziale hat, die sich entfalten wollen.<br />

Suchen wir Potentiale oder Defizite?<br />

Ken Robinson erzählt noch eine andere Geschichte, die ihn<br />

darauf brachte, durch die Welt zu reisen und in unzähligen<br />

Interviews Menschen danach zu fragen, wie sie auf ihre Talente<br />

stießen. Es war ein Gespräch mit der Choreographin Gillian<br />

Lynne. Auf seine Frage, wie sie Tänzerin wurde, erzählt sie, dass<br />

sie in der Schule schon sehr früh beinahe alle Hoffnung verlo-<br />

16 <strong>gangart</strong>

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