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Quetsch me<br />
if you<br />
can!<br />
Lust auf<br />
mehr?<br />
FAMILIE<br />
Obst im Alubeutel statt<br />
Schokolade. Über<br />
den erstaunlichen<br />
Siegeszug der<br />
neuen Lebensmittelkategorie<br />
Quetschie<br />
Sechsundzwanzig Sekunden.<br />
26 Sek unden braucht das fünfjährige<br />
Kind, um den Que t-<br />
schie direkt hinter der Kasse<br />
aus dem Einkaufsberg zu<br />
grapschen, aufzudrehen, an den Mund zu setzen und mit<br />
hektischen Kinderschlucken tief einzusaugen. Alles auf den<br />
drei Metern zwischen Kasse und Ausgang. 26 Sekunden,<br />
und schon wandern 170 Quadratzentimeter Aluplastikgemisch,<br />
ausgesaugt, in den Eimer neben der Tür.<br />
100 Gramm Fruchtpüree „Apfel, Pfirsich, Banane“.<br />
10,4 Gramm Zucker. 15 Gramm Müll. Aber, hey:<br />
Das Kind isst Obst!<br />
Mehr als 100 Millionen Quetschies werden schätzungsweise<br />
pro Jahr in Deutschland verkauft. Vor zehn Jahren kannte<br />
den Begriff noch niemand. Seitdem ist eine komplett neue<br />
Produktkategorie entstanden, ein neuer Markt. Firmen wie<br />
die Berliner Erdbär GmbH, die unter anderem die bekannte<br />
Quetschie-Marke „Freche Freunde“ herstellt, haben jährliche<br />
Wachstumsraten von 50 Prozent. Wachstum, wie es sonst<br />
nur Facebook oder andere Giganten aus dem Silicon Valley<br />
verzeichnen. Quetschies sind ein einträgliches Geschäft: Für<br />
den Preis eines Beutels, meistens zwischen 60 Cent und<br />
einem Euro, gäbe es oft die doppelte Menge Frucht im Glas.<br />
Oder mehrere ganz normale Äpfel, Birnen, Bananen. Und die<br />
Zielgruppe ist noch ausbaufähig: Gläschen sind nur was für<br />
Babys, Quetschies kommen auch noch bei Grundschülern<br />
oder sogar Erwachsenen gut an.<br />
Ausgerechnet aus Frankreich, dem Land der Gourmets und<br />
Genussesser, stammt die Idee des Quetschbeutels. 1998 fing<br />
der damals zu Danone gehörende Kompott- und Fruchtmushersteller<br />
Materne an, Apfelmus in kleine Beutel mit Mundstück<br />
und Schraubverschluss zu füllen, sogenannte Standbeutel.<br />
Die „Pom’potes“ genannten Quetschbeutel wurden<br />
damals aber noch nicht gezielt als Kindernahrung vermarktet.<br />
Sie waren ein Zusatzgeschäft, der Erfolg blieb überschaubar.<br />
Den Quetschie, wie wir ihn heute kennen, erfanden acht<br />
Jahre später ein Engländer und ein Amerikaner: Paul Lindley<br />
arbeitete für den Kindersender Nickelodeon, bevor er im britischen<br />
Oxfordshire das Unternehmen Ella’s Kitchen gründete,<br />
benannt nach seiner Tochter. „Ich fand es verwunderlich,<br />
dass der gesamte Markt für Babynahrung so wenig<br />
zweckmäßig war“, erinnert er sich in einem Interview. „Die<br />
TEXT<br />
CHRISTOPH KOCH<br />
ILLUSTRATION<br />
LEON EDLER<br />
Marken und ihre Produkte hatten sich in<br />
20 Jahren nicht verändert, obwohl das Leben<br />
der Menschen inzwischen ein komplett anderes<br />
war.“ Zwei Jahre tüftelte Lindley, bevor er<br />
2006 die ersten fröhlichen Quetschies auf<br />
den britischen Markt brachte, darauf ein krakeliges Logo in<br />
Kinderschrift. Statt klarer, aber wenig anziehender Beschreibungen<br />
wie „Griesbrei-Beikost“, gab er seinen Kreationen<br />
Namen wie „The Red One“ oder „Chick-chick-chicken“.<br />
Etwa zur gleichen Zeit verzweifelte ein spargeliger<br />
tätowierter Ex-Punk in Amerika daran, dass seine<br />
Tochter Paxton den gebackenen Kürbis nicht essen<br />
wollte, den er ihr in die Lunchbox packte. Neil Grimmer,<br />
damals noch für den Energieriegelhersteller Clif Bar<br />
tätig, erinnerte sich an seine Vergangenheit als Produktdesigner,<br />
pürierte den Kürbis, füllte ihn in einen nuckelbaren<br />
Plas tikbeutel – und gründete 2007 Plum Organics. Von<br />
200 000 Dollar Umsatz im Jahr 2008 stiegen die Einnahmen<br />
in nur vier Jahren auf 93 Millionen. 2013 war Plum Organics<br />
bereits der viertgrößte Hersteller für Babynahrung in den<br />
USA. Dann kaufte Campbell Soups die Firma für einen unbekannten<br />
Betrag. Im selben Jahr übernahm der US-Konzern<br />
Haim Celestial den britischen Quetschie-Pionier Ella’s Kitchen.<br />
Der hatte es in den wenigen Jahren seit seiner Gründung<br />
auf einen Jahresumsatz von über 50 Millionen Pfund<br />
und eine Präsenz in 16 verschiedenen Märkten gebracht.<br />
Auch der Erfinder Materne hat nachgezogen und bisher europaweit<br />
zwei Milliarden Beutel verkauft – unter anderem als<br />
Bestandteil des „Happy Meal“ von McDonald’s.<br />
Das Kernversprechen der Quetschies: gesundes Essen fürs<br />
Kind – auch wenn es im Leben mal hektisch zugeht. Und wann<br />
tut es das bitte schön nicht? „Der Convenience-Effekt ist<br />
wichtig“, bestätigt Alexander Neumann. Zusammen mit seiner<br />
Frau Natacha Neumann hat er 2010 in Deutschland die<br />
„Frechen Freunde“ ins Leben gerufen, 20 Millionen davon haben<br />
sie im vergangenen Jahr verkauft. Wenn alles so weitergeht,<br />
werden es dieses Jahr 30 Millionen. „In der überfüllten<br />
Straßenbahn will niemand Gläschen und Löffel rausholen.<br />
Auf eine Reiswaffel haben die wenigsten Kinder Lust, und bei<br />
einem Schokoriegel bekommen Eltern ein schlechtes Gewissen.“<br />
Aber auch die Aufmachung sei wichtig, die sich eben<br />
erstmalig nicht mehr an die Käufer – also die Eltern –, sondern<br />
an die Esser wendet. „Kleine Kinder können dank der<br />
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