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Stichwort „Kanzler“<br />

– Von Klaus Bartels –<br />

Wer einmal sein amo, amas, amat<br />

..., „Ich liebe, du liebst, er liebt<br />

...“, durch alle Tempora konjugiert<br />

hat und mit Julius Caesar<br />

auf und ab durch das dreigeteilte<br />

Gallien gezogen ist, erkennt in einem „Minister“<br />

leicht einen „Diener“ – mit Friedrich dem<br />

Großen den „premier serviteur“ – des Staates,<br />

und in einem Minister-„Präsidenten“ den „Vorsitzenden“<br />

dieser ehrenwerten Dienerschaft. Aber<br />

beim „Kanzler“ oder einer „Kanzlerin“ ist selbst<br />

ein tüchtiger Lateiner mit seinem Schullatein am<br />

Ende, und auch ein Blick ins Wörterbuch stiftet da<br />

zunächst Verwirrung.<br />

Der gute alte, jetzt wieder neue zweibändige<br />

„Georges“ verzeichnet an der Stelle zunächst<br />

ein Substantiv cancellarius in der Bedeutung eines<br />

„Dieners an den Gerichtsschranken“ und<br />

ein gleichlautendes Adjektiv cancellarius in der<br />

Bedeutung „hinter Gittern gemästet“, weiter<br />

ein Verb cancellare, „vergittern, mit einem Gitter<br />

überziehen“, und eine davon abgeleitete cancellatio<br />

für die „Landvermessung nach Quadratschuhen“.<br />

Plinius bezieht das Partizip cancellatus,<br />

„vergittert“, einmal auf die runzelige Haut des<br />

Elefanten. Was in aller Welt hat das, abgesehen<br />

von den Schranken vor dem Berliner Kanzleramt,<br />

mit einem Kanzler zu tun?<br />

Ein „Lattenzaun mit Zwischenraum, hindurchzuschaun“,<br />

die Latten kreuzweise schräggestellt,<br />

hiess im Lateinischen im Plural cancelli, „die Latten,<br />

die Schranken“. Daher rührt die Bezeichnung<br />

cancellarius, „der an den Schranken“, für den<br />

Gerichtsdiener, der an der Abschrankung zwischen<br />

dem Gericht und dem Publikum Dienst tat,<br />

Schriftsätze entgegennahm und Urkunden aushändigte,<br />

und daher rührt dann auch das damals<br />

noch empfehlende Prädikat cancellarius für die<br />

„in Käfighaltung“ gemästeten und darum besonders<br />

fetten Krammetsvögel.<br />

In der Spätantike begegnen Träger des Titels<br />

cancellarius in einer entsprechenden höheren<br />

Schlüsselfunktion als Privatsekretäre hoher Magistraten,<br />

in den Senatorenrang erhoben und mit<br />

dem Ehrentitel Vir clarissimus ausgezeichnet. Von<br />

diesen spätantiken cancellarii hatte der mittelalterliche<br />

kanzelaere seinen Titel: Auch der vermittelte<br />

ja sozusagen „an den Schranken“ zwischen<br />

Kaiser und Volk – und vermittelt unter diesem<br />

Stichwort zwischen den Gerichtsdienern des alten<br />

Rom und den Bundeskanzlern in Berlin und<br />

Wien und dem dritten in Bern.<br />

Von anderen Schranken hat sich das Wort dann<br />

noch zu einem zweiten, ganz unpolitischen Höhenflug<br />

aufgeschwungen. Im Mittelalter haben<br />

die Schranken zwischen Kirchenchor und Kirchenschiff,<br />

Klerikern und Laienvolk zunächst der<br />

darüber erhöhten Predigt-„Kanzel“ den Namen<br />

gegeben; von da ist das Wort in neuerer Zeit auf<br />

die ähnlich vorkragende Aussichts-„Kanzel“ hoch<br />

über Berg und Tal oder doch wenigstens über dem<br />

Rheinfall übergesprungen, und von diesem luftigen<br />

Ausguck ist es in jüngster Zeit noch zu dem<br />

rings verglasten Ausguck der Piloten-„Kanzel“<br />

hoch über den Wolken aufgestiegen.<br />

Damit sind wir, scheint es, nun weit jenseits aller<br />

Gerichts- und Kirchenschranken und überhaupt<br />

aller Gitterwerke. Und doch nur solange, bis ein<br />

Pilot – wie kürzlich in Hongkong geschehen – eben<br />

noch vor dem Start eine kabelknabbernde Maus<br />

entdeckt und auf der grossen Tafel in der Abflughalle<br />

dann ein anglolateinisches „Cancelled“ aufscheint.<br />

Jenes lateinische cancellare, „kreuzweise<br />

vergittern“, bedeutete schon bei den römischen Juristen<br />

soviel wie „streichen, tilgen“, entsprechend<br />

dem schon fast vergessenen „Ausixen“ auf der<br />

alten Schreibmaschine. Die Dudenredaktion hat<br />

dieses „Ausixen“ zwar noch nicht gecancelt, aber<br />

das lateinische cancellare, neudeutsch „canceln“,<br />

schon mal eingebürgert; statt cancello, cancellas,<br />

cancellat ... konjugiert sich das jetzt: „Ich canc(e)<br />

le, du cancelst, er cancelt ...“<br />

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