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SZ_Familie_03_Leseprobe_Digital

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14<br />

Quetsch me<br />

if you<br />

can!<br />

Lust auf<br />

mehr?<br />

FAMILIE<br />

Obst im Alubeutel statt<br />

Schokolade. Über<br />

den erstaunlichen<br />

Siegeszug der<br />

neuen Lebensmittelkategorie<br />

Quetschie<br />

Sechsundzwanzig Sekunden.<br />

26 Sek unden braucht das fünfjährige<br />

Kind, um den Que t-<br />

schie direkt hinter der Kasse<br />

aus dem Einkaufsberg zu<br />

grapschen, aufzudrehen, an den Mund zu setzen und mit<br />

hektischen Kinderschlucken tief einzusaugen. Alles auf den<br />

drei Metern zwischen Kasse und Ausgang. 26 Sekunden,<br />

und schon wandern 170 Quadratzentimeter Aluplastikgemisch,<br />

ausgesaugt, in den Eimer neben der Tür.<br />

100 Gramm Fruchtpüree „Apfel, Pfirsich, Banane“.<br />

10,4 Gramm Zucker. 15 Gramm Müll. Aber, hey:<br />

Das Kind isst Obst!<br />

Mehr als 100 Millionen Quetschies werden schätzungsweise<br />

pro Jahr in Deutschland verkauft. Vor zehn Jahren kannte<br />

den Begriff noch niemand. Seitdem ist eine komplett neue<br />

Produktkategorie entstanden, ein neuer Markt. Firmen wie<br />

die Berliner Erdbär GmbH, die unter anderem die bekannte<br />

Quetschie-Marke „Freche Freunde“ herstellt, haben jährliche<br />

Wachstumsraten von 50 Prozent. Wachstum, wie es sonst<br />

nur Facebook oder andere Giganten aus dem Silicon Valley<br />

verzeichnen. Quetschies sind ein einträgliches Geschäft: Für<br />

den Preis eines Beutels, meistens zwischen 60 Cent und<br />

einem Euro, gäbe es oft die doppelte Menge Frucht im Glas.<br />

Oder mehrere ganz normale Äpfel, Birnen, Bananen. Und die<br />

Zielgruppe ist noch ausbaufähig: Gläschen sind nur was für<br />

Babys, Quetschies kommen auch noch bei Grundschülern<br />

oder sogar Erwachsenen gut an.<br />

Ausgerechnet aus Frankreich, dem Land der Gourmets und<br />

Genussesser, stammt die Idee des Quetschbeutels. 1998 fing<br />

der damals zu Danone gehörende Kompott- und Fruchtmushersteller<br />

Materne an, Apfelmus in kleine Beutel mit Mundstück<br />

und Schraubverschluss zu füllen, sogenannte Standbeutel.<br />

Die „Pom’potes“ genannten Quetschbeutel wurden<br />

damals aber noch nicht gezielt als Kindernahrung vermarktet.<br />

Sie waren ein Zusatzgeschäft, der Erfolg blieb überschaubar.<br />

Den Quetschie, wie wir ihn heute kennen, erfanden acht<br />

Jahre später ein Engländer und ein Amerikaner: Paul Lindley<br />

arbeitete für den Kindersender Nickelodeon, bevor er im britischen<br />

Oxfordshire das Unternehmen Ella’s Kitchen gründete,<br />

benannt nach seiner Tochter. „Ich fand es verwunderlich,<br />

dass der gesamte Markt für Babynahrung so wenig<br />

zweckmäßig war“, erinnert er sich in einem Interview. „Die<br />

TEXT<br />

CHRISTOPH KOCH<br />

ILLUSTRATION<br />

LEON EDLER<br />

Marken und ihre Produkte hatten sich in<br />

20 Jahren nicht verändert, obwohl das Leben<br />

der Menschen inzwischen ein komplett anderes<br />

war.“ Zwei Jahre tüftelte Lindley, bevor er<br />

2006 die ersten fröhlichen Quetschies auf<br />

den britischen Markt brachte, darauf ein krakeliges Logo in<br />

Kinderschrift. Statt klarer, aber wenig anziehender Beschreibungen<br />

wie „Griesbrei-Beikost“, gab er seinen Kreationen<br />

Namen wie „The Red One“ oder „Chick-chick-chicken“.<br />

Etwa zur gleichen Zeit verzweifelte ein spargeliger<br />

tätowierter Ex-Punk in Amerika daran, dass seine<br />

Tochter Paxton den gebackenen Kürbis nicht essen<br />

wollte, den er ihr in die Lunchbox packte. Neil Grimmer,<br />

damals noch für den Energieriegelhersteller Clif Bar<br />

tätig, erinnerte sich an seine Vergangenheit als Produktdesigner,<br />

pürierte den Kürbis, füllte ihn in einen nuckelbaren<br />

Plas tikbeutel – und gründete 2007 Plum Organics. Von<br />

200 000 Dollar Umsatz im Jahr 2008 stiegen die Einnahmen<br />

in nur vier Jahren auf 93 Millionen. 2013 war Plum Organics<br />

bereits der viertgrößte Hersteller für Babynahrung in den<br />

USA. Dann kaufte Campbell Soups die Firma für einen unbekannten<br />

Betrag. Im selben Jahr übernahm der US-Konzern<br />

Haim Celestial den britischen Quetschie-Pionier Ella’s Kitchen.<br />

Der hatte es in den wenigen Jahren seit seiner Gründung<br />

auf einen Jahresumsatz von über 50 Millionen Pfund<br />

und eine Präsenz in 16 verschiedenen Märkten gebracht.<br />

Auch der Erfinder Materne hat nachgezogen und bisher europaweit<br />

zwei Milliarden Beutel verkauft – unter anderem als<br />

Bestandteil des „Happy Meal“ von McDonald’s.<br />

Das Kernversprechen der Quetschies: gesundes Essen fürs<br />

Kind – auch wenn es im Leben mal hektisch zugeht. Und wann<br />

tut es das bitte schön nicht? „Der Convenience-Effekt ist<br />

wichtig“, bestätigt Alexander Neumann. Zusammen mit seiner<br />

Frau Natacha Neumann hat er 2010 in Deutschland die<br />

„Frechen Freunde“ ins Leben gerufen, 20 Millionen davon haben<br />

sie im vergangenen Jahr verkauft. Wenn alles so weitergeht,<br />

werden es dieses Jahr 30 Millionen. „In der überfüllten<br />

Straßenbahn will niemand Gläschen und Löffel rausholen.<br />

Auf eine Reiswaffel haben die wenigsten Kinder Lust, und bei<br />

einem Schokoriegel bekommen Eltern ein schlechtes Gewissen.“<br />

Aber auch die Aufmachung sei wichtig, die sich eben<br />

erstmalig nicht mehr an die Käufer – also die Eltern –, sondern<br />

an die Esser wendet. „Kleine Kinder können dank der<br />

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