20.12.2017 Aufrufe

SZ_Familie_1801_Leseprobe_Digital

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

IM KINDERHEFT AUF SEITE 46: ENDLICH VERSTEHEN – DIE GRENZE<br />

FAMILIE<br />

FAMILIE<br />

1 Heft für Eltern ...<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

Patchworkfamilien gehören<br />

Sie<br />

Ihr<br />

halten<br />

könnt<br />

längst zur Normalität und gelten als<br />

eine <strong>Leseprobe</strong> von<br />

<strong>Familie</strong>nmodell<br />

„Süddeutsche<br />

der Zukunft.<br />

Unsere Autorin lebt in einer – und findet:<br />

Zeitung mich <strong>Familie</strong>“ mal in der Hand. Das Besondere<br />

Es ist zum Kotzen<br />

TEXT<br />

an unserem NADJA SOLKHER neuen Magazin, das es am Kiosk<br />

ILLUSTRATION<br />

LEON EDLER<br />

er kleine Jan und ich waren allein in der Hütte, die ande-<br />

auf dem Feld, Heu machen vielleicht, was man eben noch mehr Konten, auf die jeden Monat Geld fließt. Hinzu<br />

Wenn es nervt, dass alles so viel kostet, gibt im Zweifel<br />

Dren<br />

so tut in den Sommerferien auf einer Tiroler Alm. Ich war kommen: Zeitmangel, Logistikfragen, Eifersucht.<br />

dringeblieben, weil es mir nicht so gut ging an dem Tag. Die Als ich mich in meinen Freund Max verliebte, wusste ich<br />

zu kaufen oder unter sz.de/familie zu bestellen<br />

gibt: Das Heft besteht dem eigentlich Schlafzimmer das Fenster offen stand. Ein Fenster, das die aus dieser Beziehung hervorgegangen waren, sah er<br />

Sonne schien zu kräftig, mir war übel. Und nun hatte sich längst, dass er zwei Kinder hat. Wir waren Kollegen bei einer<br />

auch noch dieser achtjährige Junge in einem der Schlafzimmer<br />

unterm Dach verbarrikadiert. Ich weiß nicht mehr, was Kaffeeholen, in der Mittagspause, und – der Klassiker – auf<br />

Zeitung, begegneten uns immer wieder auf dem Flur, beim<br />

das Problem gewesen war, er war wegen irgendetwas beleidigt,<br />

das nichts mit mir zu tun hatte. Ich weiß nur, dass in eine Weile von seiner Ex-Freundin getrennt. Die zwei Kinder,<br />

der Weihnachtsfeier. Er war 15 Jahre älter als ich und schon<br />

so niedrig war, dass man sehr schnell hinausfallen konnte. regelmäßig, so viel hatte ich schon über den Flurfunk gehört.<br />

Ich konnte Jan nicht einschätzen. Würde er aus dem Fenster Es war nicht das, was ich suchte. Wie das eben so ist: Wir<br />

springen? Er wirkte damals auf mich wie ein sehr wütender wurden verrückt nacheinander.<br />

und gleichzeitig sehr sensibler Junge, einer, den man nie<br />

Heften. Aus einem für Eltern. richtig zu fassen bekam. Ich hatte Und Angst. Sein Vater war nicht einem für<br />

da, also war ich verantwortlich für Jan. Ich drückte die Klinke<br />

ier Monate nachdem wir zusammengekommen waren,<br />

herunter. Er stemmte sich gegen die Tür. Ich drückte wieder, V lernte ich seine Kinder kennen. Jan war damals sieben,<br />

diesmal fester. Nach dreimaligem Dagegenstemmen bekam Henrik zwölf und ich 29. Das erste Treffen fand in Max’<br />

ich die Tür auf, und kaum stand sie offen, rannte er aus dem Wohnung statt. Wir gaben uns wirklich Mühe. Wir lächelten<br />

Kinder (4 bis 11 Jahre). Übrigens:<br />

Zimmer. Ich sah ihn erst eine halbe Stunde später wieder,<br />

Ein<br />

als angestrengt<br />

Abonnement<br />

des Hefts ist auch ganz besondere<br />

und reichten uns beim Abendessen auf freundliches<br />

Bitten hin Salz und Butter. Die Mühe hielt zwei Wochen<br />

er mit den anderen laut lachend vom Heumachen kam, an der<br />

Hand seines Vaters. Und ich weiß noch genau, wie ich da an – bis Jan plötzlich auf Straße rief: „Sag mal, Papa, aber<br />

stand, verwirrt und etwas ohnmächtig, und dachte: Worauf mit dieser Christine bist du nicht mehr zusammen?“ Dabei<br />

hast du dich da bloß eingelassen? Es dauerte nicht mehr lange, schaute er nicht seinen Papa an, sondern mich. Solche Sätze<br />

bis mir klar wurde: Patchwork ist nicht das, was Bücher und fielen von da an immer wieder, ob nun eine Christine war,<br />

Frauenmagazine versprechen. Patchwork ist schwierig und die erwähnt wurde, oder (und besonders gern) die Mutter.<br />

kompliziert und nicht selten ein Spiel, bei dem alle verlieren. Kein Problem, dachte ich, er will loyal sein, das verstehe ich –<br />

Patchwork ist, Verzeihung, zum Kotzen.<br />

und zog mich dann einfach zurück.<br />

Konventionelle <strong>Familie</strong>n sind auch schwierig und kompliziert,<br />

klar. Nur: Alles, was dort kompliziert sein kann, ist es in Sommerurlaub auf der Hütte, und langsam bekam ich eine<br />

Knapp ein Jahr später fuhren wir zusammen in eben jenen<br />

Geschenkidee. Was Sie mit Patchworkfamilien dem erst recht. Immer. Man Heft muss sich nicht Ahnung davon, dass durch <strong>Familie</strong>n<br />

verschenken ist Zeit miteinander.<br />

rat- und hilfloser, denn es sind noch nicht mal die eigenen. deshalb habe ich versucht, die Tür aufzubekommen!“,<br />

diese zusammengeflickte <strong>Familie</strong><br />

nur mit seinem Partner in Termin- und Erziehungsfragen immer ein Graben führen würde, an dem in meiner Vorstellung<br />

ich auf der einen, Max und seine Kinder (und vielleicht<br />

abstimmen, sondern im Zweifel auch noch zwei weiteren<br />

Erwachsenen. Wenn man sich rat- und hilflos fühlt, weil auch die Ex) auf der anderen Seite stünden.<br />

den Kindern gerade nichts rundläuft, fühlt man sich noch „Ich hatte Angst, dass er aus dem Fenster fällt oder springt,<br />

er-<br />

Mein Name<br />

ist Camilla,<br />

und ich<br />

liebe mein<br />

Leben<br />

44<br />

Als Kind hat sich<br />

Camilla Kjeldsen<br />

Nielsen nichts<br />

sehnlicher gewünscht<br />

als ein<br />

Paar neue Beine.<br />

Dieser Wunsch ist<br />

nicht in Erfüllung<br />

gegangen. Für<br />

ihre drei Kinder<br />

hat sie trotzdem<br />

Superkräfte<br />

TEXT MARCUS JAUER<br />

FOTOS CLAUDIA GORI<br />

Anfangs waren<br />

Ärzte und Freunde<br />

skeptisch, ob<br />

Camillas Körper<br />

einer Zwillingsschwangerschaft<br />

überhaupt gewachsen<br />

sein würde.<br />

„Ich wollte diese<br />

Kinder“, sagt sie,<br />

„weil ich wusste,<br />

dass ich es kann.“<br />

26<br />

27<br />

22<br />

ENDLICH<br />

V ER STEHEN<br />

SCHRITT 1<br />

AUFBIEGEN<br />

TEXT<br />

FRANZISKA STORZ<br />

Ihre<br />

Süddeutsche Zeitung <strong>Familie</strong><br />

Das Einhorn<br />

Von allen Tieren,<br />

die es nicht gibt, ist es das hübscheste.<br />

Aber nicht nur deshalb verlieben<br />

Einhörner verfügen vermutlich<br />

tern und Verantwortung zu<br />

sich Kinder immer wieder in<br />

nur in sehr begrenztem Maß<br />

übernehmen, vermitteln Einhörner<br />

im früheren Alter schon<br />

über die Fähigkeit zur Selbstironie.<br />

Schließlich sind sie<br />

eine Ahnung davon.<br />

dieses eventisierte Pony<br />

inner lich und äußerlich edel, anmutig, rein, nicht der Typ Der Zeichentrickfilm „Das letzte Einhorn“ markierte 1982<br />

Fabelwesen, mit dem man ein Bier trinken gehen würde.<br />

den Anfang des modernen Kults. Seither ist das Einhorn aus<br />

Wie sollten Einhörner also verstehen, dass es neben Brotzeitboxen,<br />

Bettwäsche, Mädchenpyjamas, die sie zieren, heute „Harry Potter“ in Erscheinung und in der verwirrend rosa­<br />

kaum einem Mädchenzimmer wegzudenken. Es tritt bei<br />

auch pinke Knetmasse als „magischen Einhornkot“ zu kaufen<br />

gibt? Dass sie als Motiv für Handyhüllen und Kondom­<br />

besonders freundliches und scheues Wesen. Ritter Sport<br />

farbenen Fernsehserie „Mia and me“, und immer ist es ein<br />

packungen herhalten müssen? Der ironische Einhorntrend brachte 2016 eine Einhornschokolade in quietschiger Verpackung<br />

auf den Markt. Einhörner werden zwar in vielen<br />

der Erwachsenen ist aber nicht nur merkwürdig. Die Produkte<br />

widersprechen auch dem keuschen Wesen des Einhorns und Geschichten als bedrohte Tiere dargestellt, doch eigentlich<br />

seiner eigent lichen Bestimmung als Fluchtvehikel aus den müssen sie sich keine Sorgen machen: Für jedes Schulmädchen,<br />

das aus der Einhornphase heraus ist, wächst heute<br />

Niederungen des Alltags.<br />

Kinder werden ja gerade in dem Alter zu Pferde­ oder eben ein Kindergartenkind hinein.<br />

Einhornfans, in dem ihnen ihre kleinen Mitmenschen im Wie lange sich Einhörner auf diese Art schon durchschlagen,<br />

Kindergarten oder in der Grundschule die ersten sozialen ist erstaunlich: Das Einhorn dient den Menschen schon seit<br />

Muskeln abverlangen. Jungen wie Mädchen berichten von mindestens 2000 Jahren als Symbol. Es taucht bei den<br />

einer neuen Erfahrung: „Mama, die haben mich heute ausgeschlossen.“<br />

Jungs lernen früh, dass man zwischenmensch­<br />

genauso in den Mythen des alten Ägyptens. In vielen<br />

Römern auf, bei den Griechen, im Alten Testament, aber<br />

liche Spannungen auf dem Sportplatz wegbolzen kann. Und Erzählungen ist das Einhorn Männern gegenüber scheu und<br />

sie verbünden sich mit Dinosauriern, die im Gegensatz zum hat Vertrauen zu Frauen. Daher stammt wahrscheinlich auch<br />

Einhorn ja auch mal auf Konfrontation gehen. Mädchen hingegen<br />

müssen im Kreis diskutieren. Da kann man schon mal falls eher ein Mädchentier.<br />

die Vorstellung, dass das Einhorn selbst weiblich ist, jeden­<br />

Flucht reflexe entwickeln. Und wer könnte einen besser wegtragen<br />

als ein edler vierbeiniger Gefährte mit bunter Mähne den um Einhörner aus einer optischen Täuschung entstan­<br />

Einige Forscher gehen übrigens davon aus, dass all die Legen­<br />

und magischen Fähigkeiten, eine Art eventisiertes Superpony<br />

– das Fluchttier schlechthin?<br />

und Hörner haben. Egal, ob Nashorn, Auerochse oder Antiden<br />

sind: Fast alle Kulturen kennen Tiere, die Hufe, vier Beine<br />

Beim Einhornkult hat man es aber gleichzeitig mit einem lope – von der Seite betrachtet und gezeichnet, haben alle ein<br />

Frühstadium des Pferdemädchens zu tun. Psychologen sagen, Horn. Dass aus dem klobigen Nashorn und dem auf keinen<br />

Mädchen seien besonders Beziehungen wichtig und mit Pferden<br />

könne man sich ohne Worte verständigen. Pferde sind zermähne wurde, ist also ein Geschenk, das sich die Men­<br />

Fall zauberhaften Auerochsen ein graziles Einhorn mit Glit­<br />

stark, sie können einen tragen, und sie machen autark. Man schen mit ihrer grenzenlosen Fantasie selbst gemacht haben.<br />

kann ihnen viel zurückgeben: Sie füttern, kraulen, die Mähne<br />

bürsten. Sicher ist es kein Zufall, dass bei einem Stoffeindings<br />

auch für eine grenzenlose Fähigkeit zum Schwachsinn.<br />

Dass sie jetzt Synthetik­Einhornkot verkaufen, spricht allerhorn<br />

meistens die passende Bürste mitgeliefert wird, zum Vielleicht lässt sich daraus eine goldene Regel für die Gegenwart<br />

ableiten: Auerochsen für alle! Huftiere gehören der gan­<br />

Kämmen der Glitzermähne. Wenn echte Pferde also Mädchen<br />

helfen, selbstständig zu werden, ihren Radius zu erweizen<br />

Welt. Einhörner gehören den Kindern. —<br />

MEIN HEFT IST<br />

DEIN HEFT:<br />

SCHRITT 2<br />

UMSCHLAG ABZIEHEN<br />

FOTO: MELANIE GARANIN<br />

EMPFEHLUNG AUS DEM MITTELALTER<br />

Hildegard von Bingen riet, gegen Ausschlag<br />

eine Salbe aus zerkleinerter Einhornleber<br />

und Eigelb herzustellen.<br />

WACHABLÖSUNG?<br />

Alarm für das Einhorn:<br />

Als Marketingzugpferd<br />

wird es laut Experten<br />

wohl bald von der Meerjungfrau<br />

abgelöst.<br />

EIN HORN, VIEL KOHLE<br />

Die Kondomfirma Einhorn hat bereits einen<br />

Umsatz von mehr als einer Million Euro mit<br />

veganen Designkondomen gemacht. Die Finanzbranche<br />

bezeichnet Start-ups, die eine Milliarde<br />

US-Dollar oder mehr wert sind, als „Unicorns“.<br />

SCHRITT 3<br />

LOSLESEN<br />

TEXT<br />

CHRISTOPH GURK<br />

ILLUSTRATION<br />

KAMIL LACH<br />

Ein<br />

falscher<br />

Blick<br />

Handys am Steuer gelten als die<br />

häufigste Unfallursache auf<br />

deutschen Straßen. Das ließe sich<br />

ändern. Aber es passiert nichts.<br />

Warum?<br />

An jenem Sommermorgen vor drei Jahren tippt<br />

Melissa G. zwei Nachrichten in ihr Handy, während<br />

sie im silbernen Opel Astra ihrer Mutter<br />

von Renningen in Richtung Weil der Stadt<br />

fährt. Sie drückt auf „Senden“, Buchstaben<br />

und Zeichen zerlegen sich in Daten, Informationen<br />

jagen durchs Mobilfunknetz. Danach zwei dumpfe<br />

Schläge, als das Auto von Melissa G. in schneller Folge zwei<br />

Rennradfahrer rammt, die hintereinander am Fahrbahnrad<br />

unterwegs sind. Glas splittert, Metall verbiegt sich, Knochen<br />

brechen. Blaulicht, Sanitäter, „Oh Gott“, sagt Melissa G., als<br />

sie den Rettungshubschrauber sieht.<br />

Er bringt Claudius Gross, einen der beiden Radfahrer, ins<br />

Krankenhaus, noch auf dem Flug wird er sterben. Schädel -<br />

Hirntrauma mit Hirnödem, erklärt ein Arzt Karin Gross, der<br />

Frau des Unfallopfers. Prellung der Hirnrinde und Einblutungen.<br />

Beileidsbekundungen. Die Zeit steht still.<br />

Ein Smartphone kann heute im Bruchteil einer Sekunde eine<br />

SMS senden. Kurznachrichten haben die Kommunikation<br />

schneller und das Leben unkomplizierter gemacht. Aber<br />

eben auch gefährlicher. 2016 gab es knapp 2,6 Millionen Unfälle<br />

auf deutschen Straßen – fast drei Prozent mehr als im<br />

Jahr 2015, in dem es schon mehr Unfälle gegeben hatte als im<br />

Vorjahr. Schuld daran, da sind sich Verkehrsexperten einig,<br />

ist das Handy. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, nur Hochrechnungen<br />

und Schätzungen, etwa von Versicherungen. Sie<br />

listen Smartphones am Steuer als die Unfallursache Nummer<br />

eins, noch vor Alkohol und überhöhter Geschwindigkeit.<br />

Jedem Autofahrer ist heute klar, dass man sich und andere<br />

gefährdet, wenn man sich nach fünf Bier ans Steuer setzt,<br />

dass man nicht mit 70 durch die 30er-Zone rauschen sollte,<br />

dass Sicherheitsgurte Leben retten können. Dass ein schneller<br />

Blick aufs Display in einem Auffahrunfall enden kann,<br />

dass eine Kurznachricht ein Menschenleben auslöschen<br />

kann, dieser Gefahr scheint sich die Mehrzahl der Autofahrer<br />

nicht bewusst zu sein – oder aber sie verdrängt sie.<br />

Melissa G. wird im Prozess aussagen, dass sie die Unfallstrecke<br />

gut gekannt habe, sie täglich fuhr, so auch am 17. August<br />

2014, einem Sonntag in den Sommerferien. Die Sonne<br />

scheint, Melissa G. hat nur schnell einen Freund nach Hause<br />

gefahren, der bei ihr übernachtet hat. Vor der Abzweigung<br />

nach Weil der Stadt hält sie an einer Ampel. Als sie kurz nach<br />

7.30 Uhr auf ihr Handy schaut, zeigt das Display zwei ungelesene<br />

Whatsapp-Nachrichten an. Melissa G. beginnt, sie zu<br />

beantworten, die Ampel schaltet um. Sie drückt aufs Gas,<br />

biegt in die B 295 ab. Wie schnell sie an jenem Morgen gefahren<br />

ist, weiß sie später nicht mehr genau, 50 oder 60 Kilometer<br />

pro Stunde, schätzt sie. Etwa 70 Kilometer pro Stunde,<br />

sagen die Gutachter, nur so lasse sich erklären, dass die<br />

Fahrräder von Gross und seinem Trainingspartner mehr als<br />

25 Meter durch die Luft geschleudert wurden.<br />

Er sei auf dem Höhepunkt seiner Fitness, hatte Claudius<br />

Gross seiner Frau davor gesagt. 47 Jahre ist er alt, ein Sport-<br />

Physiotherapeut, der nach Dienstschluss für Triathlons trainiert,<br />

20 Stunden pro Woche. Im Sommerurlaub auf Korsika<br />

nimmt er an Rennen teil, seine Frau und die zwei Kinder<br />

stehen am Zieleinlauf. „Old Lady“ nennen Gross’ Freunde<br />

sein rotes Rennrad der Marke Specialized, zehn Jahre ist es<br />

alt, Gross will ein neues, zögert aber, die Raten für das Haus<br />

sind noch nicht abbezahlt.<br />

Schon um sechs Uhr sind er und sein Trainingspartner, ein<br />

Nachbar, an diesem Tag los, wegen der Hitze, wegen des<br />

Verkehrs. Von Bietigheim-Bissingen fahren sie über Landstraßen<br />

nach Renningen und weiter in Richtung Weil der<br />

Stadt, die Straße steigt leicht an, macht eine Rechtskurve,<br />

danach eine Linkskurve und führt dann mehrere Hundert<br />

Meter geradeaus. Claudius Gross fährt vorne, sein Nachbar<br />

hinter ihm, beide tragen auffällige Trainingskleidung. Neun<br />

Sekunden, wird ein Gutachter später berechnen, hätte<br />

Melissa G. Zeit gehabt, um die beiden zu sehen, doch die<br />

Polizei findet nicht einmal Bremsspuren.<br />

Mit der rechten Fahrzeugfront rammt Melissa G. erst den<br />

Trainingspartner, gleich danach erfasst der silberne Opel<br />

Astra das Fahrrad von Claudius Gross. Es verhakt sich im Kotflügel,<br />

wird abrupt beschleunigt, Gross prallt mit dem Kopf an<br />

die Dachkante des Autos und wird durch die Luft geschleudert.<br />

Sein Trainingspartner kommt im Straßengraben zu<br />

sich, entgeht knapp einer Querschnittslähmung. Er selbst<br />

bleibt bewusstlos liegen. Ein vorbeikommender Autofahrer<br />

wählt den Notruf, vor Ort gelingt es den Rettungskräften,<br />

Claudius Gross zu reanimieren, auf dem Weg ins Krankenhaus<br />

stirbt er, einer von 3377 Toten im Straßenverkehr 2014.<br />

Eines von rund 350 Todesopfern, die Smartphone-Bildschirme<br />

im Auto in Deutschland wahrscheinlich jedes Jahr fordern.<br />

Mobil zu sein ist wichtig, erreichbar zu sein auch, Autofahren<br />

dagegen ist oft langweilig: Die Versuchung, aufs Handy zu<br />

schauen, ist dementsprechend groß. Auf dem Smartphone -<br />

Display locken SMS von Freunden, E-Mails, Fotos, Videos,<br />

das pralle Leben. Kein Radioprogramm, keine Playlist und<br />

kein Hörspiel kann mithalten. Gründe, aufs Handy zu schauen,<br />

gibt es also genug. Gründe, dieses Verhalten zu unterbinden,<br />

auch. Aber was genau kann man dagegen tun?<br />

In einer Backsteinmehrzweckhalle an einer Gesamtschule in<br />

Köln-Nippes steht Caroline Bollig, vor ihr Jungs mit Metal -<br />

Shirts und Mädchen mit dickem Make-up, 120 Schüler im<br />

Alter von 16 bis 19 Jahren, keiner sagt ein Wort, totale Stille,<br />

so etwas muss man auch erst mal schaffen in einer Schulklasse,<br />

aber Bollig kennt das schon. „Ich bin immer der Hammer<br />

zum Schluss“, sagt sie.<br />

Bollig, kölsche Direktheit und drahtige blonde Haare, ist Teil<br />

von „Crash-Kurs“, einer Veranstaltung, die man Verkehrssicherheitsunterricht<br />

nennen könnte, würde das nicht so<br />

harmlos klingen. Mit „Crash-Kurs“ will die Polizei in Köln<br />

wenigstens die Fahrer von morgen für die Gefahren im<br />

Verkehr sensibilisieren, mithilfe von Feuerwehrmännern,<br />

Polizisten, Rettungssanitätern und Opfern, die von Unfällen<br />

erzählen, von verkeilten Kleinwagen, zerdrückten Gliedmaßen,<br />

zerstörten <strong>Familie</strong>n. In der Summe ist das kaum zu<br />

*MEIN HEFT<br />

IST DEIN HEFT<br />

MIT AUGEN GEKENNZEICHNETE THEMEN GIBT ES IM ELTERN- UND IM KINDER-<br />

HEFT, SIE VERWEISEN AUFEINANDER.<br />

Neugierig,<br />

wie es weiter<br />

geht?<br />

38 FAMILIE<br />

39<br />

Sichern Sie sich jetzt Ihre persönliche<br />

Februar-Ausgabe unter sz.de/meinheft

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!