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05 Maßgeschneiderte Frühmobilisation

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Leitthema<br />

MedKlinIntensivmedNotfmed2017 ·112:308–313<br />

DOI 10.1007/s00063-017-0280-2<br />

Eingegangen: 24. Januar 2017<br />

Angenommen: 13. März 2017<br />

Online publiziert: 12. April 2017<br />

© Springer Medizin Verlag GmbH 2017<br />

Redaktion<br />

M. Joannidis, Innsbruck<br />

S. Nessizius<br />

Gemeinsame Einrichtung für internistische Intensiv- und Notfallmedizin Landeskrankenhaus,<br />

Universitätskliniken Innsbruck, Innsbruck, Österreich<br />

<strong>Maßgeschneiderte</strong><br />

<strong>Frühmobilisation</strong><br />

Darf’s ein bisschen mehr sein?<br />

In einigen Studien und Reviews konnte<br />

gezeigt werden, dass die <strong>Frühmobilisation</strong><br />

mit einem besseren funktionellen<br />

Outcome (v. a. „activities of daily life“,<br />

ADL),kürzerenAufenthaltszeitenaufder<br />

Intensivstation (ICU; „lenght of stay“,<br />

LOS) und dem selteneren bzw. kürzeren<br />

Auftreten eines ICU-Delirs einhergeht<br />

[1]. In anderen Worten: Je früher mit<br />

der Mobilisation aus dem Bett heraus begonnen<br />

wurde, desto aktiver waren die<br />

Patienten im Setting der normalen Bettenstation<br />

und desto kürzer war die LOS<br />

im Krankenhaus [2].<br />

Hintergrund<br />

Zahlreiche Publikationen empfehlen die<br />

<strong>Frühmobilisation</strong> des Intensivpatienten,<br />

beginnend mit passiven Techniken<br />

über assistive Maßnahmen bis hin zu<br />

aktivem Training (inkl. Sitzen, Stehen<br />

und Gehen), woraus positive Effekte<br />

bezüglich des funktionellen Outcomes<br />

und v. a. auch hinsichtlich des ICU-<br />

Delirs entstehen. Nicht zuletzt durch<br />

die Revision der S2e-Leitlinie „Lagerungstherapie<br />

und <strong>Frühmobilisation</strong> zur<br />

Prophylaxe oder Therapie von pulmonalen<br />

Funktionsstörungen“ hat sich die<br />

<strong>Frühmobilisation</strong> als State of the Art in<br />

der modernen Intensivmedizin durchgesetzt<br />

und viele Stationen arbeiten bereits<br />

mit maßgeschneiderten ressourcenorientierten<br />

Mobilisationskonzepten [3].<br />

Gerade bei Intensivpatienten, die<br />

intubiert oder tracheotomiert und in<br />

ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt<br />

sind, besteht die Herausforderung<br />

während der <strong>Frühmobilisation</strong> in<br />

der Einschätzung folgender wichtiger<br />

Fragen:<br />

4 Ab wann kann der Patienten belastet<br />

werden?<br />

4 Woran ist zu erkennen, dass der<br />

Patient ausreichend belastet ist?<br />

4 Woran ist eine etwaige Überlastung<br />

zu erkennen?<br />

4 Wie oft soll mit dem Patienten<br />

trainiert werden?<br />

4 Welche Parameter kommen infrage,<br />

um sich orientieren zu können?<br />

Unklarheiten gibt es nach wie vor in<br />

Bezug auf die Dauer und die Intensität<br />

bzw. die Frequenz der <strong>Frühmobilisation</strong><br />

bzw. der Physiotherapie. In den bereits<br />

erwähnten S2e-Leitlinien wird eine tägliche<br />

Behandlungsdauer von mindestens<br />

2-mal pro Tag zu jeweils 20 min empfohlen.<br />

Aufgabe dieses Artikels ist es,<br />

einen Überblick aus der Sicht der Physiotherapie<br />

zu praktikablen Assessments zu<br />

geben, mit deren Hilfe die angeführten<br />

Fragen beantwortet werden können.<br />

<strong>Frühmobilisation</strong> im<br />

multiprofessionellen Team<br />

Die <strong>Frühmobilisation</strong> erfolgt im Idealfall<br />

immultiprofessionellenIntensivteambestehend<br />

aus Experten der einzelnen Berufsgruppen<br />

(z. B. Patient, Intensivmediziner,<br />

Intensivpflegekräfte und Therapeuten)<br />

und anhand eines stationseigenen<br />

Mobilisationskonzepts, das sich am<br />

sog. ABCDEF-Bundle orientiert [4].<br />

In . Abb. 1 werden die einzelnen Teilbereiche<br />

sowie die jeweilige Zuständigkeit<br />

des Bundle abgebildet, woraus sich<br />

patientenzentrierte Handlungsempfehlungen<br />

ableiten lassen. In den verschiedenen<br />

Bereichen können die Experten<br />

der einzelnen Berufsgruppen aufgrund<br />

ihres Fachwissens unterschiedliche Ansätze<br />

wählen.<br />

Die Physiotherapie ist (in Kombination<br />

mit der Ergotherapie und u. U. gemeinsam<br />

mit der Logopädie) besonders<br />

im Bereich der vorbereitenden Bewegungstherapie<br />

(muskuläre und kardiopulmonale<br />

Trainingstherapie bzw. Aktivierungstraining)<br />

und bei der Mobilisation<br />

aus dem Bett heraus immanent<br />

wichtig. In einer prospektiven Observationsstudie<br />

von Hanekom et al. war das<br />

Outcome der <strong>Frühmobilisation</strong> mit physiotherapeutischer<br />

Unterstützung besser<br />

als ohne [5]. Außerdem kann im Rahmen<br />

der Atemphysiotherapie gerade beim beatmeten<br />

Patienten die Atemfunktion verbessert<br />

und somit das Weaning aktiv unterstützt<br />

werden. In diesem Zusammenhang<br />

muss auf die (noch) sehr heterogene<br />

Verteilung von spezialisierten Physiotherapeuten<br />

im interprofessionellen Intensivteam<br />

hingewiesen werden. Es gibt<br />

Intensivstationen, an denen täglich eine<br />

physiotherapeutische Betreuung stattfindet,<br />

und ebenso Abteilungen, an denen<br />

nur sporadisch Physiotherapie angeboten<br />

werden kann.<br />

Voraussetzungen für die<br />

<strong>Frühmobilisation</strong><br />

Um eine effiziente <strong>Frühmobilisation</strong> mit<br />

dem Patienten durchführen zu können,<br />

ist ein adäquates Sedierungsmanagement<br />

ausschlaggebend und für den<br />

Erfolg entscheidend. Schmerzen können<br />

eine große Barriere sowohl bei der Be-<br />

308 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 4 · 2017


Abb. 1 9 Teilbereiche<br />

und Zuständigkeitenzum<br />

ABCDEF-<br />

Bundle<br />

Orientierung an den u. a. von Nydahl<br />

et al. beschriebenen Sicherheitskriterien<br />

zur <strong>Frühmobilisation</strong> in Form eines<br />

interprofessionellen Ampelsystems. In<br />

groben Zügen besteht dieses System aus<br />

3 Farben, aus denen die Bedingungen zur<br />

Mobilisation abgeleitet werden können<br />

(. Abb. 2).<br />

Der große Vorteil an diesem Ampelsystem<br />

ist die individuelle Anpassungsmöglichkeit<br />

an die Rahmenbedingungen<br />

der eigene Station und damit an die besonderen<br />

fach- bzw. stationsspezifischen<br />

Bedürfnisse der jeweiligen Patientenpopulation<br />

sowie an die Kompetenzen der<br />

involvierten Personen [7].<br />

Personalisierung der<br />

Intensivmedizin<br />

Abb. 2 8 Risikomanagement der aktiven Mobilisation in Form eines Ampelsystems [7]<br />

<strong>Frühmobilisation</strong><br />

Durchführung<br />

Evaluation<br />

Planung<br />

Abb. 3 9 Prozess<br />

der <strong>Frühmobilisation</strong><br />

wegungs- und Atemphysiotherapie wie<br />

auch bei der tatsächlichen <strong>Frühmobilisation</strong><br />

aus dem Bett heraus darstellen.<br />

Zur Evaluierung des Therapieziels<br />

werden die notwendigen Parameter mithilfe<br />

spezifischer Assessments eruiert.<br />

Außerdem beeinflussen naturgemäß<br />

spezifische Sicherheitskriterien die Akzeptanz<br />

und den Erfolg der <strong>Frühmobilisation</strong>,<br />

wobei die <strong>Frühmobilisation</strong> als<br />

relativ sicher angesehen und mit einer Inzidenz<br />

von unerwünschten Ereignissen<br />

von


Zusammenfassung · Abstract<br />

Trainingslehre in der<br />

Intensivmedizin<br />

Med Klin Intensivmed Notfmed 2017 · 112:308–313<br />

© Springer Medizin Verlag GmbH 2017<br />

DOI 10.1007/s00063-017-0280-2<br />

Ein weiterer wichtiger Punkt im Zusammenhang<br />

mit der praktischen Durchführung<br />

der Frühmobilisierung sowie der<br />

PhysiotherapieistdasAbschätzenderBelastbarkeit<br />

des Intensivpatienten im RahmendermöglichenInterventionen.Dazu<br />

wird ein Grundwissen aus der Trainingslehre<br />

benötigt.<br />

Das Trainingsmodell der SuperkompensationbeschreibtdenAblaufvonTrainingsreiz,körperlicherErmüdung,ErholungundAnpassungmitderdarausresultierenden<br />

Steigerung der Funktionalität.<br />

Dabei müssen die allostatischen Systeme<br />

(Immun-, Hormon- oder Stresssystem)<br />

trainingsbedingte Veränderungen<br />

von homöostatischen Gleichgewichten,<br />

wiez.B.Blutdruck,pH-WertoderMineralhaushalt,<br />

regulieren können. Durch<br />

die schwere Grunderkrankung und die<br />

intensivmedizinischen Maßnahmen reagiert<br />

der Intensivpatient auf einen Trainingsreiz<br />

mitunter verzögert oder paradox,<br />

da die metabolische und immunologische<br />

Anpassung gestört sein kann.<br />

Dennoch lassen sich einige Prinzipien<br />

der Trainingslehre bei Intensivpatienten<br />

anwenden und in den Prozess der Frührehabilitation<br />

integrieren.<br />

Kardiopulmonales Training<br />

Das kardiopulmonale Training (Ausdauertraining)<br />

erfolgt frühestmöglich durch<br />

passive bzw. assistive Bewegungstherapie<br />

im Bett sowie durch Lagerung und<br />

Positionierung des Intensivpatienten in<br />

Anlehnung an die bereits erwähnte S2e-<br />

Leitlinie, wobei gerade in der Frühphase<br />

auf eine Überlastung geachtet werden<br />

muss. Die notwendigen Parameter sind<br />

am Monitor bzw. am Respirator ersichtlich<br />

und werden noch erläutert.<br />

S. Nessizius<br />

<strong>Maßgeschneiderte</strong> <strong>Frühmobilisation</strong>. Darf’s ein bisschen mehr<br />

sein?<br />

Zusammenfassung<br />

Die <strong>Frühmobilisation</strong> des Intensivpatienten<br />

im interprofessionellen Team beginnt<br />

mit passiven Techniken und führt über<br />

unterstützende Maßnahmen weiter bis zu<br />

aktivem Training, inklusive Mobilisation zum<br />

Sitzen, Stehen und Gehen. Diesbezügliche<br />

positive Effekte konnten in zahlreichen<br />

Studien nachgewiesen werden und finden<br />

sich auch in der Revision der S2e-Leitlinien<br />

„Lagerungstherapie und <strong>Frühmobilisation</strong> zur<br />

Prophylaxe oder Therapie von pulmonalen<br />

Funktionsstörungen“ wieder. Um hinsichtlich<br />

des Intensivpatienten, des interprofessionellen<br />

Personals, der stationsspezifischen<br />

Strukturen und des eingesetzten Equipments<br />

ressourcenorientiert arbeiten zu können,<br />

ist es notwendig, ein maßgeschneidertes<br />

Mobilisationskonzept zu verwenden. Hierbei<br />

kommt es zu einer Personalisierung der<br />

Intensivmedizin, indem auf die genauen<br />

Bedürfnisse des Intensivpatienten eingegangen<br />

und somit auch auf die jeweilige<br />

momentane Belastbarkeit bezüglich<br />

unterschiedlicher pflegerischer bzw.<br />

therapeutischer Maßnahmen reagiert werden<br />

kann. Einige Grundsätze der Trainingslehre<br />

lassen sich beim Intensivpatientenumsetzen,<br />

wenn anhand spezifischer Assessments der<br />

momentane Zustand des Intensivpatienten<br />

eingeschätzt wird und daraus die adäquaten<br />

Therapiemaßnahmen und Trainingsreize<br />

abgeleitet werden. Durch ein geschlossenes<br />

System von Evaluierung und Reevaluierung<br />

wird ein kontinuierlicher <strong>Frühmobilisation</strong>sprozess<br />

mit bestmöglichem Outcome<br />

angestrebt.<br />

Schlüsselwörter<br />

Intensivmedizin · Bewegungstherapie ·<br />

Physiotherapie · Krafttraining · Rehabilitation<br />

Customised early mobilisation. How about a little bit more?<br />

Abstract<br />

Early mobilisation of patients in intensive<br />

care starts in a multiprofessional team with<br />

passive techniques continuing with assistive<br />

measures and finally going on to active<br />

training including mobilisation leading to<br />

sitting and standing positions as well as<br />

walking. Positive effects regarding these<br />

procedures have been proved in numerous<br />

studies and can also be found in the revision<br />

of the S2e guideline “Positioning and early<br />

mobilisation in prophylaxis or therapy of<br />

pulmonary disorders”. In order to work with<br />

regard to the resources of the patient in<br />

intensive care, of the multiprofessional team,<br />

of the ward-specific structures and of the used<br />

equipment it is vital to apply a customised<br />

mobilisation concept. Consequently, intensive<br />

care medicine is personalised which means<br />

that the patient’s needs are determined and<br />

precisely met. This and the patient’s present<br />

physical capacity lead to the adaptation<br />

of nursing and therapeutic measures<br />

respectively. Some treatment methods and<br />

principles of training theory can be applied<br />

to the intensive care patient if beforehand<br />

the patient’s current condition is evaluated<br />

by means of specific assessment methods. As<br />

a result, appropriate forms of therapy and<br />

adequate stimuli of training can be derived.<br />

The aim is a continuous process of early<br />

mobilisation with the best possible outcome<br />

guaranteed by a closed system of evaluation<br />

and re-evaluation.<br />

Keywords<br />

Intensive care · Exercise therapy · Physical<br />

therapy · Resistance training · Rehabilitation<br />

Krafttraining<br />

Für das Krafttraining der Extremitäten-<br />

und der Atemmuskulatur eignen<br />

sich im intensivmedizinischen Setting<br />

v. a. Trainingsmethoden, die die Rekrutierung<br />

möglichst vieler Muskelfasern<br />

innerhalb eines Muskelbündels ermöglichen<br />

(intramuskuläre Koordination).<br />

Durch eine intensive Anspannung des<br />

jeweiligen Muskels kommt es zu einer<br />

schnellen Aktivierung der α-Motoneuronen<br />

und es wird eine möglichst hohe<br />

Kraftentfaltung ermöglicht.<br />

Im klinischen Alltag erfolgt die Umsetzung<br />

dieses Modells beim Intensivpatienten<br />

im Rahmen des medizinischen<br />

Krafttrainings, indem möglichst starke<br />

Reize gesetzt werden, um eine Förderung<br />

der muskulären Leistung zu erreichen.<br />

Dieser Teil der Therapie wird exzentrisch<br />

mit sehr hohem sowie konzentrisch mit<br />

hohem Widerstand und wenigen Wiederholungen<br />

zusätzlich zur Bewegungstherapie<br />

umgesetzt.<br />

310 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 4 · 2017


Abbruch der Mobilisaon<br />

S p<br />

O 2<br />

< 88 %<br />

Herzfrequenzanseg > 20 %<br />

Herzfrequenz < 40 oder > 130/min<br />

neu auretende Herzrhythmusstörungen<br />

systolischer Blutdruck > 180 mmHg<br />

milerer Blutdruck < 65 mmHg oder > 110 mmHg<br />

Wert Anstrengung Schmerz Dyspnoe<br />

0 Keine Anstrengung Kein Schmerz Keine Atemnot<br />

Abb. 4 9 Kriterien<br />

für den Abbruch<br />

einer <strong>Frühmobilisation</strong>.<br />

Auszug aus<br />

den Empfehlungen<br />

der S2e-Leitlinie<br />

(Punkt 43; [3])<br />

1 Sehr leichte Anstrenung Sehr leichter Schmerz Sehr leichte Atemnot<br />

2 Leichte Anstrengung Leichter Schmerz Leichte Atemnot<br />

3 Mäßige Anstrengung Mäßiger Schmerz Mäßige Atemnot<br />

4 Etwas anstrengend Etwas schmerzha Etwas Atemnot<br />

5 Ziemlich anstrengend Ziemlich schmerzha Ziemliche Atemnot<br />

6 Ziemlich schwer anstrengend Ziemlich starke Schmerzen Ziemlich starke Atemnot<br />

7 Sehr anstrengend Starke Schmerzen Starke Atemnot<br />

8 Sehr schwer anstrengend Sehr starke Schmerzen Sehr starke Atemnot<br />

9 Sehr, sehr anstrengend Sehr, sehr starke Schmerzen Sehr, sehr starke Atemnot<br />

10 Maximale Anstrengung Stärkstmöglicher Schmerz Stärkstmögliche Atemnot<br />

Abb. 5 8 Skalierung von 0–10 für Anstrengung, Schmerz und Dyspnoe<br />

ermittelt. Ein Wert von 5 entspricht einer<br />

mittleren Gebrechlichkeit, d. h. der<br />

Patient benötigt Unterstützung bei komplexeren<br />

kognitiven und körperlichen<br />

Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL;<br />

[9]).<br />

Außerdem kann für die Verlaufsdokumentation<br />

der „Medical Research Council<br />

(MRC-)sum-Score“ verwendet werden,<br />

mit dem die Kraft der Extremitäten<br />

während jeweils 6 definierter Bewegungen<br />

anhand der MRC-Kraftskala,<br />

beginnend bei 0 (keine sicht- oder<br />

fühlbare Kontraktion) bis 5 (Bewegung<br />

gegen maximalen Widerstand möglich),<br />

beschrieben wird. Der Maximalwert für<br />

alle Bewegungen aller Extremitäten beträgt<br />

60 Punkte, wobei ein MRC-sum-<br />

Score von 5 m)<br />

eingeteilt wird [11].<br />

Zur Beurteilung der Vigilanz sowie<br />

des kognitiven Zustands kann die<br />

Richmont Agitation and Sedation Scale<br />

(RASS) und die Intensive Care Delirium<br />

Check List (ICDSC) mit einbezogen<br />

werden [12].<br />

Einschätzung der Belastbarkeit<br />

Eine Messung des Kraftpotenzials<br />

der Extremitätenmuskulatur vor der<br />

Behandlung mittels Medical Research<br />

Council Scale bzw. der Atemmuskulatur<br />

über spezifische Unterdruckmessungen<br />

am Respirator lässt Rückschlüsse<br />

über den dementsprechenden wirksamen<br />

Trainingsreiz zu. Durch gezieltes<br />

Krafttraining der intra- und in weiterer<br />

Folge auch der intermuskulären<br />

Koordination kann die Effektivität der<br />

Muskulatur (Extremitäten- und Atemmuskulatur)<br />

deutlich gesteigert werden,<br />

indem es zu einer Rekrutierung möglichst<br />

vieler Muskelfibrillen kommt.<br />

Dieses Training kann – mit bestimmten<br />

Anpassungen – auch beim kritisch kranken<br />

Patienten durchgeführt werden. Das<br />

Krafttraining erfolgt einerseits für die<br />

Extremitätenmuskulatur im Rahmen der<br />

Bewegungstherapie, aber ebenso auch<br />

für die Atemmuskulatur beim beatmeten<br />

Patienten im Rahmen der Atemphysiotherapie<br />

(sofern ein Spontanatemmodus<br />

möglich ist). Es gilt der Grundsatz, dass<br />

eine funktionelle Verbesserung ohne<br />

Anstrengung unmöglich ist [8].<br />

Praktikable Assessments aus<br />

physiotherapeutischer Sicht<br />

Um sich auf den Intensivpatienten im<br />

Prozess der Frührehabilitation optimal<br />

einstellen zu können, ist es notwendig,<br />

den funktionellen Status vor dem ICU-<br />

Aufenthalt anhand des Frailty-Index<br />

zu eruieren, um daraus ein langfristiges<br />

funktionelles Therapieziel ableiten zu<br />

können. Dabei wird – meist fremdanamnestisch<br />

– die Gebrechlichkeit („frailty“)<br />

von 1 (sehr gute körperliche Fitness)<br />

bis 9 (terminal kranker Palliativpatient)<br />

Passive Intervention (RASS<br />

meistens –5 bis –3)<br />

Im Rahmen der passiven bzw. assistiven<br />

Bewegungstherapie steht der Therapeut<br />

bzw. die Intensivpflege immer wieder<br />

vor der Herausforderung, ob und inwieweit<br />

der beatmete und bewusstseinsbeeinträchtigte<br />

Intensivpatient (RASS-5<br />

bis -3) belastbar ist. Hierzu können folgende<br />

Parameter in die Gesamtbeurteilung<br />

mit einbezogen werden, wobei immer<br />

auch mögliche andere Ursachen für<br />

die jeweiligen Veränderungen in Erwägung<br />

gezogen werden müssen:<br />

4 Atemfrequenz: Eine Beschleunigung<br />

der Atemfrequenz kann ein Hinweis<br />

auf eine Stresssituation (z. B. Schmerz<br />

oder Anstrengung) sein. Eine Reduzierung<br />

der Atemfrequenz zeigt<br />

u. U. eine Stressreduktion auf Grund<br />

der angewandten Maßnahmen über<br />

Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 4 · 2017 311


Leitthema<br />

Tab. 1 Behavioral Pain Scale (BPS; [13])<br />

Merkmal Beschreibung während der Intervention Punkte a<br />

Gesichtsausdruck Entspannt 1<br />

Bewegungen obere<br />

Extremität<br />

Adaption an das<br />

Beatmungsgerät<br />

a<br />

Analgesieziel: 3 s 3<br />

Schreien, Heulen, Schmerzäußerungen 4<br />

Parameter zur Beurteilung der Belastungstoleranz<br />

dienen. Er setzt sich<br />

aus der Spontanatemfrequenz (AF)<br />

dividiert durch das Tidalvolumen<br />

(Vt) in Litern zusammen und kann<br />

ein Hinweis auf die Ökonomie des<br />

Atemmusters sein. Eine Steigerung<br />

des RSB kann eine erhöhte, eine<br />

Senkung des RSB eine reduzierte<br />

Atemanstrengung bedeuten. Vice<br />

versa verhält es sich in der Folge mit<br />

der Belastungstoleranz.<br />

4 Herzfrequenz: Bei der Herzfrequenz<br />

kann eine Steigerung u. a. eine<br />

vermehrte Anstrengung und/oder<br />

Schmerz bedeuten. Auf der anderen<br />

Seite bedeutet eine Reduktion der<br />

Herzfrequenz mitunter eine Beruhigung<br />

der Situation. Auch hier ist die<br />

Ausgangssituation für die Interpretation<br />

ausschlaggebend; ebenso müssen<br />

etwaige pathologische Herzrhythmen<br />

beachtet werden.<br />

4 Blutdruck: Aus den Veränderungen<br />

des Blutdrucks lassen sich ebenfalls<br />

Rückschlüsse ziehen, indem eine<br />

Steigerung Stress bzw. Anstrengung<br />

und eine Reduktion des Blutdrucks<br />

eine Beruhigung anzeigen können.<br />

In . Abb. 4 sind weitere Beurteilungsbzw.<br />

Abbruchkriterien für die <strong>Frühmobilisation</strong><br />

anhand der S2e-Leitlinien ersichtlich.<br />

Wie bereits erwähnt hat der subjektiv<br />

erlebte Schmerz auch beim bewusstseinseingeschränkten<br />

Intensivpatienten<br />

einen wesentlichen Einfluss auf die Toleranz<br />

eines Belastungsreizes und damit<br />

auf den Verlauf der <strong>Frühmobilisation</strong>.<br />

Für Patienten mit vermindertem<br />

Bewusstsein, die sich verbal nur unzureichend<br />

äußern können, eignet sich zur<br />

Beurteilung der Schmerzsituation in besonderer<br />

Weise die Behavioral Pain Scale<br />

(BPS bzw. BPS-NI für nichtintubierte<br />

Patienten; [13]; . Tab. 1 und 2).<br />

Aktive/assistive Intervention<br />

(RASS meistens –2 bis +1)<br />

Bezogen auf die aktive <strong>Frühmobilisation</strong><br />

und physiotherapeutische Maßnahmen<br />

müssen neben den bereits erwähnten<br />

trainingstherapeutischen Grundsätzen<br />

3 wesentliche Bereiche während der<br />

Behandlung eingeschätzt werden:<br />

4 momentaner Schmerz,<br />

4 momentane Anstrengung,<br />

4 momentane Dyspnoe.<br />

Wie auch beim Patienten mit einem<br />

RASS-Wert von –5 bis –3 werden alle<br />

3 Faktoren subjektiv vom Patienten erlebt<br />

und sind ausschlaggebend für die<br />

Effizienz der Behandlung und damit<br />

für den Erfolg der Frührehabilitation.<br />

Voraussetzung für den Einsatz dieser<br />

„aktiven“ Assessments ist ein wacher<br />

Patient, der sich zumindest mittels Ja-/<br />

Nein-Kommunikation mitteilen kann<br />

(also in der Regel eine RASS von –2 bis<br />

+1).Zuallen3Itemsgibtesvalidierte<br />

Skalen, wobei sich in der Praxis v. a. die<br />

Numeric Rating Scale (NRS 0–10) und<br />

die modifizierte Borg-Skala (Borg 0–10)<br />

bewähren. Beide Skalen können für alle<br />

312 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 4 · 2017


Infobox 1 Internetbasierte<br />

weiterführende Informationen<br />

4 ICU Delirium and Cognitive Impairment<br />

Study Group. www.icudelirium.org.<br />

Zugegriffen: 22. März 2017<br />

4 Frühmobilisierung. www.fruehmobilisie<br />

rung.de. Zugegriffen: 22. März 2017<br />

4 PHYSIO-INTENSIV. www.physio-intensiv.<br />

jimdo.com. Zugegriffen: 22. März 2017<br />

3 genannten Bereiche eingesetzt werden<br />

(. Abb. 5).<br />

Ein niedriger Wert von 0 bedeutet<br />

dabei „keine Anstrengung/Schmerz/<br />

Dyspnoe“ und steigert sich bis zum<br />

Wert 10 zur Verdeutlichung von „maximale<br />

Anstrengung/Schmerz/Dyspnoe“.<br />

Ein Abbruchkriterium ist bei einem<br />

Wert von ≥7 gegeben. Die Skala kann<br />

sowohl für die aktive Mobilisierung und<br />

das aktive Training wie auch für die<br />

Beurteilung der Atemanstrengung bzw.<br />

für Spontanatmungsversuche verwendet<br />

werden. Im Zusammenhang mit der<br />

Trainingslehre hat sich ein Wert von<br />

4–6 nach Borg als optimaler Trainingsbereich<br />

erwiesen. Das bedeutet für das<br />

Behandlungsteam eine valide Einschätzungsmöglichkeit<br />

des erforderlichen<br />

Trainingsreizes, v. a. wenn keine anderen<br />

Beurteilungskriterien zur Verfügung<br />

stehen.<br />

» Der optimale Trainingsbereich<br />

bewegt sich im Bereich von<br />

4–6 nach der Borg-Skala<br />

Allen diesen Skalen ist gemeinsam, dass<br />

sie subjektive Schmerzeinschätzungen<br />

und -veränderungen darstellen und keinen<br />

objektiven Vergleich zwischen verschiedenen<br />

Patienten ermöglicht, sehr<br />

wohl aber für die Beurteilung des Frührehabilitationsverlaufs<br />

verwendet werden.<br />

In der täglichen Praxis ist genau diese<br />

„momentane subjektive Einschätzung“<br />

der Schlüssel zum Erfolg.<br />

Der Patient soll sich in der Therapie<br />

anstrengen, damit die bereits erwähnten<br />

Effekte der Trainingstherapie im<br />

Rahmen der Superkompensation zum<br />

Tragen kommen und sich die Funktionalität<br />

verbessert. Ein etwaiges Übertraining<br />

bewirkt wiederum eine Stagnation<br />

oder sogar Verschlechterung des funktionellen<br />

Outcomes. Das Ziel für das<br />

gesamte interprofessionelle Frührehabilitationsteam<br />

ist somit die Erkennung<br />

des schmalen Grads zwischen Unterund<br />

Überforderung im Setting der Intensivstation,<br />

um durch die Einleitung<br />

adäquater Maßnahmen entsprechend<br />

reagieren zu können. Weiterführende<br />

internetbasierte Informationen sind der<br />

. Infobox 1 zu entnehmen.<br />

Fazit für die Praxis<br />

4 Die <strong>Frühmobilisation</strong> wird mit einem<br />

besseren funktionellen Outcome des<br />

Intensivpatienten sowie mit einem<br />

selteneren bzw. kürzeren Auftreten<br />

eines ICU-Delirs assoziiert.<br />

4 In der S2e-Leitlinie zur <strong>Frühmobilisation</strong><br />

gibt es klare Empfehlungen für<br />

ihren Einsatz.<br />

4 <strong>Frühmobilisation</strong> erfolgt im Idealfall<br />

im multiprofessionellen Intensivteam<br />

anhand des ABCDEF-Bundle und wird<br />

durch therapeutische Techniken<br />

ergänzt.<br />

4 Die Beurteilung der Belastungstoleranz<br />

bei Intensivpatienten, die<br />

intubiert oder tracheotomiert und<br />

in ihrer Kommunikationsfähigkeit<br />

eingeschränkt sind, ist eine große<br />

Herausforderung für das gesamte<br />

Intensivteam.<br />

4 Spezifische Assessments definieren<br />

anhand der Funktionalität, der Vigilanz,<br />

des Delirs, des Schmerzes<br />

und der Dyspnoe den momentanen<br />

Status des Patienten und ermöglichen<br />

die Planung von geeigneten<br />

Maßnahmen und Techniken.<br />

4 Durch den optimalen Einsatz der Assessments<br />

und die (Re-)Evaluierung<br />

der Maßnahmen kommt es zu einer<br />

funktionellen Steigerung im Sinne<br />

der Superkompensation.<br />

Korrespondenzadresse<br />

S. Nessizius<br />

Gemeinsame Einrichtung für internistische<br />

Intensiv- und Notfallmedizin Landeskrankenhaus,<br />

Universitätskliniken Innsbruck<br />

Anichstraße 35, 6020 Innsbruck, Österreich<br />

stefan.nessizius@tirol-kliniken.at<br />

Einhaltung ethischer Richtlinien<br />

Interessenkonflikt. S. Nessizius gibt an, dass kein<br />

Interessenkonflikt besteht.<br />

Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren<br />

durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.<br />

Literatur<br />

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Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 4 · 2017 313

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