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FAMILIE<br />
Kunststück<br />
Kann ein kleiner Zirkus<br />
in Deutschland heute noch<br />
überleben? Zu Besuch<br />
bei <strong>Familie</strong> Neigert und<br />
dem Circus Amany<br />
TEXT MARC BÄDORF<br />
FOTOS THEKLA EHLING<br />
Vielseitig begabt: In einem <strong>Familie</strong>nzirkus müssen alle mit anpacken, sobald sie können.<br />
34 Ob als Artisten, beim Zeltaufbau oder beim Popcornverkauf.<br />
35<br />
Die Sonne für den<br />
Mond halten<br />
Unser Autor lebt mit Luftwäscher, Feinstaub-App<br />
und Atemmasken für drei Kinder in Peking.<br />
Am Smog sterben in China jeden Tag 4000 Menschen<br />
TEXT<br />
ILLUSTRATION<br />
KAI STRITTMATTER<br />
MRZYK & MORICEAU<br />
FOTOS: NAME NAME<br />
„Und wohin fahrt ihr in den Ferien?“ Unschuldige Frage.<br />
Sohn Nummer zwei war schneller als ich. „Wir fahren tanken“,<br />
sagte er. Unschuldige Antwort. Stimmt, so hatten wir<br />
das ein paarmal zu Hause gesagt – „Kinder, wir fahren frische<br />
Luft tanken“. Ferien, das heißt für uns seit fünf Jahren:<br />
weg aus Peking. Weit weg. Und zwar jeden einzelnen Tag. Allgäu,<br />
Ostsee, Island. Sauerstoffbad. Wenn’s hilft. Bei Kindern<br />
soll sich die Lunge ja gut regenerieren. Sie ist ein Organ, das<br />
sich in diesem Alter wieder und wieder erneuert. So wenigstens<br />
hatte es der Arzt einer Freundin erzählt, die auch mit<br />
ihren Kindern in Peking lebt, und sie hatte es ihren Freunden<br />
weitererzählt, und wir alle, verfolgt von demselben Bangen,<br />
klammern uns gern an die Erzählung. Klingt zu gut, um<br />
nachzufragen. Wenn’s denn hilft. Dem Kopf.<br />
Ist auch wichtig, der Kopf. Sagt Kyoko, unsere Hausärztin in<br />
Peking, eine Japanerin, die einen blauen Haarschopf hat und<br />
hervorragendes Bayerisch spricht. Kyoko ist eher von der<br />
toughen Sorte. „Ah geh, der Smog“, sagt sie und winkt ab.<br />
„Beim Radeln sterben hier viel mehr Menschen.“ Kyoko<br />
findet: Dem Smog tritt man am besten mit einem trotzigen<br />
Grinsen entgegen. So wie Sohn Nummer zwei, der einmal<br />
nach einem Blick in die dunkelgraue Wolle, die sich in Peking<br />
Luft nennt, unsere Drohung mit dem Nikolaus lässig als Bluff<br />
entlarvte: „Der Nikolaus kann gar nicht sehen, was wir hier<br />
anstellen!“ Von allen Smog-Apps empfiehlt Kyoko ihren Patienten<br />
„Airpocalypse“, die einem Pekings tägliche Feinstaubpackung<br />
mit lakonischem Witz serviert. Gerade, da ich diese<br />
Zeilen schreibe, sind wir bei 173 Mikrogramm pro Kubikmeter.<br />
Zehn sind gesundheitsverträglich, sagt die WHO, 20 sind<br />
der Grenzwert. In Stuttgart hyperventilieren sie bei 50. Wir<br />
Pekinger tanzen bei 50 auf den Straßen. Wir sehen 173 und<br />
zucken resigniert mit den Schultern: Alltag. „Only in Beijing<br />
is this normal“, sagt meine App. In Peking und Umgebung,<br />
sagen chinesische Studien, leben die Leute im Durchschnitt<br />
fünf Jahre kürzer als anderswo, wo die Luft sauber ist. Der<br />
Smog, der Feinstaub vor allem, tötet in China bis zu anderthalb<br />
Millionen Menschen im Jahr.<br />
Wir Pekinger leben in unseren Feinstaub-Apps. Ich habe<br />
gleich zwei. Die eine listet neben den Werten der chinesischen<br />
Regierung auch die der US-Botschaft in Peking auf.<br />
Früher waren die von den Amerikanern gemessenen Werte<br />
oft doppelt so hoch, mittlerweile haben die Chinesen Transparenz<br />
gelobt. Die Zahlen sind jetzt gleichermaßen deprimierend.<br />
Allerdings hört die Skala der Regierung noch<br />
immer bei 500 Mikrogramm pro Kubikmeter auf, obwohl<br />
manche Städte im vergangenen Winter wieder Rekordwerte<br />
maßen, die doppelt so hoch lagen. Wir rufen die Pekingwerte<br />
auch ab, wenn wir im Urlaub sind, fast täglich. Es ist eine<br />
Obses sion. In diesem Sommer waren wir in New York<br />
(Feinstaubwert: 14) und im Allgäu (16), dort leben meine<br />
Eltern. Einmal stand unser Neunjähriger mit dem Großvater<br />
auf einer Wiese neben dessen Haus und sagte: „Opa, die<br />
Leute hier wissen gar nicht, wie gut sie es haben. Die ganzen<br />
Bäume! Die ganze Luft!“ Stimmt. Plötzlich ist da Luft. Das<br />
fällt einem immer wieder auf, wenn man Peking verlässt:<br />
Wie sich mit einem Mal die Brust öffnet, so als habe man eine<br />
Last abgeworfen. Eine Last, die einem zurück in der Stadt<br />
schnell wieder zur Gewohnheit wird.<br />
Dass die Luft in Peking schmutzig ist, das wussten wir, bevor<br />
wir im Sommer 2012 in der Stadt landeten, um sie zum<br />
zweiten Mal zu unserer Heimat zu machen. Dass es noch viel<br />
schlimmer kommen würde, als es in unserer Erinnerung<br />
jemals war, ahnten wir nicht. Denn Anekdoten hatten wir<br />
uns auch in den 1990er-Jahren genug zu erzählen gehabt.<br />
Vom Fensterbrett zu Hause, auf dem sich jeden Abend eine<br />
Rußschicht abgelagert hatte, in die man die schönsten<br />
Schrift zeichen malen konnte. Vom blütenweißen Taschentuch,<br />
das sich schwarz verfärbte, wenn man hineinschnäuzte.<br />
Als damals ein kleiner Band mit Peking-Geschichten von mir<br />
erschien, gab ich ihm den Titel „Atmen einstellen, bitte!“.<br />
Schon damals waren Pekings Nächte nicht schwarz, sondern<br />
von milchigem Grau.<br />
Wir waren nun aber nicht mehr allein. Wir hatten drei kleine<br />
Kinder. Wiegten lange die Köpfe. „Macht es nicht“, sagten<br />
die einen Freunde. „Kommt“, sagten die anderen, „es geht<br />
schon.“ Erzählten stolz von den Luftwäschern, die sie alle zu<br />
Hause stehen hatten, „IQAir“, Schweizer Fabrikat, anderthalbtausend<br />
Euro pro Stück und Zimmer. „Die funktionieren<br />
wirklich gut.“ Wir packten für Peking, es warteten dort so<br />
viele Freunde, so viele Abenteuer. Und das Essen, ach. Gleich<br />
nach der Ankunft bestellten wir drei Luftwäscher. Sie waren<br />
ausverkauft. Wir mussten mehr als eine Woche warten. Und<br />
wurden mit jedem Tag nervöser: Wir waren mitten in eine<br />
Smogwelle hineingeraten. Den Chefs hatte ich gesagt: „Und<br />
wenn nur eines der Kinder anfängt zu husten, bin ich weg.“<br />
Nun erstmals die leisen Gedanken: Und was, wenn es dann<br />
schon zu spät ist?<br />
Die gute Nachricht: Die Taschentücher verfärben sich nicht<br />
mehr schwarz. Weil es in den Gassen und Häusern keine<br />
Kohle öfen mehr gibt. In unserer Altstadtgasse zum Beispiel<br />
kochen und heizen die Leute heute mit Strom. Die schlechte<br />
Nachricht: Der Strom kommt aus Kohlekraftwerken vor den<br />
Toren Pekings. Zusammen mit den Stahl-, Glas- und Zementfabriken<br />
hauen diese Kraftwerke keine sichtbaren Grobpartikel<br />
mehr raus, dafür aber Unmengen an – viel gefährlicherem<br />
– Feinstaub. Die kleinsten Partikel dringen von der<br />
Lunge direkt in die Blutgefäße ein, ins Herz. Der Pekinger<br />
lebt in ständigem Feinstaubbombardement. Die Luft in<br />
China war noch nie so giftig wie heute.<br />
50 Shades of Grey – das ist in etwa der Farbfächer, der die<br />
verschiedenen Abstufungen der Pekinger Luft beschreibt,<br />
und mit dem auch wir bald nach unserer Ankunft so gekonnt<br />
jonglierten wie die Eskimos mit ihrem Wortschatz für alle<br />
Aggregatzustände von Schnee. Wie lebt man damit? Es gibt<br />
die Spötter und Relativierer – „Die Luft in Delhi ist noch<br />
schlechter. Und in Lahore“. Die Flucht in Sarkasmus und Galgenhumor.<br />
Die beobachte ich auch bei mir, etwa wenn ich<br />
mich ein paar Augenblicke lang diebisch freue über meinen<br />
Screenshot des Feinstaubwerts 444, das 22-Fache des<br />
WHO-Grenzwertes. Weil das auf Chinesisch auch als „Tod,<br />
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