Telemann
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Zum 250. Todestag: der Kirchenkomponist <strong>Telemann</strong><br />
Jahrgangsweise(n)<br />
Georg Philipp <strong>Telemann</strong> (1681–1767),<br />
aus einer Pfarrersfamilie stammend,<br />
sah sein Hauptbetätigungsfeld in<br />
der «Kirchen-Music». Aus allen beruflichen<br />
Stationen ist eine grosse<br />
Zahl an Kompositionen für den kirchlichen<br />
Gebrauch erhalten. In der<br />
Summe ergibt sich ein grosser Werkkorpus,<br />
in den die Autorin einführt.<br />
Von Ute Poetzsch<br />
«Dies aber weiss wohl, dass ich allemal<br />
die Kirchen-Music am meisten wert geschätzet,<br />
am meisten in andern Autoribus<br />
ihrentwegen geforschet, und auch das<br />
meiste darinnen ausgearbeitet habe»,<br />
schrieb Georg Philipp <strong>Telemann</strong> 1718<br />
in seiner ersten Autobiographie. Diese<br />
entstand in Frankfurt, und <strong>Telemann</strong><br />
teilt einen groben Überblick über seine<br />
bis dahin komponierte Kirchenmusik<br />
mit – bisher habe er «5 vollstimmige und<br />
beinahe 2 kleinere Jahrgänge» vollendet<br />
sowie zahlreiche «Communion- und<br />
Nachmittags-Stücke, Missen, Psalmen,<br />
Arietten» geschrieben.<br />
Damit hat <strong>Telemann</strong> die wichtigsten<br />
Gattungen der lutherischen Kirchenmusik<br />
benannt, wie sie zu Beginn des<br />
18. Jahrhunderts im öffentlichen und privaten<br />
Gottesdienst verwendet wurden.<br />
In der öffentlichen Kirchenversammlung<br />
erklangen die auf die Perikopen bezogene<br />
Figuralmusik, die sich im Lauf des<br />
Jahres zum Jahrgang vervollständigte,<br />
Psalmen und Messen, die oftmals Choräle<br />
verarbeiten. Für die Privatandacht<br />
entstanden Kantaten und liedhafte Arien.<br />
Die Passion fehlt in der Aufzählung<br />
von 1718 noch.<br />
<strong>Telemann</strong> wurde in eine Familie hineingeboren,<br />
in der es seit Generationen Pfarrer<br />
gegeben hatte. Somit war das lutherische<br />
Bekenntnis für ihn selbstverständlich und<br />
bestimmende Grundlage für sein musikalisches<br />
Handeln in Bezug auf geistliche<br />
und gottesdienstliche Musik. Denn die<br />
lutherische Konfession kannte Adiaphora,<br />
die Mitteldinge, die erst durch ihren Inhalt<br />
ihre positive oder negative Bedeutung<br />
bekamen. Zu diesen Mitteldingen gehört<br />
auch die Musik, die im lutherischen Sinn<br />
zur Verkündigung des Evangeliums in<br />
Anspruch genommen wurde. Dadurch<br />
konnten sich musikalisch reich ausgestattete<br />
Gottesdienstformen entwickeln – wie<br />
sie <strong>Telemann</strong> insbesondere in Hamburg<br />
vorfand.<br />
Kirchenmusik von Jugend an<br />
Schon früh begann <strong>Telemann</strong>, sich mit<br />
gottesdienstlicher Musik zu beschäftigen<br />
und sie aufzuführen. Als junger Schüler<br />
in Magdeburg und Zellerfeld schrieb er<br />
Motetten; als Gymnasiast in Hildesheim<br />
erhielt er die Erlaubnis, dem jesuitischen<br />
Kantor zur Seite zu stehen. Er führte deutsche<br />
«Zwischenkantaten» auf, die «nicht<br />
selten Religionsstreitigkeiten enthielten»,<br />
wobei der Schüler darauf achtete, dass<br />
seiner lutherischen Konfession nichts «zuwiderlief».<br />
Auch als Student in Leipzig,<br />
wo <strong>Telemann</strong> sich 1701 an der Universität<br />
für ein Jurastudium immatrikuliert hatte,<br />
begann er bald für die Kirchenmusik<br />
tätig zu werden. Am Hof des Sorauer<br />
Grafen Erdmann von Promnitz war Kirchenmusik<br />
weniger gefragt. Doch war<br />
zur selben Zeit auch Erdmann Neumeister<br />
angestellt, mit dem <strong>Telemann</strong> regen<br />
Umgang gepflegt haben wird; vielleicht<br />
entwickelten sie hier schon ihr gemeinsames<br />
Projekt der sogenannten theatralischen<br />
Kirchenmusik. Nach 1708 hatte<br />
<strong>Telemann</strong> als Eisenacher Konzert- und<br />
später Kapellmeister die Möglichkeit, es<br />
umzusetzen – seiner Neigung zur Kirchenmusik<br />
nachzugehen und nach einer<br />
inhaltlich stimmigen wie zeitgemäss klingenden,<br />
die Traditionen nicht vergessenden<br />
Kirchenmusik zu «forschen». Zumal<br />
die «ungeheuchelte Gottesfurcht» der<br />
Herrschaft ihn anregte, selbst «stärker»<br />
darin zu werden. 1710/11 erklang dann<br />
der erste vollständig erhaltene Jahrgang<br />
von Neumeister und <strong>Telemann</strong> mit dem<br />
sprechenden und programmatischen, auf<br />
Eph. 5, 19 referierenden Titel «Geistliches<br />
Singen und Spielen». Zugleich ist dies<br />
der erste erhaltene Jahrgang der neuen<br />
Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts. Die<br />
Dichtungen des Jahrgangs sind in der<br />
Anordnung der Textbestandteile Arie,<br />
Rezitativ, Bibelspruch und Choral äusserst<br />
vielfältig, denn Neumeister legte es nicht<br />
auf ein Modell an, das 72-mal verwirklicht<br />
wurde. <strong>Telemann</strong> gelang mit seiner<br />
Vertonung der Durchbruch, eine der Zeit<br />
angemessene Kirchenmusik zu gestalten.<br />
Das Vorbild dafür waren Dichtung und<br />
Musik des Theaters, die darauf zielten,<br />
Affekte zu erregen und das Gemüt anzusprechen.<br />
Man ging davon aus, dass<br />
sich dadurch auch die Andacht vertiefen<br />
würde. So sind die Arien und Rezitative<br />
affektiv, beweglich und bewegend – sie<br />
verstärken den Sinn der vorliegenden Poesie.<br />
Die Bibelsprüche vertont <strong>Telemann</strong><br />
meist als vierstimmige Sätze. Er zeigt hier<br />
seine grosse Kunst, auch polyphone Sätze<br />
– denn Kanon und Fuge gehören aus<br />
seiner Sicht ganz selbstverständlich zur
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23<br />
Kirchenmusik – affekthaft gestalten zu<br />
können.<br />
Nach dem genannten ersten (auch «Eisenacher»)<br />
Jahrgang von 1711 folgte, nun<br />
bereits in Frankfurt komponiert, 1714/15<br />
der «Französische Jahrgang», wieder mit<br />
Texten Neumeisters. Der Name des Jahrgangs<br />
zeigt an, dass <strong>Telemann</strong> hier den<br />
französischen Opernstil adaptiert hat. Es<br />
folgten weitere Jahrgänge, die aktuelle<br />
Musikstile referieren wie der «Italienische»<br />
oder «Concerten-Jahrgang» und der<br />
«Sicilianische Jahrgang» und die damit<br />
auch als Beiträge zur zeitgenössischen<br />
Diskussion über die musikalischen Stile<br />
anzusehen sind. Nach Neumeister wurden<br />
die Eisenacher Beamten Johann Friedrich<br />
Helbig und Hermann Ulrich von Lingen<br />
beauftragt, Jahrgänge für <strong>Telemann</strong> zu<br />
dichten, ein weiterer Dichter ist in den<br />
1720er-Jahren Benjamin Neukirch, der<br />
die zweite Hälfte des «Jahrgangs ohne<br />
Rezitativ» verfasste.<br />
Auch nachdem <strong>Telemann</strong> Eisenach verlassen<br />
hatte, gehörte es bis 1730 zu seinen<br />
Aufgaben als Kapellmeister von Haus,<br />
Kirchen- und andere Musik für den Eisenacher<br />
Hof zu komponieren. Von Hamburg<br />
aus, wohin er 1721 als Kantor am<br />
Johanneum und städtischer Musikdirektor<br />
berufen wurde, lieferte er ausserdem<br />
Jahrgänge nach Frankfurt, wozu er sich<br />
verpflichtet hatte, um das dortige Bürgerrecht<br />
zu behalten.<br />
<strong>Telemann</strong> gab allen seinen Jahrgängen<br />
einen besonderen Klang, auch wenn ihnen<br />
nicht immer musikalische Namen<br />
beigelegt wurden und sie manchmal ganz<br />
lapidar mit dem Namen der Textdichter<br />
versehen wurden, wie dies bei den beiden<br />
«Lingenschen» Jahrgängen oder dem<br />
Frankfurter Jahrgang «Simonis Neues<br />
Lied» der Fall ist. Der Jahrgang, aus dem<br />
<strong>Telemann</strong> seine 1727 publizierten Arien<br />
gewann, wurde laut einem Textdruck<br />
«Harmonisches Lob Gottes» genannt. Die-<br />
Georg Philipp <strong>Telemann</strong>, «Auszug derjenigen Arien …, Hamburg 1727»; Titelseite. Signatur Mus. 5379<br />
sen Jahrgang schätzten die Zeitgenossen terschiedliche Formen dialogischer bis<br />
auch wegen der besonderen Schönheit dramatischer Gestaltung, in denen allegorisches,<br />
historisches und auch biblisches<br />
der Eingangssätze, sehr differenzierter<br />
Dictumsvertonungen (vergleiche Abbildung<br />
oben).<br />
wird dies am «Grossen oratorischen Jahr-<br />
Personal im Gespräch ist. Am deutlichsten<br />
gang» aus dem Jahr 1730/31 mit Libretti<br />
Dialogische oder dramatische von Albrecht Jacob Zell, der zu den Perikopen<br />
passende dramatische Geschichten<br />
Gestaltung<br />
Nach 1730 weitete <strong>Telemann</strong> nochmals entwickelte. Plastische Texte und eine<br />
den formalen Rahmen seiner Kirchenmusik.<br />
Für drei Jahrgänge wählte er unsieren<br />
hier auf eindrucksvolle Weise<br />
tonmalerisch profilierte Musik kompen-<br />
das<br />
Foto Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin
24 5 17<br />
Foto Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg, Frankfurt am Main<br />
Fehlen von Szene und Bühnenaktion. In deklamatorisch geprägte musikalische<br />
den Kirchenmusiken des Jahres 1731/32, Sprache mit thematischen Bässen gefasst.<br />
die Vorlagen für die «Fortsetzung des Ein dritter Jahrgang mit oratorisch-dialogischen<br />
Zügen, der darüber hinaus deutlich<br />
Harmonischen Gottesdienstes», lässt der<br />
Dichter Tobias Heinrich Schubart, Diakon vom französischen Musikstil geprägt ist,<br />
an der St. Michaeliskirche, Bibelsprüche ist der auf Texte von Gottfried Behrndt<br />
von biblischen Personen sprechen. Diese für das Kirchenjahr 1736/37, der auch als<br />
Dicta sind in eine herausgehobene, stark der «Stolbergische Jahrgang» bekannt war.<br />
Georg Philipp <strong>Telemann</strong>: «Es ist umsonst, dass ihr früh aufstehet» TVWV 1:1753 (1720); Ms. Mus. 994<br />
Ende der 1730er-Jahre entstand der sogenannte<br />
«Horn-Jahrgang». In den 1740er-<br />
Jahren arbeitete <strong>Telemann</strong> beim «Musicalischen<br />
Lob Gottes in der Gemeine des<br />
Herrn» und dem «Lied-Jahrgang» noch<br />
einmal mit Neumeister zusammen. Am<br />
Ende des Jahrzehnts erschien der «Engel-<br />
Jahrgang» und um 1750 gab es noch einen<br />
weiteren Jahrgang. Danach schuf <strong>Telemann</strong><br />
nach heutigem Kenntnisstand gottesdienstliche<br />
Musik vor allem zu ausgewählten<br />
Fest- und Feiertagen im Kirchenjahr.<br />
Bereits in Frankfurt hatte <strong>Telemann</strong> begonnen,<br />
einen Verlag zu führen, in dem<br />
er vorrangig eigene Instrumentalkompositionen<br />
herausbrachte. Diese Tätigkeit<br />
setzte er in Hamburg fort, wobei er das<br />
Verlagsprogramm um Vokal- und damit<br />
auch um geistliche Musik erweiterte. So<br />
erschien ab dem Jahreswechsel 1725/26<br />
der «Harmonische Gottesdienst», Kantaten<br />
über die Episteln für Singstimme, ein<br />
obligates Instrument und Basso continuo.<br />
1727 folgten Arien für eine Stimme und<br />
Basso continuo, die <strong>Telemann</strong> aus den<br />
Kirchenmusiken des Jahres herausgelöst<br />
und für die Publikation noch einmal<br />
überarbeitet hatte. Die «Fortsetzung des<br />
Harmonischen Gottesdienstes» genannte<br />
Reihe von Kantaten für Singstimme, zwei<br />
obligate Instrumente und Basso continuo<br />
erschien 1731/32, wiederum parallel zur<br />
Aufführung der «vollständigen» Oratorien.<br />
Für die Veröffentlichung wurden<br />
daraus jeweils zwei Arien und ein verbindendes<br />
Rezitativ entnommen und zu<br />
einer (Kammer-)Kantate verknüpft. Mit<br />
diesen Publikationen hatte <strong>Telemann</strong> neben<br />
dem öffentlichen Gottesdienst immer<br />
auch die private Frömmigkeitspraxis im<br />
Blick. Der grosse mehrstimmige Jahrgang<br />
«Musicalisches Lob Gottes» (1742–1744)<br />
und der «Engel-Jahrgang» (1747–1749),<br />
ein Auftrag aus Schlesien, erschienen<br />
nicht mehr in <strong>Telemann</strong>s Verlag.
5 17<br />
25<br />
Literatur (Auswahl)<br />
*Rackwitz, Werner (Hg.): Singen ist<br />
das Fundament zu Music in allen Dingen.<br />
Eine Dokumentensammlung.<br />
Leipzig 1981 (darin die Autobiographien<br />
von 1718, 1739 und 1740).<br />
*Fischer, Roman: Frankfurter <strong>Telemann</strong>-Dokumente.<br />
Magdeburger<br />
<strong>Telemann</strong>-Studien 16. Hildesheim u.<br />
a. 1999.<br />
*Kremer, Joachim: Das norddeutsche<br />
Kantorat im 18. Jahrhundert. Untersuchungen<br />
am Beispiel Hamburgs.<br />
Kieler Schriften zur Musikwissenschaft<br />
43, Kassel 1995.<br />
*Poetzsch-Seban, Ute: Die Kirchenmusik<br />
von Georg Philipp <strong>Telemann</strong><br />
und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte<br />
der protestantischen Kirchenkantate<br />
in der ersten Hälfte des<br />
18. Jahrhunderts. Schriften zur mitteldeutschen<br />
Musikgeschichte 13,<br />
Beeskow 2006.<br />
*Jungius, Christiane: <strong>Telemann</strong>s<br />
Frankfurter Kantatenzyklen. Schweizer<br />
Beiträge zur Musikforschung 12,<br />
Kassel 2008.<br />
*Neubacher, Jürgen: Georg Philipp<br />
<strong>Telemann</strong>s Hamburger Kirchenmusik<br />
und ihre Aufführungsbedingungen<br />
(1721–1767). Organisationsstrukturen,<br />
Musiker, Besetzungspraktiken.<br />
Mit einer umfangreichen Quellendokumentation.<br />
Magdeburger <strong>Telemann</strong>-Studien<br />
20, Hildesheim u. a.<br />
2009, 22012.<br />
*Lange, Carsten und Reipsch, Brit<br />
(Hg.): <strong>Telemann</strong> und die Kirchenmusik.<br />
<strong>Telemann</strong>-Konferenzberichte 16,<br />
Hildesheim u. a. 2011.<br />
*Poetzsch, Ute: Mit <strong>Telemann</strong> durchs<br />
Kirchenjahr, in: «Musik & Kirche»,<br />
2/2010, S. 110–116.<br />
*Poetzsch, Ute: Chor im 18. Jahrhundert?<br />
Zur Diskussion um «Bachs<br />
Chor», in: «Concerto. Das Magazin<br />
für Alte Musik», Nr. 237 (April/Mai<br />
2011), S. 28–30.<br />
Hatte die Passion bis zu <strong>Telemann</strong>s Amtsantritt<br />
in Hamburg keine Rolle in seinem<br />
Schaffen gespielt, entstand ab 1722 jährlich<br />
eine liturgische Passionsmusik. Nach<br />
den ersten Passionen, deren betrachtende<br />
Arientexte aus bereits vorliegenden Werken<br />
entnommen wurden, konzipierte <strong>Telemann</strong><br />
bald auch die Passionen für jedes<br />
Jahr sowohl textlich als auch musikalisch<br />
immer wieder neu. So finden sich unter<br />
ihnen wie bei den Jahrgängen einige<br />
vom italienischen und französischen Stil<br />
inspirierte Kompositionen. Auch für die<br />
Passionen hat <strong>Telemann</strong> befähigte Dichter<br />
beauftragt, die poetischen und betrachtenden<br />
Einlagen zu verfassen. Die für die<br />
«Lukas-Passion» von 1728 von Matthäus<br />
Arnold Wilkens gedichteten Betrachtungen<br />
wurden sogar in die «Poesie der<br />
Niedersachsen» aufgenommen, Schubart<br />
dichtete die Einlagen für die «Matthäus-<br />
Passion» 1730. Joachim Johann Daniel<br />
Zimmermann verfasste die Arientexte für<br />
die «Johannes-Passion» des Jahres 1745,<br />
die einzige im 18. Jahrhundert im Druck<br />
veröffentlichte vollständige liturgische<br />
Passion. Die «Johannes-Passion» 1733<br />
(vielleicht gedichtet von Zell?) beruht ganz<br />
auf der Gedankenwelt des Hoheliedes.<br />
Zur Kirchenmusik gehören auch Gelegenheitswerke<br />
(beispielsweise Trauermusiken,<br />
Kircheneinweihungsmusiken).<br />
So versorgte <strong>Telemann</strong> etwa das grosse<br />
zweihundertjährige Jubelfest der Augsburgischen<br />
Konfession im Jahr 1730, das<br />
in Hamburg in allen fünf Hauptkirchen<br />
und von den Schulen gefeiert wurde, mit<br />
Musik. Zwei der Kantaten sind erhalten<br />
geblieben, weil <strong>Telemann</strong> sie in seinem<br />
Verlag publiziert hat.<br />
Der Choral im Mittelpunkt<br />
In den 1730er-Jahren intensivierte <strong>Telemann</strong><br />
langfristig seine Beschäftigung mit<br />
dem Choral als zentralem Medium lebendiger<br />
lutherischer Glaubenspraxis und<br />
beleuchtete ihn musikalisch noch einmal<br />
neu und dabei in exzeptioneller Weise.<br />
Schon früher hatte er Choralmotetten und<br />
Choralmessen komponiert, Kirchenliedtexte<br />
als affektive Oden strophenweise<br />
vertont. In vielen Kirchenmusiken gibt<br />
es mehrere Liedstrophen, sehr oft auch<br />
aus unterschiedlichen Liedern. 1730 hatte<br />
<strong>Telemann</strong> ein Liederbuch mit über 500<br />
Melodien zusammengestellt, denen er<br />
bezifferte Bässe beigab, auf deren Basis<br />
auch vierstimmige Sätze ausgearbeitet<br />
werden können. Wie in einem solchen<br />
Fall zu verfahren sei, erklärt <strong>Telemann</strong><br />
in einer «Unterricht» genannten Anleitung,<br />
doch sollte das Liederbuch auch bei<br />
Hausandachten verwendbar sein. In den<br />
«Fugirenden und veraendernden Choraelen»,<br />
die sowohl auf der Orgel als auch<br />
«auf dem Claviere» gespielt werden können,<br />
hat <strong>Telemann</strong> 24 Melodien jeweils in<br />
kontrapunktisch-polyphoner beziehungsweise<br />
kammermusikalisch-galanter Art<br />
verarbeitet. Der «Lied-Jahrgang», der<br />
ab 1742 entstand, zeigt einen weiteren<br />
komplexen Umgang mit geistlichen und<br />
Kirchenliedern und ihren Melodien. Neumeister<br />
liess sich von vorliegenden Liedern<br />
zu eigenen Lieddichtungen anregen,<br />
wobei seine Verweise auf die Vorlagen<br />
wörtlich oder paraphrasiert sein können.<br />
<strong>Telemann</strong> vertonte, soweit die Quellenlage<br />
erkennen lässt, die einzelnen Strophen<br />
abwechselnd als vierstimmigen, die<br />
Melodie verarbeitenden polyphonen oder<br />
Kantionalsatz beziehungsweise als Arie.<br />
Bis spätestens 1754 entstanden ausserdem<br />
fünf repräsentative vokal-instrumentale<br />
Choralbearbeitungen über Lieder aus<br />
dem 17. Jahrhundert (unter anderen<br />
«Jesu, meine Freude», «Christus, der ist<br />
mein Leben»). Hier wählte <strong>Telemann</strong> bei<br />
jedem Lied eine andere Kombination von<br />
polyphonen, homophonen, duettierenden<br />
und arienhaften Sätzen, wobei der Cantus<br />
firmus in jeder Strophe erklingt. Hinzu
26 5 17<br />
kommt eine erlesene, ebenfalls auf den<br />
Affektgehalt der jeweiligen Strophe ausgerichtete<br />
Instrumentation.<br />
Ausführung und Überlieferung<br />
Der Aufführungsapparat, der <strong>Telemann</strong><br />
zur Verfügung stand, war an seinen unterschiedlichen<br />
Wirkungsorten ähnlich<br />
besetzt. Dabei wird die personelle Ausstattung<br />
am Eisenacher Hof ausreichend und<br />
zumindest während seiner Anwesenheit<br />
kompetent besetzt gewesen sein. Opulenter<br />
ging es in Frankfurt zu, wo <strong>Telemann</strong><br />
die Strukturen für die Ensembles der<br />
Kirchensänger und Instrumentalisten so<br />
ausbauen konnte, dass sie noch bis weit in<br />
das 18. Jahrhundert hinein trugen. Besser<br />
erforscht sind jedoch die Hamburger Verhältnisse:<br />
Der Hamburger Chorus musicus<br />
umfasste acht Vokalisten, die aber sicherlich<br />
nicht immer vollzählig auftraten, und<br />
bis zu 21 Instrumentalisten. Gemeinsam<br />
ist Frankfurt und Hamburg die Ausstattung<br />
der Kirchenmusik mit professionellen<br />
Vokalsolisten, die sich bei den Tuttisätzen<br />
zusammentaten. Wie verschiedene erhaltene<br />
Materialien zeigen, hat es offensichtlich<br />
unterstützende Ripiensänger gegeben.<br />
Dass <strong>Telemann</strong>s vierstimmigen Sätze eine<br />
mit Solisten besetzte Gruppe intendieren,<br />
kann auch an ihrer kleingliedrigen Faktur<br />
und der Prägnanz dieser Tuttisätze festgemacht<br />
werden.<br />
Viele Jahrgänge sind fast vollständig<br />
erhalten, dazu kommen 26 erhaltene<br />
oratorische Passionen. Der Hauptüberlieferungsort<br />
ist Frankfurt am Main, wo<br />
<strong>Telemann</strong>s Kirchenmusik noch lange nach<br />
seinem Weggang immer wieder aufgeführt<br />
wurde. Erhalten haben sich hier auch einige<br />
Autographe aus der Zeit bis 1720.<br />
Ein anderer Überlieferungsstrang verläuft<br />
über <strong>Telemann</strong>s Enkel Georg Michael,<br />
der insbesondere die späten Werke seines<br />
Grossvaters sehr geschätzt hat, von<br />
denen ein grosser Teil durch seinen Schü-<br />
Briefmarke DDR, 1981<br />
ler Georg Poelchau nach Berlin gelangte.<br />
So befinden sich in der Staatsbibliothek<br />
zu Berlin viele Handschriften <strong>Telemann</strong>s<br />
aus späterer Zeit und besonders wertvolle<br />
und aussagekräftige Aufführungsmaterialien,<br />
die unter seiner Aufsicht entstanden<br />
sind. Das Archiv der Sing-Akademie zu<br />
Berlin enthält eine Vielzahl von ehemals<br />
verschollen geglaubten Kompositionen<br />
<strong>Telemann</strong>s, darunter 35 Stücke aus dem<br />
«Grossen oratorischen Jahrgang».<br />
An vielen Orten, insbesondere in Kirchenarchiven,<br />
zeugen Abschriften telemannscher<br />
Kirchenmusik oder Inventarverzeichnisse<br />
davon, dass Musik von<br />
<strong>Telemann</strong> aufgeführt wurde. Die erhaltenen<br />
Materialien und die Hinweise in den<br />
Inventarverzeichnissen zeigen die weite<br />
Verbreitung und das oft lang anhaltende<br />
Interesse an <strong>Telemann</strong>s Kirchenmusik.<br />
Wichtige Quellen für die Rezeption von<br />
<strong>Telemann</strong>s Kirchenmusik sind darüber<br />
hinaus eine grosse Anzahl von Textdrucken;<br />
auch daran lässt sich ablesen, wie<br />
verbreitet <strong>Telemann</strong>s Kirchenmusik im<br />
gesamten lutherisch geprägten Raum war.<br />
Ute Poetzsch<br />
(*1959) ist Musikwissenschaftlerin. Sie<br />
lebt und arbeitet in Magdeburg. Im <strong>Telemann</strong>-Zentrum<br />
ist sie als Redakteurin<br />
der Auswahlausgabe «Georg Philipp <strong>Telemann</strong>:<br />
Musikalische Werke» tätig und<br />
hat dafür auch mehrere Bände selbst<br />
herausgegeben. Ihr Hauptinteresse liegt<br />
in der Kirchenmusik des Komponisten,<br />
ihrem lutherischen Kontext und ihrer<br />
Erschliessung.<br />
Aus: Musik & Kirche 1/2017,<br />
www.musikundkirche.de.<br />
Mit bestem Dank für die Erlaubnis<br />
zum Nachdruck.<br />
Foto: Galyamin Sergej / Shutterstock.com