Der-Wald-brennt_Seite1-50
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Erich Schmidt-Schell<br />
Forsthaus Wolkenstein<br />
der <strong>Wald</strong> <strong>brennt</strong>
Erich Schmidt-Schell<br />
FORSTHAUS WOLKENSTEIN<br />
der <strong>Wald</strong> <strong>brennt</strong>
1. Auflage 2015<br />
© Erich Schmidt-Schell, 2015<br />
Herausgeber: Betanien Verlag<br />
Postfach 1457 · 33807 Oerlinghausen<br />
www.betanien.de · info@betanien.de<br />
Lektorat: Bettina Kettschau<br />
Illustrationen: Heike Schweinberger<br />
Satz: Betanien Verlag<br />
Cover: Sara Pieper<br />
Coverfotos von Fotolia.com: ›Dmytro Titov‹ und ›toa555‹<br />
Druck: Drusala.cz<br />
ISBN 978-3-945716-01-4
Inhalt<br />
1 Hajo in Bedrängnis 7<br />
2 Besuch bei Hajo 16<br />
3 Ob das ein Ausweg ist? 29<br />
4 Die Heeb-Jungen machen mit 39<br />
5 Das Kleidersuchkommando 51<br />
6 Eine heiße Spur? 63<br />
7 Hält die Freundschaft das aus? 70<br />
8 <strong>Der</strong> Unruhestifter von der Birkenkuppe 81<br />
9 Wird der Gauner gefangen? 92<br />
10 Das Grillfest 99<br />
11 Ist Rache wirklich süß? 108<br />
12 Kann der Vater gerettet werden? 122<br />
13 Wird der Brandstifter ermittelt? 136<br />
14 Wie wird es mit Hajo enden? 142
1<br />
Hajo in Bedrängnis<br />
»Hajo, aufstehen! Hörst du? – Beeil dich,<br />
sonst kommst du zu spät zur Schule!«,<br />
klang Frau Belters Stimme drängend<br />
durch das Treppenhaus.<br />
»Jaaaa!«, kam es ungehalten zurück, und der Gerufene,<br />
ein dreizehnjähriger Junge, schälte sich langsam<br />
aus der warmen Steppdecke. Dabei brummte er: »Die<br />
geht mir auf den Senkel!«<br />
Endlich stand Hajo vor dem Bett. Er schlurfte mit<br />
nackten Füßen durch das Zimmer, das auf der Ostseite<br />
des Hauses lag, und zog die Vorhänge am Fenster<br />
zurück.<br />
In gleichen Moment war erneut die mahnende<br />
Stimme der Mutter zu hören, und Hajo wurde so<br />
böse, dass er schrie: »Mensch, mach doch nicht solch<br />
einen Terror! Die Schule läuft nicht weg! Ich werde sie<br />
noch am gleichen Platz finden, auch wenn ich mich<br />
erst heute Abend auf den Weg mache!«<br />
Frau Belter schwieg, schüttelte nur den Kopf und<br />
stieß einen tiefen Seufzer aus. Ihre Hoffnung, dass<br />
Hajo mit zunehmendem Alter vernünftiger würde,<br />
7
ging wohl nicht in Erfüllung. Das Gegenteil schien<br />
der Fall zu sein. Er wurde aufsässiger und fauler. Was<br />
war nur aus dem netten Jungen von früher geworden,<br />
der selten zu Beschwerden Anlass gegeben hatte!<br />
Während Frau Belter sich am Küchenherd mit dieser<br />
ihr unlösbar erscheinenden Frage beschäftigte, saß<br />
Hajo noch immer auf der Bettkante und döste. Doch<br />
mit einem Mal fuhr er hoch. Hatten sie heute nicht<br />
schon in der ersten Stunde Mathe? Und er hatte die<br />
Aufgaben noch nicht gelöst!<br />
»Jetzt ist der Bock fett!«, murmelte er. Sein Magen<br />
verkrampfte sich. Erst vorige Woche hatte er die<br />
Hausaufgaben vergessen! Jetzt würde der Steinacker<br />
keine Gnade mehr kennen und seine angedrohte Strafe<br />
wahrmachen!<br />
Wütend schlug Hajo mit der Faust auf den Tisch.<br />
Bei Steinackers jüngster Ermahnung hatte er sich fest<br />
vorgenommen, die Hausaufgaben nicht mehr zu verschlampen.<br />
Jetzt war es ihm doch wieder passiert! –<br />
Weshalb um alles in der Welt vergaß er auch wichtige<br />
Sachen, die er nicht vergessen wollte?<br />
»Ich habe einfach keinen Bock mehr auf die Schule«,<br />
knurrte er. »Ich würde sie am liebsten schmeißen<br />
und die Zeit lieber mit Fußballspielen oder anderen<br />
Sachen verbringen.«<br />
Das durfte er seinen Eltern aber nicht auf die Nase<br />
binden! Sie würden aus allen Wolken fallen und ein<br />
gewaltiges Donnerwetter veranstalten. Also musste er<br />
8
sich bis zum Schulabschluss in zwei Jahren einfach so<br />
durchwursteln.<br />
Bei den meisten Lehrern und Lehrerinnen klappte<br />
das auch ganz gut. Nur bei dem Steinacker kam er damit<br />
nicht durch, der durchschaute jeden Trick und schien<br />
einen Riecher für Hajos Schwachstellen zu haben.<br />
»Dem Kerl müsste …!« Hajo vollendete den Satz<br />
nicht, weil er ihm, obwohl er gewaltige Wut auf den<br />
Lehrer hatte, doch zu gemein erschien. Allerdings<br />
konnte er es sich nicht verkneifen, erneut mit der<br />
Faust auf den Tisch zu schlagen. Diesmal haute er so<br />
kräftig zu, dass er sich ordentlich wehtat, wild zu hüpfen<br />
begann und die schmerzende Faust zwischen die<br />
Knie klemmte.<br />
Einen Moment lang schien es so, als hätte ihn der<br />
Schmerz zur Vernunft gebracht.<br />
»Es ist doch purer Quatsch, was ich mache!«,<br />
schimpfte er. »Ich brauch eine Lösung, damit mir der<br />
Steinacker nichts anhängen kann!«<br />
Hajo schaute zur Uhr und wurde nervös. Eigentlich<br />
hätte er schon auf dem Schulweg sein müssen,<br />
wenn er noch irgendwie an seine Mathehausaufgaben<br />
kommen wollte. Trotzdem beeilte er sich auch jetzt<br />
noch nicht, sondern setzte sich noch einmal auf die<br />
Bettkante, stützte die Ellenbogen auf die Knie, legte<br />
das Kinn in die Hände und überlegte.<br />
Zu seiner Erleichterung kam ihm auch bald eine<br />
gute Idee. Er rannte ins Badezimmer, führte eine<br />
9
Schnellwäsche durch und verschwand ohne Abschied<br />
aus dem Haus.<br />
Etwa fünfzehn Minuten vor Unterrichtsbeginn<br />
erreichte er völlig außer Atem den Schulhof. Soweit<br />
war alles gutgegangen. Jetzt musste er nur noch an<br />
Nikolas Feldbusch, den Sohn des Försters vom Wolkenstein,<br />
und dessen Freund Julian Falkner, die er für<br />
Mathegenies hielt, herankommen. Beide standen wie<br />
fast jeden Tag vor Unterrichtsbeginn unter der mächtigen<br />
Linde. So unauffällig wie möglich näherte sich<br />
Hajo den beiden, in der sicheren Annahme, dass sie<br />
ihm helfen würden. Schließlich waren sie ja Christen<br />
und die »Frommen« durften in Not geratene Leute<br />
nicht einfach abweisen.<br />
Als Nikolas und Julian den Sohn des Großbauern<br />
auf sich zukommen sahen, rechneten sie damit, wie<br />
gewöhnlich von ihm angepöbelt zu werden. Doch<br />
zu ihrem Erstaunen wurden sie heute freundlich begrüßt.<br />
Hajo stellte sich sogar zu ihnen. Das war bisher<br />
noch nie geschehen.<br />
Nikolas und Julian sahen ihn groß und fragend<br />
an. Sie wussten offenbar nicht, was sie von seinem<br />
Benehmen halten sollten.<br />
Hajo sah zur Uhr. In wenigen Minuten würde die<br />
Schulglocke zum Unterrichtsbeginn läuten. Hajo begann<br />
nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten.<br />
Plötzlich presste er hervor: »Ich hätte eine Bitte<br />
an euch.«<br />
10
»Und die wäre?«, fragte Nikolas gespannt.<br />
»Könnt ihr mir helfen? Ich hab die Mathe-Aufgaben<br />
verschlampt!«, tastete Hajo sich vor.<br />
»Natürlich helfen wir dir«, versprach Nikolas. »Bis<br />
zum Unterrichtsbeginn wird es aber knapp werden.<br />
Es sind immerhin zehn Aufgaben zu lösen.«<br />
Hajo zuckte zusammen, schüttelte den Kopf und<br />
stieß gequält hervor: »Klar, erklären könnt ihr sie<br />
mir jetzt nicht mehr. Ich hatte gedacht, dass ihr mir<br />
einfach schnell die Ergebnisse sagt und ich sie hinschreibe!«<br />
Die Freunde sahen sich zweifelnd an. Das, nein,<br />
das ging nicht.<br />
»Ihr seid doch Christen, und in eurer Bibel steht,<br />
dass ihr in Not geratenen Leuten helfen müsst!«, versetzte<br />
Hajo vorwurfsvoll.<br />
Nikolas und Julian fühlten sich in der Zwickmühle.<br />
Klar, sie wollten Menschen helfen, die in Not waren.<br />
Das gebot ihnen der Herr Jesus eindeutig. Er sagte<br />
aber nichts davon, dass sie Faulpelze unterstützen<br />
oder Lehrer betrügen sollten. Hajos Not war eindeutig<br />
auf seine Faulheit zurückzuführen. Sie konnten<br />
ihm seine Bitte nicht erfüllen.<br />
»Schöne Christen seid ihr!«, fauchte Belter und<br />
blickte ganz böse.<br />
»Du hast keinen Grund, uns zu beschimpfen«, verteidigte<br />
sich Julian. »Wir haben deine Bitte um Hilfe<br />
nicht abgelehnt! Wir möchten dir gern beibringen,<br />
11
wie du die Aufgaben rasch und richtig lösen kannst.<br />
Das ist bis zum Unterrichtsbeginn aber nicht möglich.<br />
Und wir dürfen dich nicht einfach abschreiben<br />
lassen.«<br />
»Wieso denn nicht?« Hajo wurde immer ärgerlicher.<br />
»Es wäre Betrug!«, hielt ihm Julian entgegen.<br />
»Quatsch!«, sagte Hajo. »Ich würde vielleicht<br />
betrügen, aber ihr doch nicht. Ich würde dem Steinacker<br />
zwar ein Ergebnis zeigen, das nicht von mir<br />
stammt! Aber ihr habt damit gar nichts zu tun!«<br />
»Oh doch! Wir haben dir die Lösung gegeben und<br />
uns damit an dem Schwindel beteiligt«, warf Nikolas<br />
ein und bewirkte, dass Hajo seinem Ärger nun heftig<br />
Luft machte.<br />
»Hätte ich mir ja denken können, dass ihr wie alle<br />
Frommen seid«, schimpfte er und machte eine verächtliche<br />
Handbewegung. »Ihr riskiert nur einen großen<br />
Rand, aber es steckt nichts dahinter …«<br />
Sein weiteres Gemecker ging im Läuten der Schulglocke<br />
unter.<br />
Nikolas und Julian gingen in der Klasse schweigend<br />
zu ihren Plätzen und warteten gespannt auf das Erscheinen<br />
von Lehrer Steinacker. Würde er merken,<br />
dass Hajo seine Hausaufgaben wieder nicht gemacht<br />
hatte? Und wie würde er wohl reagieren?<br />
Doch zunächst hatte es den Anschein, als würde<br />
Hajo heute gar nicht entdeckt werden. Herr Steinacker<br />
12
13
egann nämlich an der entgegengesetzten Klassenseite<br />
mit der Kontrolle der Hausaufgaben und kontrollierte<br />
sie auch nur in Stichproben.<br />
Nikolas und Julian sahen, dass Hajo erleichtert<br />
aufatmete. Doch ihr Mitschüler hatte sich zu früh gefreut.<br />
Steinacker wechselte von der linken Tischreihe<br />
plötzlich zur rechten und ging schnurstracks auf Hajo<br />
zu. Bedächtig nahm er das Arbeitsblatt von Hajos<br />
Tisch, das so blütenweiß war, wie es Hajo vor Tagen<br />
mit nach Hause genommen hatte. Doch Herr Steinacker<br />
tat so, als sei mit seiner Brille etwas nicht in Ordnung.<br />
Er setzte sie ab, putzte umständlich die Gläser,<br />
schob die Brille wieder auf die Nase und schüttelt den<br />
Kopf.<br />
»Nein«, sagte er mit gespielter Verwunderung, »an<br />
meiner Brille liegt es doch nicht! Das Blatt ist tatsächlich<br />
leer!« Dann schaute er Hajo streng an und fragte:<br />
»Wie kommt’s?«<br />
Zum Erstaunen von Nikolas und Julian wich<br />
Hajo dem Blick des Lehrers nicht aus und entgegnete<br />
selbstsicher: »Weil ich nichts draufgeschrieben habe!«<br />
Die Jungen und Mädchen hielten den Atem an.<br />
Wie würde der Lehrer auf Hajos Frechheit reagieren?<br />
Herr Steinacker schwieg einen Moment. Auf seiner<br />
Stirn erschien eine steile Falte. Schließlich sagte er<br />
streng: »Wenn bei dir alles so in Ordnung wäre wie<br />
dein Mundwerk, wärst du ein Super-Schüler. So aber<br />
hast du dir für heute im Mündlichen die Note mit<br />
14
dem höchsten Nennwert eingehandelt, nämlich eine<br />
›Sechs‹!«<br />
Mit festen Schritten ging Herr Steinacker zu seinem<br />
Schreibtisch, öffnete die Schublade, zog eine<br />
Mappe heraus und nahm darin einen entsprechenden<br />
Eintrag vor. Er sagte zu Hajo: »Mit diesem Eintrag<br />
hast du als notorischer Hausaufgaben-Schwänzer das<br />
Maß voll gemacht. Die Fünf in Mathe ist nicht mehr<br />
abzuwenden. Das heißt, dass deine Versetzung stark<br />
gefährdet ist! Also werden wir uns wohl im nächsten<br />
Schuljahr in dieser Jahrgangsstufe wiedersehen.«<br />
Herr Steinacker klappte die Mappe zu, verstaute<br />
sie wieder im Schreibtisch und begann mit dem Unterricht.<br />
Hajo tat so, als folge er aufmerksam den Ausführungen<br />
des Lehrers; in Wirklichkeit nahm er davon<br />
aber gar nichts wahr. Er war bis obenhin zu und erfüllt<br />
mit der Wut über die »frommen Heinis«, wie er<br />
Nikolas und Julian nannte. Am liebsten wäre er aufgesprungen<br />
und dem Förstersöhnchen samt seinem<br />
Freund an die Gurgel gegangen.<br />
»Die haben mich nicht umsonst in die Tinte geritten,<br />
das schwör ich ihnen!«, nahm sich Hajo vor und<br />
ballte die Hände zu Fäusten. »Bei nächster Gelegenheit<br />
zahlte ich es ihnen doppelt und dreifach heim!<br />
Dann können sie Sturm beten, dass ihr Gott ihnen<br />
hilft!«<br />
15
2<br />
Besuch bei Hajo<br />
Nachdem Julian seine Schulaufgaben gemacht<br />
hatte, schwang er sich auf sein Fahrrad und<br />
radelte den Wolkenstein hinauf zum Forsthaus.<br />
Ein kurzer Blick zur Uhr zeigte ihm, dass er gut<br />
in der Zeit lag, um pünktlich bei seinem Freund Nikolas<br />
zu sein. Für heute hatten sie auch nichts Weltbewegendes<br />
geplant. Sie wollten nachsehen, ob der<br />
Kuckuck dem Buchfink einen Streich gespielt, ihm<br />
die Eier aus dem Nest geworfen und seines hineingelegt<br />
hatte.<br />
Als Julian zum Forsthaus kam, war aus dem Abstellraum<br />
neben der Garage lautes Gepolter und Rumoren<br />
zu hören.<br />
Julian schlich sich zur Garage, von hier aus in den<br />
Abstellraum und stand wenig später hinter seinem<br />
Freund.<br />
»Wer macht hier solchen Lärm?«, fragte er absichtlich<br />
sehr laut und mit hohler Stimme.<br />
Erschrocken fuhr Nikolas herum, schnappte nach<br />
Luft und stotterte: »Du Lumpensäckel!« Er boxte<br />
dem Freund sacht gegen die Brust.<br />
16
»Was suchst du denn?«, fragte Julian, als Nikolas<br />
erneut im Abstellraum zu räumen begann. »Oder darf<br />
ich das vielleicht nicht wissen?«<br />
»Quatsch! Wenn ich etwas Geheimes fabrizieren<br />
wollte, würde ich es bestimmt nicht hier im Schuppen<br />
tun«, gab Nikolas zur Antwort. »Meine Mutter<br />
möchte was im Garten machen und hat die Harke<br />
verlegt. Nun soll ich sie suchen!«<br />
Unaufgefordert beteiligte sich Julian an der Aufgabe.<br />
Schon nach wenigen Minuten war er auf das vermisste<br />
Gartengerät gestoßen und sagte vergnügt: »Du,<br />
nimm doch diese, bis du die andere gefunden hast!«<br />
Nikolas wandte sich um und sah die Harke, die<br />
nicht einmal besonders verdeckt an der Wand lehnte.<br />
Es ärgerte ihn ein bisschen, dass er sie nicht selbst gefunden<br />
hatte. Doch er ging auf die fröhliche Bemerkung<br />
des Freundes ein und meinte: »Du bist ja gut<br />
drauf heute! Was haben sie dir denn ins Essen gegeben?«<br />
»Weiß ich nicht. Musst du meine Tante fragen, die<br />
hat bei uns gekocht, wie immer«, entgegnete Julian<br />
schlagfertig, und beide mussten grinsen.<br />
Nachdem sie Nikolas’ Mutter die Harke gebracht<br />
hatten, überlegten sie, wie sie am geschicktesten an<br />
das Buchfinkennest herankommen und hineinsehen<br />
könnten.<br />
17
Nach einer Weile meinte Nikolas: »Ich weiß nicht,<br />
ob es gut ist, dass wir so oft beim Nest sind. Vielleicht<br />
verscheuchen wir dadurch das Vogelpärchen und es<br />
brütet weder seine eigenen Eier aus, noch das des Kuckucks,<br />
falls der überhaupt eins in dieses Nestchen<br />
legt.«<br />
Julian stimmte dem Freund zu. »Ein Ei sagst du?«,<br />
fragte er. »Wie viele Eier legt denn ein Kuckuckweibchen?<br />
Nur eins?«<br />
»Nein. Mein Vater hat gesagt, es würde zehn bis<br />
zwölf Eier legen«, klärte ihn Nikolas auf.<br />
»Und jedes in ein anderes Nest?«<br />
»Ja.«<br />
»Warum denn das?«, fragte Julian verwundert.<br />
»Weil der Kuckuck ein großer Vogel ist, und seine<br />
Eier nur in die Nester von wesentlich kleineren Singvögeln<br />
legt. Würde er zwei Eier in ein solches Nest legen,<br />
hätten seine Jungen nicht genügend Platz darin«,<br />
erklärte Nikolas.<br />
Es entstand eine Pause, in der Julian nachdachte.<br />
Dann meinte er: »<strong>Der</strong> Kuckuck ist demnach nicht<br />
nur zu faul zum Brüten, sondern obendrein auch<br />
noch sehr klug.«<br />
»Klug würde ich das nicht nennen«, hielt Nikolas<br />
dagegen. »In meinen Augen ist der Kuckuck raffiniert;<br />
er vermehrt sich doch auf Kosten der Singvögel!«<br />
»Das stimmt«, pflichtete ihm Julian bei und überlegte:<br />
»Ich versteh’ aber auch die Singvögel nicht.<br />
18
Weshalb ziehen sie ein Vogelkind auf, das am Schluss<br />
viel größer ist als sie selbst und ihnen total über den<br />
Kopf wächst?«<br />
»Das weiß ich auch nicht«, meinte Nikolas.<br />
Die Freunde schwiegen nachdenklich. Julian<br />
meinte schließlich: »Auch das hat Gott so eingerichtet,<br />
oder? Und alles, was Gott tut, hat uns was zu sagen.<br />
Das stimmt doch?«<br />
»Ich glaube schon«, meinte Nikolas.<br />
»Auch die Sache mit dem Kuckuck?«<br />
Nikolas überlegte einen Moment. »Keine Ahnung«,<br />
sagte er. »Was soll sie uns zu sagen haben? Wie<br />
kommst du überhaupt auf diese Frage?«<br />
»Denk mal an heute Vormittag«, sagte Julian<br />
nachdenklich. »Da hatten wir es doch auch mit einem<br />
Kuckuck zu tun, oder? <strong>Der</strong> hatte zwar keine Federn<br />
und keine Flügel, aber er wollte uns ein Ei ins Nest<br />
legen. Doch im Gegensatz zu den Singvögeln in der<br />
Natur haben wir es nicht zugelassen. Jetzt sollten wir<br />
uns darum kümmern, dass dieser ›Kuckuck‹ nicht anderen<br />
Schülern ein Ei ins Nest legt, sondern einmal<br />
selbst für sich arbeitet!«<br />
»Stimmt«, meinte Nikolas. »Wir fahren jetzt nicht<br />
zum Buchfinkennest, sondern zu Hajo und versuchen<br />
mit ihm zu reden. Vielleicht kommen wir jetzt besser<br />
mit ihm klar als heute Morgen in der Schule.«<br />
Julian war damit einverstanden, und wenig später<br />
flitzten die Jungen mit ihren Rädern den Wolkenstein<br />
19
hinunter ins Tal. Sie radelten durch das Dorf, das sich<br />
zu beiden Seiten des Baches ausdehnte. Dann hatten<br />
sie den Bauernhof von Hajos Eltern erreicht, der am<br />
gegenüberliegenden Hang lang.<br />
Die beiden Jungen stellten ihre Räder am Gartenzaun<br />
ab und gingen zur Haustür.<br />
Da tönte eine tiefe Männerstimme über den Hof:<br />
»Hallo, ihr beiden! Wen oder was sucht ihr denn?«<br />
Die Jungen drehten sich um und sahen einen kräftigen<br />
Mann vor der Hofwerkstatt stehen.<br />
»Das ist wohl der Bauer, Hajos Vater«, dachten die<br />
Freunde und grüßten freundlich.<br />
<strong>Der</strong> kräftige Mann grüßte zurück und lächelte.<br />
Nikolas und Julian fassten sofort Zutrauen zu ihm.<br />
»Womit kann ich euch dienen?«, fragte der Bauer.<br />
Er stand jetzt vor den Jungen und blickte gutmütig<br />
auf sie herab.<br />
»Sie sollen uns nicht dienen. Sie haben auf dem<br />
Hof Arbeit genug«, sagte Nikolas.<br />
»Da hast du recht. Das habe ich wirklich«, stimmte<br />
der Bauer zu, und wunderte sich über die einfühlsame<br />
Art des Jungen. »Ihr seid aber doch nicht ohne<br />
Grund hierher gekommen?«<br />
»Nein«, erklärte Nikolas, »wir wollten zu Hajo.«<br />
»Zu Hajo!?« <strong>Der</strong> Bauer freute sich sichtlich, weil<br />
sein Sohn in letzter Zeit überhaupt nur selten Besuch<br />
erhalten hatte. Und die wenigen Jungen, die gekommen<br />
waren, hatten keinen guten Einfluss auf ihn aus-<br />
20
geübt. Umso glücklicher war er über das Erscheinen<br />
von Hajos netten Klassenkameraden. Er rief nach seiner<br />
Frau.<br />
Sofort erschien Frau Belter vor der Haustür und<br />
begrüßte die beiden Besucher ebenso freundlich, wie<br />
das vorher ihr Mann getan hatte.<br />
»Wo steckt denn Hajo? Die beiden Jungen wollen<br />
ihn besuchen!«<br />
Ein Schatten legte sich auf Frau Belters gutmütiges<br />
Gesicht.<br />
»Er ist auf seinem Zimmer«, flüsterte sie ihrem<br />
Mann zu. »Ruf du ihn, dann kommt er wohl eher.«<br />
Nikolas und Julian sahen sich verständnislos an.<br />
Was spielte sich hier ab? Wieso hörte Hajo nicht auf<br />
seine Mutter?<br />
Wortlos betrat Herr Belter den Flur und rief durch<br />
das Treppenhaus nach oben: »Hajo, komm mal runter!<br />
Du hast Besuch!«<br />
Frau Belter wandte sich den Jungen zu und bat sie<br />
ins Haus.<br />
Erst nach einer ganzen Weile bestätigte Hajo<br />
durch ein Brummen, dass er das Rufen seines Vaters<br />
gehört hatte. Nikolas und Julian sank der Mut.<br />
Einen Moment später waren Schritte zu hören,<br />
und Hajo tauchte auf der Treppe auf. Als er Nikolas<br />
und Julian sah, drehte er auf dem Absatz um.<br />
»Jetzt komm runter!«, befahl Herr Belter. Sein<br />
Ton ließ keinen Zweifel daran, dass es Folgen für<br />
21
Hajo haben würde, falls er die Anweisung nicht befolgte.<br />
Widerwillig setzte sich Hajo in Bewegung. Er<br />
blieb aber auf der untersten Treppenstufe stehen, als<br />
Zeichen, dass er sich mit den Klassenkameraden nicht<br />
auf die gleiche Ebene begeben wollte.<br />
»Sag deinen Mitschülern guten Tag!«, mahnte der<br />
Vater, der das Schweigen seines Sohnes überheblich,<br />
ja unerträglich fand.<br />
Hajo kam dieser Aufforderung nicht nach. Anstatt<br />
zu grüßen, fragte er barsch: »Was wollt ihr denn?«<br />
Für einen Moment verschlug es Nikolas und Julian<br />
die Sprache. Sie hatten keine herzliche Begrüßung erwartet,<br />
eine solche Entgegnung aber auch nicht. Noch<br />
während sie überlegten, wie sie sich verhalten sollten,<br />
platzte Hajo giftig heraus: »Was ist? Seid ihr stumm?«<br />
Frau Belter schüttelte den Kopf und hatte mit den<br />
Tränen zu kämpfen.<br />
Ihr Mann stieß zornig hervor: »Junge!«<br />
Hajo sah, dass bei seinem Vater ein Punkt erreicht<br />
war, den er besser nicht überschreiten sollte. Es entstand<br />
ein spannungsgeladenes Schweigen.<br />
»Wir sind gekommen, um noch einmal in Ruhe<br />
mit dir zu reden, weil die Sache von heute Morgen<br />
so unbefriedigend ausgegangen ist«, sagte Nikolas<br />
schließlich.<br />
Hajo sah ihn groß an, nickte und sagte kurz:<br />
»Kommt mit!«<br />
22
Er durchquerte mit energischen Schritten den<br />
Flur. Nikolas und Julian folgten ihm angespannt und<br />
schweigend nach draußen.<br />
Herr und Frau Belter beobachteten noch, dass sich<br />
Hajo mit seinen Besuchern auf die Bank unter dem<br />
Kastanienbaum setzte. Dann gingen sie wieder an ihre<br />
Arbeit.<br />
Hajo lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander<br />
und forderte seine Besucher in barschem Ton<br />
auf: »Dann schießt mal los! Ich bin gespannt!«<br />
Nikolas und Julian zögerten. Die Kaltschnäuzigkeit<br />
des Klassenkameraden irritierte sie. Schließlich<br />
fasste sich der Försterjunge ein Herz und bat: »Lass<br />
uns doch endlich mal vernünftig zusammen reden,<br />
Hajo! Kannst du nicht …«<br />
»Nein, mit euch kann und will ich nichts mehr zu<br />
tun haben!«, fiel ihm der Belter ins Wort. »Ihr habt mich<br />
heute Morgen zu tief reingeritten! Ich warte darauf, dass<br />
ihr mal einen Gedanken daran verschwendet, wie ich<br />
aus dieser Tinte wieder herauskommen soll!« Hajo redete<br />
sich so in Rage, dass sein Kopf hochrot wurde.<br />
»Das haben wir getan und sind deshalb gekommen,<br />
um mit dir darüber zu reden«, versicherte Julian.<br />
»Wir haben auch eine Lösung gefunden. Du musst<br />
nur vernünftig mit dir reden lassen.«<br />
Hajo wurde etwas ruhiger. Er hoffte, sich mit den<br />
Jungen dahingehend einigen zu können, dass sie ihn<br />
in Zukunft abschreiben ließen.<br />
23
»Ist euch jetzt aufgegangen, dass ihr euch heute<br />
Morgen mir gegenüber sehr fies benommen habt?«,<br />
fragte er.<br />
Nikolas schüttelte den Kopf. »Von fies kann keine<br />
Rede sein! Es wäre doch gar keine Hilfe für dich gewesen,<br />
wenn wir dich hätten abschreiben lassen.«<br />
Hajo machte große Augen, schnappte nach Luft<br />
und fragte ärgerlich: »Wieso das denn nicht?«<br />
»Wir wollten dir beibringen, wie man die Aufgaben<br />
leicht lösen kann. Wenn wir dich nur abschreiben<br />
lassen, lernst du nichts und hast jedes Mal wieder<br />
Schwierigkeiten mit den Aufgaben, spätestens in der<br />
nächsten Mathearbeit.«<br />
Hajo schwieg. Er dachte nach und begriff, dass<br />
die beiden recht hatten. Er konnte in der Schule nur<br />
besser werden, wenn er seine Hobbys reduzierte und<br />
wieder mehr lernte. Doch er wollte sich nicht ändern!<br />
Wütend sprang er auf und beschimpfte die beiden<br />
Jungen aufs Übelste.<br />
Nikolas und Julian waren erschrocken. Als Hajo in<br />
seinem Geschimpfe eine Atempause einlegen musste,<br />
fragte Nikolas: »Weshalb regst du dich so auf? Wenn<br />
unser Vorschlag falsch ist, braucht er dich nicht zu<br />
kümmern. Ist er aber richtig, kannst du dich, wenn<br />
du willst, mit Gottes Hilfe verändern lassen.«<br />
»Quatsch!«, schrie Hajo mit hochrotem Kopf,<br />
drehte auf dem Absatz um und rannte in Richtung<br />
Scheune davon.<br />
24
Nikolas und Julian sahen sich ratlos an. Was war<br />
mit Hajo los? Hatte er den Verstand verloren? War<br />
er abgehauen, weil er nicht mehr mit ihnen reden<br />
wollte? Oder würde er zurückkommen? Sie wussten<br />
es nicht und blieben ratlos auf der Bank unter dem<br />
Kastanienbaum sitzen.<br />
Nach einer Weile meinte Julian: »Also, ich möchte<br />
hier keine Wurzeln schlagen.«<br />
»Ich auch nicht«, stimmte Nikolas zu.<br />
Sie gingen ins Haus zurück, um sich von Belters<br />
zu verabschieden.<br />
»Wo ist denn Hajo?«, fragte die Hausfrau.<br />
»Wir wissen es nicht«, sagte Julian und erzählte,<br />
was vorgefallen war.<br />
»Das darf doch nicht wahr sein!«, stieß Hajos<br />
Mutter verzweifelt hervor. »Wie konnte der Junge nur<br />
so werden?«<br />
Auf diese Frage wussten Nikolas und Julian natürlich<br />
auch keine Antwort. Sie verabschiedeten sich und<br />
verließen das Haus. Schweigend stiegen sie auf ihre<br />
Räder.<br />
Als sie losfahren wollten, stellte Nikolas fest, dass<br />
sein Hinterrad platt war. Einen Moment später machte<br />
Julian die gleiche Entdeckung bei seinem Rad.<br />
Die Freunde stiegen wieder ab. Sie überlegten angestrengt,<br />
wo sie sich die Platten geholt haben könnten.<br />
Auf der Fahrt hatten sie doch nirgendwo Scherben<br />
gesehen! Und seltsam, dass die Hinterreifen an<br />
25
eiden Fahrrädern gleichzeitig platt waren. Nein, das<br />
konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, da hatte<br />
bestimmt jemand seine Finger im Spiel!<br />
Die Freunde überprüften die Fahrradschläuche ihrer<br />
Hinterräder und wurden bald fündig. In jedem<br />
der beiden Reifen steckten drei Nägel. Nikolas und<br />
Julian pulten sie heraus. Es handelte sich um Nägel<br />
der gleichen Größe und des gleichen Fabrikats!<br />
Die Jungen sahen sich schweigend an und jeder<br />
dachte das Gleiche. Doch keiner sprach den Namen<br />
»Hajo« aus.<br />
Während sie sich so gegenüberstanden, gesellte<br />
sich Herr Belter zu ihnen und fragte: »Gibt’s Probleme?<br />
Stimmt mit euren Rädern etwas nicht?«<br />
Nikolas und Julian streckten dem Bauer die Nägel<br />
entgegen.<br />
»Was ist damit?«, erkundigte sich Herr Belter beunruhigt.<br />
Die Freunde erzählten ihm, was sie in der letzten<br />
Viertelstunde erlebt hatten, und der Bauer ließ sich<br />
die Nägel geben. Während er sie aufmerksam betrachtete,<br />
bildete sich eine tiefe Falte auf seiner Stirn.<br />
Doch zu den Jungen blieb er freundlich und sagte:<br />
»Kommt mit, ich helfe euch beim Flicken der Reifen!«<br />
Nikolas und Julian freuten sich über die angebotene<br />
Hilfe. Herr Belter nahm sie mit in die Hofwerkstatt.<br />
Rasch hatte der Bauer das erforderliche Werk-<br />
26
Bild 2<br />
Reifen Nägel<br />
27
zeug und die entsprechenden Flicken zur Hand und<br />
ging mit geschickten Griffen ans Werk.<br />
Eine gute halbe Stunde später konnten die Freunde<br />
mit ihren reparierten Rädern den Hof verlassen<br />
und bedankten sich herzlich bei Herrn Belter.<br />
Nachdem sie das Dorf durchquert hatten und den<br />
Anstieg zum Wolkenstein hinaufstrampelten, überlegte<br />
Julian: »Du, ich habe Hajo zum Schluss gar<br />
nicht mehr gesehen.«<br />
»Stimmt! Ich auch nicht!«, erinnerte sich Nikolas.<br />
»Ob er sich vor uns versteckt hat?«, fragte Julian<br />
nachdenklich.<br />
»Kann sein. Vielleicht hat seine Tat ihm doch zu<br />
schaffen gemacht«, hoffte Nikolas.<br />
»Das wäre schön. – Aber eigentlich kann ich mir<br />
nicht vorstellen, dass sich bei Hajo in seiner jetzigen<br />
Verfassung ein schlechtes Gewissen meldet. Doch<br />
warten wir ab. Vielleicht erfahren wir morgen in der<br />
Schule mehr«, meinte Julian.<br />
Dann schwiegen beide, weil der Berg steiler wurde<br />
und sie kräftiger in die Pedalen treten mussten.<br />
28
3<br />
Ob das eine Lösung ist?<br />
Zur gleichen Zeit ließ sich Hajo wieder auf dem<br />
elterlichen Hof blicken. Er holte sein Gokart<br />
aus der Garage und übte sich im Kurvenfahren.<br />
Doch im selben Moment stand sein Vater neben<br />
ihm und fragte ernst: »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«<br />
»Bei Heebs«, nuschelte Hajo und versuchte weiter<br />
seine Runden zu drehen.<br />
Herr Belter hielt Hajo energisch fest und sagte ärgerlich:<br />
»Soo, du warst bei Heebs, während du Besuch<br />
hattest! Ist das neuerdings so üblich, dass man<br />
vor dem eigenen Besuch abhaut und selbst einen Besuch<br />
bei anderen macht? Meinst du nicht, dass Nikolas<br />
und Julian sehr enttäuscht über dein Verhalten<br />
waren?«<br />
»Pah, die interessieren mich nicht!«, stieß Hajo<br />
hervor und machte eine wegwerfende Handbewegung.<br />
»<strong>Der</strong> Umgang mit dem Försterjungen und seinem<br />
Freund wären deiner Mutter und mir aber hundertmal<br />
lieber als der mit den Heeb-Jungen. Von Nikolas<br />
29
und Julian könntest du etwas Vernünftiges lernen!«,<br />
ereiferte sich der Vater.<br />
Hajo gab keine Antwort. Er versuchte sich aus<br />
dem Griff seines Vaters zu befreien, doch dieser hielt<br />
ihn eisern fest und fragte: »Ich möchte noch etwas<br />
von dir wissen: Warst du während der letzten Stunde<br />
nur bei den Heebs?«<br />
»Natürlich! Hab ich dir doch gesagt!«, stieß Hajo<br />
hervor. Aber es klang nicht sehr überzeugend und er<br />
konnte dem Vater nicht in die Augen sehen. Ihm war,<br />
als fragte sein Vater etwas, das er schon wüsste.<br />
»Soso«, sagte Herr Belter gedehnt und machte eine<br />
Pause, während der er den Jungen nicht aus den Augen<br />
ließ.<br />
Schließlich wurde es Hajo unbehaglich, doch er<br />
rückte noch immer nicht mit der Sprache heraus.<br />
»Dann komm mal mit«, verlangte sein Vater. »Ich<br />
möchte dir etwas zeigen! Bin mal gespannt, welche<br />
Erklärung du dafür hast.«<br />
Wortlos stieg Hajo vom Gokart und folgte dem<br />
Vater in die Werkstatt. <strong>Der</strong> nahm sechs bereitliegende<br />
Nägel von der Werkbank, zeigte sie seinem Sohn und<br />
fragte: »Kommen sie dir bekannt vor?«<br />
»Ja. Die sind aus der Dose dort drüben, wenn ich<br />
mich nicht täusche«, sagte Hajo, während er zum Regal<br />
über der Werkbank zeigte. Er hatte Mühe seiner<br />
Stimme einen festen Ton zu geben und dem Blick des<br />
Vaters standzuhalten.<br />
30
»Du hast recht«, sagte Herr Belter eigenartig ruhig.<br />
»Kannst du mir vielleicht erklären, wie sie aus<br />
der Dose in die Hinterreifen von Nikolas’ und Julians<br />
Rädern kamen?« Plötzlich klang die Stimme des Vaters<br />
drohend.<br />
Hajo überlegte fieberhaft: »Wenn ich jetzt die<br />
Wahrheit sage, komme ich vielleicht ohne oder zumindest<br />
mit einer milden Strafe davon.« Doch er<br />
brachte es nicht fertig ehrlich zu sein. »Nein, ich hab<br />
keine Ahnung, wie die Nägel aus der Dose in die<br />
Fahrradreifen kamen«, behauptete er.<br />
<strong>Der</strong> Vater schwieg und sah seinen Sohn ernst an.<br />
Sein Blick verriet, dass er Bescheid wusste und sehr<br />
traurig war, von Hajo so angelogen zu werden.<br />
Es schmerzte Herrn Belter, dass Hajo nicht zu seiner<br />
Tat stand und keinerlei Einsicht zeigte.<br />
Ohne genau zu wissen, was in seinem Vater gerade<br />
vorging, stand für Hajo plötzlich fest: Papa leidet! Ihn<br />
überkam eine gewisse Reue und er überlegte, ob er<br />
nicht seine Schuld zugeben und um Verzeihung bitten<br />
sollte.<br />
Doch er brachte es nicht fertig, weil er noch eine<br />
Stunde zuvor bei den Heebs auf den Putz geklopft<br />
und den Helden gespielt hatte.<br />
»Ich werde es allen zeigen, die mich jetzt in den<br />
Dreck treten! Sie werden es alle noch bitter bereuen,<br />
dass sie mich so behandeln!«, hatte er vor den Heeb-Brüdern<br />
getönt. Und dann hatte er das Brüderpaar zu dem<br />
31
Versprechen gedrängt, mit ihm eine Gang zu gründen<br />
und auf Biegen und Brechen zu ihm zu stehen! Nein,<br />
da konnte er jetzt unmöglich klein beigeben, auch bei<br />
seinem Vater nicht! Was sollten die Heebs dann von<br />
ihm denken? Bestimmt wäre er dann bei ihnen unten<br />
durch! Er musste die Sache nun bis zum bitteren Ende<br />
durchziehen. Vater und Mutter mussten sich daran<br />
gewöhnen, dass er nicht mehr der kleine Junge war,<br />
der nur das tat, was sie wollten!<br />
»Willst du nicht mehr mit mir reden?«, fragte Herr<br />
Belter.<br />
Hajo schwieg weiter; aber es arbeitete in ihm und<br />
schließlich kam es ihm leise über die Lippen: »Ich will<br />
schon noch mit dir reden, aber nicht über diese Sache.«<br />
Herrn Belter verschlug es für einen Moment die<br />
Sprache. Dann entschied er: »Wie du willst! Bis auf<br />
Weiteres wirst du nach der Schule den Hof nicht<br />
mehr verlassen!« Herr Belter konnte nicht verbergen,<br />
dass es ihn schmerzte, zu dieser Maßnahme greifen zu<br />
müssen und er fuhr fort: »Du wirst nach dem Unterricht<br />
deine Hausaufgaben machen und mir anschließend<br />
bei der Arbeit helfen. Ich hoffe, dass wir uns<br />
verstanden haben!«<br />
Hajos Vater wandte sich um und verließ die Werkstatt.<br />
Hajo blieb allein zurück. Einen Moment lang<br />
wusste er nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte.<br />
32
Urplötzlich war eine vollkommen neue Situation in<br />
seinem Elternhaus entstanden. Das hatte er nicht gewollt!<br />
Wütend und verzweifelt stampfte er mit dem<br />
Fuß auf und stieß einen lauten Fluch aus, der von den<br />
Betonwänden widerhallte.<br />
»Wenn ich Feldbusch und Falkner, diese frommen<br />
Heinis, doch nie getroffen hätte!«, schimpfte er weiter.<br />
»Die Sache mit diesem Jesus ist keine Friedensbotschaft!<br />
Wo diese Kerle mit ihrem frommen Geschwafel<br />
auftauchen, schaffen sie nur Durcheinander.<br />
Man sollte sie aus dem Verkehr ziehen. Und genau<br />
darum werde ich mich jetzt kümmern! Sie dürfen …«<br />
Plötzlich brach Hajo ab, weil ein Schatten in die<br />
Werkstatt fiel. Er wandte sich um und sah seine Mutter<br />
in der Tür stehen. Offensichtlich erwartete sie eine<br />
Erklärung für seinen lautstarken Wutausbruch. Doch<br />
Hajo schwieg verstockt.<br />
»Willst du mir nicht sagen, was du hast? Wenn wir<br />
in Frieden zusammenleben wollen, müssen wir miteinander<br />
reden.«<br />
Hajo hielt dem traurigen Blick seiner Mutter<br />
stand und schleuderte ihr wütend entgegen: »Was hat<br />
denn Vater mit mir gemacht! Zu euch hab ich kein<br />
Vertrauen mehr. Ihr habt euch ganz auf die Seite der<br />
Frommen gestellt. Euch bedeuten fremde Kerle mehr<br />
als euer eigenes Kind!«<br />
»Hajo!«, entfuhr es der Mutter erschrocken. »Was<br />
redest du da? Das ist doch dummes Zeug! Du bist<br />
33
und bleibst unser Sohn! Aber du hast einen gefährlichen<br />
Weg beschritten, und wir möchten so sehr, dass<br />
du davon umkehrst! Wir haben dich lieb! Aber dein<br />
Verhalten können wir nicht gutheißen, weil es nicht<br />
gut ist. Verstehst du das nicht?«<br />
Doch, Hajo verstand seine Mutter sehr gut. Aber<br />
er ließ sich von ihr nicht umstimmen, weil er befürchtete,<br />
die Heeb-Jungen, Bastian und Robin, könnten<br />
ihn für einen Feigling und Schwächling halten. Das<br />
wollte er unter allen Umständen verhindern, weil es<br />
ihn einiges gekostet hatte, dass sie ihn bewunderten<br />
und als tollen Typen ansahen.<br />
Frau Belter redete weiter ruhig auf ihn ein. Hajo<br />
gab ihr keine Antwort. »Nun gut«, sagte seine Mutter.<br />
»Dann geh jetzt an die Arbeit. Bei den Kaninchen ist<br />
schon einige Zeit nicht mehr ausgemistet worden, das<br />
kannst du jetzt tun.«<br />
Hajo war nicht gerade begeistert. Missmutig und<br />
ärgerlich stampfte er aus der Werkstatt, holte im<br />
Geräteschuppen eine Karre, eine Zinkenharke und<br />
schlenderte zu den Hasenställen.<br />
Es kam ihm so vor, als ließen sich die Kästen wesentlich<br />
leichter ausmisten als je zuvor. »Bin ich stärker<br />
geworden oder verleiht mir die Wut zusätzliche<br />
Kräfte?«, fragte er sich.<br />
Ärgerlich füllte er Schubkarre um Schubkarre.<br />
Sollte das in Zukunft nun so weitergehen, dass er auf<br />
dem Hof Bauer spielen musste, während das Förster-<br />
34
35
söhnchen und sein Freund sich schöne Nachmittage<br />
machten?<br />
Je länger Hajo darüber nachdachte, umso wütender<br />
wurde er und hatte den lebhaften Wunsch, Nikolas<br />
und seinem Freund tüchtig eins auszuwischen.<br />
Nur – wie konnte er trotz seines Hofarrests den beiden<br />
das Leben schwer machen?<br />
Als er die Hasenställe gesäubert hatte und die letzte<br />
Karre am Misthaufen ablud, hörte er einen scharfen<br />
Pfiff. Hajo wandte sich um und sah seine Freunde,<br />
Bastian und Robin Heeb, auf der Straße angeradelt<br />
kommen. Da durchzuckte ihn der Gedanke: Die beiden<br />
konnten ihm doch helfen und Nikolas und Julian<br />
eins auswischen!<br />
»Hey, kommt mal rüber!«, rief Hajo und winkte<br />
den Brüdern zu.<br />
Die zwei kamen sofort und hielten neben Hajo an.<br />
»Was gibt’s?«, fragte Bastian gespannt. Er wusste<br />
schon: Wenn Hajo rief, gab es etwas auszuhecken.<br />
Hajo tat nun auch recht geheimnisvoll. Er stellte<br />
sich dicht vor die Brüder hin, sah sich prüfend nach<br />
allen Seiten um, dass auch kein Lauscher in der Nähe<br />
war, und sagte: »Ich brauche dringend eure Hilfe!«<br />
Bastian und Robin waren sofort ganz Ohr. Sie<br />
fühlten sich geehrt, dass der Sohn des Großbauern<br />
ihre Unterstützung brauchte.<br />
»Wir sind immer für dich da!«, versicherte Robin<br />
rasch.<br />
36
»Okay, dann passt mal auf«, sagte Hajo leise. »Ihr<br />
wisst ja, wie übel mir Nikolas und Julian mitgespielt<br />
haben.« Wütend berichtete er dann von dem Hofarrest,<br />
den er wegen der frommen Heinis erhalten hatte<br />
und meinte: »Dafür müssen die beiden Spinner doch<br />
bestraft werden, oder was meint ihr?«<br />
»Natürlich!«, stimmten die Heebs-Jungen wie aus<br />
einem Mund zu.<br />
»Ich kann das wegen des blöden Hofarrestes aber<br />
nicht tun, zumindest im Moment nicht«, sagte Hajo<br />
mit Trauermiene. »Könntet ihr nicht für mich einspringen?«<br />
Ohne lange zu überlegen willigten die Heeb-Jungen<br />
ein, weil auch sie Nikolas und Julian nicht leiden<br />
konnten.<br />
»An was hast du gedacht?«, erkundigte sich Robin.<br />
Hajo sah nachdenklich zum blauen Himmel auf,<br />
an dem kleine Wolken wie weiße Boote dahinzogen,<br />
die aber keine Idee für ihn an Bord hatten. Nach einer<br />
Weile zuckte er die Achseln und gestand: »Ich hab<br />
noch keinen konkreten Plan. Wenn mir eine Idee<br />
kommt, sag ich euch Bescheid.«<br />
»Okay!«, sagte Bastian.<br />
Die beiden Jungen schwangen sich auf ihre Räder<br />
und fuhren davon.<br />
Nachdem Hajo die Schubkarre gereinigt hatte,<br />
stellte er sie wieder in den Geräteschuppen und ver-<br />
37
zog sich in den hintersten Winkel der Scheune, weil<br />
er hier am besten ungestört nachdenken konnte.<br />
Wie lange Hajo hier gesessen hatte, war ihm nicht<br />
bewusst. Er sah auf die Uhr und erschrak. Eineinhalb<br />
Stunden hockte er nun schon in seinem Versteck und<br />
grübelte. Trotzdem war ihm nichts Brauchbares eingefallen.<br />
War sein Hirn schon eingetrocknet?<br />
Mit hängendem Kopf schlurfte Hajo aus der<br />
Scheune, ging ins Haus und wusch sich. Dann nahm<br />
er sich die Schulaufgaben vor.<br />
38
4<br />
Die Heeb-Jungen<br />
machen mit<br />
Auch am nächsten Nachmittag war Hajo<br />
noch kein brauchbarer Plan eingefallen.<br />
Ärgerlich über sich selbst marschierte er<br />
auf dem Hof auf und ab.<br />
Zur selben Zeit hatten sich vier Kilometer vom<br />
Belter-Hof entfernt Nikolas und Christina Feldbusch,<br />
Julian Falkner und andere Kinder aus den<br />
umliegenden Dörfern zur wöchentlichen Jugendstunde<br />
in Oma Wasners Wohnzimmer eingefunden.<br />
Wie schon in der Vergangenheit erzählte Frau Wasner<br />
Geschichten aus dem Leben des Herrn Jesus. Sie tat<br />
das so lebendig, dass die Jungen und Mädchen Jesus<br />
Christus als Retter und Sünderheiland von Herzen<br />
lieb gewannen.<br />
Gegen Ende der Stunde fragte sie in die Runde:<br />
»Hat jemand von euch ein Anliegen, für das wir gemeinsam<br />
beten sollten?«<br />
Nach kurzem Überlegen meldete sich Christina<br />
Feldbusch. »Mein Bruder Nikolas und sein Freund<br />
Julian haben mit ihrem Klassenkameraden, Hajo<br />
39
Belter, großen Ärger. Wollen wir dafür beten, dass<br />
Hajo sein Unrecht einsieht und von seinem Weg umkehrt?«<br />
Christinas Vorschlag wurde angenommen, und<br />
die Kinder beteten mit Ernst und großer Freude, weil<br />
es für sie immer etwas Besonderes war, dass sie persönlich<br />
mit dem himmlischen Vater reden durften.<br />
Etwa zwei Wochen später zeigte sich Hajo während<br />
der Pause auf dem Schulhof außergewöhnlich gut gelaunt.<br />
Er marschierte zu den Heeb-Brüdern und sagte<br />
großspurig: »Kommt heute Nachmittag zu mir. Ich<br />
hab was Wichtiges mit euch zu bereden.«<br />
Bastian und Robin sagten zu.<br />
Sie hielten noch am gleichen Tag Wort. Hajo führte<br />
sie zu einem versteckten Winkel hinter der Scheune<br />
und eröffnete ihnen: »Stellt euch vor, ich hab jetzt einen<br />
super Plan. Er ist hundertprozentig wasserdicht,<br />
ihr könnt euch darauf verlassen …«<br />
»Und wie sieht er aus?«, fragte Robin gespannt<br />
und ein wenig ängstlich.<br />
»Jetzt bei dem schönen Wetter gehen der Feldbusch<br />
und der Falkner fast jeden Tag zum Schwimmen.<br />
Ich habe das gründlich beobachtet. Sie fahren<br />
aber nicht ins Schwimmbad, sondern baden in dem<br />
<strong>Wald</strong>see im Hohwald beim Wolkenstein.«<br />
»Ein klasse Plätzchen!«, meinte Robin.<br />
40
Hajo beugte sich geheimnisvoll vor und erläuterte<br />
ihnen im Flüsterton seinen Plan.<br />
Die Heeb-Brüder waren beeindruckt. Hajo hatte<br />
wirklich alles bedacht! Sie versprachen, die Sache<br />
schon am folgenden Nachmittag in Angriff zu nehmen.<br />
Zur Verwunderung ihrer Mutter hatten Bastian und<br />
Robin Heeb am folgenden Mittag ihre Teller innerhalb<br />
kürzester Zeit leergelöffelt. Dann schwangen sie<br />
sich auf ihre Fahrräder. Um nicht gesehen zu werden,<br />
fuhren sie auf einem Umweg zum <strong>Wald</strong>see am<br />
Wolkenstein. Trotzdem kamen sie so zeitig an, dass<br />
sie sich noch ein gutgeschütztes Versteck suchen<br />
konnten. Dann gingen sie in Deckung und warteten.<br />
Doch Nikolas und sein Freund ließen sich nicht blicken.<br />
Hin und wieder sahen die Brüder auf die Uhr.<br />
Wie langsam die Zeit verging!<br />
»Vielleicht haben wir nicht genau hingehört, als<br />
Hajo uns die Zeit genannt hat!«, sagte Bastian schließlich<br />
voller Ungeduld.<br />
»Wir haben uns nicht verhört!«, behauptete Robin<br />
und warf Bastian einen ärgerlichen Blick zu.<br />
Die Minuten dehnten sich für die Heeb-Brüder<br />
wie Ewigkeiten. Doch dann plötzlich hörten sie ein<br />
Geräusch. Sie hoben die Köpfe, reckten die Hälse<br />
und spähten angestrengt. Tatsächlich, auf dem Weg,<br />
der zwischen den Buchenstämmen entlang führte,<br />
41
kamen zwei Radfahrer näher, die sich angeregt unterhielten.<br />
»Los, jetzt wird es Zeit, dass wir unsere Masken über<br />
die Gesichter ziehen!«, ordnete Robin aufgeregt an.<br />
Bastian gehorchte. Dann duckten sie sich wieder in<br />
ihre Deckung und warteten.<br />
Inzwischen waren Nikolas und Julian am Bootshäuschen<br />
angekommen. Sie stellten ihre Fahrräder ab,<br />
schlossen das Häuschen auf und verschwanden darin.<br />
Wenig später kamen sie in Badehosen wieder heraus<br />
und gingen gleich ins Wasser. Zur Freude der Brüder<br />
hatten sie das Bootshaus nicht abgeschlossen!<br />
»Super!«, wisperte Robin. »Komm, wir holen uns<br />
ihre Klamotten!«<br />
»Du bist wohl bescheuert! Bleib bloß hier!«, fauchte<br />
Bastian. »Lass die Heinis doch erst ein bisschen<br />
planschen. Wenn sie dann weiter in den See hinausgeschwommen<br />
sind, können sie nicht so schnell wieder<br />
ans Ufer kommen, wenn sie uns entdecken!«<br />
Robin nickte. Manchmal dachte sein älterer Bruder<br />
doch ein bisschen weiter als er. – Na ja, das war ja<br />
auch gut so.<br />
Endlich gab Bastian das ersehnte Kommando:<br />
»Los, jetzt! Schnell!«<br />
Schon hatten sie das freie Rasenstück erreicht und<br />
rannten zur Hütte. Mit einem Ruck rissen sie die Tür<br />
auf, schnappten sich die Klamotten von Julian und<br />
Nikolas und flitzten davon.<br />
42
43
Kurz bevor sie im Gebüsch verschwinden konnten,<br />
wurden sie von Nikolas und Julian entdeckt.<br />
Nach einer Schrecksekunde schrieen die beiden so<br />
laut sie konnten: »Hilfe! Diebe! Hilfe! Diebe!«<br />
Doch ihr Schreien war vergeblich. <strong>Der</strong> See lag zu<br />
tief im <strong>Wald</strong>, als dass ihr Rufen bis aufs freie Feld hinausgedrungen<br />
wäre, wo Leute bei der Arbeit waren.<br />
»Wir müssen die Kleiderdiebe verfolgen!«, rief Julian<br />
verzweifelt. »Los, schnell zum Ufer!«<br />
Doch als sie den Rand des Sees erreichten und eilig<br />
aus dem Wasser stiegen, war von den Dieben nichts<br />
mehr zu sehen. Sie rannten ein Stück in die Richtung,<br />
in der sich die Gauner entfernt hatten, erkannten aber<br />
schnell die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens und<br />
blieben außer Atem stehen.<br />
»Wer waren die beiden?«, fragte Nikolas, als er sich<br />
etwas erholt hatte.<br />
Julian schüttelte ratlos den Kopf. »Konnte ich<br />
nicht erkennen«, antwortete er. »Sie hatten Masken<br />
auf. Die hatten das richtig geplant.«<br />
Nikolas nickte. »Was meinst du, war einer von ihnen<br />
Hajo?«<br />
»Vielleicht«, meinte Julian nach kurzem Überlegen.<br />
»Und der Zweite, wer könnte denn das gewesen<br />
sein?«<br />
»Ein Freund von ihm. Hajo hatte ihn bestimmt angeheuert,<br />
weil er zu feige war, die Sache allein durch-<br />
44
zuziehen«, überlegte Nikolas. »Wir fahren nachher zu<br />
Belters und fragen, ob Hajo am Nachmittag zu Hause<br />
gewesen ist. War er weg, können wir weiter nachforschen.«<br />
»Los, dann lass uns nach Hause fahren«, drängte<br />
Julian.<br />
Sie schwangen sich in ihren nassen Badehosen auf<br />
die Räder und fuhren los.<br />
Am Forsthaus wurden sie von Frau Feldbusch empfangen,<br />
die gerade aus dem Gemüsegarten kam.<br />
Beim Anblick der Jungen schlug sie die Hände über<br />
dem Kopf zusammen und sagte aufgeregt: »Was fällt<br />
euch denn ein, dass ihr in den nassen Badehosen<br />
nach Hause kommt? Das möchte ich nicht wieder<br />
erleben!«<br />
»Wir auch nicht«, versicherte Nikolas. »Wir konnten<br />
uns nicht umziehen, weil uns die Klamotten gestohlen<br />
wurden, während wir im Wasser waren.«<br />
Frau Feldbusch dachte zunächst an einen schlechten<br />
Scherz. Doch die Jungen versicherten: »Unsere<br />
Sachen sind wirklich weg!« Und sie erzählten ausführlich,<br />
was geschehen war.<br />
»Ob Hajo dahinter steckt? Vielleicht war er einer<br />
der beiden Jungen, die ihr gesehen habt.«<br />
Nikolas und Julian teilten ihre Ansicht. »Wir fahren<br />
jetzt gleich zu Belters«, sagten sie.<br />
Frau Feldbusch hatte nichts dagegen, bestand aber<br />
45
darauf, dass die Jungen zunächst duschten und ordentliche<br />
Kleidung anzogen.<br />
Auf dem Belter-Hof begegnete ihnen Hajos Vater,<br />
der gerade aus der Werkstatt kam. Er begrüßte<br />
sie auch diesmal sehr freundlich mit der altbekannten<br />
Frage: »Womit kann ich euch dienen?«<br />
»Wir würden Sie gern etwas fragen«, erwiderte Nikolas<br />
höflich.<br />
Herr Belter lächelte. »Bitte, fragt nur!«<br />
Julian kam seinem Freund zuvor: »War Hajo heute<br />
den ganzen Nachmittag hier auf dem Hof?«, platzte<br />
er heraus.<br />
»Ja, er hat schon seit Tagen Arrest«, entgegnete<br />
Herr Belter. Sein Gesicht wurde ernst und er erkundigte<br />
sich besorgt: »Ist wieder etwas passiert?«<br />
Nikolas und Julian warfen sich unsichere Blicke<br />
zu, was Herrn Belter nicht entging. »Nur heraus mit<br />
der Sprache!«, ermutigte er sie.<br />
Da fassten sich die Jungen ein Herz und erzählten<br />
von ihrem Bad im <strong>Wald</strong>see und den gestohlenen Kleidungsstücken.<br />
Herr Belter hörte aufmerksam und nachdenklich<br />
zu. Als Nikolas und Julian geendet hatten, meinte er:<br />
»Ich möchte dazu nicht viel sagen, aber fragt mal bei<br />
den Heebs nach. Vielleicht kommt ihr da ein Stückchen<br />
weiter.«<br />
Die Freunde bedankten sich für die Auskunft und<br />
verabschiedeten sich.<br />
46
Etwa fünfzehn Minuten später standen sie vor<br />
dem Heebschen Anwesen und sahen sich um. Alles<br />
wirkte vernachlässigt, die Hauswände hatten schon<br />
lange keine Farbe mehr gesehen, die Dachrinne war<br />
an einigen Stellen verbeult und auf dem Hof lag überall<br />
Dreck herum. Von den Hausbewohnern war niemand<br />
zu sehen.<br />
»Wir müssen wohl ins Haus gehen«, meinte Nikolas,<br />
obwohl er keine Lust dazu verspürte.<br />
Julian erging es ebenso.<br />
Während sie noch berieten, wurde die Haustür geöffnet<br />
und vor ihnen stand eine Frau und betrachtete<br />
sie misstrauisch. Für sie war es wohl eine Selbstverständlichkeit,<br />
dass Besucher nur mit unguten Absichten<br />
kamen.<br />
»Was wollt ihr denn?«, fragte sie barsch.<br />
Nikolas und Julian brachten keinen Ton hervor<br />
und hätten am liebsten den Rückzug angetreten. Nur<br />
der Gedanke, dass sie ihre Sachen dann wohl nie wieder<br />
sahen, hielt sie hier fest.<br />
»Wenn ihr mir keine Antwort geben wollt, dann<br />
verschwindet!«, fauchte die verbitterte Frau und unterstrich<br />
ihre Forderung mit einer entsprechenden<br />
Handbewegung.<br />
Nikolas raffte allen Mut zusammen und fragte:<br />
»Wissen Sie, wo ihre Söhne heute Nachmittag waren?«<br />
Die Frau machte einen Schritt auf den Försterjungen<br />
zu und schimpfte: »Da hätte ich viel zu tun, wenn<br />
47
ich wissen wollte, wo die den ganzen Tag herumstrolchen.«<br />
»Wissen Sie vielleicht, ob Ihre Jungen fremde Kleidungsstücke<br />
mit nach Hause gebracht haben?«, fragte<br />
Julian und konnte seine Aufregung kaum verbergen.<br />
Das war zu viel für Frau Heeb. Sie lief rot an und<br />
schrie: »Was fällt dir ein? So nötig haben wir es nun<br />
nicht, dass meine Kinder die Sachen anderer Leute<br />
klauen müssten! Macht schnell, dass ihr vom Hof<br />
kommt, sonst …!«<br />
Wütend verschwand die Frau im Flur und knallte<br />
die Haustür so heftig hinter sich zu, dass die Jungen<br />
fürchteten, sie würde aus den Angeln fliegen.<br />
Die Jungen rannten zu ihren Fahrrädern, schwangen<br />
sich mit einem Satz hinauf und rasten davon.<br />
Das Erlebte hatte die Freunde so geschockt, dass sie<br />
eine ganze Weile schweigend nebeneinander her radelten.<br />
Julian, der sich als Erster etwas beruhigt hatte,<br />
meinte: »Es ist schon schlimm, dass man von Leuten,<br />
denen man gar nichts getan hat, so behandelt wird.«<br />
Nikolas stimmte ihm zu. »Ich bin sicher, dass die<br />
Heebs unsere Sachen nicht haben. Zumindest nicht<br />
zu Hause«, sagte er dann unvermittelt.<br />
»Wie kommst du darauf?«, fragte Julian überrascht.<br />
»Die Frau sah zwar schlampig aus, aber sie machte<br />
auf mich irgendwie nicht den Eindruck, als dass<br />
48
sie eiskalt lügen würde«, meinte Nikolas. »Ich denke,<br />
dass sie vielleicht nur durch schlimme Erlebnisse so<br />
wurde, wie wir sie erlebt haben.«<br />
»Möglich.« Julian nickte nachdenklich.<br />
Als sie zum Forsthaus kamen, erblickten sie Frau<br />
Feldbusch im Garten. Sie hatte in den Beeten das Unkraut<br />
gejätet und sah den Jungen nun gespannt entgegen.<br />
»Habt ihr eure Sachen wieder? Oder habt ihr<br />
erfahren, wo sie sind?«, fragte sie.<br />
Julian schüttelte den Kopf, und Nikolas erklärte<br />
niedergeschlagen: »Nein, wir haben nichts herausbekommen.<br />
Hajo war den ganzen Nachmittag auf dem<br />
Hof und Frau Heeb hat uns rausgeschmissen, als wir<br />
sie fragten, wo Robin und Bastian waren und ob sie<br />
fremde Kleidung mitgebracht hätten.«<br />
Frau Feldbusch seufzte. »Dass Frau Heeb wütend<br />
geworden ist, kann ich ein bisschen verstehen.«<br />
Julian nickte. »Wir hätten vielleicht etwas vorsichtiger<br />
fragen sollen«, meinte er niedergeschlagen.<br />
Nikolas Mutter legte ihre Harke zur Seite und kam<br />
zu den Jungen heran. »Jetzt seid mal nicht so deprimiert«,<br />
meinte sie aufmunternd. »Vielleicht wissen die<br />
Heebs wirklich nicht, wo eure Kleider sind. Ihre Kinder<br />
müssen ja nicht die Diebe gewesen sein. Vielleicht<br />
war es wirklich nur ein Schabernack von irgendwelchen<br />
Jungen aus dem Dorf, die eure Kleider irgendwo<br />
im Feld versteckt haben. Geht doch morgen mal in<br />
der Umgebung vom <strong>Wald</strong>see auf die Suche.«<br />
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Dieser Vorschlag leuchtete den Jungen ein.<br />
»Das ist eine gute Idee«, meinte Nikolas zufrieden.<br />
»Vielleicht kommt deine Schwester auch mit. Je mehr<br />
Leute suchen, desto besser«, ergänzte Julian.<br />
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5<br />
Das Kleidersuchkommando<br />
Am folgenden Tag machten sich Nikolas,<br />
Christina und Julian gleich nach dem Mittagessen<br />
vom Forsthaus Wolkenstein auf<br />
den Weg zum Hohwald.<br />
Voller Zuversicht nahmen sie die Suche in der<br />
Nähe des Sees auf. Sie sahen hinter alle Sträucher, die<br />
zwischen den Bäumen wuchsen und durchsuchten<br />
jede verdächtige Laubanhäufung. Sie stießen dabei<br />
auf manchen Abfall, der nicht hierher gehörte, nur<br />
von den gestohlenen Kleidungsstücken war nicht das<br />
Geringste zu sehen.<br />
Schließlich fragte Christina nachdenklich: »Habt<br />
ihr nicht erzählt, dass die Diebe mit euren Sachen so<br />
schnell fortgerannt sind, dass ihr sie schon gar nicht<br />
mehr gesehen habt, als ihr aus dem Wasser kamt?«<br />
Die Jungen nickten.<br />
»Dann suchen wir hier vergebens!«, erklärte Christina.<br />
»Ich bin sicher, dass die Gauner eure Kleider außerhalb<br />
des <strong>Wald</strong>es versteckt haben.«<br />
»Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich ihr<br />
Bruder.<br />
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»Weil die Diebe sich dort sicherer fühlten. Sie hatten<br />
freien Blick nach allen Seiten. Niemand konnte<br />
sich an sie heranschleichen, weil sie jeden Verfolger<br />
sofort gesehen hätten«, erklärte Christina selbstsicher.<br />
Die Jungen schwiegen eine Weile, dann nickten<br />
sie, und Julian meinte anerkennend zu Nikolas: »Deine<br />
Schwester hat was auf dem Kasten! Sie ist schon<br />
fast eine richtige Kriminalbeamtin!«<br />
»Ja, manchmal hat sie einen guten Gedanken.<br />
Aber lob sie mal nicht zu sehr! Damit tust du ihr<br />
keinen Gefallen. Man sagt nicht umsonst: Wer hoch<br />
steht, kann tief fallen. Und wer tief fällt, der schlägt<br />
hart auf«, gab Nikolas altklug zu bedenken.<br />
»Mensch, jetzt hört auf, wir sind nicht zum Philosophieren<br />
hier, sondern um eure Klamotten zu suchen«,<br />
maulte Christina.<br />
Die drei wanderten zum <strong>Wald</strong>rand und von dort<br />
aufs freie Feld hinaus. Sie suchten nun jeden Heckenrain<br />
ab und durchstreiften alle Getreidefelder in der<br />
Nähe des <strong>Wald</strong>es, die noch nicht abgeerntet waren. Sie<br />
gingen sehr vorsichtig zu Werk, um keine Schäden anzurichten.<br />
Doch ihre Suche blieb auch hier vergeblich.<br />
»Die Diebe haben anscheinend ein richtig gutes<br />
Versteck gefunden«, meinte Julian entmutigt.<br />
Doch sie suchten weiter.<br />
Erst als die Sonne schon dicht über dem westlichen<br />
Horizont stand und das Firmament in ein tiefes<br />
Rot tauchte, das an den Rändern in ein zartes Lila<br />
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