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Weihnachtsgeschichte 2017

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Zeitung gestanden, war geschlossen. Überhaupt wusste sie jetzt viel mehr über die vielen<br />

Menschen, die ihre Heimat verließen, weil sie hofften, an einem anderen Ort ein würdigeres<br />

Leben ohne ständige Angst führen zu können. Was sie fanden, war oft ein zermürbender<br />

Kampf mit den Ämtern um ihren Status und ihre Rechte, in dem sie hoffnungslos<br />

unterlegen waren, ein endloses Warten in Hallen, auf Straßen, in provisorischen<br />

Unterkünften und kein Entfliehen vor der sinnlosen Leere ihrer Untätigkeit. Seit Yaras Vater<br />

im Flüchtlingsheim auf einen Neubeginn seines Lebens wartete, war er reizbar und<br />

schlecht gelaunt, er wirkte gebrochener als an jenem Abend im Juni, als der Anruf kam, dass<br />

Yaras Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Die sonst<br />

verlockenden Schaufenster der Geschäfte im Bahnhof waren dunkel und verlassen. Nichts<br />

deutete auf das sorglos bunte Treiben der Reisenden hin, auf das zielstrebige Eilen der<br />

Pendler zwischen dem Staunen und Streunen neugieriger Touristen, das Yara kannte.<br />

Auf der Treppe zu den S-Bahn-Gleisen kauerte ein Mädchen in Yaras Alter, blonde<br />

Haare, zerzaust, verweint, sie starrt auf ihr Telefon. Als sie Yara bemerkt, erschrickt sie,<br />

dann lächelt sie: Komm her. Yara setzt sich neben sie, dankbar, erleichtert, erschöpft von<br />

ihrer einsamen Verzweiflung. Von den riesigen Glasfassaden des Bahnhofs schiebt sich<br />

zögernd das Morgengrauen herein. Wie heißt du, fragt das Mädchen, was machst du hier?<br />

Yara ist es auf einmal peinlich, durch die Nacht gelaufen zu sein, um nach Rakka zu fliehen,<br />

wo sie doch Monate gebraucht haben, um von dort wegzukommen, von einer Stadt ohne<br />

Leben, erstarrt in Angst. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Großmutter, nach ihrem kleinen<br />

Garten und der Ziege, Amal, auf die ich aufpassen sollte. Yara flüstert, sie spürt das feste<br />

Fell der Ziege, die raue Zunge kitzelt auf ihrer Hand. Du hast es gut, sagt das Mädchen, ich<br />

habe keine Großmutter, zu der ich gehen könnte. Wenn mein Vater sauer ist, dann trinkt<br />

er Schnaps und verprügelt meine Mutter. Sie weint und schreit, aber sie wehrt sich nicht.<br />

Ich kann da nicht zurück. Kann ich nicht mit dir kommen? Das Mädchen weint und Yara<br />

greift nach ihrer Hand. Das wäre schön. Wir könnten Freundinnen sein.<br />

Doch dann erzählt sie, erzählt dem fremden Mädchen alles, Dinge, über die sie mit<br />

niemandem bisher gesprochen hat, nicht mit dem Vater, nicht mit den Brüdern. Auch der<br />

Lehrerin konnte sie es nicht erzählen, obwohl die sie gefragt hat, sie sogar mit nach Hause<br />

genommen hat, ihr in der ordentlichen kleinen Wohnung Schokolade und Tee gegeben hat.<br />

Meine Lehrerin ist sehr nett, sagt Yara, doch ich kann es ihr nicht sagen. Es ist, als würde ich<br />

etwas kaputtmachen, ich will ihr nicht wehtun.<br />

Seit wir zu Großmutter gezogen waren, durfte ich in ihrem Bett schlafen. Es gab nur<br />

zwei Zimmer. Im Wohnzimmer schliefen meine Brüder und meine Eltern, in dem anderen<br />

nur Großmutter und ich. In meinem Haus gibt es keinen Krieg, hat sie gesagt und meine<br />

Brüder weggeschickt, wenn sie Schießen gespielt haben. Die schwarzen Krieger sind die<br />

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