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Weihnachtsgeschichte 2017

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Als die Sterndeuter wieder gegangen waren,<br />

erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn<br />

und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine<br />

Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich<br />

dir etwas anderes auftrage.<br />

(Matthäus 2, 13)<br />

Orazio Gentileschi, Pause auf der Flucht nach Ägypten, ca. 1620<br />

Gesegnete Weihnachten<br />

und ein glückliches Neues Jahr 2018!


Heimweg<br />

Mit weit aufgerissenen Augen lauschte Yara auf die Geräusche der Dunkelheit. In der<br />

Unterkunft wurde es auch nachts nie wirklich still. Durch das mit einem schäbigen Vorhang<br />

notdürftig bedeckte Fenster drang das Licht einer Straßenlaterne ins Zimmer. Das<br />

bedrohliche Zischen der Autoreifen auf dem feuchten Asphalt, Vaters schweres Atmen, das<br />

Wimmern ihres kleinen Bruders, den wieder Albträume plagten, machten Yara Angst. Sie<br />

wartete auf das Rattern und Sirren der S-Bahn, auf die freundliche Tonfolge beim Schließen<br />

der Türen, die sie von den nächtlichen Geräuschen am meisten mochte. Wenn das Fenster<br />

im Sommer offenstand, hörte sie bisweilen die Stimmen der Männer, die wie sie nicht<br />

schlafen konnten und draußen standen, rauchten, in ihrer Muttersprache redeten. Dann<br />

träumte sie sich fort nach Rakka, in das Bett ihrer Großmutter und schlief ein. Obwohl<br />

inmitten der Stadt, umgeben von Wohnhäusern, Geschäften, belebten Straßen, war die<br />

Flüchtlingsunterkunft ein grauer Fleck auf dem Stadtplan, ein Niemandsland der<br />

Aussätzigen, von Passanten gemieden, im Vorübergehen argwöhnisch, manchmal<br />

neugierig beäugt.<br />

Als die S-Bahn endlich in den Bahnhof einfuhr, stand Yara bereits auf der Straße.<br />

Es war kalt. Niemand lungerte dort herum, schwatzte, rauchte. Niemand sah oder<br />

bemerkte sie. Die Arme fest vor der Brust verschränkt machte sie sich auf den Weg. Sie<br />

wollte weg, wollte nach Hause, wollte die Spuren der Flucht und des Krieges verwischen,<br />

rückwärtsgehen, ungeschehen machen. Bevor der Vater ihr und den Brüdern auf endlosen<br />

Fahrten in dunklen und stinkenden Lastwagen von den Märchenländern Europas erzählt<br />

hatte, von sauberen Schulen, Spielzeug und Süßigkeiten, hatte sie all das nicht vermisst.<br />

Der kleine Garten und die Ziege ihrer Großmutter hatten ihr zum Spielen gereicht. Dort<br />

waren die Explosionen und Schüsse, die heulenden Sirenen und dröhnenden Flugzeuge,<br />

mit denen sie aufgewachsen war, Klänge einer fernen Wirklichkeit gewesen, ferner als jetzt,<br />

da sie tausende Kilometer weit weg durch diese unheilvoll stille, kalte Stadt lief, jetzt da sie<br />

blutende und schreiende Menschen gesehen hatte, die zertrümmerten Häuser, die<br />

hoffnungslosen Gesichter, da die Gewalt auch ihre Familie erreicht hatte.<br />

Die Lehrerin in der Schule war freundlich und half ihr, wo sie konnte, doch das<br />

Gefühl, eine Fremde zu sein, konnte sie ihr nicht nehmen, die Bilder des Krieges und der<br />

Zerstörung, die ihren kleinen Bruder jede Nacht heimsuchten, nicht löschen. Yara weinte,<br />

während sie auf der wie ausgestorben leeren Straße Richtung Bahnhof ging. Sie kannte den<br />

Weg, doch jetzt kam er ihr endlos vor und sie fürchtete sich. Zwischen den riesigen Häusern<br />

mit ihren großen dunklen Fenstern und verschlossenen Türen fühlte sie sich auf der<br />

breiten Straße winzig, ein Zwerg in der Welt schlafender Riesen.<br />

2


Auf der anderen Straßenseite wurde eine Gruppe lachender junger Menschen aus<br />

einer Bar auf die Straße gespült, sie spürten weder Kälte noch Furcht, kicherten, kreischten,<br />

Handykameras blitzten. Ein Pärchen löste sich aus dem Haufen und winkte ein Taxi heran,<br />

ein sorgloser Abschied bis zum nächsten Mal, Winken, die anderen zogen weiter,<br />

stadteinwärts. Ihnen gehörte die Straße. Yara war unsichtbar. Sie ließ sich zurückfallen und<br />

folgte der Gruppe in sicherem Abstand. Ihre Stimmen prallten von den Hauswänden ab wie<br />

die Rufe und Befehle der Männer, die sie bei ihrer Flucht aus Rakka gehört hatte. Das schrille<br />

Lachen der Frauen klang wie Weinen.<br />

Auf Höhe des Parks gingen viele Flüchtlinge auf den Strich, hatte Yara die älteren<br />

Jungs in der Unterkunft sagen gehört, es hatte unheimlich geklungen. Deshalb wechselte<br />

sie die Straßenseite und schloss zu der Gruppe auf. In ihrem Lärmschatten fühlte sie sich<br />

sicherer. Durch den Park wollte sie auf keinen Fall gehen, auch wenn es der kürzeste Weg<br />

war, und als die Gruppe vor ihr in einen der breiten Parkwege einbog, blieb sie ratlos<br />

stehen. Hier waren weder Menschen noch Häuser, nur einige Autos rasten auf der Straße<br />

direkt auf sie zu. Yara rannte den lachenden Stimmen hinterher, die sich im Park rasch<br />

verloren. Ihre Schritte auf dem Sandweg kamen ihr gefährlich laut vor, immer wieder sah<br />

sie sich um. Vor einer Kneipe blieb die Gruppe stehen, hier waren noch andere, rauchten.<br />

Als Yara im Schatten vorbeihuschte, stank es nach Alkohol und Erbrochenem. Die Mädchen<br />

in der Schule benutzten ihre Handys heimlich auf der Toilette. Eines der Mädchen hatte es<br />

ihr gezeigt. Sie hatte Yara sogar nach Hause eingeladen, sie hatten mit Puppen gespielt, ihre<br />

Eltern hatten gesagt, wie schrecklich sie den Krieg fänden und dass es ihnen sehr leidtue,<br />

was Yara erlebt hat. Es sei doch toll, dass sie nun in Deutschland leben könne und neue<br />

Freunde finde. Auf dem Pausenhof blieb sie trotzdem meistens allein.<br />

Auch die Lehrerin war gegen den Krieg. Niemand hat das Recht, andere Menschen<br />

zu töten, sagte sie. Die Kinder hatten etwas über Alexander den Großen gelernt, er hatte<br />

vor langer Zeit ein Land erobert, das er Mesopotamien nannte, Zweistromland, zwischen<br />

den Flüssen Euphrat und Tigris, ein schönes Land mit einer alten Kultur, das sei dort<br />

gewesen, wo Yara herkam, und sie sollte erzählen, wie es aussieht. Doch wie sollte sie<br />

beschreiben, welche Farbe der Fluss hat, wie die Wüste aussieht, wie sie duftet, wenn der<br />

Frühling kommt? Yara hatte vom Essen erzählt, von Früchten und Gemüse, von<br />

Großmutters Shish Barak, den sie mit Ziegenjoghurt und Hammelfleisch machte. Yara<br />

vermisste Großmutters Essen, hier gingen sie meist zu Alis Dönerladen.<br />

Im Schatten der Pinie hinter Großmutters Garten hatte sie manchmal von einem<br />

anderen Leben geträumt, von einem großen, hellen Haus, mit einer riesigen Schaukel im<br />

Garten, wo ihre Mutter in bunten Kleidern den ganzen Tag lachte und Späße machte,<br />

während sie den Kindern das Essen bereitete und mit Großmutter plauderte. Wenn ihr<br />

3


Vater abends nach Hause kam, hob er Yara in die Luft, so hoch, dass Mama rief, pass auf!<br />

Es gab kein Geflüster vor dem Fernseher, das die Kinder nicht hören durften, nie musste<br />

Mama den schwarzen Niqab tragen, aus dem nur ihre dunklen, traurigen Augen<br />

hervorschauten.<br />

Damaskus, 2010, vor der Umayyad Moschee und der Ruine des Jupiter Tempels<br />

Als die Lichter des Bahnhofs zu sehen waren, rannte sie fast, so erleichtert war sie,<br />

ihn zu sehen. Sie zitterte jetzt, ob vor Kälte oder Angst, wusste sie nicht. Neben ihr tauchte<br />

plötzlich ein Mann mit einem Hund auf, so nah, dass sie seinen Geruch wahrnahm, einen<br />

Geruch wie von dem Mann, der sie auf den Lastwagen gehoben und dabei unter ihr Kleid<br />

gefasst hatte. Sie erstarrte – doch weder Mann noch Hund nahmen Notiz von ihr. Kaum<br />

waren sie hinter der nächsten Straßenecke verschwunden, stürzte Yara auf den Bahnhof<br />

zu.<br />

Vor dem Eingang standen zwei Polizisten und rauchten, im Inneren der Halle war<br />

bis auf einen Mann vom Reinigungspersonal, der lustlos seinen Wagen über die Fliesen<br />

schob, niemand zu sehen. Yara betrachtete die Abfahrtspläne, doch die Züge Richtung<br />

Süden fuhren nur bis München, Stuttgart, Prag. Sie hatte sich die Karte von Europa, die in<br />

ihrem Klassenzimmer hing, schon oft angesehen und wusste genau, wo die sogenannte<br />

Balkanroute verlief. Von Prag müsste sie weiter nach Wien und Budapest, dann Belgrad,<br />

Sofia, Istanbul. Sie wusste, inzwischen gab es Zäune, die Balkanroute, so hatte es in der<br />

4


Zeitung gestanden, war geschlossen. Überhaupt wusste sie jetzt viel mehr über die vielen<br />

Menschen, die ihre Heimat verließen, weil sie hofften, an einem anderen Ort ein würdigeres<br />

Leben ohne ständige Angst führen zu können. Was sie fanden, war oft ein zermürbender<br />

Kampf mit den Ämtern um ihren Status und ihre Rechte, in dem sie hoffnungslos<br />

unterlegen waren, ein endloses Warten in Hallen, auf Straßen, in provisorischen<br />

Unterkünften und kein Entfliehen vor der sinnlosen Leere ihrer Untätigkeit. Seit Yaras Vater<br />

im Flüchtlingsheim auf einen Neubeginn seines Lebens wartete, war er reizbar und<br />

schlecht gelaunt, er wirkte gebrochener als an jenem Abend im Juni, als der Anruf kam, dass<br />

Yaras Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Die sonst<br />

verlockenden Schaufenster der Geschäfte im Bahnhof waren dunkel und verlassen. Nichts<br />

deutete auf das sorglos bunte Treiben der Reisenden hin, auf das zielstrebige Eilen der<br />

Pendler zwischen dem Staunen und Streunen neugieriger Touristen, das Yara kannte.<br />

Auf der Treppe zu den S-Bahn-Gleisen kauerte ein Mädchen in Yaras Alter, blonde<br />

Haare, zerzaust, verweint, sie starrt auf ihr Telefon. Als sie Yara bemerkt, erschrickt sie,<br />

dann lächelt sie: Komm her. Yara setzt sich neben sie, dankbar, erleichtert, erschöpft von<br />

ihrer einsamen Verzweiflung. Von den riesigen Glasfassaden des Bahnhofs schiebt sich<br />

zögernd das Morgengrauen herein. Wie heißt du, fragt das Mädchen, was machst du hier?<br />

Yara ist es auf einmal peinlich, durch die Nacht gelaufen zu sein, um nach Rakka zu fliehen,<br />

wo sie doch Monate gebraucht haben, um von dort wegzukommen, von einer Stadt ohne<br />

Leben, erstarrt in Angst. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Großmutter, nach ihrem kleinen<br />

Garten und der Ziege, Amal, auf die ich aufpassen sollte. Yara flüstert, sie spürt das feste<br />

Fell der Ziege, die raue Zunge kitzelt auf ihrer Hand. Du hast es gut, sagt das Mädchen, ich<br />

habe keine Großmutter, zu der ich gehen könnte. Wenn mein Vater sauer ist, dann trinkt<br />

er Schnaps und verprügelt meine Mutter. Sie weint und schreit, aber sie wehrt sich nicht.<br />

Ich kann da nicht zurück. Kann ich nicht mit dir kommen? Das Mädchen weint und Yara<br />

greift nach ihrer Hand. Das wäre schön. Wir könnten Freundinnen sein.<br />

Doch dann erzählt sie, erzählt dem fremden Mädchen alles, Dinge, über die sie mit<br />

niemandem bisher gesprochen hat, nicht mit dem Vater, nicht mit den Brüdern. Auch der<br />

Lehrerin konnte sie es nicht erzählen, obwohl die sie gefragt hat, sie sogar mit nach Hause<br />

genommen hat, ihr in der ordentlichen kleinen Wohnung Schokolade und Tee gegeben hat.<br />

Meine Lehrerin ist sehr nett, sagt Yara, doch ich kann es ihr nicht sagen. Es ist, als würde ich<br />

etwas kaputtmachen, ich will ihr nicht wehtun.<br />

Seit wir zu Großmutter gezogen waren, durfte ich in ihrem Bett schlafen. Es gab nur<br />

zwei Zimmer. Im Wohnzimmer schliefen meine Brüder und meine Eltern, in dem anderen<br />

nur Großmutter und ich. In meinem Haus gibt es keinen Krieg, hat sie gesagt und meine<br />

Brüder weggeschickt, wenn sie Schießen gespielt haben. Die schwarzen Krieger sind die<br />

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gefährlichsten. Wenn du nicht tust, was sie wollen, schießen sie dich tot oder nehmen dich<br />

mit. Sie können alles mit dir machen, dich fesseln oder schlagen. Deshalb ist es besser, sie<br />

sehen dich gar nicht. Meine Mutter hat nicht mehr gelacht, sie war immer traurig, aber<br />

Großmutter hat es manchmal noch geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Jetzt ist sie tot.<br />

Sie wurde von einer Bombe getroffen, als sie gerade in einem Internetcafé war. Mein Vater<br />

hat noch Glück gehabt, denn eigentlich waren sie zusammen dort, er wollte nur<br />

zwischendurch etwas zu essen holen. Dann ist er gar nicht mehr zurückgekommen, weil auf<br />

der Straße überall geschossen wurde. Er hat es Großmutter erzählt, deshalb weiß ich es.<br />

Wir sind dann weggegangen. Wir haben keine Zukunft, hat mein Vater gesagt, aber<br />

Großmutter wollte nicht. Es war das erste Mal, dass ich Großmutter weinen sah. Wir<br />

mussten mitten in der Nacht in eine völlig falsche Richtung laufen, die kurdischen Soldaten<br />

haben uns schließlich geholfen und uns über die Grenze gebracht. Wir sollten uns die<br />

Augen zuhalten, mein kleiner Bruder hat nicht darauf gehört. Ich glaube, er hat etwas sehr<br />

Schlimmes gesehen, denn er weint jede Nacht im Schlaf, will aber nicht sagen, was es war.<br />

Wir hoffen, es verschwindet irgendwann von alleine. Unterwegs in den Lagern war es eng<br />

und dreckig, aber ich mochte es trotzdem. Es gab sehr viele Kinder, wir durften den ganzen<br />

Tag spielen. Die Erwachsenen haben immer geschimpft, alle wollten weg. Am schlimmsten<br />

war es auf den Lastwagen. Einmal waren wir über vierzig Stunden unterwegs. Als Toilette<br />

gab es nur einen Eimer, der war so eklig, dass mein Bruder ihn nicht benutzen wollte. Er hat<br />

sich zweimal in die Hosen gemacht. So wie das gestunken hat, war er nicht der einzige.<br />

Das Mädchen lächelt: Sieh, jetzt ist es schon hell. Die Morgensonne flutet die Halle,<br />

die sich unbemerkt belebt hat, die ersten S-Bahnen spucken Leute mit müden Gesichtern<br />

auf dem Weg zur Arbeit aus. Yara ist jetzt hellwach. Sie will, dass das Mädchen bei ihr bleibt,<br />

ihr weiter zuhört, wenn sie die Reise ein zweites Mal macht, ein zweites Mal in der großen<br />

Stadt ankommt, ein Flüchtling am Ziel seiner Flucht. Aber ist man dann noch ein Flüchtling?<br />

Ist man nicht vielmehr ein Heimatloser, nicht mehr auf der Flucht und doch nicht<br />

angekommen? Wir gehen hier weg, sagt das Mädchen, und Yara folgt ihr. Sie hat jetzt ein<br />

schlechtes Gewissen, weil sich ihr Vater vielleicht längst Sorgen macht. Die Lehrerin wird<br />

ihn anrufen, wenn Yara nicht in die Schule kommt. Eine Stunde bleibt noch bis zum<br />

Schulbeginn. Möchtest du mit mir nach Hause kommen, fragt Yara, und es fühlt sich wie<br />

eine ganz normale Frage an, als wäre das kleine Zimmer, das sie in der<br />

Flüchtlingsunterkunft bewohnen, wirklich ihr Zuhause. Gern, sagt das Mädchen, und schon<br />

gehen sie zusammen los, den Weg, den Yara gekommen ist.<br />

Erste Jogger laufen durch den Park, Radfahrer kommen ihnen entgegen. Sie<br />

fahren zügig, eine Frau im roten Mantel überholt sie. Einen winzigen Moment hält Yara sie<br />

von hinten für ihre Mutter. Das Licht hat die Nachtgeräusche verschluckt, verstummt sind<br />

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das grelle Lachen, das dunkle Flüstern der Schatten. An der Ampel warten Autos, ein kleiner<br />

Junge schaut verschlafen aus seinem Fahrradanhänger, fest eingewickelt in eine warme<br />

Decke. Auf der breiten Straße lässt das Sonnenlicht die Schatten der Mädchen lang und<br />

dünn vorauseilen, als liefen sie den ersten trockenen Blättern hinterher, die der<br />

einsetzende Herbst über den Asphalt jagt. Die Häuser rechts und links säumen wie<br />

ehrwürdige Wächter die schnurgerade Allee. Aus einer Bäckerei duftet es verführerisch<br />

und Yara hat plötzlich Hunger. Verlegen schaut sie das blonde Mädchen an, das bereits auf<br />

den Laden zusteuert und ruft: Ich habe zwei Euro, was möchtest du? Yara wählt eine<br />

Streuselschnecke für achtzig Cent und beißt glücklich in die dicke Schicht aus Zuckerguss.<br />

Mein Vater sagt, ihr solltet lieber bleiben, wo ihr herkommt, sagt das Mädchen.<br />

Hier würdet ihr nur dem Staat auf der Tasche liegen und Arbeitsplätze wegnehmen. Es<br />

klingt, als teile sie die Meinung ihres Vaters nicht. Yara weiß nicht genau, was „auf der<br />

Tasche liegen“ bedeutet, sie möchte es trotzdem nicht, es hört sich verkehrt an. Ihr Vater<br />

wäre tatsächlich glücklich, wenn er arbeiten dürfte, doch jemand anderem die Arbeit<br />

wegzunehmen schafft er bestimmt nicht. Er spricht ja kaum Deutsch, Yara kann es schon<br />

viel besser. Ein Junge in ihrer Klasse hat ganz am Anfang einmal etwas Ähnliches gesagt.<br />

Damals hat Yara nichts verstanden, nur die Aggression gespürt. Ihre Lehrerin war sehr<br />

wütend geworden und hatte lange und ernst mit der Klasse gesprochen. Yara hatte sich<br />

schrecklich geschämt. Später hat sie der Junge auf dem Flur absichtlich gegen die Wand<br />

geschubst, aber nie wieder etwas gesagt. Inzwischen kommt so etwas eigentlich nicht mehr<br />

vor. Sie ist nicht gerade besonders beliebt bei den anderen Kindern, doch je besser sie<br />

deren Sprache spricht und versteht, desto mehr fühlt sie sich akzeptiert. Im Sportunterricht<br />

wird sie manchmal sogar von den Jungen gewählt, weil sie die schnellste Läuferin ist. Du bist<br />

wohl sehr sportlich, lächelt das Mädchen, um ihren Mund überall Krümel aus Zucker und<br />

Teig. Yara lacht und wischt ihr mit der Hand die Krümel aus dem Gesicht: Wir sind da.<br />

Als sie das Zimmer betreten, steht ihr Vater gerade am Fenster, das Telefon am<br />

Ohr. Er trägt Turnschuhe und eine warme Jacke, sein Haar ist zerzaust, die Augen leicht<br />

gerötet. Hallo. Hast du eine Freundin mitgebracht? Wie heißt du? Er fragt freundlich, ohne<br />

wütenden Unterton, eher ein wenig erleichtert. Ich heiße Jenny, wir haben uns gerade erst<br />

kennengelernt, antwortet das Mädchen. Yaras Vater bemerkt das Telefon, das er immer<br />

noch ans Ohr hält. Ach, das war die Schule. Ich rufe an und sage, dass du krank bist, Yara.<br />

Wollt ihr einen Tee und euch dann noch einmal ins Bett legen? Yara fühlt plötzlich eine<br />

bleierne Müdigkeit, und auch Jenny – endlich weiß sie den Namen ihrer Freundin! – nickt:<br />

Ja, gern. Danke. Sie ziehen die Jacken und Hosen aus und kuscheln sich beide in Yaras Bett.<br />

Fast so schön wie bei Großmutter, flüstert Yara, dann ist sie eingeschlafen.<br />

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8<br />

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