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Das „geheime Wort“ und Fragen der Erkenntnis in Novalis' „Wenn ...

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Wenn nicht mehr Zahlen <strong>und</strong> Figuren<br />

S<strong>in</strong>d Schlüssel aller Kreaturen<br />

Wenn die so s<strong>in</strong>gen, o<strong>der</strong> küssen,<br />

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,<br />

1<br />

Wenn sich die Welt <strong>in</strong>s freye Leben 5<br />

Und <strong>in</strong> die Welt wird zurück begeben,<br />

Wenn dann sich wie<strong>der</strong> Licht <strong>und</strong> Schatten<br />

Zu ächter Klarheit wie<strong>der</strong> gatten,<br />

Und man <strong>in</strong> Mährchen <strong>und</strong> Gedichten<br />

Erkennt die wahren Weltgeschichten,<br />

Dann fliegt vor E<strong>in</strong>em geheimen Wort<br />

<strong>Das</strong> ganze verkehrte Wesen fort.<br />

10<br />

1<br />

<strong>Das</strong> auffälligste Strukturmerkmal des Gedichts ist die wenn-dann-Struktur. Sie teilt das Gedicht<br />

<strong>in</strong> zwei Teile <strong>und</strong> er<strong>in</strong>nert fast an den strengen Aufbau e<strong>in</strong>es Sonetts. Der erste Teil ist<br />

durch die mehrmalige Verwendung von wenn-Sätzen gekennzeichnet. Diese Anapher gibt<br />

diesem Teil des Gedichts e<strong>in</strong>e starke rhetorische Struktur, die <strong>in</strong>haltlich e<strong>in</strong>e Aufzählung von<br />

thematischen Bereichen umfasst. Diese thematischen Bereiche s<strong>in</strong>d jeweils durch bestimmte<br />

Schlüsselwörter gekennzeichnet, <strong>der</strong>en genauere Betrachtung e<strong>in</strong>e erste Interpretation des<br />

Gedichts ermöglicht. Die wenn-dann-Struktur lässt sowohl e<strong>in</strong>e konditionale als auch e<strong>in</strong>e<br />

temporale Deutung zu. E<strong>in</strong>erseits werden mit den wenn-Sätzen Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e verän<strong>der</strong>te<br />

Welt genannt, an<strong>der</strong>erseits wird damit signalisiert, dass diese verän<strong>der</strong>te Welt sich erst<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft entwickeln kann.<br />

E<strong>in</strong> erster Blick auf die Verwendung von Wörtern wie „wissen“, „ächter Klarheit“ <strong>und</strong><br />

„erkennen“ deutet darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>Fragen</strong> <strong>der</strong> <strong>Erkenntnis</strong> <strong>in</strong> diesem Gedicht e<strong>in</strong>e zentrale<br />

Rolle spielen. Diese Beobachtung kann <strong>der</strong> Interpretation des Gedichts e<strong>in</strong>e Perspektive geben.<br />

Die „Zahlen <strong>und</strong> Figuren“ <strong>in</strong> Zeile 1 weisen auf die mathematischen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>der</strong><br />

Arithmetik <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geometrie h<strong>in</strong>. Die Formulierung, dass eben diese Teildiszipl<strong>in</strong>en „nicht<br />

mehr“ <strong>der</strong> Schlüssel zu allen Kreaturen se<strong>in</strong> soll o<strong>der</strong> se<strong>in</strong> wird, deutet darauf h<strong>in</strong>, dass Novalis<br />

den Stellenwert <strong>der</strong> Mathematik als <strong>Erkenntnis</strong>weg ger<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong>schätzt als viele Aufklärer,<br />

die das Denken „more geometrico“ für gr<strong>und</strong>legend erachteten. 2 Den „Schlüssel aller Kreaturen“<br />

erwartet er von an<strong>der</strong>en <strong>Erkenntnis</strong>mitteln. Die Verben „s<strong>in</strong>gen“ <strong>und</strong> „küssen“ (Z. 3)<br />

können als pars pro toto für das Tun <strong>der</strong> Schriftsteller, Künstler <strong>und</strong> Liebenden verstanden<br />

1 Novalis, He<strong>in</strong>rich von Ofterd<strong>in</strong>gen, HKA I, 344f., die <strong>in</strong> spitze Klammern gesetzten Wörter wurden von<br />

Novalis bei späterer Überarbeitung gestrichen<br />

2 In den „Lehrl<strong>in</strong>gen zu Sais“ schreibt Novalis den Figuren e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong>e geometrische Bedeutung zu: Wenn<br />

e<strong>in</strong>ige Tropfen „zufällig auf den Schreiber [trafen], so fielen e<strong>in</strong>e Menge Zahlen <strong>und</strong> geometrische Figuren<br />

nie<strong>der</strong>, die er mit vieler Ämsigkeit auf e<strong>in</strong>en Faden zog, <strong>und</strong> sich zum Zierrath um den magern Hals h<strong>in</strong>g.“<br />

(Novalis, Die Lehrl<strong>in</strong>ge zu Sais, HKA I, S. 294). An dieser Stelle schränkt er die Figuren auf geometrische<br />

e<strong>in</strong>. <strong>Das</strong> Wort Figur wird bei Novalis an an<strong>der</strong>en Stellen auch mit an<strong>der</strong>er Bedeutung verwendet, auf die ich<br />

<strong>in</strong> Abschnitt 2.3 e<strong>in</strong>gehen werde.<br />

2

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