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Das „geheime Wort“ und Fragen der Erkenntnis in Novalis' „Wenn ...

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stellt. Der wesentliche Unterschied zwischen <strong>der</strong> Darstellung <strong>in</strong> den „Lehrl<strong>in</strong>gen“ <strong>und</strong> dem<br />

„Ofterd<strong>in</strong>gen“ ist an dieser Stelle <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> <strong>Erkenntnis</strong>. Im „Ofterd<strong>in</strong>gen“ geht die Liebe<br />

He<strong>in</strong>richs zu Mathilde <strong>der</strong> tiefen <strong>Erkenntnis</strong> voraus, während <strong>in</strong> den „Lehrl<strong>in</strong>gen“ eben diese<br />

Liebe selbst die ultimative <strong>Erkenntnis</strong> darstellt. Welchen Stellenwert Novalis <strong>der</strong> Liebe zuweist,<br />

wird auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 79. Fragment des „Allgeme<strong>in</strong>en Brouillion“ deutlich, <strong>in</strong> dem er die<br />

Liebe als „das höchste Reale“ 20 bezeichnet. Er geht sogar noch weiter <strong>und</strong> schreibt: „Gott ist<br />

die Liebe.“ 21 Dies verdeutlicht die Bedeutung <strong>der</strong> Liebe für die <strong>Erkenntnis</strong>. Durch das Gefühl<br />

<strong>der</strong> Liebe entstehe nicht nur e<strong>in</strong> tieferes Verständnis, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung zwischen dem<br />

Menschlichen <strong>und</strong> dem Göttlichen. Aber nicht nur als Verb<strong>in</strong>dungsglied soll die Liebe zu<br />

e<strong>in</strong>er höheren <strong>Erkenntnis</strong> führen. Novalis betrachtet die Liebe als e<strong>in</strong>en Zugang zur Poesie,<br />

darüber h<strong>in</strong>aus aber selbst als e<strong>in</strong>e „poetisierende“ 22 Kraft: „Liebe <strong>und</strong> Treue werden euer<br />

Leben zur ewigen Poesie machen.“ 23<br />

An dieser Stelle ist e<strong>in</strong> weiterer Aspekt zu nennen, den beide Textstellen aus den Lehrl<strong>in</strong>gen<br />

<strong>und</strong> dem Ofterd<strong>in</strong>gen geme<strong>in</strong>sam haben: E<strong>in</strong>e Schlüsselrolle im Gang <strong>der</strong> <strong>Erkenntnis</strong><br />

spielt <strong>der</strong> Traum. In den „Lehrl<strong>in</strong>gen“ drückt Novalis dies so aus, dass ihn „nur <strong>der</strong> Traum <strong>in</strong><br />

das Allerheiligste führen“ 24 dürfe.<br />

Betrachtet man nun die gezeigten Parallelen zwischen Gedicht <strong>und</strong> Roman, so kann man<br />

das Gedicht als e<strong>in</strong>e Zusammenfassung <strong>der</strong> zentralen Themen des Romans verstehen. Was im<br />

Gedicht programmatisch skizziert ist, wird im Roman <strong>in</strong> erzählerischen Episoden entfaltet.<br />

2.3 Die Bedeutung <strong>der</strong> Poesie für den <strong>Erkenntnis</strong>prozess<br />

In Abschnitt 2.1 hatte ich darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass das <strong>„geheime</strong> <strong>Wort“</strong> für das Gedicht e<strong>in</strong>e<br />

zentrale Rolle spielt. Darauf deutet auch die hier gewählte metrische Form des Anapästs h<strong>in</strong>,<br />

die den Ausdruck aus se<strong>in</strong>er metrischen Umgebung hervorhebt. Die Ausdrücke geheimes<br />

Wort <strong>und</strong> Zauberwort gehören zu e<strong>in</strong>em Feld von Ausdrücken, die bei Novalis an verschiedenen<br />

Stellen zur Kennzeichnung des geheimnisvollen Charakters höherer <strong>Erkenntnis</strong> verwendet<br />

werden. Zu diesen Ausdrücken gehören die Wörter Chiffre, Hieroglyphe <strong>und</strong> Figur. Die<br />

damit gekennzeichneten sprachlichen Mittel beschreibt Lorenz als „demonstrativ rätselhafte<br />

Sprach- <strong>und</strong> Stilmittel“. 25 E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drucksvolle Belegstelle für die Bedeutung e<strong>in</strong>er „Chiffernschrift“<br />

f<strong>in</strong>det sich zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> „Lehrl<strong>in</strong>ge“:<br />

Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt <strong>und</strong> vergleicht, wird w<strong>und</strong>erliche<br />

Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören sche<strong>in</strong>en, die<br />

man überall, auf Flügeln, Eierschalen, <strong>in</strong> Wolken, im Schnee, <strong>in</strong> Krystallen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>bildungen,<br />

auf gefrierenden Wassern, im Innern <strong>und</strong> Äußern <strong>der</strong> Gebirge, [...] erblickt. In ihnen ahndet<br />

man den Schlüssel dieser W<strong>und</strong>erschrift, die Sprachlehre <strong>der</strong>selben; alle<strong>in</strong> die Ahndung will<br />

sich selbst <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e feste Form fügen, <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>t ke<strong>in</strong> höherer Schlüssel werden zu wollen. 26<br />

20 Novalis, <strong>Das</strong> Allgeme<strong>in</strong>e Brouillon Br. 79, HKA III, S. 254<br />

21 Novalis, <strong>Das</strong> Allgeme<strong>in</strong>e Brouillon Br. 79, HKA III, S. 254<br />

22 Novalis, Fragmente <strong>und</strong> Studien Nr. 631, HKA III, S. 677<br />

23 Novalis, He<strong>in</strong>rich von Ofterd<strong>in</strong>gen, HKA I, S. 284<br />

24 Novalis, Die Lehrl<strong>in</strong>ge zu Sais, HKA I, S. 95<br />

25 Lorenz, Art. Chiffre, S. 299<br />

26 Novalis, Die Lehrl<strong>in</strong>ge zu Sais, HKA I, S. 79. Auffallend ist <strong>in</strong> dem letzten Satz <strong>der</strong> zitierten Stelle die<br />

zweimalige Verwendung des Wortes Schlüssel, das ja auch <strong>in</strong> dem untersuchten Gedicht an prom<strong>in</strong>enter<br />

Stelle verwendet wird („Schlüssel aller Kreaturen“). E<strong>in</strong>e wichtige Rolle im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Frage<br />

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