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gefährlichsten. Wenn du nicht tust, was sie wollen, schießen sie dich tot oder nehmen dich<br />
mit. Sie können alles mit dir machen, dich fesseln oder schlagen. Deshalb ist es besser, sie<br />
sehen dich gar nicht. Meine Mutter hat nicht mehr gelacht, sie war immer traurig, aber<br />
Großmutter hat es manchmal noch geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Jetzt ist sie tot.<br />
Sie wurde von einer Bombe getroffen, als sie gerade in einem Internetcafé war. Mein Vater<br />
hat noch Glück gehabt, denn eigentlich waren sie zusammen dort, er wollte nur<br />
zwischendurch etwas zu essen holen. Dann ist er gar nicht mehr zurückgekommen, weil auf<br />
der Straße überall geschossen wurde. Er hat es Großmutter erzählt, deshalb weiß ich es.<br />
Wir sind dann weggegangen. Wir haben keine Zukunft, hat mein Vater gesagt, aber<br />
Großmutter wollte nicht. Es war das erste Mal, dass ich Großmutter weinen sah. Wir<br />
mussten mitten in der Nacht in eine völlig falsche Richtung laufen, die kurdischen Soldaten<br />
haben uns schließlich geholfen und uns über die Grenze gebracht. Wir sollten uns die<br />
Augen zuhalten, mein kleiner Bruder hat nicht darauf gehört. Ich glaube, er hat etwas sehr<br />
Schlimmes gesehen, denn er weint jede Nacht im Schlaf, will aber nicht sagen, was es war.<br />
Wir hoffen, es verschwindet irgendwann von alleine. Unterwegs in den Lagern war es eng<br />
und dreckig, aber ich mochte es trotzdem. Es gab sehr viele Kinder, wir durften den ganzen<br />
Tag spielen. Die Erwachsenen haben immer geschimpft, alle wollten weg. Am schlimmsten<br />
war es auf den Lastwagen. Einmal waren wir über vierzig Stunden unterwegs. Als Toilette<br />
gab es nur einen Eimer, der war so eklig, dass mein Bruder ihn nicht benutzen wollte. Er hat<br />
sich zweimal in die Hosen gemacht. So wie das gestunken hat, war er nicht der einzige.<br />
Das Mädchen lächelt: Sieh, jetzt ist es schon hell. Die Morgensonne flutet die Halle,<br />
die sich unbemerkt belebt hat, die ersten S-Bahnen spucken Leute mit müden Gesichtern<br />
auf dem Weg zur Arbeit aus. Yara ist jetzt hellwach. Sie will, dass das Mädchen bei ihr bleibt,<br />
ihr weiter zuhört, wenn sie die Reise ein zweites Mal macht, ein zweites Mal in der großen<br />
Stadt ankommt, ein Flüchtling am Ziel seiner Flucht. Aber ist man dann noch ein Flüchtling?<br />
Ist man nicht vielmehr ein Heimatloser, nicht mehr auf der Flucht und doch nicht<br />
angekommen? Wir gehen hier weg, sagt das Mädchen, und Yara folgt ihr. Sie hat jetzt ein<br />
schlechtes Gewissen, weil sich ihr Vater vielleicht längst Sorgen macht. Die Lehrerin wird<br />
ihn anrufen, wenn Yara nicht in die Schule kommt. Eine Stunde bleibt noch bis zum<br />
Schulbeginn. Möchtest du mit mir nach Hause kommen, fragt Yara, und es fühlt sich wie<br />
eine ganz normale Frage an, als wäre das kleine Zimmer, das sie in der<br />
Flüchtlingsunterkunft bewohnen, wirklich ihr Zuhause. Gern, sagt das Mädchen, und schon<br />
gehen sie zusammen los, den Weg, den Yara gekommen ist.<br />
Erste Jogger laufen durch den Park, Radfahrer kommen ihnen entgegen. Sie<br />
fahren zügig, eine Frau im roten Mantel überholt sie. Einen winzigen Moment hält Yara sie<br />
von hinten für ihre Mutter. Das Licht hat die Nachtgeräusche verschluckt, verstummt sind<br />
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