22.12.2017 Aufrufe

Weihnachtsgeschichte 2017

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

gefährlichsten. Wenn du nicht tust, was sie wollen, schießen sie dich tot oder nehmen dich<br />

mit. Sie können alles mit dir machen, dich fesseln oder schlagen. Deshalb ist es besser, sie<br />

sehen dich gar nicht. Meine Mutter hat nicht mehr gelacht, sie war immer traurig, aber<br />

Großmutter hat es manchmal noch geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Jetzt ist sie tot.<br />

Sie wurde von einer Bombe getroffen, als sie gerade in einem Internetcafé war. Mein Vater<br />

hat noch Glück gehabt, denn eigentlich waren sie zusammen dort, er wollte nur<br />

zwischendurch etwas zu essen holen. Dann ist er gar nicht mehr zurückgekommen, weil auf<br />

der Straße überall geschossen wurde. Er hat es Großmutter erzählt, deshalb weiß ich es.<br />

Wir sind dann weggegangen. Wir haben keine Zukunft, hat mein Vater gesagt, aber<br />

Großmutter wollte nicht. Es war das erste Mal, dass ich Großmutter weinen sah. Wir<br />

mussten mitten in der Nacht in eine völlig falsche Richtung laufen, die kurdischen Soldaten<br />

haben uns schließlich geholfen und uns über die Grenze gebracht. Wir sollten uns die<br />

Augen zuhalten, mein kleiner Bruder hat nicht darauf gehört. Ich glaube, er hat etwas sehr<br />

Schlimmes gesehen, denn er weint jede Nacht im Schlaf, will aber nicht sagen, was es war.<br />

Wir hoffen, es verschwindet irgendwann von alleine. Unterwegs in den Lagern war es eng<br />

und dreckig, aber ich mochte es trotzdem. Es gab sehr viele Kinder, wir durften den ganzen<br />

Tag spielen. Die Erwachsenen haben immer geschimpft, alle wollten weg. Am schlimmsten<br />

war es auf den Lastwagen. Einmal waren wir über vierzig Stunden unterwegs. Als Toilette<br />

gab es nur einen Eimer, der war so eklig, dass mein Bruder ihn nicht benutzen wollte. Er hat<br />

sich zweimal in die Hosen gemacht. So wie das gestunken hat, war er nicht der einzige.<br />

Das Mädchen lächelt: Sieh, jetzt ist es schon hell. Die Morgensonne flutet die Halle,<br />

die sich unbemerkt belebt hat, die ersten S-Bahnen spucken Leute mit müden Gesichtern<br />

auf dem Weg zur Arbeit aus. Yara ist jetzt hellwach. Sie will, dass das Mädchen bei ihr bleibt,<br />

ihr weiter zuhört, wenn sie die Reise ein zweites Mal macht, ein zweites Mal in der großen<br />

Stadt ankommt, ein Flüchtling am Ziel seiner Flucht. Aber ist man dann noch ein Flüchtling?<br />

Ist man nicht vielmehr ein Heimatloser, nicht mehr auf der Flucht und doch nicht<br />

angekommen? Wir gehen hier weg, sagt das Mädchen, und Yara folgt ihr. Sie hat jetzt ein<br />

schlechtes Gewissen, weil sich ihr Vater vielleicht längst Sorgen macht. Die Lehrerin wird<br />

ihn anrufen, wenn Yara nicht in die Schule kommt. Eine Stunde bleibt noch bis zum<br />

Schulbeginn. Möchtest du mit mir nach Hause kommen, fragt Yara, und es fühlt sich wie<br />

eine ganz normale Frage an, als wäre das kleine Zimmer, das sie in der<br />

Flüchtlingsunterkunft bewohnen, wirklich ihr Zuhause. Gern, sagt das Mädchen, und schon<br />

gehen sie zusammen los, den Weg, den Yara gekommen ist.<br />

Erste Jogger laufen durch den Park, Radfahrer kommen ihnen entgegen. Sie<br />

fahren zügig, eine Frau im roten Mantel überholt sie. Einen winzigen Moment hält Yara sie<br />

von hinten für ihre Mutter. Das Licht hat die Nachtgeräusche verschluckt, verstummt sind<br />

6

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!