14.03.2018 Aufrufe

FernUni Perspektive | Ausgabe 63 | Frühjahr 2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Forschung<br />

<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong> Seite 7<br />

Digital Turn in der Forschung<br />

Mehr aus den Quellen der Erkenntnis schöpfen<br />

Audiovisuelle Medien werden in der<br />

wissenschaftlichen Lehre und der<br />

Kommunikation immer wichtiger,<br />

insbesondere in den Geistes-, Kulturund<br />

Sozialwissenschaften nimmt ihre<br />

Bedeutung durch die Digitalisierung,<br />

den „Digital Turn“, auch in der Forschung<br />

zu. Ein Vorreiter beim Einsatz<br />

von Mikrofon und Videokamera ist<br />

das Institut für Geschichte und Biographie<br />

(IGB) der <strong>FernUni</strong>versität in<br />

Hagen: Audio- und Video-Interviews<br />

mit Zeitzeugen sind seit Jahrzehnten<br />

die zentrale Grundlage seiner lebensgeschichtlichen<br />

Forschungen im<br />

Bereich der Oral History und für die<br />

Produktion wissenschaftlicher Filme.<br />

Seine Kompetenzen beim Einsatz audiovisueller<br />

Medien in der Forschung<br />

bringt das IGB jetzt in ein Verbundprojekt<br />

ein, in dem Werkzeuge und<br />

Verfahren zur Spracherkennung entsprechend<br />

den Bedürfnissen der Wissenschaft<br />

weiterentwickelt werden.<br />

Gefördert wird es vom Bundesministerium<br />

für Bildung und Forschung.<br />

Vorreiter bei Digitalisierung<br />

„Wirklich bemerkenswert“ ist für<br />

Dr. Almuth Leh, „dass wir mit unseren<br />

audiovisuellen Medien eine<br />

gewisse Vorreiterrolle bei der Digitalisierung<br />

haben, weil man sich in<br />

den ‚Digital Humanities‘ bisher zwar<br />

mit Textbearbeitung und Bilderkennung<br />

beschäftigt, die Arbeit mit audiovisuellen<br />

Medien gerade aber erst<br />

anfängt“. Sie leitet das Archiv „Deutsches<br />

Gedächtnis“ des IGB. Dr. Eva<br />

Ochs, Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

des IGB, ergänzt: „In allen Bereichen<br />

– Visualisierung, Edition, Text-<br />

Bild-Quellen, Filmdrehs – geht die Digitalisierung<br />

mit Macht los. Nur nicht<br />

bei der intensiven Auswertung audiovisueller<br />

Quellen wie Filminterviews.“<br />

Transskripte per Software<br />

analysieren<br />

Der Leitende Direktor des IGB, Prof.<br />

Dr. Arthur Schlegelmilch, erklärt das<br />

unter anderem mit den vielfach größeren<br />

Datenmengen, die bei digitalen<br />

Auswertungen anfallen: „Sie<br />

können sehr viel Zeit und Kraft beanspruchen.<br />

Wir haben zudem den<br />

Eindruck, dass das technologische<br />

Interesse im Verhältnis zur konkreten<br />

Anwendung zuweilen zu stark<br />

dominiert.“ Gleichwohl sieht er viele<br />

neue Möglichkeiten: „Die vielen Potentiale<br />

der Digitalisierung auf allen<br />

Ebenen eröffnen neue analytische<br />

Erkenntnismöglichkeiten. So gibt<br />

es schon erste Forschungsergebnisse,<br />

die auf andere Art und Weise gar<br />

nicht hätten erzielt werden können!<br />

Es werden sich neue Forschungsbereiche<br />

herauskristallisieren. Das IGB<br />

ist hierfür gut aufgestellt.“<br />

Die Auswertung von Audio- und Videobändern<br />

mit Interviews erfolgt<br />

herkömmlich durch die wortgetreue<br />

Verschriftlichung in Transkripten. Diese<br />

können heute digital per „Text<br />

Mining“-Software analysiert werden,<br />

sodass Strukturen und Kerninformationen<br />

erkannt werden. Größere<br />

Datenmengen als früher können<br />

also bereits auf dieser Stufe anfallen.<br />

Entsprechend aufwändiger wird die<br />

Auswertung der Aufnahmen.<br />

Gleichzeitig fehlt den Transkripten<br />

aber immer noch ein Großteil der<br />

Informationen. Almut Leh: „Früher<br />

haben wir argumentiert, dass die<br />

Magnetband-Aufzeichnungen die<br />

eigentliche Forschungsquelle seien.<br />

In der Forschungspraxis haben wir<br />

uns aus Gründen der Praktikabilität<br />

jedoch meistens mit dem Transkript<br />

zufrieden gegeben. Gerade beim<br />

Vergleich von Text und Film merkt<br />

man jedoch, wie viel Informationen<br />

dem Transkript fehlen.“ Welchen<br />

Wert beispielsweise ihre Informationen<br />

für die Interviewten selbst haben,<br />

kann bei der Auswertung oft<br />

erst durch Betonungen, Sprechmelodie,<br />

Gestik und Mimik etc. interpretiert<br />

werden. In Transkripten sind<br />

diese – wenn überhaupt – meistens<br />

nur mit einem Stichwort wiedergegeben,<br />

etwa in der Form „[lacht]“.<br />

Wirklich aussagekräftig wird ein Transkript<br />

also erst durch die Verbindung<br />

mit der Audio- bzw. Videoaufzeichnung.<br />

Eine Spracherkennungssoftware<br />

kann den geschriebenen Text<br />

sogar automatisch generieren, seine<br />

Teile erscheinen in der zugehörigen<br />

Videosequenz als Untertitel.<br />

Leh: „Man analysiert den Inhalt dann<br />

gleichzeitig mit der Art, wie gesprochen<br />

wird.“<br />

Intelligente Analyse- und<br />

Auswertungsmethoden<br />

Hier bringt der „Digital Turn“ ganz<br />

neue Möglichkeiten ins Spiel. Durch<br />

intelligente Analyse- und Auswertungsmethoden<br />

des „Audio Minings“<br />

können Interviews automatisch<br />

in thematische Segmente unterteilt<br />

werden. Sprecher und Sprecherwechsel<br />

sind identifizierbar,<br />

Sprache kann in Text umgewandelt<br />

werden. Damit wird ein direkter Zugriff<br />

auf einzelne Begriffe, Abschnitte<br />

und Ereignisse möglich. Teile können<br />

kopiert, abgespeichert und an<br />

Almuth Leh beim Interview mit einem Zeitzeugen<br />

anderer Stelle verwendet, Notizen<br />

und Kommentare hinzugefügt werden.<br />

„Durch das Zusammenspiel von<br />

Text und Video sind sprachliche und<br />

nicht-sprachliche Aspekte der Kommunikation<br />

differenziert erfassbar“,<br />

so Leh. „Ich arbeite nicht mehr nur<br />

mit den Texten, sondern mit dem<br />

vollständigen Interview als Videoaufzeichnung.<br />

Dass das ein höheres<br />

Erkenntnispotential hat, liegt<br />

auf der Hand.<br />

Eine Spracherkennungssoftware kann einen geschriebenen Text automatisch generieren,<br />

seine Teile erscheinen in der zugehörigen Videosequenz als Untertitel. Foto: Veit Mette<br />

Digitalisierte Informationen bieten<br />

zudem viel umfangreichere Dokumentations-,<br />

Publikations- und Archivierungsmöglichkeiten.<br />

Noch Probleme bei der<br />

Spracherkennung<br />

Für die Wissenschaft gibt es aber ein<br />

gravierendes Problem. „Jeder denkt,<br />

Spracherkennung funktioniert wunderbar“,<br />

erläutert Leh. „Doch bisher<br />

stimmt das nur für ‚geplante‘ Sprache.<br />

In Rundfunkarchiven, in denen<br />

es um Aufnahmen von geübten<br />

Sprechern und hochprofessionelle<br />

Aufnahmetechnik geht, kann<br />

die Spracherkennung deshalb schon<br />

mit großem Erfolg angewendet werden.“<br />

Forschende dagegen sind oft<br />

– von undeutlicher Aussprache und<br />

Dialekten der Interviewten ganz ab-<br />

gesehen – mit Rauschen, Übersteuerung,<br />

schlechter Mikrofonplatzierung,<br />

der Alterung von Magnetbändern<br />

und anderen technischen Problemen<br />

konfrontiert.<br />

In dem aktuellen Projekt mit dem<br />

Fraunhofer-Institut für Intelligente<br />

Analyse- und Informationssysteme<br />

wird jetzt eine von diesem entwickelte<br />

Spracherkennung den Bedürfnissen<br />

der Wissenschaft entsprechend<br />

weiterentwickelt. Das IGB stellt hierfür<br />

archivierte Interviews zur Verfügung<br />

und evaluiert die entwickelten<br />

Werkzeuge in einer Pilotstudie. Weitere<br />

Partner sind das Max-Planck-Institut<br />

für Psycholinguistik, Nijmegen,<br />

und das Data Center for the Humanities,<br />

Universität zu Köln. Das Institut<br />

für Linguistik der Universität<br />

zu Köln repräsentiert einen weiteren<br />

Anwendungsbereich und koordiniert<br />

das Gesamtprojekt.<br />

Was ändert sich die Forschung<br />

durch den „Digital Turn”?<br />

In der Pilotstudie geht es auch um<br />

die Frage, was sich durch den „Digital<br />

Turn“ für die Forschung selbst<br />

ändert. Almut Leh: „Gibt es einen Erkenntnisgewinn?<br />

Lassen sich sprachliche<br />

Veränderungen in einem Interview<br />

mit bestimmten Inhalten zusammenbringen?<br />

Sprechen etwa<br />

Menschen vom Krieg anders als von<br />

anderen Themen? Kann man das rein<br />

stimmlich analysieren? Das ist anspruchsvoll<br />

und funktioniert zurzeit<br />

kaum.“ Sie hofft, dass sich mit Hilfe<br />

weiterentwickelter Sprachtechnologien<br />

auch analysieren lässt, wie Geschichte<br />

verarbeitet wurde: „Das ist<br />

ja unser Ansatz im Institut.“<br />

Impressum<br />

<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong><br />

Zeitung für Angehörige, Freundinnen und<br />

Freunde der <strong>FernUni</strong>versität<br />

Auflage 78.000<br />

ISSN 1610-5494<br />

Herausgeber<br />

Die Rektorin der <strong>FernUni</strong>versität in Hagen,<br />

Prof. Dr. Ada Pellert,<br />

und die Gesellschaft<br />

der Freunde der <strong>FernUni</strong>versität e. V.<br />

Redaktion<br />

Stabsstelle Kommunikation und<br />

Öffentlichkeitsarbeit<br />

Susanne Bossemeyer (bos) (verantwortlich)<br />

Gerd Dapprich (Da)<br />

Oliver Baentsch (bae)<br />

Benedikt Reuse (br)<br />

Anja Wetter (aw)<br />

Carolin Annemüller (can)<br />

Universitätsstr. 47, 58097 Hagen<br />

Tel. 02331 987-2422, -2413<br />

Fax 02331 987-27<strong>63</strong><br />

E-Mail: presse@fernuni-hagen.de<br />

http://www.fernuni-hagen.de<br />

Fotos<br />

Gerd Dapprich, Carolin Annemüller, Anja<br />

Wetter, Benedikt Reuse, Wikimedia<br />

Commons, Thinkstock, Bernd Müller,<br />

Veit Mette, Deutsche Telekom AG, Annette<br />

Sell, Gleb Sakovski, Nóra Halász, Katharina<br />

Dillkötter, Land NRW/U. Wagner, LOOK<br />

Magazine.<br />

Layout und Gestaltung<br />

Dezernat 5.2, Gabriele Gruchot<br />

Foto: <strong>FernUni</strong>versität<br />

Über eine digital gesteuerte Inhaltsanalyse<br />

wäre zu ermitteln, wie groß<br />

der Anteil des Themas „Krieg“ im<br />

Interview ist – nicht nur bei einem,<br />

sondern auch bei einer großen Zahl<br />

von Interviews. „Wir haben über 700<br />

Interviews mit Männern, die Wehrmachtssoldaten<br />

im Zweiten Weltkrieg<br />

waren. Über eine automatische<br />

Schlüsselwort-Generierung könnte<br />

man sehen, in welchen Passagen davon<br />

die Rede ist. Und wer bringt das<br />

Thema ein – die interviewte Person<br />

oder die interviewende?“, so Leh.<br />

„Die Digitalisierung ermöglicht es<br />

erstmals, für einen großen Datenbestand<br />

Fragen zu formulieren, zu beantworten<br />

und dann etwa zu schauen:<br />

Reden damals junge Menschen<br />

anders über den Krieg als ältere? Da<br />

www.fernuni-hagen.de/per<strong>63</strong>-07<br />

<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

Redaktionsschluss der nächsten <strong>Ausgabe</strong><br />

ist der 4. Mai <strong>2018</strong>.<br />

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht<br />

unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!