Die Medien als Herausforderung in der Erziehung - Freie ...
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FREIE WALDORFSCHULE NEUMÜNSTER<br />
INFORMATIONEN FÜR ELTERN<br />
Detlef Bosse<br />
<strong>Die</strong> <strong>Medien</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>Herausfor<strong>der</strong>ung</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Erziehung</strong><br />
<strong>Freie</strong> Waldorfschule Neumünster<br />
Roschdohler Weg 144 · 24536 Neumünster<br />
Telefon 0 43 21-9 52 66-0<br />
1
Detlef Bosse<br />
<strong>Die</strong> <strong>Medien</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>Herausfor<strong>der</strong>ung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Erziehung</strong><br />
<strong>Medien</strong> s<strong>in</strong>d allgegenwärtig, ob zu<br />
Hause, bei den Nachbarn, im Auto o<strong>der</strong><br />
im Kaufhaus. In e<strong>in</strong>em unvergleichlichen<br />
Siegeszug haben sie sich im<br />
Leben vieler Menschen e<strong>in</strong>en sche<strong>in</strong>bar<br />
nicht wegzudenkenden Platz ver-<br />
schafft. Fernseher, Kassetten- und CD-<br />
Player, HiFi-Turm und Computerspiele<br />
s<strong>in</strong>d fester Bestandteil des Lebens<br />
geworden.<br />
Dennoch müssen wir diesen Zustand<br />
nicht kritiklos h<strong>in</strong>nehmen. So<br />
wie die Menschen vor 30 Jahren begannen,<br />
sich mehr und mehr für unsere<br />
natürliche Umwelt zu <strong>in</strong>teressieren<br />
und e<strong>in</strong>zusetzen, so können wir uns<br />
heute verstärkt für die Belange unserer<br />
seelischen Innenwelt stark machen,<br />
zumal wenn es sich um die noch sehr<br />
bild- und formbare Seele unserer K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
handelt. In diesem S<strong>in</strong>ne <strong>als</strong>o wollen<br />
wir – ausgehend von den Anliegen<br />
<strong>der</strong> Waldorfpädagogik – aufzeigen,<br />
welche Auswirkungen<br />
die <strong>Medien</strong> auf die<br />
menschliche und ganz<br />
beson<strong>der</strong>s die k<strong>in</strong>dliche<br />
Entwicklung haben<br />
können.<br />
<strong>Die</strong> Waldorfpädagogik<br />
wird oftm<strong>als</strong> <strong>als</strong><br />
e<strong>in</strong>e <strong>Erziehung</strong> zur Freiheit<br />
bezeichnet. Damit<br />
ist nicht Zügellosigkeit<br />
geme<strong>in</strong>t, son<strong>der</strong>n das<br />
Vermögen, aus e<strong>in</strong>em<br />
vielfältigen Fähigkeiten-<br />
und Gefühls- und<br />
Wissenskanon heraus,<br />
verantwortlich handeln<br />
und entscheiden zu<br />
können.<br />
Wie kann aber dieses Vermögen<br />
speziell im schulischen Bereich entwickelt<br />
werden? Zunächst e<strong>in</strong>mal setzt<br />
dies e<strong>in</strong> breitgefächertes vielseitiges<br />
Unterrichtsspektrum voraus; dazu ge-<br />
hören das Musizieren, Malen, Plastizieren,<br />
Holz- o<strong>der</strong> Metallwerken, genauso<br />
wie die Ausbildung <strong>in</strong>tellektueller<br />
Fähigkeiten, die aber immer an das eigene<br />
Menschse<strong>in</strong> anknüpfen sollten.<br />
So dient <strong>der</strong> Geschichtsunterricht<br />
nicht dem bloßen Pauken wesenloser<br />
Daten, son<strong>der</strong>n<br />
hier muss <strong>der</strong> Entwicklungsweg<br />
des Menschen<br />
durch die verschiedenen<br />
Kulturepochen sichtbar<br />
werden. Physik und Chemie<br />
bieten mit ihrem<br />
Reichtum an experimentellen<br />
Versuchen<br />
die Chance das unvore<strong>in</strong>genommeneWahrnehmungsvermögen<br />
und die Genauigkeit<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Beschreibung zu<br />
schulen. Ähnliches ließe<br />
sich für alle mehr <strong>in</strong>tellektuell<br />
ausgeprägten<br />
Fächer feststellen.<br />
Weiterh<strong>in</strong> ist die<br />
Ausbildung des eigenen Willens, die<br />
Stärkung <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Ruhe und Konzentration<br />
wesentliches Ziel e<strong>in</strong>er<br />
<strong>Erziehung</strong> zur Freiheit. Ohne Willenskraft,<br />
<strong>in</strong>nere Ruhe und Konzentration<br />
wird <strong>der</strong> Mensch manipulierbar, Spielball<br />
auch <strong>der</strong> eigenen Begierden und<br />
Wünsche. E<strong>in</strong>e herausragende Rolle<br />
spielt hierbei alles künstlerische Üben,<br />
die Eurythmie, jedes handwerkliche<br />
Schaffen, das Erlernen e<strong>in</strong>es Instru-<br />
mentes o<strong>der</strong> das Jonglieren und das<br />
Theaterspielen. Deshalb wird all diesen<br />
D<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Waldorfpädagogik<br />
beson<strong>der</strong>es Gewicht gegeben.<br />
Schließlich müssen e<strong>in</strong> souveräner<br />
Gebrauch <strong>der</strong> eigenen S<strong>in</strong>ne und<br />
e<strong>in</strong>e lebendige Phantasie <strong>als</strong> Kreativi-<br />
tätsquell wichtige Anliegen e<strong>in</strong>er<br />
Freiheitspädagogik se<strong>in</strong>, denn <strong>in</strong> zunehmendem<br />
Maße werden heute S<strong>in</strong>nes-<br />
und Sprachstörungen konstatiert<br />
und allgeme<strong>in</strong>e Phantasielosigkeit<br />
offenbar.<br />
Wir alle wissen, dass e<strong>in</strong> Muskel, <strong>der</strong><br />
nicht gebraucht wird, erschlafft. Aus<br />
diesem Grunde werden die Farb- und<br />
die Formwahrnehmung, <strong>der</strong> Gleichgewichts-<br />
und <strong>der</strong> Bewegungss<strong>in</strong>n vom<br />
2 3
K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten an bewusst geschult.<br />
Alles bisher Angeführte dient dazu<br />
den heranwachsenden jungen Menschen<br />
an die Lebenswirklichkeit anzuschließen,<br />
so dass er <strong>als</strong> selbstbewusste<br />
gereifte Persönlichkeit se<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong><br />
die Hand nehmen kann.<br />
Nach dieser Zusammenfassung wesentlicher<br />
Ziele <strong>der</strong> Waldorfpädagogik<br />
stellt sich die Frage, <strong>in</strong>wieweit die<br />
<strong>Medien</strong> bei <strong>der</strong> Verfolgung <strong>der</strong> obigen<br />
Anliegen h<strong>in</strong><strong>der</strong>lich s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nicht.<br />
Der Seh- und<br />
Bewegungss<strong>in</strong>n<br />
Wenn wir mit den Augen wahrnehmen,<br />
so nehmen wir nicht nur Farben,<br />
son<strong>der</strong>n auch Formen wahr. <strong>Die</strong>se<br />
müssen wir erst mit dem Auge abtasten.<br />
Dazu brauchen wir auch den<br />
Bewegungss<strong>in</strong>n.<br />
Entfernungen, Tiefe, Nähe – auf all<br />
die verschiedenen Gegebenheiten reagieren<br />
wir mit dem Auge ständig <strong>in</strong><br />
fe<strong>in</strong>er Weise.<br />
Nehmen wir die Welt<br />
nun durch den Fernseher<br />
wahr, so erleben<br />
wir nur den Sche<strong>in</strong> von<br />
Bewegung, den Sche<strong>in</strong><br />
von Tiefe o<strong>der</strong> Nähe,<br />
denn <strong>der</strong> Abstand von<br />
Mattscheibe und Auge<br />
bleibt immer gleich.<br />
Das Auge ist zum Stillstand<br />
verurteilt, es ist<br />
lahmgelegt. Deshalb<br />
wird auch nach Augenoperationen<br />
langes<br />
Fernsehen geradezu<br />
verordnet, weil es die<br />
geeignetste Methode<br />
darstellt, e<strong>in</strong> Auge<br />
›ruhig zu stellen‹. Ke<strong>in</strong><br />
Wun<strong>der</strong> <strong>als</strong>o, dass man <strong>in</strong> Bezug aufs<br />
Fernsehen vom ›Glotzen‹ spricht:<br />
Unser klares Wachbewusstse<strong>in</strong> wird<br />
dadurch gleichsam abgedämpft. Ähnlichen<br />
Phänomenen begegnet man<br />
beim Betrachten sogenannten 3-D-Bil<strong>der</strong><br />
o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Hypnose.<br />
So ist es nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich,<br />
dass alle Versuche <strong>der</strong> Fernsehmacher<br />
die Behaltensleistungen z.B. bei Nachrichtensendungen<br />
zu steigern bisher<br />
fehlgeschlagen s<strong>in</strong>d. Menschen, die<br />
Zeitung lesen o<strong>der</strong> auch Radio hören,<br />
behalten erwiesenermaßen mehr.<br />
H<strong>in</strong>zu kommt, dass uns das Fernsehen<br />
nur e<strong>in</strong>e Illusion <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
vermittelt: <strong>Die</strong>ser Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Baumes,<br />
e<strong>in</strong>er Straße, e<strong>in</strong>es Menschen ist<br />
nur möglich durch die Trägheit unseres<br />
Auges. Zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt gibt es<br />
beim Fernseher e<strong>in</strong> vollständiges Abbild<br />
(wie etwa beim Foto), denn es ist<br />
nur e<strong>in</strong> Kathodenstrahl, <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerhalb<br />
von 1/25 Sekunde alle 500 000 Lichtpunkte<br />
auf <strong>der</strong> Mattscheibe durchrast.<br />
Wir sehen nichts Wirkliches, son<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> elektrische Ersche<strong>in</strong>ungen.<br />
Für K<strong>in</strong><strong>der</strong> ist diese Tatsache<br />
beson<strong>der</strong>s bedenklich, weil sie <strong>in</strong> ihrem<br />
Alter noch nicht zwischen Sche<strong>in</strong><br />
und Wirklichkeit unterscheiden und<br />
deshalb alles <strong>als</strong> Wirklichkeit nehmen.<br />
<strong>Die</strong> verheerenden Auswirkungen<br />
lassen sich bei <strong>der</strong> kritiklosen Nachahmung<br />
von Gewaltdarstellungen zur<br />
Genüge beobachten. Aufgrund exakter<br />
Analysen <strong>der</strong> Sehzeiten wurde errechnet,<br />
»dass e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
zwischen se<strong>in</strong>em 5. und 15. Lebensjahr<br />
ca. 12000 Totalvernichtungen<br />
auf dem Bildschirm mitansehen muss«<br />
(so schon 1972 H. He<strong>in</strong>richs <strong>in</strong> ›Universitas‹,<br />
27. Jahrgang Heft 7). Bedenken<br />
wir auch, welche Verzerrung <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit K<strong>in</strong><strong>der</strong> dadurch erleben<br />
müssen!<br />
Vom Hörs<strong>in</strong>n<br />
Stellen wir uns vor, wir hören Radio<br />
(o<strong>der</strong> Cassette bzw. CD). Wir hören e<strong>in</strong>e<br />
Geige, e<strong>in</strong>e Gitarre, e<strong>in</strong>en Märchenerzähler<br />
o<strong>der</strong> das Zwitschern e<strong>in</strong>er<br />
Amsel. Nun – was hören wir wirklich?<br />
Wir hören etwas, das wie e<strong>in</strong>e Geige<br />
kl<strong>in</strong>gt, aber ke<strong>in</strong>e ist. Es kl<strong>in</strong>gt wie e<strong>in</strong><br />
Märchenerzähler, es ist aber ke<strong>in</strong>er.<br />
Was wir hören, ist das Ergebnis e<strong>in</strong>er<br />
vibrierenden Membran, die uns den<br />
E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er Klar<strong>in</strong>ette o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es<br />
Amselgezwitschers vorgaukelt. Das<br />
ist etwa so, <strong>als</strong> würden wir uns <strong>in</strong> Zukunft<br />
hauptsächlich von Soja ernähren,<br />
das ganz nach Wunsch mal nach<br />
R<strong>in</strong>dfleisch, mal nach Brokkoli o<strong>der</strong><br />
Nutella schmeckt. Wie bei <strong>der</strong> Lautsprechermembran<br />
wird auch hier unser<br />
S<strong>in</strong>nesorgan durch E<strong>in</strong>heitskost sowohl<br />
getäuscht <strong>als</strong> auch abgestumpft.<br />
Unser Hörorgan erschlafft dadurch,<br />
nimmt fe<strong>in</strong>e Tondifferenzen immer<br />
weniger wahr. Unser Seelisches zieht<br />
sich enttäuscht zurück, weil es den unvere<strong>in</strong>baren<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Tonwahrnehmung<br />
(z. B. Meeresrauschen)<br />
und Raumwirkung (= Wohnzimmer)<br />
unbewusst erlebt.<br />
Von <strong>der</strong> menschlichen Seele<br />
Der Mensch kann nur Mensch<br />
werden, wenn sich Menschen um ihn<br />
kümmern, ihm Vorbild s<strong>in</strong>d, ihm Liebe,<br />
Wärme und Geborgenheit schenken.<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die vernachlässigt werden,<br />
4 5
verwahrlosen. Sie werden <strong>in</strong> ihrer<br />
Menschwerdung beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Ihr Denken,<br />
Fühlen und Wollen verkümmert.<br />
Der Fernseher ist e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e,<br />
genauso wie <strong>der</strong> Kassettenrekor<strong>der</strong>,<br />
das Radio o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Computer. Alle<br />
diese Masch<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d leblos, kalt und<br />
herzlos. Ke<strong>in</strong> menschlicher Dialog, ke<strong>in</strong>e<br />
menschliche Begegnung, allenfalls<br />
seelenloser Zeitvertreib s<strong>in</strong>d mit ihnen<br />
möglich. Wollen wir es wirklich, dass<br />
sich unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong> täglich für M<strong>in</strong>uten<br />
o<strong>der</strong> gar Stunden <strong>in</strong> diese toten Masch<strong>in</strong>en<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>verlieren?<br />
Wie sollen unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong> dabei<br />
soziale Fähigkeiten entwickeln? <strong>Die</strong>s<br />
gel<strong>in</strong>gt nur im Zwischenmenschlichen,<br />
niem<strong>als</strong> an <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e!<br />
Und müssen wir <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
nicht auch die sich steigernde<br />
Jugendgewalt sehen, die eigentlich<br />
nur e<strong>in</strong> zutiefst verrohter Hilferuf nach<br />
Menschlichkeit, nach Fürsorge o<strong>der</strong><br />
Zuwendung ist?<br />
Vom menschlichen Willen<br />
Der menschliche Wille erprobt<br />
sich <strong>in</strong> allem Bewegungsmäßigen, im<br />
Robben, Krabbeln, im ersten Gehen,<br />
im Klettern, Rennen, Schwimmen,<br />
im Balancieren, Fangen, Werfen o<strong>der</strong><br />
Seilspr<strong>in</strong>gen. Immer ist Aktivität notwendig.<br />
<strong>Die</strong> Ausbildung <strong>der</strong> eigenen<br />
Fe<strong>in</strong>- und Grobmotorik wird dabei<br />
vollzogen.<br />
Vor dem Fernseher wird dieser<br />
natürliche Bewegungsdrang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
starke Passivität gebannt. Er wird unterdrückt<br />
und verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. <strong>Die</strong>s gilt sowohl<br />
äußerlich – allerorten werden die<br />
mangelhafte Ausbildung <strong>der</strong> Motorik<br />
sowie Haltungsschäden durch zu viel<br />
Sitzen bei den heranwachsenden K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
beklagt – <strong>als</strong> auch <strong>in</strong>nerlich: Wozu<br />
soll die K<strong>in</strong><strong>der</strong>seele eigene Bil<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
sich erzeugen, wenn sie ihr schon fertig<br />
von außen dargeboten werden?<br />
Wie an<strong>der</strong>s ist es, wenn den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
Märchen erzählt o<strong>der</strong> vorgelesen werden.<br />
Je<strong>der</strong> Erwachsene wird sich noch<br />
an die reiche <strong>in</strong>nere Bil<strong>der</strong>welt, die ihm<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit dabei aufgestiegen<br />
ist, gut er<strong>in</strong>nern können.<br />
Vor <strong>der</strong> Mattscheibe aber müssen<br />
die Phantasiekräfte verkümmern und<br />
erlahmen. Der eigene Willensantrieb<br />
wird blockiert.<br />
Besteht nicht auch hier e<strong>in</strong> Zusammenhang<br />
zur weit verbreiteten Interesselosigkeit,<br />
zur Null-Bock-Haltung?<br />
Ja, aber beim Game Boy o<strong>der</strong> bei<br />
Computerspielen, da s<strong>in</strong>d die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
doch ganz aktiv, könnte man e<strong>in</strong>wenden.<br />
Wir bleiben jedoch auch bei diesen<br />
Tätigkeiten hauptsächlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sphäre<br />
des Reagierens, und dies geschieht<br />
obendre<strong>in</strong> nicht mit Bedacht, son<strong>der</strong>n<br />
mit rasen<strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit nach<br />
e<strong>in</strong>em simplen Reiz-Reaktions-Mechanismus.<br />
<strong>Die</strong>se Hektik kennen wir<br />
auch von den Videoclips, bei denen<br />
die E<strong>in</strong>stellungslänge <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />
Szenen gegenüber normalen Filme<strong>in</strong>stellungen<br />
nochm<strong>als</strong> drastisch reduziert<br />
wurde.<br />
E<strong>in</strong> Verdauen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>drücke ist unmöglich,<br />
e<strong>in</strong> seelisches Verarbeiten<br />
ebenfalls. <strong>Die</strong> ureigene menschliche<br />
Fähigkeit, auf e<strong>in</strong>en äußeren E<strong>in</strong>druck<br />
<strong>in</strong>nerlich antworten zu können (wodurch<br />
<strong>der</strong>selbe verarbeitet<br />
wird) wird ausgeblendet.<br />
Als Folge wird die<br />
verbreitete Überreizung<br />
unserer S<strong>in</strong>ne noch verstärkt<br />
und die Anzahl<br />
<strong>der</strong> hyperk<strong>in</strong>etischen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> nimmt dramatisch<br />
zu.<br />
<strong>Die</strong> seelische Belastung<br />
<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> durch<br />
unverdaubare, vielm<strong>als</strong><br />
stark verfrühte E<strong>in</strong>drücke,<br />
mit denen sie oft<br />
alle<strong>in</strong>e gelassen werden,<br />
führt schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Art Seelenstau h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>,<br />
<strong>der</strong> sich dann nur allzuoft<br />
<strong>in</strong> aggressivem Verhalten entlädt,<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verstummen und Sich-<br />
Abwenden mündet.<br />
Erfahrungen e<strong>in</strong>es<br />
Klassenlehrers<br />
Wer <strong>als</strong> Lehrer e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Klasse<br />
vom ersten bis zum achten Schuljahr<br />
begleiten durfte, hat se<strong>in</strong>e Schüler natürlich<br />
gut kennengelernt. Und er konnte<br />
an ihnen auch wahrnehmen, welche<br />
Folgen regelmäßiger <strong>Medien</strong>konsum<br />
haben kann. <strong>Die</strong>se Folgen werden<br />
<strong>in</strong> den verschiedensten Bereichen<br />
sichtbar. Im Sozialen offenbarte sich<br />
z. B. e<strong>in</strong>e wachsende Unfähigkeit dem<br />
an<strong>der</strong>en Schüler o<strong>der</strong> auch dem Lehrer<br />
ruhig ohne dazwischen zu reden zuzuhören,<br />
o<strong>der</strong> ihn ausreden zu lassen.<br />
Im Unterrichtsgespräch zeigte<br />
sich bei diesen Schülern immer mehr<br />
6 7
e<strong>in</strong>e Oberflächlichkeit ohne echten<br />
Tiefgang. Das Verlangen war stark,<br />
e<strong>in</strong> Phänomen mit e<strong>in</strong>em Begriff zu<br />
belegen, irgende<strong>in</strong>e Schublade dafür<br />
zu f<strong>in</strong>den, um es dann <strong>in</strong>nerlich abzu-<br />
haken. Schwer wurde es den Schülern,<br />
e<strong>in</strong>e Sache von verschiedenen Seiten<br />
zu betrachten, so wie es <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
eigentlich entspricht.<br />
Bei e<strong>in</strong>igen wuchs <strong>der</strong> Anspruch,<br />
die Welt habe so zu se<strong>in</strong>, wie es die<br />
Sche<strong>in</strong>wirklichkeit <strong>der</strong> <strong>Medien</strong> vorspiegelt:<br />
Ständig muss etwas Neues<br />
kommen, nur nicht bei e<strong>in</strong>er Sache<br />
verweilen o<strong>der</strong> sie gar vertiefen. Auch<br />
wie<strong>der</strong>holentliches Üben wurde nur<br />
wenig aufgegriffen. Es mangelte an<br />
Ausdauer und Durchhaltekraft. Der<br />
Lehrer musste auch Showmaster se<strong>in</strong>,<br />
sonst war er langweilig.<br />
Das Auswendiglernen von Vokabeln<br />
o<strong>der</strong> des E<strong>in</strong>male<strong>in</strong>s barg unüberw<strong>in</strong>dliche<br />
Klippen <strong>in</strong> sich und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen solche<br />
Anstrengungen wuchs.<br />
Damit fehlten bei manchen<br />
bald entscheidend<br />
wichtige Grundlagen.<br />
Selbst e<strong>in</strong>fache,<br />
logische Gedankengänge<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />
Mathematik o<strong>der</strong> Astronomie<br />
überfor<strong>der</strong>ten<br />
schnell. Lethargie,<br />
Lustlosigkeit und mangelndeBegeisterungsfähigkeit<br />
zeigten sich.<br />
Es wurde e<strong>in</strong>e Anfälligkeit<br />
für das Pr<strong>in</strong>zip<br />
des Lustgew<strong>in</strong>ns durch<br />
äußere Reize deutlich,<br />
die vom maßlosen<br />
Süßigkeitenkonsum bis zum E<strong>in</strong>stieg<br />
<strong>in</strong> die Drogen Alkohol, Nikot<strong>in</strong> und<br />
Haschisch reichte. Besorgniserregend<br />
war die allzu offenbare Gedächtnis-,<br />
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwäche.<br />
Denn was ist ›Aufmerksamkeit‹?<br />
Was bedeutet Gedächtnisschwäche?<br />
Aufmerksamkeit heißt immer<br />
auch Ich-Anwesenheit. Und Gedächtnisschwäche<br />
bedeutet immer e<strong>in</strong>en<br />
Verlust von Ich-Stärke und damit die<br />
Gefahr <strong>der</strong> Manipulation.<br />
<strong>Die</strong> Zerstreuungsmasch<strong>in</strong>erie <strong>der</strong><br />
<strong>Medien</strong> schwächt die Konzentrationskraft,<br />
die Gedächtniskräfte und<br />
damit das autonome selbstbewusste<br />
Ich des Menschen. Das aber ist genau<br />
das Gegenteil von dem, was jede<br />
Freiheitspädagogik durch die ganze<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten- und Schulzeit für<br />
den E<strong>in</strong>zelnen <strong>als</strong> Ziel haben sollte:<br />
nämlich die Entwicklung <strong>der</strong> starken,<br />
fähigkeitsreichen, selbstbewussten<br />
menschlichen Individualität.<br />
Deshalb müssten wir angesichts<br />
<strong>der</strong> heutigen Zeitverhältnisse und <strong>Herausfor<strong>der</strong>ung</strong>en<br />
<strong>als</strong> Erzieher vor allem<br />
e<strong>in</strong>e Frage <strong>in</strong> den Mittelpunkt unserer<br />
Bemühungen stellen. Und diese lautet:<br />
Wie können wir die Heranwachsenden<br />
<strong>in</strong> sich so stärken, dass sie den Nöten<br />
und Versuchungen unserer Zeit wirklich<br />
etwas entgegenzusetzen haben?<br />
Zusammenfassung<br />
Wir wollen nun rückblickend, schlagwortartig<br />
die Argumente zusammen<br />
gruppieren, die allesamt für e<strong>in</strong>e deutliche<br />
Reduzierung bzw. Vermeidung<br />
des <strong>Medien</strong>konsums während <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten-, Grundschul- und auch<br />
noch Jugendzeit sprechen:<br />
Fernsehen schwächt …<br />
ö den aktiven Sehprozess,<br />
ö die Gedächtniskräfte,<br />
ö die Phantasie und<br />
ö die Fähigkeit, eigene <strong>in</strong>nere Bil<strong>der</strong><br />
zu erzeugen.<br />
Fernsehen begünstigt …<br />
ö e<strong>in</strong>e oberflächliche Weltwahrnehmung,<br />
ö motorische Defizite und Haltungsschäden,<br />
ö sprachliche Entwicklungsstörungen<br />
und<br />
ö je nach Inhalten: seelische Belastungen<br />
und Gewalt <strong>als</strong> Problemlöser<br />
für soziale Konflikte.<br />
Akustische <strong>Medien</strong> …<br />
ö schwächen die differenzierte<br />
Hörwahrnehmung und<br />
ö die Fähigkeit des Zuhören-Könnens.<br />
<strong>Medien</strong> allgeme<strong>in</strong> …<br />
ö führen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Passivität,<br />
ö täuschen e<strong>in</strong>e Wirklichkeit nur vor<br />
und entfremden von <strong>der</strong>selben,<br />
ö überreizen die S<strong>in</strong>ne,<br />
8 9
ö verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n durch schnelle Abfolge<br />
das Verdauen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>drücke.<br />
ö blockieren den eigenen Willensantrieb,<br />
ö begünstigen e<strong>in</strong>e wachsende<br />
Interesselosigkeit und Null-Bock-<br />
Haltung,<br />
ö verkörpern das Pr<strong>in</strong>zip des<br />
Lustgew<strong>in</strong>ns durch Stimulation von<br />
außen,<br />
ö schwächen die Ausdauer-,<br />
Konzentrations- und Aufmerksamkeitskräfte,<br />
ö ermöglichen <strong>als</strong> tote Masch<strong>in</strong>en<br />
we<strong>der</strong> soziales Lernen, noch irgende<strong>in</strong>en<br />
menschlichen von Liebe<br />
und Zuwendung getragenen Dialog.<br />
Was ist nun zu tun?<br />
<strong>Die</strong> Welt <strong>der</strong> <strong>Medien</strong> ist da. Es führt<br />
ke<strong>in</strong> Weg daran vorbei. <strong>Die</strong> älteren<br />
Schüler sollen sie – genauso wie den<br />
Computer – durchschauen und verstehen<br />
lernen. Das allerd<strong>in</strong>gs gehört <strong>in</strong><br />
die Zeit <strong>der</strong> Oberstufe.<br />
Und was ist vorher?<br />
Nehmen wir die <strong>Medien</strong> doch <strong>als</strong><br />
<strong>Herausfor<strong>der</strong>ung</strong> an, all die Kreativitätspotentiale,<br />
über die wir verfügen,<br />
zu mobilisieren. Prüfen wir dabei auch<br />
kritisch unseren eigenen <strong>Medien</strong>konsum.<br />
Lassen Sie uns Alternativen und<br />
Aktivitäten überlegen, die <strong>in</strong>nerlich so<br />
bereichern und Freude bereiten, dass<br />
das Verlangen nach <strong>Medien</strong>konsum<br />
e<strong>in</strong>fach abnimmt.<br />
Geme<strong>in</strong>same Unternehmungen,<br />
Radtouren, Schwimmen gehen, Ru<strong>der</strong>n,<br />
Tischtennis spielen, Jonglieren<br />
s<strong>in</strong>d dabei genauso bedenkenswert<br />
wie das Basteln zu Hause, das Vorlesen<br />
o<strong>der</strong> Spielen von Gesellschaftsspielen.<br />
Ferien, die Aktivität erfor<strong>der</strong>n, die an<br />
die eigenen Grenzen führen, die <strong>in</strong>tensive<br />
Naturerlebnisse ermöglichen,<br />
gehören gleichfalls dazu.<br />
Und neben allem, was Ihnen sicherlich<br />
noch e<strong>in</strong>fällt, ist e<strong>in</strong>es gewiss nicht<br />
zu vergessen: die bewusste und regelmäßige<br />
Pflege des offenen Gesprächs<br />
mit unseren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />
Schenken wir ihnen<br />
unsere Zeit!<br />
Wenn wir es schaffen, bei ihnen<br />
gut h<strong>in</strong>zulauschen, dann werden sie<br />
uns vieles von dem verraten, wonach<br />
sich ihr tiefstes Inneres sehnt und was<br />
letztendlich durch die <strong>Medien</strong> niem<strong>als</strong><br />
befriedigt werden kann.<br />
Literaturh<strong>in</strong>weise:<br />
He<strong>in</strong>z Buddemeier:<br />
Das Hören (Nr. 152)<br />
Walther Bühler:<br />
Mit dem Bildschirm leben? (Nr. 110)<br />
Walther Bühler, Hellmut Vermehren:<br />
Radio und K<strong>in</strong>o (Nr. 102)<br />
He<strong>in</strong>z Buddemeier:<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>fernsehen ist nichts für<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> (Nr. 141)<br />
Ernst Schubert:<br />
Mit dem Computer leben (Nr. 139)<br />
<strong>Die</strong>se ersten fünf Empfehlungen s<strong>in</strong>d<br />
kle<strong>in</strong>e Hefte aus <strong>der</strong> Serie ›Soziale Hygiene‹<br />
des Vere<strong>in</strong>s für Anthroposophisches<br />
Heilwesen e. V., Johannes Kepler-<br />
Str. 56, 75378 Bad Liebenzell-<br />
Unterlengenhardt.<br />
Zu empfehlen s<strong>in</strong>d auch die<br />
folgenden Bücher:<br />
Kar<strong>in</strong> Neuschütz:<br />
Lieber Spielen <strong>als</strong> Fernsehen<br />
(Verlag <strong>Freie</strong>s Geistesleben)<br />
He<strong>in</strong>z Buddemeier:<br />
Illusionen und Manipulation<br />
(Verlag Urachhaus)<br />
Neil Postman:<br />
Wir amüsieren uns zu Tode<br />
(S. Fischer Verlag)<br />
Neil Postman:<br />
Ke<strong>in</strong>e Götter mehr<br />
(Berl<strong>in</strong> Verlag)<br />
Joseph Weizenbaum:<br />
<strong>Die</strong> Macht <strong>der</strong> Computer und die<br />
Ohnmacht <strong>der</strong> Vernunft<br />
(Suhrkamp Taschenbuch)<br />
10 11
12<br />
Herausgegeben durch:<br />
<strong>Freie</strong> Waldorfschule Neumünster, Roschdohler Weg 144, 24536 Neumünster<br />
fon 0 43 21-9 52 66-0, fax 0 43 21-952 66-99,<br />
fwsneumuenster@t-onl<strong>in</strong>e.de, www.waldorf-neumuenster.<strong>in</strong>fo