Fußball-WM 1954
Historischer Rückblick auf die Medienberichterstattung in Ostfriesland über die Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz im Jahre 1954. Erschienen im Anzeiger für Harlingerland am 7. Juni 2014.
Historischer Rückblick auf die Medienberichterstattung in Ostfriesland über die Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz im Jahre 1954. Erschienen im Anzeiger für Harlingerland am 7. Juni 2014.
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SONNABEND, 7. JUNI 2014 FUßBALL-WELTMEISTERSCHAFT 2014<br />
NR. 131 - SEITE 59<br />
„Geradezu unwahrscheinliche Chance“ genutzt<br />
ERINNERUNGEN Nostalgischer Rückblick auf die mediale Berichterstattung in Ostfriesland während der <strong>WM</strong> <strong>1954</strong><br />
Das Fernsehen steckte<br />
noch in den<br />
Kinderschuhen. Euphorie<br />
stellt sich erst gegen Ende<br />
des Turniers ein.<br />
VON WERNER JÜRGENS<br />
OSTFRIESLAND/FRIESLAND – Es ist<br />
Sonntag, der 27. Juni <strong>1954</strong>:<br />
Während die deutsche Mannschaft<br />
in Genf im Viertelfinale<br />
der <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaft<br />
steht, tummeln sich die vermeintlich<br />
besten Kicker der<br />
Nation nicht etwa in der<br />
Schweiz, sondern in Ostfriesland.<br />
Jedenfalls tritt an besagtem<br />
Datum der seinerzeit<br />
frisch gebackene Deutsche<br />
<strong>Fußball</strong>meister Hannover 96<br />
zu einer Freundschaftspartie<br />
gegen den BSV Kickers Emden<br />
an und gewinnt standesgemäß<br />
6:1. Damit kassieren die Emder<br />
nur ein Tor mehr als rund<br />
einen Monat zuvor der 1. FC<br />
Kaiserslautern um die Gebrüder<br />
Fritz und Ottmar Walter<br />
beim Endspiel um die Deutsche<br />
Meisterschaft.<br />
Stippvisite in Brennerei<br />
Am darauffolgenden Tag<br />
wird die Hannoveraner Delegation<br />
nach Norden zu einer<br />
Stippvisite in die Schnapsbrennerei<br />
der Doornkaat AG eingeladen.<br />
Ein Bericht über diesen<br />
Besuch ist wiederum einen Tag<br />
später im Ostfriesischen Kurier<br />
abgedruckt. Dass die deutschen<br />
<strong>Fußball</strong>er dank eines<br />
2:0-Sieges gegen Jugoslawien<br />
inzwischen im Halbfinale stehen,<br />
findet in dem umfangreichen<br />
Artikel keinerlei Erwähnung.<br />
Ein ähnliches Bild ergibt<br />
sich bei der Nachberichterstattung<br />
über die als „Spiel des<br />
Jahres“ titulierte Begegnung<br />
zwischen Kickers Emden und<br />
Hannover 96 in der Rhein-<br />
Ems-Zeitung, dem Vorläufer<br />
der heutigen Emder Zeitung.<br />
Was rückblickend reichlich ignorant<br />
anmutet, spiegelt trotzdem<br />
ganz gut die generelle<br />
Stimmungslage wider. Denn<br />
selbst zu diesem Zeitpunkt<br />
glaubt noch kaum jemand an<br />
einen deutschen <strong>WM</strong>-Sieg,<br />
weswegen viele Chefredakteure<br />
das Thema entweder nur am<br />
Rande oder gar nicht behandeln<br />
wollen. Wenn die Skepsis<br />
darüber hinaus speziell in<br />
norddeutschen Gefilden besonders<br />
groß ist, dürfte dies<br />
mit daran liegen, dass der <strong>WM</strong>-<br />
Kader hauptsächlich von Vereinen<br />
aus Süddeutschland und<br />
Nordrhein-Westfalen gestellt<br />
wird. Allein fünf Kicker kommen<br />
vom Vize-Meister 1. FC<br />
Kaiserslautern. Meister Hannover<br />
96 ist hingegen mit keinem<br />
Spieler vertreten.<br />
Man stelle sich vor, Jogi Löw<br />
führe ohne einen einzigen Ballkünstler<br />
von Bayern München<br />
nach Brasilien. Vermutlich<br />
würde prompt ein Aufschrei<br />
durch die Medienlandschaft<br />
gehen. <strong>1954</strong> befindet sich das<br />
aus heutiger Sicht mit Abstand<br />
wichtigste Medium in Sachen<br />
<strong>Fußball</strong> allerdings noch in den<br />
Kinderschuhen. Offiziell gibt es<br />
laut Schätzungen in Deutschland<br />
rund 60 000 angemeldete<br />
und 40 000 nicht angemeldete<br />
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TV-Geräte. Und der Besitz<br />
eines solchen Apparates garantiert<br />
nicht automatisch den<br />
Empfang des bis dahin einzigen<br />
Programms. Vor allem<br />
nicht in Ostfriesland. Falls Bild<br />
und Ton den Weg in die Flimmerkiste<br />
schaffen, fällt das Resultat<br />
häufig ernüchternd aus.<br />
Übertragen werden ohnehin<br />
lediglich neun der insgesamt<br />
26 <strong>WM</strong>-Partien, als da wären<br />
das Finale und das Spiel um<br />
den dritten Platz; ferner eine<br />
Halbfinal- und zwei Viertelfinalpartien<br />
sowie vier Vorrundenbegegnungen.<br />
Radio ab zweiter Halbzeit<br />
Auch was das Radio betrifft,<br />
stellt sich Situation nicht völlig<br />
unproblematisch dar. Für die<br />
Stadt Aurich existiert eine Statistik,<br />
wonach dort 1953 nur etwa<br />
58 Prozent aller Haushalte<br />
einen Radioempfänger haben.<br />
Dennoch ist das Radio in den<br />
1950er Jahren das Leitmedium<br />
schlechthin. Wer den Beginn<br />
des deutschen <strong>WM</strong>-Auftaktspiels<br />
am frühen Abend des 17.<br />
Juni <strong>1954</strong> gegen die Türkei mitverfolgen<br />
will, dreht jedoch zunächst<br />
vergeblich am Senderknopf.<br />
Die Live-Reportage<br />
startet verspätet mit Beginn<br />
der zweiten Halbzeit. Das<br />
Fernsehen zeigt die Partie gar<br />
nicht. Und in einigen Zeitungen<br />
sucht man an den folgenden<br />
Tagen ebenfalls vergeblich<br />
nach einem Spielbericht.<br />
Im Vergleich dazu sorgt das<br />
nächste Vorrundenspiel gegen<br />
den Turnierfavoriten Ungarn<br />
für eine deutlich gesteigerte<br />
Medienresonanz. Radio und<br />
TV sind live dabei. Auch das Interesse<br />
der Printmedien ist<br />
hoch. Indes erhält die Euphorie<br />
einen jähen Dämpfer, als<br />
die deutsche Mannschaft eine<br />
desaströse 3:8-Schlappe einstecken<br />
muss. Warum Trainerfuchs<br />
Sepp Herberger eine B-<br />
Elf auf den Platz geschickt und<br />
die Partie quasi bewusst weggeschenkt<br />
hat, begreifen nur<br />
die wenigsten. Wegen der kuriosen<br />
<strong>WM</strong>-Modalitäten können<br />
seine Schützlinge nach wie<br />
vor das Viertelfinale erreichen,<br />
sofern sie in einem Entscheidungsspiel<br />
ein weiteres Mal die<br />
Türkei schlagen, was ihnen<br />
auch gelingt.<br />
Die eingangs erwähnte Partie<br />
gegen Jugoslawien bietet<br />
Deutschland dann „die geradezu<br />
unwahrscheinliche Chance“<br />
auf das Erreichen des Halbfinales.<br />
Zumindest steht es so<br />
nachzulesen in einem Vorbericht<br />
aus dem Anzeiger für<br />
Harlingerland, der nicht von<br />
ungefähr die Überschrift:<br />
„Winkt Deutschland der 4.<br />
Platz?“ trägt. Das ist nämlich<br />
die Maximalausbeute, die Experten<br />
der Herberger-Elf günstigstenfalls<br />
zutrauen. Immerhin<br />
haben es die <strong>WM</strong>-Spielberichte<br />
nun in einigen ostfriesischen<br />
Tageszeitungen bis auf<br />
die Titelseiten geschafft, jedoch<br />
längst nicht überall. Während<br />
Rhein-Ems-Zeitung und<br />
Ostfriesischer Kurier ihre Leser<br />
ganz vorne kurz und knapp informieren,<br />
bleibt das Thema<br />
beim Anzeiger für Harlingerland<br />
und dem Jeverschen Wochenblatt<br />
selbst nach dem<br />
Halbfinalsieg der Deutschen<br />
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gegen Österreich weiter hinten<br />
dem Sportteil vorbehalten.<br />
Hier wie dort kommen die Berichte<br />
im Regelfall per Fernschreiber<br />
von Agenturen. Aktuelle<br />
Fotos erscheinen, nicht zuletzt,<br />
da die Negative mit hohen<br />
Zeitaufwand erst entwickelt<br />
werden müssen, oft mit<br />
ein bis zwei Tagen Verspätung<br />
und nur sporadisch.<br />
Unterdessen steigt das <strong>Fußball</strong>fieber<br />
merklich, je näher<br />
der Termin des Finales zwischen<br />
Deutschland und<br />
Ungarn rückt. Auch die ostfriesische<br />
Presse druckt jetzt kleine<br />
Sondermeldungen, die darauf<br />
hinweisen, wann die Partie<br />
am Sonntag, 4. Juli, im Radio<br />
übertragen wird. Weil just<br />
an diesem Wochenende in Aurich<br />
Schützenfest ist, werden<br />
rund um den örtlichen Schützenplatz<br />
Lautsprecher installiert.<br />
Analog dazu sorgen<br />
Rundfunkgeschäfte vor ihren<br />
Läden ebenfalls für entsprechende<br />
Beschallung. Ähnliches<br />
veranlassen die diversen Gasthäuser,<br />
die sich vom Tag des<br />
Deutschland schlägt Ungarn<br />
am 4. Juli <strong>1954</strong> vor 60 000<br />
Zuschauern im Berner Wankdorf-Stadion<br />
mit 3:2, und die<br />
Endspiels ein<br />
dickes Umsatzplus<br />
erhoffen.<br />
Bis heute<br />
untrennbar<br />
verbunden<br />
mit dem <strong>WM</strong>-<br />
Finale von <strong>1954</strong> ist die legendäre<br />
Radioreportage von Herbert<br />
Zimmermann. Jemand, der wie<br />
Millionen andere vor dem Apparat<br />
sitzt und die historische<br />
Tragweite dieses Medienereignisses<br />
sofort erkennt, ist Hannes<br />
Flesner, der damals als Redakteur<br />
für den Ostfriesischen<br />
Kurier arbeitet. „Der gute alte<br />
Duden hat gestern einen Konkurrenten<br />
bekommen“, kommentiert<br />
er das Geschehen am<br />
nächsten Tag in seiner Zeitung.<br />
„Dieser Mann heißt Herbert<br />
Zimmermann. Wollte man all<br />
die Ausdrücke, die er gestern<br />
gebrauchte, zusammenstellen,<br />
man bekäme Stoff für ein kleines<br />
Lexikon über das <strong>Fußball</strong>spiel.“<br />
In Anbetracht der Tatsache,<br />
dass Flesner kein technisches<br />
Aufzeichnungsgerät zur<br />
deutschen Spieler liegen<br />
sich bei Spielende in den Armen<br />
und feiern den ersten<br />
<strong>WM</strong>-Titelgewinn. BILD: UPI/DPA<br />
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Verfügung hatte, ist es absolut<br />
bemerkenswert, wie exakt ihm<br />
der Wortlaut der Reportage im<br />
Gedächtnis haften bleibt. „Und<br />
erst recht horchte der Hörer<br />
am Rundfunkgerät, wenn Reporter<br />
Zimmermann in ekstatische<br />
Bewunderung ausbrach:<br />
,Turek, Du bist unser <strong>Fußball</strong>gott!’“,<br />
fährt er fort. „Wenig<br />
später hieß es: ,Aber Toni Turek<br />
mit magnetischen Armen...!’<br />
und: ,Am Boden kniet der<br />
schwarze Cerberus im deutschen<br />
Tor! Oh Turek, welche Titulierungen<br />
musst Du auf Dich<br />
nehmen! Was hättest Du wohl<br />
gesagt, wenn Du gehört hättest,<br />
wie Du einmal als Gott,<br />
dann fast als magnetisch geladener<br />
Roboter und schließlich<br />
auch noch als Höllenhund ausgerufen<br />
wurdest!“<br />
Ergebnis verwechselt<br />
Schließlich kommt laut<br />
Flesner „Zimmermanns großer<br />
Augenblick: Er verwechselt das<br />
Ergebnis. Er sagt nicht, es stehe<br />
3:2 für Deutschland, sondern<br />
3:2 für Ungarn. Und als er sich<br />
verbessert, fügt er in tiefer<br />
Reue hinzu: ,Ich bin auch<br />
schon verrückt!’ Doch was ein<br />
guter Reporter ist, der kommt<br />
über die Runden. Zimmermann<br />
steht seine Zeit durch.<br />
Als der deutsche Sieg unabänderlich<br />
ist, schildert der<br />
sprachschöpfende, anderthalb<br />
Stunden monolog-sprechende<br />
,verrückte’ Herbert: ,Der Fritz<br />
Walter, der küsst den Toni Tu-<br />
Mit identischer Aufmachung berichten <strong>1954</strong><br />
der Anzeiger für Harlingerland und das Jeversche<br />
Wochenblatt über den sensationellen<br />
Titelgewinn. BILDER: KLAUS-DIETER HEIMANN, WERNER JÜRGENS<br />
rek ab!’“ Der Kommentar über<br />
den „Monolog eines Verrückten“<br />
endet bei aller Kritik versöhnlich<br />
und verständnisvoll.<br />
Ungeachtet dessen wird der<br />
deutsche Sensationssieg in der<br />
Tagespresse auf den Titelseiten<br />
schlagzeilenträchtig abgefeiert,<br />
wenngleich sich hie und da<br />
ein paar kleinere, sicherlich der<br />
allgemeinen Hektik und/oder<br />
Begeisterung geschuldete<br />
Schönheitsfehler einschleichen.<br />
Beispielsweise präsentieren<br />
Ostfriesischer Kurier<br />
und Rhein-Ems-Zeitung beide<br />
ein Funkbild mit dem Vermerk:<br />
„So lief die Entscheidung: Rahn<br />
schießt am Torwart vorbei das<br />
Siegestor für Deutschland.“ Zu<br />
sehen ist aber Max Morlock, als<br />
er den 1:2 Anschlusstreffer<br />
markiert. Der Anzeiger für Harlingerland<br />
und das Jeversche<br />
Wochenblatt gehen lieber auf<br />
Nummer sicher und drucken<br />
zwei ältere Fotos, was zumindest<br />
bei einem der Schnappschüsse<br />
auch vermerkt wird.<br />
Um die ersten bewegten Bilder<br />
zu erleben, bleibt den<br />
meisten, wie bereits erwähnt,<br />
einstweilen der Gang ins Kino.<br />
Die Wochenschau berichtet in<br />
ihrer Ausgabe vom 7. Juli <strong>1954</strong><br />
über das <strong>WM</strong>-Finale. Drei Tage<br />
später hat in Berlin eine 90-minütige<br />
Dokumentation über<br />
das Turnier in der Schweiz Premiere.<br />
Dieser Film wird in den<br />
nächsten ein bis zwei Wochen<br />
ebenfalls in vielen anderen<br />
Lichtspielhäusern in Deutschland<br />
gezeigt.<br />
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