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Als die Sterndeuter wieder gegangen waren,<br />
erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn<br />
und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine<br />
Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich<br />
dir etwas anderes auftrage.<br />
(Matthäus 2, 13)<br />
Orazio Gentileschi, Pause auf der Flucht nach Ägypten, ca. 1620<br />
Gesegnete Weihnachten<br />
und ein glückliches Neues Jahr 2018!
Heimweg<br />
Mit weit aufgerissenen Augen lauschte Yara auf die Geräusche der Dunkelheit. In der<br />
Unterkunft wurde es auch nachts nie wirklich still. Durch das mit einem schäbigen Vorhang<br />
notdürftig bedeckte Fenster drang das Licht einer Straßenlaterne ins Zimmer. Das<br />
bedrohliche Zischen der Autoreifen auf dem feuchten Asphalt, Vaters schweres Atmen, das<br />
Wimmern ihres kleinen Bruders, den wieder Albträume plagten, machten Yara Angst. Sie<br />
wartete auf das Rattern und Sirren der S-Bahn, auf die freundliche Tonfolge beim Schließen<br />
der Türen, die sie von den nächtlichen Geräuschen am meisten mochte. Wenn das Fenster<br />
im Sommer offenstand, hörte sie bisweilen die Stimmen der Männer, die wie sie nicht<br />
schlafen konnten und draußen standen, rauchten, in ihrer Muttersprache redeten. Dann<br />
träumte sie sich fort nach Rakka, in das Bett ihrer Großmutter und schlief ein. Obwohl<br />
inmitten der Stadt, umgeben von Wohnhäusern, Geschäften, belebten Straßen, war die<br />
Flüchtlingsunterkunft ein grauer Fleck auf dem Stadtplan, ein Niemandsland der<br />
Aussätzigen, von Passanten gemieden, im Vorübergehen argwöhnisch, manchmal<br />
neugierig beäugt.<br />
Als die S-Bahn endlich in den Bahnhof einfuhr, stand Yara bereits auf der Straße.<br />
Es war kalt. Niemand lungerte dort herum, schwatzte, rauchte. Niemand sah oder<br />
bemerkte sie. Die Arme fest vor der Brust verschränkt machte sie sich auf den Weg. Sie<br />
wollte weg, wollte nach Hause, wollte die Spuren der Flucht und des Krieges verwischen,<br />
rückwärtsgehen, ungeschehen machen. Bevor der Vater ihr und den Brüdern auf endlosen<br />
Fahrten in dunklen und stinkenden Lastwagen von den Märchenländern Europas erzählt<br />
hatte, von sauberen Schulen, Spielzeug und Süßigkeiten, hatte sie all das nicht vermisst.<br />
Der kleine Garten und die Ziege ihrer Großmutter hatten ihr zum Spielen gereicht. Dort<br />
waren die Explosionen und Schüsse, die heulenden Sirenen und dröhnenden Flugzeuge,<br />
mit denen sie aufgewachsen war, Klänge einer fernen Wirklichkeit gewesen, ferner als jetzt,<br />
da sie tausende Kilometer weit weg durch diese unheilvoll stille, kalte Stadt lief, jetzt da sie<br />
blutende und schreiende Menschen gesehen hatte, die zertrümmerten Häuser, die<br />
hoffnungslosen Gesichter, da die Gewalt auch ihre Familie erreicht hatte.<br />
Die Lehrerin in der Schule war freundlich und half ihr, wo sie konnte, doch das<br />
Gefühl, eine Fremde zu sein, konnte sie ihr nicht nehmen, die Bilder des Krieges und der<br />
Zerstörung, die ihren kleinen Bruder jede Nacht heimsuchten, nicht löschen. Yara weinte,<br />
während sie auf der wie ausgestorben leeren Straße Richtung Bahnhof ging. Sie kannte den<br />
Weg, doch jetzt kam er ihr endlos vor und sie fürchtete sich. Zwischen den riesigen Häusern<br />
mit ihren großen dunklen Fenstern und verschlossenen Türen fühlte sie sich auf der<br />
breiten Straße winzig, ein Zwerg in der Welt schlafender Riesen.<br />
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Auf der anderen Straßenseite wurde eine Gruppe lachender junger Menschen aus<br />
einer Bar auf die Straße gespült, sie spürten weder Kälte noch Furcht, kicherten, kreischten,<br />
Handykameras blitzten. Ein Pärchen löste sich aus dem Haufen und winkte ein Taxi heran,<br />
ein sorgloser Abschied bis zum nächsten Mal, Winken, die anderen zogen weiter,<br />
stadteinwärts. Ihnen gehörte die Straße. Yara war unsichtbar. Sie ließ sich zurückfallen und<br />
folgte der Gruppe in sicherem Abstand. Ihre Stimmen prallten von den Hauswänden ab wie<br />
die Rufe und Befehle der Männer, die sie bei ihrer Flucht aus Rakka gehört hatte. Das schrille<br />
Lachen der Frauen klang wie Weinen.<br />
Auf Höhe des Parks gingen viele Flüchtlinge auf den Strich, hatte Yara die älteren<br />
Jungs in der Unterkunft sagen gehört, es hatte unheimlich geklungen. Deshalb wechselte<br />
sie die Straßenseite und schloss zu der Gruppe auf. In ihrem Lärmschatten fühlte sie sich<br />
sicherer. Durch den Park wollte sie auf keinen Fall gehen, auch wenn es der kürzeste Weg<br />
war, und als die Gruppe vor ihr in einen der breiten Parkwege einbog, blieb sie ratlos<br />
stehen. Hier waren weder Menschen noch Häuser, nur einige Autos rasten auf der Straße<br />
direkt auf sie zu. Yara rannte den lachenden Stimmen hinterher, die sich im Park rasch<br />
verloren. Ihre Schritte auf dem Sandweg kamen ihr gefährlich laut vor, immer wieder sah<br />
sie sich um. Vor einer Kneipe blieb die Gruppe stehen, hier waren noch andere, rauchten.<br />
Als Yara im Schatten vorbeihuschte, stank es nach Alkohol und Erbrochenem. Die Mädchen<br />
in der Schule benutzten ihre Handys heimlich auf der Toilette. Eines der Mädchen hatte es<br />
ihr gezeigt. Sie hatte Yara sogar nach Hause eingeladen, sie hatten mit Puppen gespielt, ihre<br />
Eltern hatten gesagt, wie schrecklich sie den Krieg fänden und dass es ihnen sehr leidtue,<br />
was Yara erlebt hat. Es sei doch toll, dass sie nun in Deutschland leben könne und neue<br />
Freunde finde. Auf dem Pausenhof blieb sie trotzdem meistens allein.<br />
Auch die Lehrerin war gegen den Krieg. Niemand hat das Recht, andere Menschen<br />
zu töten, sagte sie. Die Kinder hatten etwas über Alexander den Großen gelernt, er hatte<br />
vor langer Zeit ein Land erobert, das er Mesopotamien nannte, Zweistromland, zwischen<br />
den Flüssen Euphrat und Tigris, ein schönes Land mit einer alten Kultur, das sei dort<br />
gewesen, wo Yara herkam, und sie sollte erzählen, wie es aussieht. Doch wie sollte sie<br />
beschreiben, welche Farbe der Fluss hat, wie die Wüste aussieht, wie sie duftet, wenn der<br />
Frühling kommt? Yara hatte vom Essen erzählt, von Früchten und Gemüse, von<br />
Großmutters Shish Barak, den sie mit Ziegenjoghurt und Hammelfleisch machte. Yara<br />
vermisste Großmutters Essen, hier gingen sie meist zu Alis Dönerladen.<br />
Im Schatten der Pinie hinter Großmutters Garten hatte sie manchmal von einem<br />
anderen Leben geträumt, von einem großen, hellen Haus, mit einer riesigen Schaukel im<br />
Garten, wo ihre Mutter in bunten Kleidern den ganzen Tag lachte und Späße machte,<br />
während sie den Kindern das Essen bereitete und mit Großmutter plauderte. Wenn ihr<br />
3
Vater abends nach Hause kam, hob er Yara in die Luft, so hoch, dass Mama rief, pass auf!<br />
Es gab kein Geflüster vor dem Fernseher, das die Kinder nicht hören durften, nie musste<br />
Mama den schwarzen Niqab tragen, aus dem nur ihre dunklen, traurigen Augen<br />
hervorschauten.<br />
Damaskus, 2010, vor der Umayyad Moschee und der Ruine des Jupiter Tempels<br />
Als die Lichter des Bahnhofs zu sehen waren, rannte sie fast, so erleichtert war sie,<br />
ihn zu sehen. Sie zitterte jetzt, ob vor Kälte oder Angst, wusste sie nicht. Neben ihr tauchte<br />
plötzlich ein Mann mit einem Hund auf, so nah, dass sie seinen Geruch wahrnahm, einen<br />
Geruch wie von dem Mann, der sie auf den Lastwagen gehoben und dabei unter ihr Kleid<br />
gefasst hatte. Sie erstarrte – doch weder Mann noch Hund nahmen Notiz von ihr. Kaum<br />
waren sie hinter der nächsten Straßenecke verschwunden, stürzte Yara auf den Bahnhof<br />
zu.<br />
Vor dem Eingang standen zwei Polizisten und rauchten, im Inneren der Halle war<br />
bis auf einen Mann vom Reinigungspersonal, der lustlos seinen Wagen über die Fliesen<br />
schob, niemand zu sehen. Yara betrachtete die Abfahrtspläne, doch die Züge Richtung<br />
Süden fuhren nur bis München, Stuttgart, Prag. Sie hatte sich die Karte von Europa, die in<br />
ihrem Klassenzimmer hing, schon oft angesehen und wusste genau, wo die sogenannte<br />
Balkanroute verlief. Von Prag müsste sie weiter nach Wien und Budapest, dann Belgrad,<br />
Sofia, Istanbul. Sie wusste, inzwischen gab es Zäune, die Balkanroute, so hatte es in der<br />
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Zeitung gestanden, war geschlossen. Überhaupt wusste sie jetzt viel mehr über die vielen<br />
Menschen, die ihre Heimat verließen, weil sie hofften, an einem anderen Ort ein würdigeres<br />
Leben ohne ständige Angst führen zu können. Was sie fanden, war oft ein zermürbender<br />
Kampf mit den Ämtern um ihren Status und ihre Rechte, in dem sie hoffnungslos<br />
unterlegen waren, ein endloses Warten in Hallen, auf Straßen, in provisorischen<br />
Unterkünften und kein Entfliehen vor der sinnlosen Leere ihrer Untätigkeit. Seit Yaras Vater<br />
im Flüchtlingsheim auf einen Neubeginn seines Lebens wartete, war er reizbar und<br />
schlecht gelaunt, er wirkte gebrochener als an jenem Abend im Juni, als der Anruf kam, dass<br />
Yaras Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Die sonst<br />
verlockenden Schaufenster der Geschäfte im Bahnhof waren dunkel und verlassen. Nichts<br />
deutete auf das sorglos bunte Treiben der Reisenden hin, auf das zielstrebige Eilen der<br />
Pendler zwischen dem Staunen und Streunen neugieriger Touristen, das Yara kannte.<br />
Auf der Treppe zu den S-Bahn-Gleisen kauerte ein Mädchen in Yaras Alter, blonde<br />
Haare, zerzaust, verweint, sie starrt auf ihr Telefon. Als sie Yara bemerkt, erschrickt sie,<br />
dann lächelt sie: Komm her. Yara setzt sich neben sie, dankbar, erleichtert, erschöpft von<br />
ihrer einsamen Verzweiflung. Von den riesigen Glasfassaden des Bahnhofs schiebt sich<br />
zögernd das Morgengrauen herein. Wie heißt du, fragt das Mädchen, was machst du hier?<br />
Yara ist es auf einmal peinlich, durch die Nacht gelaufen zu sein, um nach Rakka zu fliehen,<br />
wo sie doch Monate gebraucht haben, um von dort wegzukommen, von einer Stadt ohne<br />
Leben, erstarrt in Angst. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Großmutter, nach ihrem kleinen<br />
Garten und der Ziege, Amal, auf die ich aufpassen sollte. Yara flüstert, sie spürt das feste<br />
Fell der Ziege, die raue Zunge kitzelt auf ihrer Hand. Du hast es gut, sagt das Mädchen, ich<br />
habe keine Großmutter, zu der ich gehen könnte. Wenn mein Vater sauer ist, dann trinkt<br />
er Schnaps und verprügelt meine Mutter. Sie weint und schreit, aber sie wehrt sich nicht.<br />
Ich kann da nicht zurück. Kann ich nicht mit dir kommen? Das Mädchen weint und Yara<br />
greift nach ihrer Hand. Das wäre schön. Wir könnten Freundinnen sein.<br />
Doch dann erzählt sie, erzählt dem fremden Mädchen alles, Dinge, über die sie mit<br />
niemandem bisher gesprochen hat, nicht mit dem Vater, nicht mit den Brüdern. Auch der<br />
Lehrerin konnte sie es nicht erzählen, obwohl die sie gefragt hat, sie sogar mit nach Hause<br />
genommen hat, ihr in der ordentlichen kleinen Wohnung Schokolade und Tee gegeben hat.<br />
Meine Lehrerin ist sehr nett, sagt Yara, doch ich kann es ihr nicht sagen. Es ist, als würde ich<br />
etwas kaputtmachen, ich will ihr nicht wehtun.<br />
Seit wir zu Großmutter gezogen waren, durfte ich in ihrem Bett schlafen. Es gab nur<br />
zwei Zimmer. Im Wohnzimmer schliefen meine Brüder und meine Eltern, in dem anderen<br />
nur Großmutter und ich. In meinem Haus gibt es keinen Krieg, hat sie gesagt und meine<br />
Brüder weggeschickt, wenn sie Schießen gespielt haben. Die schwarzen Krieger sind die<br />
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gefährlichsten. Wenn du nicht tust, was sie wollen, schießen sie dich tot oder nehmen dich<br />
mit. Sie können alles mit dir machen, dich fesseln oder schlagen. Deshalb ist es besser, sie<br />
sehen dich gar nicht. Meine Mutter hat nicht mehr gelacht, sie war immer traurig, aber<br />
Großmutter hat es manchmal noch geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Jetzt ist sie tot.<br />
Sie wurde von einer Bombe getroffen, als sie gerade in einem Internetcafé war. Mein Vater<br />
hat noch Glück gehabt, denn eigentlich waren sie zusammen dort, er wollte nur<br />
zwischendurch etwas zu essen holen. Dann ist er gar nicht mehr zurückgekommen, weil auf<br />
der Straße überall geschossen wurde. Er hat es Großmutter erzählt, deshalb weiß ich es.<br />
Wir sind dann weggegangen. Wir haben keine Zukunft, hat mein Vater gesagt, aber<br />
Großmutter wollte nicht. Es war das erste Mal, dass ich Großmutter weinen sah. Wir<br />
mussten mitten in der Nacht in eine völlig falsche Richtung laufen, die kurdischen Soldaten<br />
haben uns schließlich geholfen und uns über die Grenze gebracht. Wir sollten uns die<br />
Augen zuhalten, mein kleiner Bruder hat nicht darauf gehört. Ich glaube, er hat etwas sehr<br />
Schlimmes gesehen, denn er weint jede Nacht im Schlaf, will aber nicht sagen, was es war.<br />
Wir hoffen, es verschwindet irgendwann von alleine. Unterwegs in den Lagern war es eng<br />
und dreckig, aber ich mochte es trotzdem. Es gab sehr viele Kinder, wir durften den ganzen<br />
Tag spielen. Die Erwachsenen haben immer geschimpft, alle wollten weg. Am schlimmsten<br />
war es auf den Lastwagen. Einmal waren wir über vierzig Stunden unterwegs. Als Toilette<br />
gab es nur einen Eimer, der war so eklig, dass mein Bruder ihn nicht benutzen wollte. Er hat<br />
sich zweimal in die Hosen gemacht. So wie das gestunken hat, war er nicht der einzige.<br />
Das Mädchen lächelt: Sieh, jetzt ist es schon hell. Die Morgensonne flutet die Halle,<br />
die sich unbemerkt belebt hat, die ersten S-Bahnen spucken Leute mit müden Gesichtern<br />
auf dem Weg zur Arbeit aus. Yara ist jetzt hellwach. Sie will, dass das Mädchen bei ihr bleibt,<br />
ihr weiter zuhört, wenn sie die Reise ein zweites Mal macht, ein zweites Mal in der großen<br />
Stadt ankommt, ein Flüchtling am Ziel seiner Flucht. Aber ist man dann noch ein Flüchtling?<br />
Ist man nicht vielmehr ein Heimatloser, nicht mehr auf der Flucht und doch nicht<br />
angekommen? Wir gehen hier weg, sagt das Mädchen, und Yara folgt ihr. Sie hat jetzt ein<br />
schlechtes Gewissen, weil sich ihr Vater vielleicht längst Sorgen macht. Die Lehrerin wird<br />
ihn anrufen, wenn Yara nicht in die Schule kommt. Eine Stunde bleibt noch bis zum<br />
Schulbeginn. Möchtest du mit mir nach Hause kommen, fragt Yara, und es fühlt sich wie<br />
eine ganz normale Frage an, als wäre das kleine Zimmer, das sie in der<br />
Flüchtlingsunterkunft bewohnen, wirklich ihr Zuhause. Gern, sagt das Mädchen, und schon<br />
gehen sie zusammen los, den Weg, den Yara gekommen ist.<br />
Erste Jogger laufen durch den Park, Radfahrer kommen ihnen entgegen. Sie<br />
fahren zügig, eine Frau im roten Mantel überholt sie. Einen winzigen Moment hält Yara sie<br />
von hinten für ihre Mutter. Das Licht hat die Nachtgeräusche verschluckt, verstummt sind<br />
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das grelle Lachen, das dunkle Flüstern der Schatten. An der Ampel warten Autos, ein kleiner<br />
Junge schaut verschlafen aus seinem Fahrradanhänger, fest eingewickelt in eine warme<br />
Decke. Auf der breiten Straße lässt das Sonnenlicht die Schatten der Mädchen lang und<br />
dünn vorauseilen, als liefen sie den ersten trockenen Blättern hinterher, die der<br />
einsetzende Herbst über den Asphalt jagt. Die Häuser rechts und links säumen wie<br />
ehrwürdige Wächter die schnurgerade Allee. Aus einer Bäckerei duftet es verführerisch<br />
und Yara hat plötzlich Hunger. Verlegen schaut sie das blonde Mädchen an, das bereits auf<br />
den Laden zusteuert und ruft: Ich habe zwei Euro, was möchtest du? Yara wählt eine<br />
Streuselschnecke für achtzig Cent und beißt glücklich in die dicke Schicht aus Zuckerguss.<br />
Mein Vater sagt, ihr solltet lieber bleiben, wo ihr herkommt, sagt das Mädchen.<br />
Hier würdet ihr nur dem Staat auf der Tasche liegen und Arbeitsplätze wegnehmen. Es<br />
klingt, als teile sie die Meinung ihres Vaters nicht. Yara weiß nicht genau, was „auf der<br />
Tasche liegen“ bedeutet, sie möchte es trotzdem nicht, es hört sich verkehrt an. Ihr Vater<br />
wäre tatsächlich glücklich, wenn er arbeiten dürfte, doch jemand anderem die Arbeit<br />
wegzunehmen schafft er bestimmt nicht. Er spricht ja kaum Deutsch, Yara kann es schon<br />
viel besser. Ein Junge in ihrer Klasse hat ganz am Anfang einmal etwas Ähnliches gesagt.<br />
Damals hat Yara nichts verstanden, nur die Aggression gespürt. Ihre Lehrerin war sehr<br />
wütend geworden und hatte lange und ernst mit der Klasse gesprochen. Yara hatte sich<br />
schrecklich geschämt. Später hat sie der Junge auf dem Flur absichtlich gegen die Wand<br />
geschubst, aber nie wieder etwas gesagt. Inzwischen kommt so etwas eigentlich nicht mehr<br />
vor. Sie ist nicht gerade besonders beliebt bei den anderen Kindern, doch je besser sie<br />
deren Sprache spricht und versteht, desto mehr fühlt sie sich akzeptiert. Im Sportunterricht<br />
wird sie manchmal sogar von den Jungen gewählt, weil sie die schnellste Läuferin ist. Du bist<br />
wohl sehr sportlich, lächelt das Mädchen, um ihren Mund überall Krümel aus Zucker und<br />
Teig. Yara lacht und wischt ihr mit der Hand die Krümel aus dem Gesicht: Wir sind da.<br />
Als sie das Zimmer betreten, steht ihr Vater gerade am Fenster, das Telefon am<br />
Ohr. Er trägt Turnschuhe und eine warme Jacke, sein Haar ist zerzaust, die Augen leicht<br />
gerötet. Hallo. Hast du eine Freundin mitgebracht? Wie heißt du? Er fragt freundlich, ohne<br />
wütenden Unterton, eher ein wenig erleichtert. Ich heiße Jenny, wir haben uns gerade erst<br />
kennengelernt, antwortet das Mädchen. Yaras Vater bemerkt das Telefon, das er immer<br />
noch ans Ohr hält. Ach, das war die Schule. Ich rufe an und sage, dass du krank bist, Yara.<br />
Wollt ihr einen Tee und euch dann noch einmal ins Bett legen? Yara fühlt plötzlich eine<br />
bleierne Müdigkeit, und auch Jenny – endlich weiß sie den Namen ihrer Freundin! – nickt:<br />
Ja, gern. Danke. Sie ziehen die Jacken und Hosen aus und kuscheln sich beide in Yaras Bett.<br />
Fast so schön wie bei Großmutter, flüstert Yara, dann ist sie eingeschlafen.<br />
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