FernUni Perspektive | Ausgabe 63 | Frühjahr 2018
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Forschung<br />
<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong> Seite 7<br />
Digital Turn in der Forschung<br />
Mehr aus den Quellen der Erkenntnis schöpfen<br />
Audiovisuelle Medien werden in der<br />
wissenschaftlichen Lehre und der<br />
Kommunikation immer wichtiger,<br />
insbesondere in den Geistes-, Kulturund<br />
Sozialwissenschaften nimmt ihre<br />
Bedeutung durch die Digitalisierung,<br />
den „Digital Turn“, auch in der Forschung<br />
zu. Ein Vorreiter beim Einsatz<br />
von Mikrofon und Videokamera ist<br />
das Institut für Geschichte und Biographie<br />
(IGB) der <strong>FernUni</strong>versität in<br />
Hagen: Audio- und Video-Interviews<br />
mit Zeitzeugen sind seit Jahrzehnten<br />
die zentrale Grundlage seiner lebensgeschichtlichen<br />
Forschungen im<br />
Bereich der Oral History und für die<br />
Produktion wissenschaftlicher Filme.<br />
Seine Kompetenzen beim Einsatz audiovisueller<br />
Medien in der Forschung<br />
bringt das IGB jetzt in ein Verbundprojekt<br />
ein, in dem Werkzeuge und<br />
Verfahren zur Spracherkennung entsprechend<br />
den Bedürfnissen der Wissenschaft<br />
weiterentwickelt werden.<br />
Gefördert wird es vom Bundesministerium<br />
für Bildung und Forschung.<br />
Vorreiter bei Digitalisierung<br />
„Wirklich bemerkenswert“ ist für<br />
Dr. Almuth Leh, „dass wir mit unseren<br />
audiovisuellen Medien eine<br />
gewisse Vorreiterrolle bei der Digitalisierung<br />
haben, weil man sich in<br />
den ‚Digital Humanities‘ bisher zwar<br />
mit Textbearbeitung und Bilderkennung<br />
beschäftigt, die Arbeit mit audiovisuellen<br />
Medien gerade aber erst<br />
anfängt“. Sie leitet das Archiv „Deutsches<br />
Gedächtnis“ des IGB. Dr. Eva<br />
Ochs, Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
des IGB, ergänzt: „In allen Bereichen<br />
– Visualisierung, Edition, Text-<br />
Bild-Quellen, Filmdrehs – geht die Digitalisierung<br />
mit Macht los. Nur nicht<br />
bei der intensiven Auswertung audiovisueller<br />
Quellen wie Filminterviews.“<br />
Transskripte per Software<br />
analysieren<br />
Der Leitende Direktor des IGB, Prof.<br />
Dr. Arthur Schlegelmilch, erklärt das<br />
unter anderem mit den vielfach größeren<br />
Datenmengen, die bei digitalen<br />
Auswertungen anfallen: „Sie<br />
können sehr viel Zeit und Kraft beanspruchen.<br />
Wir haben zudem den<br />
Eindruck, dass das technologische<br />
Interesse im Verhältnis zur konkreten<br />
Anwendung zuweilen zu stark<br />
dominiert.“ Gleichwohl sieht er viele<br />
neue Möglichkeiten: „Die vielen Potentiale<br />
der Digitalisierung auf allen<br />
Ebenen eröffnen neue analytische<br />
Erkenntnismöglichkeiten. So gibt<br />
es schon erste Forschungsergebnisse,<br />
die auf andere Art und Weise gar<br />
nicht hätten erzielt werden können!<br />
Es werden sich neue Forschungsbereiche<br />
herauskristallisieren. Das IGB<br />
ist hierfür gut aufgestellt.“<br />
Die Auswertung von Audio- und Videobändern<br />
mit Interviews erfolgt<br />
herkömmlich durch die wortgetreue<br />
Verschriftlichung in Transkripten. Diese<br />
können heute digital per „Text<br />
Mining“-Software analysiert werden,<br />
sodass Strukturen und Kerninformationen<br />
erkannt werden. Größere<br />
Datenmengen als früher können<br />
also bereits auf dieser Stufe anfallen.<br />
Entsprechend aufwändiger wird die<br />
Auswertung der Aufnahmen.<br />
Gleichzeitig fehlt den Transkripten<br />
aber immer noch ein Großteil der<br />
Informationen. Almut Leh: „Früher<br />
haben wir argumentiert, dass die<br />
Magnetband-Aufzeichnungen die<br />
eigentliche Forschungsquelle seien.<br />
In der Forschungspraxis haben wir<br />
uns aus Gründen der Praktikabilität<br />
jedoch meistens mit dem Transkript<br />
zufrieden gegeben. Gerade beim<br />
Vergleich von Text und Film merkt<br />
man jedoch, wie viel Informationen<br />
dem Transkript fehlen.“ Welchen<br />
Wert beispielsweise ihre Informationen<br />
für die Interviewten selbst haben,<br />
kann bei der Auswertung oft<br />
erst durch Betonungen, Sprechmelodie,<br />
Gestik und Mimik etc. interpretiert<br />
werden. In Transkripten sind<br />
diese – wenn überhaupt – meistens<br />
nur mit einem Stichwort wiedergegeben,<br />
etwa in der Form „[lacht]“.<br />
Wirklich aussagekräftig wird ein Transkript<br />
also erst durch die Verbindung<br />
mit der Audio- bzw. Videoaufzeichnung.<br />
Eine Spracherkennungssoftware<br />
kann den geschriebenen Text<br />
sogar automatisch generieren, seine<br />
Teile erscheinen in der zugehörigen<br />
Videosequenz als Untertitel.<br />
Leh: „Man analysiert den Inhalt dann<br />
gleichzeitig mit der Art, wie gesprochen<br />
wird.“<br />
Intelligente Analyse- und<br />
Auswertungsmethoden<br />
Hier bringt der „Digital Turn“ ganz<br />
neue Möglichkeiten ins Spiel. Durch<br />
intelligente Analyse- und Auswertungsmethoden<br />
des „Audio Minings“<br />
können Interviews automatisch<br />
in thematische Segmente unterteilt<br />
werden. Sprecher und Sprecherwechsel<br />
sind identifizierbar,<br />
Sprache kann in Text umgewandelt<br />
werden. Damit wird ein direkter Zugriff<br />
auf einzelne Begriffe, Abschnitte<br />
und Ereignisse möglich. Teile können<br />
kopiert, abgespeichert und an<br />
Almuth Leh beim Interview mit einem Zeitzeugen<br />
anderer Stelle verwendet, Notizen<br />
und Kommentare hinzugefügt werden.<br />
„Durch das Zusammenspiel von<br />
Text und Video sind sprachliche und<br />
nicht-sprachliche Aspekte der Kommunikation<br />
differenziert erfassbar“,<br />
so Leh. „Ich arbeite nicht mehr nur<br />
mit den Texten, sondern mit dem<br />
vollständigen Interview als Videoaufzeichnung.<br />
Dass das ein höheres<br />
Erkenntnispotential hat, liegt<br />
auf der Hand.<br />
Eine Spracherkennungssoftware kann einen geschriebenen Text automatisch generieren,<br />
seine Teile erscheinen in der zugehörigen Videosequenz als Untertitel. Foto: Veit Mette<br />
Digitalisierte Informationen bieten<br />
zudem viel umfangreichere Dokumentations-,<br />
Publikations- und Archivierungsmöglichkeiten.<br />
Noch Probleme bei der<br />
Spracherkennung<br />
Für die Wissenschaft gibt es aber ein<br />
gravierendes Problem. „Jeder denkt,<br />
Spracherkennung funktioniert wunderbar“,<br />
erläutert Leh. „Doch bisher<br />
stimmt das nur für ‚geplante‘ Sprache.<br />
In Rundfunkarchiven, in denen<br />
es um Aufnahmen von geübten<br />
Sprechern und hochprofessionelle<br />
Aufnahmetechnik geht, kann<br />
die Spracherkennung deshalb schon<br />
mit großem Erfolg angewendet werden.“<br />
Forschende dagegen sind oft<br />
– von undeutlicher Aussprache und<br />
Dialekten der Interviewten ganz ab-<br />
gesehen – mit Rauschen, Übersteuerung,<br />
schlechter Mikrofonplatzierung,<br />
der Alterung von Magnetbändern<br />
und anderen technischen Problemen<br />
konfrontiert.<br />
In dem aktuellen Projekt mit dem<br />
Fraunhofer-Institut für Intelligente<br />
Analyse- und Informationssysteme<br />
wird jetzt eine von diesem entwickelte<br />
Spracherkennung den Bedürfnissen<br />
der Wissenschaft entsprechend<br />
weiterentwickelt. Das IGB stellt hierfür<br />
archivierte Interviews zur Verfügung<br />
und evaluiert die entwickelten<br />
Werkzeuge in einer Pilotstudie. Weitere<br />
Partner sind das Max-Planck-Institut<br />
für Psycholinguistik, Nijmegen,<br />
und das Data Center for the Humanities,<br />
Universität zu Köln. Das Institut<br />
für Linguistik der Universität<br />
zu Köln repräsentiert einen weiteren<br />
Anwendungsbereich und koordiniert<br />
das Gesamtprojekt.<br />
Was ändert sich die Forschung<br />
durch den „Digital Turn”?<br />
In der Pilotstudie geht es auch um<br />
die Frage, was sich durch den „Digital<br />
Turn“ für die Forschung selbst<br />
ändert. Almut Leh: „Gibt es einen Erkenntnisgewinn?<br />
Lassen sich sprachliche<br />
Veränderungen in einem Interview<br />
mit bestimmten Inhalten zusammenbringen?<br />
Sprechen etwa<br />
Menschen vom Krieg anders als von<br />
anderen Themen? Kann man das rein<br />
stimmlich analysieren? Das ist anspruchsvoll<br />
und funktioniert zurzeit<br />
kaum.“ Sie hofft, dass sich mit Hilfe<br />
weiterentwickelter Sprachtechnologien<br />
auch analysieren lässt, wie Geschichte<br />
verarbeitet wurde: „Das ist<br />
ja unser Ansatz im Institut.“<br />
Impressum<br />
<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong><br />
Zeitung für Angehörige, Freundinnen und<br />
Freunde der <strong>FernUni</strong>versität<br />
Auflage 78.000<br />
ISSN 1610-5494<br />
Herausgeber<br />
Die Rektorin der <strong>FernUni</strong>versität in Hagen,<br />
Prof. Dr. Ada Pellert,<br />
und die Gesellschaft<br />
der Freunde der <strong>FernUni</strong>versität e. V.<br />
Redaktion<br />
Stabsstelle Kommunikation und<br />
Öffentlichkeitsarbeit<br />
Susanne Bossemeyer (bos) (verantwortlich)<br />
Gerd Dapprich (Da)<br />
Oliver Baentsch (bae)<br />
Benedikt Reuse (br)<br />
Anja Wetter (aw)<br />
Carolin Annemüller (can)<br />
Universitätsstr. 47, 58097 Hagen<br />
Tel. 02331 987-2422, -2413<br />
Fax 02331 987-27<strong>63</strong><br />
E-Mail: presse@fernuni-hagen.de<br />
http://www.fernuni-hagen.de<br />
Fotos<br />
Gerd Dapprich, Carolin Annemüller, Anja<br />
Wetter, Benedikt Reuse, Wikimedia<br />
Commons, Thinkstock, Bernd Müller,<br />
Veit Mette, Deutsche Telekom AG, Annette<br />
Sell, Gleb Sakovski, Nóra Halász, Katharina<br />
Dillkötter, Land NRW/U. Wagner, LOOK<br />
Magazine.<br />
Layout und Gestaltung<br />
Dezernat 5.2, Gabriele Gruchot<br />
Foto: <strong>FernUni</strong>versität<br />
Über eine digital gesteuerte Inhaltsanalyse<br />
wäre zu ermitteln, wie groß<br />
der Anteil des Themas „Krieg“ im<br />
Interview ist – nicht nur bei einem,<br />
sondern auch bei einer großen Zahl<br />
von Interviews. „Wir haben über 700<br />
Interviews mit Männern, die Wehrmachtssoldaten<br />
im Zweiten Weltkrieg<br />
waren. Über eine automatische<br />
Schlüsselwort-Generierung könnte<br />
man sehen, in welchen Passagen davon<br />
die Rede ist. Und wer bringt das<br />
Thema ein – die interviewte Person<br />
oder die interviewende?“, so Leh.<br />
„Die Digitalisierung ermöglicht es<br />
erstmals, für einen großen Datenbestand<br />
Fragen zu formulieren, zu beantworten<br />
und dann etwa zu schauen:<br />
Reden damals junge Menschen<br />
anders über den Krieg als ältere? Da<br />
www.fernuni-hagen.de/per<strong>63</strong>-07<br />
<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
Redaktionsschluss der nächsten <strong>Ausgabe</strong><br />
ist der 4. Mai <strong>2018</strong>.<br />
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht<br />
unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.