Leseprobe Langstrecke 1/2018
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L E S E P R O B E<br />
DAS MAGAZIN<br />
FÜR<br />
SZ-LIEBHABER
Gerhard Matzig macht nach 43 Jahren und der<br />
1044. „Tatort“-Folge Schluss mit seiner Leidenschaft<br />
59<br />
„ME<br />
Andreas Zielcke fragt die Romanistin Barbara Vinken,<br />
ob aus der Empörung über sexuelle Gewalt kunstfeindlicher<br />
Puritanismus werden darf<br />
63<br />
S CHWERPUNKT<br />
Joker in der Politik<br />
GRÖSSENWAHN<br />
Kurt Kister wundert sich über den<br />
Voll-genial-Lindnerismus die höchste<br />
Form der Selbststilisierung<br />
MAC HTKAMPF<br />
Roman Deininger und Wolfgang Wittl fragen sich,<br />
wann das Festival der Autosuggestion in der<br />
CSU vorbei ist und sie aus der Hypnose erwacht<br />
DILEMMA<br />
Christoph Hickmann über eine ulkige Partei,<br />
die SPD. Verliert haushoch die Wahl und sägt<br />
ihren beliebtesten Mann ab<br />
PARLAMENT<br />
Evelyn Roll hat die Neuen im Bundestag<br />
beobachtet: 92 AfD-Abgeordnete springen<br />
im Block auf und grölen im Chor<br />
SCHAULUSTIGE<br />
Karin Steinberger fragt sich, was in<br />
Menschen vorgeht, die gaffen, filmen und alles<br />
ins Netz stellen, während eine Frau stirbt<br />
68<br />
72<br />
78<br />
83<br />
90<br />
GIGANTEN<br />
Catherine Hoffmann und Claus Hulverscheidt<br />
wundern sich, warum kein Kunde gegen die Übermacht<br />
von Google oder Facebook kämpfen will<br />
F USSBALL<br />
Claudio Catuogno, Klaus Hoeltzenbein und Benedikt<br />
Warmbrunn sprechen mit Jupp Heynckes über sein<br />
Comeback auf der FC-Bayern-Bank<br />
114<br />
118<br />
JUGENDWAHN<br />
Jan Stremmel empört sich, wie salonfähig<br />
Altersdiskriminierung ist<br />
124<br />
LIFESTYLE<br />
Max Scharnigg rekapituliert die Episoden seines<br />
Kaffeekonsums und verrät, warum in fünfzehn Jahren<br />
sieben verschiedene Maschinen nötig waren<br />
APPLAUS<br />
Martin Zips spricht mit Opernballkönigin Lotte Tobisch<br />
über Brillanz, Stolz und weibliche Emanzipation<br />
128<br />
133<br />
TOTAL ÜBERWACHUNG<br />
Kai Strittmatter erzählt, wie sich Chinas KP<br />
die totale Kontrolle über das Volk holt – nicht nur<br />
mit Big Data und künstlicher Intelligenz<br />
136<br />
S EXISMUS<br />
Alexander Gorkow zieht über ein Männlichkeitsritual<br />
in unserer Gesellschaft her, das Narzissten<br />
hervorbringt und lächerliche Idioten<br />
142<br />
GERECHTIGKEIT<br />
Annette Ramelsberger spricht mit<br />
Ex-Richterin Barbara Havliza über extreme<br />
Prozesse, Fairness und ein fatales Urteil<br />
ARMUT<br />
Bernd Dörries über ein Dorf in Sierra Leone,<br />
in dem einer der größten Diamanten der Welt gefunden<br />
wurde. Endlich eine schöne Geschichte aus Afrika?<br />
97<br />
102<br />
ABERGLAUBE<br />
Alex Rühle spricht mit dem Amerikanisten<br />
Michael Butter über die Verführungskraft<br />
von Verschwörungstheorien<br />
108<br />
S EITE<br />
5
GEGENZAUBER<br />
ABERGLAUBE<br />
Reptiloide, Illuminaten, Mondlandung: Ein Gespräch<br />
mit dem Amerikanisten Michael Butter über die Verführungskraft<br />
und wechselnde Konjunktur von Verschwörungstheorien<br />
Vergangene Woche empfahl Donald Trump eine verschwörungstheoretische<br />
Website namens Magapill<br />
als Nachrichtenquelle. Der Amerikaner Mike Hughes<br />
will sich mit einer Schrottrakete in die Luft schießen<br />
lassen, um zu beweisen, dass die Erde flach ist. In<br />
Ungarn befeuert Ministerpräsident Viktor Orbán<br />
mit einer Hetzkampagne gegen George Soros antisemitische<br />
Lügen, und hierzulande verbreiten AfD-<br />
Funktionäre rechtsextreme Behauptungen von einer<br />
geheimen Neuen Weltordnung. Woher kommt diese<br />
momentane Lust an der Verschwörungstheorie? Und<br />
gibt es den typischen Verschwörungstheoretiker? Fragen<br />
an den Tübinger Amerikanisten Michael Butter,<br />
SEITE<br />
108
der mit europäischen Kollegen ein groß angelegtes<br />
Forschungsprojekt über Verschwörungstheorien<br />
initiiert hat.<br />
SZ: Herr Butter, das ganze Jamaikadebakel war<br />
doch abgekartet. Hat man uns nur so lange mit<br />
vermeintlichen Koalitionsverhandlungen hingehalten,<br />
um uns von Chemtrails und Reptiloiden<br />
abzulenken? Michael Butter: Klingt in verschwörungstheoretischer<br />
Logik plausibel. Aber man findet<br />
auf den einschlägigen Portalen kaum etwas zum<br />
Scheitern von Jamaika. Was daran liegen könnte,<br />
dass das, was bei den Verhandlungen passiert ist,<br />
Verschwörungstheorien im Kern zuwiderläuft.<br />
Warum? Eine Annahme von Verschwörungstheorien<br />
ist, dass die da oben alle unter einer Decke stecken.<br />
Das haben die Theorien mit populistischen Diskursen<br />
gemeinsam: Die etablierten Parteien machen alle gemeinsame<br />
Sache, das verkauft die AfD ihren Wählern<br />
täglich als Wahrheit. Das Scheitern der Verhandlungen<br />
zeigt aber, dass dem nicht so ist, sondern es ganz<br />
im Gegenteil große Unterschiede gibt und die Parteien<br />
auf ihren Prinzipien beharren.<br />
Sie haben ein internationales Forschungsprojekt<br />
zur vergleichenden Verschwörungstheorie mit angestoßen.<br />
Was genau erforschen Sie, und wer ist da<br />
dabei? Comparative Analysis of Conspiracy Theories<br />
ist ein EU-Projekt, das 150 Wissenschaftler aus 39<br />
Ländern und den verschiedensten Disziplinen – unter<br />
anderem Philosophie, Soziologie, Psychologie und<br />
Politikwissenschaft – vernetzt.<br />
Für viele Verschwörungstheoretiker seid ihr selbst<br />
eine Art wissenschaftlicher Geheimbund. Man<br />
sieht es schon an der Abkürzung Compact. Damit<br />
muss man leben. Wir machen unser nächstes Treffen<br />
bei Amsterdam jetzt auch im Hotel Bilderberg ...<br />
Für Verschwörungstheoretiker ist Bilderberg eine<br />
Chiffre für die ganz große Weltverschwörung der<br />
Machtelite. Ja. Da passen wir doch gut hin.<br />
Gibt es denn den typischen Verschwörungstheoretiker?<br />
Man findet Verschwörungstheoretiker in allen<br />
Ländern, quer durch alle Altersstufen und quer durch<br />
alle Bildungsschichten. Aber wenn man sich anschaut,<br />
wer solche Dinge momentan im Netz verbreitet und<br />
kommentiert, dann sind das meistens Männer über<br />
40.<br />
Verschwörungstheorien sind eine Methode, auf die<br />
eigene Marginalisierung und Bedrohung zu reagieren.<br />
Menschen, die sich ökonomisch oder kulturell<br />
abgehängt fühlen, bieten solche Theorien eine griffige<br />
und beruhigende Erklärung. Wenn das eigene<br />
Leid Ergebnis eines Komplotts ist, muss man ja nur<br />
den Schuldigen dingfest machen, dann kann man die<br />
Globalisierung oder die Veränderung der Rollenmuster<br />
zurücknehmen. Wenn man hingegen sagt, dass<br />
das strukturelle, gesellschaftliche Verschiebungen<br />
sind, an denen niemand „schuld“ ist, wird das viel<br />
schwieriger.<br />
Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?<br />
Finden Sie und Ihre internationalen Kollegen überall<br />
dieselben Theorien, die bloß unterschiedlich<br />
populär sind, oder haben Zyprioten und Bulgaren<br />
andere Verschwörungsmythen als wir? Die meisten<br />
Theorien sind international, nehmen aber jeweils spezifisch<br />
nationale Formen an. Verschwörungstheorien<br />
sind ja immer Machttheorien, und in einer globalisierten<br />
Welt lokalisiert man die Macht stets an einem<br />
fernen Ort. In deutschen Verschwörungstheorien zur<br />
Finanz- oder Flüchtlingskrise ist Angela Merkel meist<br />
die Marionette internationaler Kräfte. Von Zypern<br />
„<br />
EINE METHODE,<br />
UM AUF<br />
DIE EIGENE<br />
MARGINALISIERUNG<br />
UND BEDROHUNG<br />
ZU REAGIEREN<br />
“<br />
NEUGIERIG, WIE’S<br />
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Aloha<br />
B OMBENSTIMMUNG<br />
„Bedrohung durch ballistische Rakete Richtung Hawaii.<br />
Suchen Sie sofort Schutz. Das ist keine Übung.“<br />
38 Minuten dauert es, bis klar wird,<br />
dass die schöne Inselwelt doch nicht untergeht.<br />
Ein Augenzeugenbericht aus dem Hotelkeller<br />
Das sind die Probleme, die man am frühen Morgen<br />
als Tourist in Hawaii normalerweise hat: Die Sonne<br />
könnte zu sehr vom strahlenden Himmel herunterbrennen.<br />
Die Wellen könnten etwas zu hoch an den<br />
Strand schlagen. Was soll man frühstücken? Eine kleine<br />
oder doch lieber eine große Portion Pfannkuchen?<br />
Das sind die Probleme, die man am frühen Morgen<br />
als Tourist in Hawaii normalerweise nicht hat:<br />
Das Mobiltelefon brummt plötzlich los, auf eine seltsame,<br />
penetrante Art, doch es ruft niemand an. Auf<br />
dem Bildschirm erscheint auch keine SMS und keine<br />
E-Mail. Dafür steht dort eine „Notfallbenachrichtigung“.<br />
Drei Sätze, vierzehn Wörter, alle in Großbuch-<br />
S E I T E<br />
7
AUF DER FLU CHT<br />
IN DEN K ELLER DES<br />
H OTELS KOMMT<br />
ES Z UM ERSTEN<br />
GESPRÄCH<br />
staben: „BALLISTIC MISSILE THREAT INBOUND TO<br />
HAWAII. SEEK IMMEDIATE SHELTER. THIS IS<br />
NOT A DRILL.“ Man kann das ungefähr so übersetzen:<br />
<strong>Langstrecke</strong>nraketen im Anflug auf Hawaii; sofort<br />
Schutz suchen; keine Übung.<br />
So war es am Samstagmorgen, kurz nach acht Uhr.<br />
Der erste Gedanke: Das ist ein Witz von bekloppten<br />
Hackern. Der zweite Gedanke: Das hier sieht alles<br />
sehr echt aus. Dann hört man das Geschrei aus dem<br />
Innenhof des Hotels, das Getrampel auf dem Gang.<br />
Und es beginnen 38 Minuten, an die man sich lange<br />
erinnern wird.<br />
Zu den Katastrophen, mit denen der Urlauber in<br />
Hawaii durchaus rechnen muss, gehören Tsunamis<br />
und Vulkanausbrüche. Im Dezember wurde die Liste<br />
explizit um eine dritte ernste Bedrohung erweitert: ei-<br />
nen nordkoreanischen Atomangriff. Am 28. November<br />
hatte das nordkoreanische Regime eine neue Rakete<br />
vom Typ Hwasong-15 getestet. Das Geschoss stieg gut<br />
3800 Kilometer in die Höhe, blieb 54 Minuten in der<br />
Luft und fiel knapp 1000 Kilometer entfernt von seinem<br />
Abschussort wieder in den Pazifik. Der Rest ist<br />
Mathematik, und als die Strategen im Pentagon mit<br />
dem Rechnen fertig waren, standen sie unter Schock:<br />
Eine Rakete, die so hoch, so lang und so weit fliegen<br />
kann, die kann theoretisch – sofern sie auf einer flacheren<br />
ballistischen Bahn fliegt – binnen 20 oder 30<br />
Minuten fast das gesamte US-Festland treffen. Und<br />
allemal Hawaii, die kleine Inselgruppe weit draußen<br />
im Pazifik, die jeder nordkoreanischen Rakete ja sozusagen<br />
auf halbem Weg entgegenkommt.<br />
Zwar wissen die westlichen Geheimdienste immer<br />
noch nicht genau, ob Nordkorea, wie Diktator<br />
Kim Jong-un behauptet, seine Raketen tatsächlich mit<br />
funktionierenden Atomsprengköpfen bestücken kann.<br />
Doch in Hawaii, wo 1,4 Millionen Menschen leben, ist<br />
die Nervosität trotzdem groß. Seit Dezember liegt ein<br />
Hauch von Kaltem Krieg über den Inseln: Die lokalen<br />
Behörden haben wieder begonnen, regelmäßig die<br />
Notsysteme zu testen, mit denen die Bürger vor einem<br />
Angriff gewarnt werden sollen. Dazu gehören die Sirenen,<br />
die bei einem Angriff loskreischen, aber auch die<br />
„Notfallbenachrichtigungen“ – offizielle Mitteilungen,<br />
die auf alle Mobiltelefone verschickt werden, die in<br />
Hawaii eine Verbindung haben.<br />
All das weiß der Urlauber, sofern er gelegentlich<br />
fernsieht oder Zeitung liest. Aber das hier ist der Ernstfall.<br />
Was also tut man jetzt, da es so weit ist mit dem<br />
Atomkrieg?<br />
Man gleitet in den Desastermodus über und ertappt<br />
sich dabei, seiner Partnerin im Befehlston die<br />
Mitnahme von Schuhen nahezulegen; was einem nicht<br />
auffällt, ist, dass die Partnerin die Schuhe bereits anhat.<br />
Auch die Mahnung zur Eile läuft etwas ins Leere,<br />
wenn die Partnerin bereits komplett angezogen vor einem<br />
steht, während man selbst noch in der Unterhose<br />
rumspringt und seine Shorts sucht. Der Aufwand mit<br />
den Shorts stellt sich später als arg spießig heraus, im<br />
Schutzraum ist die Unterhose bei Männern durchaus<br />
eine akzeptierte Bekleidung.<br />
Die Flucht bleibt dann erst einmal stecken, weil<br />
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