Sellarie sitzt auf dem Sofa - Medienobservationen
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Michael Preis<br />
<strong>Sellarie</strong> <strong>sitzt</strong> <strong>auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Sofa</strong> – und hat Sellerie mit a geschrieben.<br />
Eine Rezension zur vor einiger Zeit neu erschienenen <strong>Sellarie</strong>-<br />
Scheibe mit Fränkischen Chansons von Mia Pittroff und David<br />
Saam<br />
Im vorliegenden Text rezensiere ich die Debüt-CD des <strong>Sellarie</strong>-Duos Mia Pittroff<br />
und David Saam. Zunächst gehe ich <strong>auf</strong> ein Vergleichsmoment zwischen Jacques<br />
Derrida und den <strong>Sellarie</strong>s ein. Danach bespreche ich in einem Rundumschlag drei der<br />
schönsten der fränkischen Chansons, die Mia und David für sich und uns erfunden<br />
haben – wobei die Auswahl schwer fiel. Dann folgt ein weiterer Vergleich, der die<br />
<strong>Sellarie</strong>s an die Seite von Loriot und Evelyn Hamann stellt. Es folgt ein Blick in das<br />
Seelenleben des Ottonormalverbrauchers und am Ende die Gewissheit: Die besprochene<br />
CD kann man zur Anschaffung nur unbedingt und mit größtem Nachdruck empfehlen!<br />
Die Orthographie!<br />
Neulich habe ich mit meinem Proseminar den Derrida-Film von Kirby<br />
Dick und Amy Ziering Kofman angesehen. Gelacht wurde öfter, besonders<br />
amüsiert aber war man, als Avita Ronell vom German Department<br />
der New York University von der Party erzählte, in der die Aufnahme<br />
von Jacques Derridas berühmt gewordenem différance-Begriff in eines<br />
der großen französischen Wörterbücher gefeiert wurde. Derridas Mutter,<br />
einer der Partygäste, sei sehr alt und sehr nobel gewesen. Plötzlich habe<br />
sie indigniert gefragt: „Jacques, hast Du différence mit einem a geschrieben?“<br />
Mag sich auch die in dieser Situation liegende Komik nur <strong>dem</strong> erschließen,<br />
<strong>dem</strong> die Philosophie Derridas und die kontroversen Reaktionen<br />
<strong>auf</strong> sein Denken bekannt sind. Die Tatsache, dass eine Mutter von<br />
Prinzipien die Rechte der Orthographie noch gegen ein renommiertes<br />
Wörterbuch behauptet, dürfte auch <strong>dem</strong> nicht Eingeweihten Stoff zum<br />
Schmunzeln bieten.<br />
Man kann zwar nur unbedingt zur Sorgfalt raten, wenn es darum geht,<br />
mit Derridas raffinierter Begriffsprägung in eigenständiger Reflexion weiterzuarbeiten.<br />
Und auch, wenn man, weniger anspruchsvoll, nur um<br />
Analogien bemüht ist, kann eine gewisse Reserviertheit gegenüber allzu
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schnellen Vergleichen sicherlich nicht schaden. Aber im vorliegenden<br />
Fall ist die Analogie zu nahe liegend, um sie nicht zu berücksichtigen.<br />
Denn <strong>Sellarie</strong> hat Sellerie mit a geschrieben. Auch Mia Pittroff und David<br />
Saam haben ein e gegen ein a getauscht und damit Bedeutungsspielräume<br />
eröffnet, die unter Beherzigung orthographischer Pflichten allein<br />
so nicht möglich wären. Die <strong>Sellarie</strong>s haben nicht nur bundesdeutsches<br />
Gemüse fränkisch dialektal eingefärbt, sondern den jenseits des Rheins<br />
liegenden französischen Kulturraum gleich mit eingefangen. C’est la vie<br />
muss es in denjenigen Ohren tönen, die nicht nur die deutsche Version<br />
von „So ist das Leben“ kennen. Denn genau darum geht es in den <strong>Sellarie</strong>-Liedern:<br />
Um das Leben, wie es ist, innerhalb und außerhalb des fränkischen<br />
Bayern. Es geht um das Leben vor allem in seinen kleinbürgerlichen<br />
Formen, und die sind, wie man vermuten darf, nicht <strong>auf</strong> den fränkischen<br />
Kulturraum beschränkt, sondern reichen weit darüber hinaus.<br />
Viel Wurst, echte Liebe und ein Pinguin<br />
Ich hätte mir nie gedacht, dass man über Leberkäse so poetisch singen<br />
kann, wie Mia Pittroff und David Saam es in ihrem Eröffnungslied Alles<br />
Woschd tun. Das klimaktisch komponierte Lied beginnt mit einem liebevollen<br />
Blick in die fränkischen Wurstauslagen. In beschwingtem Dreivierteltakt<br />
besingt Mia Pittroff die unterschiedlichsten Metzgereierzeugnisse<br />
von Gelb-, Mett-, Stadt- und Hartwurst über Vorder-, Hinter-,<br />
Bier- und Serranoschinken bis hin zum eigentlich Entscheidenden: <strong>dem</strong><br />
Leberkäs’. Alles ist wurscht, alles gleichgültig. Alles? Nein, der Leberkäse<br />
gebietet Einhalt im Reich der Indifferenz. Er hat das weibliche Sänger-<br />
Ich völlig für sich eingenommen. Sie ist, um es gradheraus zu sagen,<br />
rundum verliebt. Und wie sollte sie es nicht sein. David Saam besingt<br />
den Leberkäs’ im Refrain des Chansons in einer vermutlich völlig unnachahmlichen<br />
Art und Weise, jedenfalls, wenn man an die musikalischen<br />
Kapriolen denkt, die er <strong>auf</strong> <strong>dem</strong> vom Wortklang her eigentlich eher<br />
unspektakulären Leberkäse vollführt. Vor allem ist es absolut spektakulär,<br />
wie David Saam gegen Ende des Liedes in barock-improvisatorischer<br />
Manier einen Triller <strong>auf</strong> der Eingangssilbe ‚Le-‘ vollführt, mir würden<br />
hierzu schlicht die Worte fehlen, wenn ich nicht immerhin sagen<br />
könnte: Liebe Leserinnen und Leser, hören Sie es sich selbst an, das dürfen<br />
Sie sich Euch nicht entgehen lassen! Sie werden sich schieflachen!
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Das nächste Lied, in <strong>dem</strong> es um Liebe geht, ist der Schifoarer. Der Dreivierteltakt<br />
ist verflogen, vorwärts drängende und synkopisch organisierte<br />
Melodien stören die Geradlinigkeit der metronomisch wirbelnden Vierviertelgruppen.<br />
Hier hat die Sängerin ihre Liebe noch nicht gefunden.<br />
Denn wer so differenziert darüber singen muss, was frau nicht hören will<br />
von ihrem Wunschliebhaber, der verleiht einem Begehren Ausdruck –<br />
und erzählt nicht von Erfüllung. Es ist natürlich ein Glück für jeden Hörer,<br />
dass Mia Pittroff, die im Refrain auch singend begleitet wird von ihrem<br />
Duopartner, sich in diesem Chanson davon singen lässt, was sie will<br />
– und nicht davon, was sie hat. Der Skifahrer, nach <strong>dem</strong> sie begehrt, soll<br />
Stehvermögen besitzen, allzeit bereit sein und, um es <strong>auf</strong> eine Formel zu<br />
bringen, bloß keine Gedichte schreiben. Er soll schnell bei der Sache<br />
sein, wenn nötig, und ausdauernd, wenn es gewünscht wird. Das ganze<br />
Lied ist eine gelungen unpornographische Hommage an den Wunsch<br />
nach Abenteuern in der Horizontalen und darüber hinaus eine Abrechnung<br />
nicht nur mit männlichem Gefühligkeitsgerede, sondern auch mit<br />
<strong>dem</strong> weiblichen Wunsch nach einem farblos-unüberzeugenden Sensibelchen<br />
als Partner.<br />
Das letzte der Lieder, die ich bis hierher etwas ausführlicher besprechen<br />
möchte, ist auch das letzte der CD. Es handelt sich um Karl, der Pinguin.<br />
Karl ist der vielleicht un<strong>auf</strong>geregteste Lückenbüßer, den es je gab. Er lebt<br />
am Südpol, wo es furchtbar kalt ist, keine Berge sind und kein Wald, aber<br />
das ist ihm egal. Er ist glücklich, wie und wo er ist, denn er hat noch<br />
nichts anderes gesehen. Außer<strong>dem</strong> friert er nie, und wenn er sich umsieht,<br />
ist er mit Leichtigkeit orientiert. Es gibt nämlich nur viel schwarz<br />
und viel weiß, weiß ist das Eis, am schwarz erkennt er seine Artgenossen.<br />
Seine Frau sieht genauso aus wie er. Deswegen braucht er keinen Spiegel<br />
– es wäre Geldverschwendung – und auch nicht fremdzugehen. Schließlich<br />
sehen die Frauen sowieso alle aus wie seine eigene. Karl, der Pinguin<br />
ist ein Lied über die Freuden einer selbstgenügsamen Existenz, in der der<br />
Narzissmus des einzelnen pragmatisch ins Kollektiv projiziert und damit<br />
verabschiedet wird. Die Tatsache, dass die Sängerin eigentlich von ganz<br />
anderem singen wollte, von Prinz Charles, der Queen, George Bush und<br />
Vladimir Putin, vom Reichstag in Berlin, steigenden Preisen beim Benzin<br />
und weiterem, was die Welt bewegt, macht erstens deutlich, dass das<br />
künstlerische Potenzial der Parenthese offenkundig gemeinhin unterschätzt<br />
wird. Zweitens geht es in diesem Chanson um das Verhältnis des<br />
Zentralen zum Peripheren. Denn Karl, der Pinguin repräsentiert eine
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Lebensgemeinschaft, die unberührt vom wilden Weltgetümmel ihrer ureigenen<br />
<strong>auf</strong> schwarzweiß getrimmten Gemütslage entsprechend zu leben<br />
imstande ist. Das Chanson hält uns so den Spiegel vor, ohne den wir,<br />
ganz im Gegensatz zu Karl, nicht sein und werden könnten. Es ist darin<br />
drittens eine wunderbar musikalisch umgesetzte Selbstverabschiedung<br />
und der lakonisch-kurzweilige Ausklang eines klug zusammengestellten<br />
Liedprogramms.<br />
Symbole der Bürgerlichkeit und deren Subversion<br />
Die fränkischen Chansons, die Mia Pittroff und David Saam <strong>auf</strong> ihrer<br />
Debüt-CD zum Besten geben, sind so gut, dass ich, nach der Vereinnahmung<br />
Jacques Derridas zu Beginn dieser Rezension, einen weiteren<br />
Vergleich unter Einbeziehung großer Namen wagen will. Es gibt einen<br />
bekannten Sketch, an <strong>dem</strong> Loriot und Evelyn Hamann beteiligt sind. In<br />
diesem Sketch geht es um eines der Grundsymbole der Bürgerlichkeit<br />
schlechthin, ein Klavier. Drei Generationen einer Familie, deren Oberhaupt<br />
von Loriot gespielt wird, sitzen um einen Kaffeetisch. Keiner der<br />
Beteiligten allerdings <strong>sitzt</strong> dort nur zum Spaß. Ganz im Gegenteil haben<br />
alle versammelten Personen ihren Beitrag zur heimischen Familienidylle<br />
zu leisten, und dazu gilt es, <strong>auf</strong> der Bühne in einem Spiel im Spiel eine<br />
Rolle zu verkörpern, die nicht gerade den Sehnsüchten der Beteiligten<br />
entspricht.<br />
Es geht darum, der Urgroßmutter im fernen Massachusetts glaubhaft zu<br />
machen, dass ihr Geschenk, das Klavier, bei ihrem Sohn und der Familie<br />
gut und mehr noch, voller Freude, <strong>auf</strong>genommen wurde. Um die Urgroßmutter<br />
zu überzeugen, soll das Eintreffen des Klaviers <strong>auf</strong> Videokassette<br />
festgehalten werden. Das Familienoberhaupt betätigt sich dazu<br />
als Regisseur und überfordert mit seinen Anweisungen nicht nur die<br />
durchaus willigen Möbelpacker, auch der Rest der Familie tut nicht so,<br />
wie er wohl will. Alle stehen unter Stress, aber jeder hat sich <strong>dem</strong> Patriarchen<br />
zu fügen. Evelyn Hamann, die die weibliche Seite der zweiten Generation<br />
der versammelten Familie vertritt, ist frisiert, dass man sich<br />
fragt, wie so etwas überhaupt statisch möglich ist, und ihre Funktion besteht<br />
weitestgehend darin, fügsam auszurufen: Ein Klavier, ein Klavier!<br />
Vermutlich hat das <strong>Sofa</strong>, <strong>auf</strong> <strong>dem</strong> Mia Pittroff und David Saam sich für<br />
ihr Coverheft fotografieren ließen, weniger Transportschwierigkeiten<br />
verursacht als das oben angesprochene Klavier. Wahrscheinlich kommt
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es nicht aus Massachusetts. Ich halte es eher für ein IKEA-Möbel. Hier<br />
liegen auch nicht die wichtigen Vergleichsmomente zwischen Loriot,<br />
Evelyn Hamann, Mia Pittroff und David Saam. Die entscheidende Gemeinsamkeit<br />
dieser Künstler liegt in ihrer antibürgerlichen Impulsivität,<br />
die das Bürgerliche allerdings nicht von außen her kritisiert, sondern von<br />
innen her humorvoll-subversiv dagegenhält. Was bei Loriot und seiner<br />
Truppe das Klavier ist, ist für Mia Pittroff und David Saam das <strong>Sofa</strong>.<br />
Zwar wird die Covercouch in den Liedern <strong>auf</strong> der CD der <strong>Sellarie</strong>s nie<br />
explizit thematisiert. Aber die Tatsache, dass Mia Pittroff und David<br />
Saam <strong>auf</strong> ihrem <strong>Sofa</strong> nicht nur sitzen oder lümmeln, sondern Kopfstände<br />
und kompliziertere Verrenkungen veranstalten, fügt sich wohl kaum<br />
ganz zufällig stimmig dahinein, dass sich viele ihrer Chansons als schreiend<br />
komische Lieder über diejenigen kleinbürgerlichen Gewohnheiten<br />
hören lassen, die nur <strong>dem</strong> den Nerv nicht töten, der darüber das Lachen<br />
nicht verlernt.<br />
In<strong>dem</strong> die <strong>Sellarie</strong>s das Begehren nach bürgerlicher Behaglichkeit in seiner<br />
Komik erhellen, entzaubern sie es und machen es attraktiv gleichermaßen.<br />
Schon im IKEA-Lied hatten Mia Pittroff und David Saam<br />
gründlich an der Idee gerüttelt – ohne sie zu stürzen –, IKEA-Möbel seien<br />
die unzweifelhaft einzig ersehnenswerte Möglichkeit, erste eigene<br />
Wohnungen einzurichten. Das Schuldeadamadla-Chanson, das von den<br />
enttäuschten Phantasien einer Erwachsenen singt, die erinnernd feststellen<br />
muss, kein Schultheatermädchen gewesen zu sein, handelt im Besingen<br />
einer <strong>auf</strong>regend unlangweiligen Gegenfigur von nichts als einem: den<br />
Wonnen der Gewöhnlichkeit, denen sich das weibliche Sänger-Ich wohl<br />
gar nicht recht entziehen möchte. Und auch, wenn Fei mei Bedd im Coverheft<br />
als „eine Hommage an den gesunden Schlaf alleine“ bezeichnet<br />
wird, fällt der weiblichen Schläferin in diesem Chanson doch immerhin<br />
die Rolle zu, trotz des unerträglichen Schlafgewohnheiten ihres männlichen<br />
Widerparts lange am gemeinsamen Schlaf festzuhalten. Zwar lässt<br />
sich das Lied als weiblicher Emanzipationsprozess lesen, aber was, wenn<br />
man nicht die Erfolgsstory als einziges Interpretationsmuster zulässt?<br />
Dann ließe sich zumindest die Hartnäckigkeit des schließlich erfolgreich<br />
verdrängten Wunsches nach nächtlicher Zweisamkeit konstatieren.
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Abgründe der Ottonormalverbraucherseele<br />
Es wäre, wie schon angedeutet, ungerecht und schlichtweg nicht zutreffend,<br />
die Debüt-CD der <strong>Sellarie</strong>s <strong>auf</strong> einen wie auch immer raffiniert<br />
sublimierten antibürgerlichen Impuls zu reduzieren. Gerade mit <strong>dem</strong><br />
Bürgerlichen lassen sich heutzutage diejenigen Gemütlichkeitsvorstellungen<br />
verbinden, die in Zeiten permanenter sozialer Beschleunigung an<br />
Attraktivität vielleicht nur gewinnen können. Deshalb wäre es vor <strong>dem</strong><br />
Hintergrund dieser Diagnose anachronistisch genug, <strong>auf</strong>zubegehren gegen<br />
eine Lebensform, deren erstrebenswertestes Potenzial spätestens seit<br />
der globalen Finanzkrise nicht mehr in einer Familienidylle aus Bausparvertrag,<br />
Leasing-Mercedes, einem Klavier vielleicht und ein bisschen<br />
Steuerkriminalität besteht, sondern in der Pflege von Gemeinschaften, in<br />
denen diejenigen Tugenden fortleben, die in der bürgerlichen Idealfamilie<br />
von vornherein <strong>auf</strong> schwachen Beinen standen. Mit anderen Worten:<br />
Auf <strong>dem</strong> <strong>Sofa</strong> muss man nicht mit der Familie sitzen, und Unterhaltung<br />
bot noch nie allein der Fernsehapparat.<br />
Beispielhaft lässt sich diese Idee am Chanson Nummer 10 verständlich<br />
machen und belegen. Hier ist es eine Waschmaschine, eine Constructa<br />
genauer gesagt, aus den 60ern, die sich die Muse der <strong>Sellarie</strong>s zum Gegenstand<br />
gewählt hat. Die Anlass dieses Highlights ist schnell erzählt:<br />
Nach kurz-elegischer, instrumentaler Einleitung singt ein lyrisches Ich<br />
vom Tode seiner 98-jährigen Großtante. Es sei klar gewesen, dass die<br />
Tante irgendwann stirbt, heißt es in urwüchsig fränkischem Dialekt. Dieser<br />
Todesfall in der Familie ist Auslöser für ein Lied, in <strong>dem</strong> gerade dadurch,<br />
dass von Trauer nicht die Rede ist, ein Verlust kommuniziert<br />
wird, der nicht allein privater Natur ist. Vielmehr lassen die <strong>Sellarie</strong>s in<br />
der Darstellung einer prekären Kommunikationssituation das Bürgerliche<br />
geradezu als Existenzial unserer modernen Gesellschaft sichtbar<br />
werden.<br />
Entscheidend für das Verständnis des Chansons Nummer 10 nämlich ist<br />
nicht die Reaktion der Hinterbliebenen <strong>auf</strong> den Tod ihrer Lieblingstante,<br />
sondern der Umgang des lyrischen Ich mit der ererbten Waschmaschine.<br />
Wie selbstverständlich und nur allzu schnell wird diese Maschine von ihrer<br />
Erbin zum gleichberechtigten Gesprächspartner beim Kaffeeklatsch<br />
gekürt und rückt so an die Stelle, die vor<strong>dem</strong> vermutlich die Großtante<br />
besetzte. Wenn die Nichte von der Sprachlosigkeit der Waschmaschine
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singt, mag man dies für eine frühe Schrulle einer biederen Großnichte<br />
halten. Darüber hinaus allerdings findet in dieser Schrulle die Akzeptanz<br />
einer radikalen Endlichkeit des menschlichen Daseins ihren untergründig<br />
witzigen und damit nur scheinbar harmlosen Ausdruck. Die Lieder von<br />
David Saam und Mia Pittroff schaffen die Gratwanderung, komisch zu<br />
sein, ohne ihren Ernst preiszugeben. Sie spielen mit den Oberflächlichkeiten<br />
des Alltags, ohne frivol zu werden, und sie singen <strong>auf</strong> hochintelligente<br />
Art und Weise von unseren existenziellen Nöten und Bedrängnissen,<br />
ohne dabei in tranigen Tiefsinn zu verfallen.<br />
Hören wir den <strong>Sellarie</strong>!<br />
Die fränkischen Chansons der <strong>Sellarie</strong>s bewegen sich <strong>auf</strong> einem Niveau,<br />
das den Vergleich mit Loriot und Evelyn Hamann schon deswegen<br />
rechtfertigt, weil sich Mia Pittroff und David Saam nicht als Newcomer<br />
vor den großen Arrivierten verstecken müssen. Ganz im Gegenteil: Was<br />
die beiden jungen Künstler inszenieren, sind derart ausgefeilte kleine<br />
Kunstwerke, dass man <strong>dem</strong> Duo nur wünschen kann, dass ihre Bekanntheit<br />
den fränkischen Raum bald weit übersteigt. Immerhin sind die<br />
beiden Künstler seit einiger Zeit im Internet zu finden, einem Wörterbuch<br />
also, das erheblich häufiger in Benutzung sein dürfte als dasjenige,<br />
das Jacques Derrida in anfangs beschriebener Weise die Ehre erwiesen<br />
hat. Wer mehr erfahren will, kann sich beispielsweise bei MySpace umgucken<br />
oder aber einfach ein bisschen googeln. Außer Konzertterminen<br />
ist dann auch der Vertriebsweg der grandiosen Debüt-CD der <strong>Sellarie</strong>s<br />
einzusehen. Der kürzeste Weg zur letzteren führt über den folgenden<br />
Link: www.sellarie.de. Von dort an sind es dann nur noch ein paar Tage<br />
zu einem der eindrücklichsten Hörerlebnisse, das Sie je gehabt haben<br />
werden. Versprochen.